Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I. Abbildungsverzeichnis
II. Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Leibeserziehung in der Weimarer Republik
3. Der Auftrag der politischen Leibeserziehung im Kontext der ideologischen und bildungstheoretischen Grundsätze der Nationalsozialisten
3.1 Die schulisch-nationalsozialistische Leibeserziehung in Beziehung zu Adolf Hitlers weltanschaulichem Konzept
3.2 Alfred Baeumlers erziehungstheoretische Auffassung einer politischen Leibeserziehung
3.3 Die Beurteilung der Funktion der völkischen Leibeserziehung der Mädchen und Frauen in weiteren nationalsozialistischen Publikationen
4. Die Rolle des Körpers in der nationalsozialistischen Leibeserziehung
4.1 Der ,arische‘ Körper als Leitbild
4.2 Das Rollenverständnis und der ,Auftrag‘ des weiblichen Körpers
5. Die Inhalte und Methoden der schulischen Leibeserziehung im Dritten Reich
5.1 Schulische Leibeserziehung an Jungenschulen
5.2 Schulische Leibeserziehung an Mädchenschulen
5.2.1 Die Leitlinien für die körperliche Erziehung der Mädchen
5.2.2 Die inhaltliche Strukturierung der Leibeserziehung
5.2.3 Die methodischen Empfehlungen
5.2.4 Die besondere Rolle der Gymnastik- und Tanzerziehung
6. Die Schwierigkeiten zur Umsetzung der nationalsozialistischen Leibeserziehung während der Kriegsvorbereitung und des Zweiten Weltkrieges
7. Schlussbetrachtung
8. Quellenverzeichnis
9. Literaturverzeichnis
Anhang
Lehrplan der I. Stufe (6-9. Lebensjahr)
Lehrplan der II. Stufe (9-12. Lebensjahr)
Lehrplan der III. Stufe (12-15. Lebensjahr)
Lehrplan der IV. Stufe (15-18. Lebensjahr)
I. Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Die Einteilung der deutschen Leibesübungen
Abb. 2: Anwerbeplakat von 1943 ,,Vom Hitlerjungen zum Offizier des Heeres – Dein Weg!‘‘
Abb. 3: Propagandaplakat von 1944 ,,Deutsche Frau! Halte Dein Blut rein. Du trägst in dir das Erbe künftiger Geschlechter‘‘
Abb. 4: Schülerinnen der Eliteschule bei Übungen mit dem Ball im Sportunterricht
Abb. 5: Der Erziehungsweg für die Leibeserziehung der Mädchen in Schulen
Abb. 6: Kinder bei einem Reiterspiel
Abb. 7: Gymnastische Übung mit dem Ball: ,,Auch die deutschen Frauen und Mädchen treiben Sport‘‘
Abb. 8: Mädchen bei sportlichen Wettspielen
Abb: 9: Gymnastische Übung mit der Keule
Abb. 10: Rhythmische Bewegungsschulung
Abb. 11: Volkstümliche Tänze von jungen Frauen
Abb. 12: Abschlusszeugnis einer Schülerin der sechsten Klassen aus dem Jahre 1944
Abb. 13: Gymnastisches Rufspiel im Laufen
Abb. 14: Gymnastische Gruppenübung zur Haltungsschulung
Abb. 15: Rhythmisch-tänzerische Bewegungsgestaltung von zwei Schülerinnen
Abb. 16: Tanzspiel einer Gruppe von Schülerinnen
II. Abkürzungsverzeichnis
DRA Deutscher Reichsausschuss für Leibesübungen
RMfWEV Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung
SuS Schülerinnen und Schüler
1. Einleitung
,,Werden die Leibesübungen als Fundament nicht an richtiger Stelle angesetzt, so muß das ganze Erziehungsgebäude in seinem organischen Aufbau leiden; und werden nicht schon bei den Leibesübungen männliche und weibliche Erziehungsformen klar getrennt, so wird das Fundament niemals breit genug unterbaut, um eine reiche und fruchtbare Kultur tragen zu können.‘‘1
Die Machtergreifung Adolf Hitlers am 30. Januar 1933 stellte eine markante Zäsur für die gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Sektoren Deutschlands dar, von der auch die staatlichen Erziehungseinrichtungen betroffen waren. Mit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, kam es zur Umkehrung der bisherigen Auffassung der Bewegungs- und Sportkultur der Weimarer Republik. Die Phase einer schulischen Leibeserziehung, die von der pädagogischen Reformbewegung eines ,natürlichen Turnens‘ geleitet wurde, wurde nun als unpolitisches Erziehungsverständnis deklariert und als bürgerlich-liberalistisch diskriminiert. In Folge der Ablehnung des sporterzieherischen Verständnisses der Weimarer Republik wurden die Inhalte, Methoden und Ziele der Leibeserziehung im Nationalsozialismus an den neuen politischen Grundsätzen und den stereotypischen Rollenbildern der nationalsozialistischen Machthaber orientiert. Die Entwicklung einer Leibeserziehung von ,der Erziehung vom Kinde aus‘, wurde schließlich durch die Machtergreifung Hitlers abrupt unterbrochen und unter den politischen Dienst des nationalsozialistischen Regimes gestellt:
,,Die körperliche Ertüchtigung ist daher im völkischen Staat nicht eine Sache des einzelnen, […] sondern eine Forderung der Selbsterhaltung des durch den Staat vertretenen und geschützten Volkstums.‘‘2
Auch wenn Hitlers ideologisch-politisches Werk ,Mein Kampf‘ nicht als Grundlegung der nationalsozialistischen Ideologie angesehen werden kann, veröffentlichte er hier sein politisches Verständnis der Leibeserziehung, indem diese nicht dem individuellen Leib, sondern dem ,Volksleib‘ dienen sollte. Die Umgestaltung der Leibeserziehung, hin zum Dienst für die Volksgemeinschaft, nahm den Platz der individuellen Körperbildung der Weimarer Republik ein, indem das alte intellektuelle Erziehungsverständnis durch eine Leibeserziehung, geprägt von Härte und Kampfbereitschaft, abgelöst wurde. Während Hitler dem männlichen Geschlecht eine zentrale Rolle in der Erziehung zu einer kampfbereiten und starken Volksgemeinschaft beimaß, sprach er der Leibeserziehung der Mädchen eine geringere Bedeutsamkeit zu. In dieser maskulin ausgerichteten Leibeserziehung legte er das Ziel der körperlichen Ertüchtigung der Mädchen allein auf ihre Gebärfähigkeit und auf die Erhaltung der Volksgemeinschaft fest.
Nicht nur Adolf Hitler hatte sich zur politischen und völkischen Leibeserziehung geäußert. Besonders Alfred Baeumler, Pädagoge und Philosoph, nahm eine entscheidende Rolle in der Erziehungspolitik des Nationalsozialismus ein. Er wurde von Hans von Tschammer und Osten beauftragt, die nationalsozialistische Leibeserziehung mittels einer theoretischen Grundlegung wissenschaftlich zu fundieren. Dabei entstand sein zweibändiges Werk ,Sport und Staat‘, in dem die neuen Zielvorstellungen formuliert wurden. Auch hier wurden die Leibesübungen den damals vorherrschenden Rollenbildern zugeordnet und den konventionellen und spezifischen Aufgaben des jeweiligen Geschlechtes angepasst, wodurch die weibliche Leibeserziehung eine deutliche Herabwürdigung erfuhr.
Neben Alfred Baeumler besaß auch Carl Krümmel eine besondere Bedeutung für die Umsetzung der nationalsozialistischen Leibeserziehung mit Ausrichtung auf die Prinzipien ,Rasse, Führertum und Wehrhaftigkeit‘. Nachdem Krümmel 1934 das ,Amt K‘ übernahm, war er verantwortlich für die Veröffentlichung der neuen Richtlinien für die Leibeserziehung an Jungen- (1937) und an Mädchenschulen (1941). Bereits hier fällt auf, dass durch die spätere Herausgabe der Richtlinien für die Leibeserziehung an Mädchenschulen, der Sportunterricht der Mädchen und Frauen im Dritten Reich, dem der Jungen und Männer untergeordnet war und eine weniger zentrale Rolle einnahm.
Die in den Aufsätzen und Richtlinien auf Kampf und Widerstandsfähigkeit basierte nationalsozialistische Körpererziehung, strebte das Idealbild eines schönen und kraftvollen Ariers an. Dabei spielte der Begriff ,Rasse‘ als Leitlinie für die körperliche Erziehung eine zentrale Rolle. Hierdurch konnte die Züchtigung kerngesunder und kräftiger Menschen, gemäß einer rassischen Auslese, gerechtfertigt werden und die Leibeserziehung die Kriegsfähigkeit der Jungen und die Gesundheit der Mädchen, die als Garantin für das Volkswachstum dienten, fördern. Ziel der Leibesübungen war die Erschaffung von mutigen Soldaten und von gesunden Müttern, ganz im Sinne des nationalsozialistischen Rollenverständnisses. Während in den Jungenschulen die Leibeserziehung als Herausforderung und Mutprobe dienen sollte, war eine Übertreibung von Frauensport aus medizinischen und gesellschaftlichen Gründen nicht erwünscht. Die Angst vor einer Vermännlichung von Sportlerinnen wurde deshalb verbreitet, da es scheinbar die Gebärfähigkeit der Frauen beeinträchtigen und der Mythos der weiblichen Schwäche aufgehoben werden konnte. Das wiederum barg die Gefahr, dass an den auf Geschlechterpolarität aufbauenden herrschenden Machtverhältnissen gerüttelt werden konnte. Für die Mädchen und Frauen bedeutete dies eine erhebliche Einschränkung in ihren eigenen körperlichen Entscheidungsfreiheiten sowie in ihren sportlichen Bewegungs- und Wahrnehmungserfahrungen.
Mit der administrativen und inhaltlichen Umgestaltung der schulischen Leibeserziehung im Dritten Reich wird ein Prozess eingeleitet, der mit der ,,Gleichschaltung des Turnunterrichts mit den rassistischen, antidemokratischen und militärischen Zielen und Dogmen‘‘3 der nationalsozialistischen Weltanschauung endete. Ganz dem Rollenverständnis der Nationalsozialisten entsprechend, wurden auch in der Leibeserziehung den Jungen und Mädchen kategorisch unterschiedliche Aufgabenfelder und gesellschaftliche Bereiche zugeschrieben. Innerhalb dieses Geschlechterdualismus und der bereits angesprochenen geringeren Wertschätzung des Frauensports, stellt sich bei der Untersuchung nach der Verwirklichung der nationalsozialistischen Frauenideologie in der Leibeserziehung der Mädchen und Frauen im Dritten Reich folgende Frage: Inwiefern wurde die völkische Leibeserziehung der Mädchen und Frauen im Dritten Reich für die Zielführung der nationalsozialistischen Ideologie instrumentalisiert? Diese Forschungsfrage dient als Untersuchungsgegenstand dieser Masterarbeit.
Für die Darstellung und Ermittlung der völkischen Leibeserziehung der Mädchen und Frauen im Dritten Reich, wird der politikgeschichtliche und sportgeschichtliche Ansatz miteinander verknüpft. Damit wird sowohl die Auffassung der schulischen Leibeserziehung im Nationalsozialismus anhand historischer Sinn- und Wahrnehmungsstrukturen des Sports untersucht als auch gleichzeitig diese sporthistorische Wahrnehmung im Dritten Reich in Verbindung mit politisch handelnden Personen und staatlichen Maßnahmen gesetzt. Hierfür erfolgt sowohl eine Untersuchung zur politischen und gesellschaftlichen Instrumentalisierung der schulischen Leibeserziehung der Mädchen und Frauen auf institutioneller Ebene mittels staatlicher Richtlinien und Anordnungen. Andererseits wird auf die gesellschaftliche und soziologische Ebene durch eigenständige Veröffentlichungen der FachvertreterInnen und PädagogInnen innerhalb verschiedener Monographien und Zeitschriften aufmerksam gemacht.
Für eine kritische Auseinandersetzung mit der Verwirklichung der nationalsozialistischen Ideologie im Kontext der schulischen Leibeserziehung dienen als grundlegende Quellen die Werke Hitlers und Baeumlers, die Richtlinien und die Zeitschriften ,Politische Leibeserziehung‘ sowie ,Leibesübungen und körperliche Erziehung‘. In der schulsportgeschichtlichen Forschung zur Zeit des Nationalsozialismus haben besonders die Historiker Lorenz Pfeiffer und Hajo Bernett hervorragende Arbeit geleistet und gute Überblickswerke verfasst, bei denen jedoch bisher weniger der Geschlechterdualismus und das nationalsozialistische Frauenbild mit einbezogen wurden. Aus diesem Grund sind für den frauensportgeschichtlichen Forschungsschwerpunkt des Nationalsozialismus vor allem die Autoren Michaela Czech und Gertrud Pfister bedeutsam.
Inhaltlich werden zunächst die historischen Voraussetzungen der Leibeserziehung zur Zeit der Weimarer Republik erklärt, sodass in den darauffolgenden Kapiteln eine Kontextualisierung der reformpädagogischen Leibeserziehung mit der völkischen Leibeserziehung der Mädchen und Frauen im Dritten Reich möglich ist. Daraufhin werden die ideologischen und bildungstheoretischen Grundsätze der Leibeserziehung dargelegt, wobei inhaltlich eine deutliche Abgrenzung zwischen der Leibeserziehung der Jungen und der Mädchen erfolgt. In diesem Kapitel werden drei personelle Schwerpunkte gesetzt. Zum einen werden die Grundsätze Hitlers und Baeumlers erklärt, da beide eine entscheidende Rolle in der politischen Neuorientierung der nationalsozialistischen Leibeserziehung spielten. Zum anderen werden weitere nationalsozialistische Publikationen für die theoretische Grundlegung der völkischen Leibeserziehung der Mädchen und Frauen untersucht.
Mit Beginn des vierten Kapitels startet der Schwerpunkt dieser Arbeit, indem die nationalsozialistischen Körperbilder, welche eng mit der nationalsozialistischen Leibeserziehung verbunden waren, erklärt werden. Hierbei steht das nationalsozialistische Rasseverständnis im Mittelpunkt, in welchem der arische Körper als Leitbild diente und der weibliche Körper auf die Funktion beschränkt wurde, gesunde Nachkommen zu gebären. In dem darauffolgenden Kapitel wird die hier zu untersuchende Forschungsfrage beantwortet, in dem die schulsportlichen Vorgaben und Maßnahmen für Mädchen und Frauen im Verhältnis zur nationalsozialistischen Ideologie untersucht werden. Dabei werden die veränderten Zielstellungen, Inhalte und Methoden der Leibeserziehung betrachtet. Dieser Gliederungspunkt wird geschlechtsspezifisch getrennt, wobei die Leibeserziehung der Jungen nur knapp skizziert wird, sodass die darauffolgende Darstellung der Leibesübungen der Mädchen und Frauen mit denen der Jungen und Männer vergleichbar ist. Außerdem wird die besondere Rolle der Gymnastik- und Tanzerziehung als Hauptbestandteil der weiblichen Leibeserziehung beschrieben und anhand verschiedener Zeitschriftenartikel analysiert.
Daraufhin wird die Umsetzung der nationalsozialistischen Leibeserziehung unter den Kriegsvorbereitungen und unter den Zuständen des Zweiten Weltkrieges untersucht. Vor allem die organisatorischen Gegebenheiten, die bei der Durchführung der Leibesübungen für Schwierigkeiten sorgten, werden dabei dargelegt. Abschließend wird das Fazit in Form einer Schlussbetrachtung formuliert.
2. Die Leibeserziehung in der Weimarer Republik
Die schulische Leibeserziehung der Weimarer Republik unterschied sich in mehreren Aspekten von der sich später entwickelnden politisch-völkischen Leibeserziehung der Nationalsozialisten. In den 1920er Jahren fanden die Konzepte der Reformpädagogik und des Natürlichen Turnens vermehrt Zustimmung in der Sport- und Schulsportbewegung. Hierbei kam es zu einer Erneuerung der Schulpädagogik mit dem Ziel der Überwindung der Lern- und Buchschule des 19. Jahrhunderts, mit der eine Reform des bisherigen Erziehungs- und Bildungssystems verbunden wurde. Neben der Neuorientierung in der Sportpädagogik wurden insbesondere die Leibeserziehung, das Mädchenturnen und die Turnlehrerausbildung aufgewertet. Sie spiegelten die größten Erfolge der reformpädagogischen Erneuerung wider.4
Schon in den ersten Jahren der Weimarer Republik wurde sich der Frage nach den Leibesübungen in den Schulen gewidmet, sodass bereits 1919 Ziele und Maßnahmen formuliert wurden:
,,Reich und Staat sind weiterhin zur Förderung der Pflege der Leibesübungen verpflichtet durch:
- Erhöhung der Zahl der Turn- und Spielstunden in den Schulen
- Einführung des obligatorischen Turn- und Schwimmunterrichts in den Fortbildungsschulen‘‘5
Oftmals wurde von den Verbänden und Ministerien eine Erhöhung der Sportstundenzahl gefordert. So versuchte beispielsweise der Deutsche Reichsausschuss für Leibesübungen (DRA) den Sportunterricht in den Schulen auf bis zu sechs Wochenstunden zu erhöhen. Trotz erheblicher Versuche hatte der Reichstag keinen Entschluss zur täglichen Sportstunde fassen können. Allerdings konnten auch Teilerfolge erzielt werden, indem das preußische Kultusministerium im März 1921 einen Erlass veröffentlichte, der eine Erhöhung der Sportstundenzahl auf drei wöchentliche Turnstunden ab dem 4. Schuljahr festlegte. Weiterhin zeugte der preußische Ministerialerlass vom 24.01.1920 von einer Aufwertung der Leibeserziehung in den Schulen, welcher nun auch das Turnen zur Beurteilung der Leistungen der männlichen Schüler für eine Versetzung miteinbezog.6 Mit den preußischen Richtlinien für Jungen an höheren Schulen von 1925 wurde erstmals ein Wandel von der Unterwerfung der Leibeserziehung unter den geistigen Fächern, hin zu einem partnerschaftlichen Verhältnis geschaffen und außerdem ein Bedeutungszuwachs des Sportunterrichts in der Gesamterziehung erreicht.7
Die in dem innovativen Konzept der Schulsportbewegung formulierten Ziele und Maßnahmen basierten auf dem schon erwähnten Entwurf der reformpädagogischen Bewegung, welche sich gegen die formalisierte Lernschule des 19. Jahrhunderts richtete. Aufgrund der vielschichtigen Strömungen und den unterschiedlichsten Sinnvorstellungen, welche die Reformpädagogik ernährten, fällt es schwer eine allgemeine Charakterisierung dieser pluralistischen Bewegung zu vollziehen. Jedoch beschreibt ein gemeinsamer Auftrag die Hinwendung zum Objekt, zu dem individuellen Kind im Unterricht. Oftmals wurde hier von ,einer Erziehung vom Kinde aus‘ gesprochen. Nicht mehr die Wissensvermittlung stand im Vordergrund, sondern die Erziehung und die Entwicklung des Kindes. Hiermit wurden neben der Förderung des Intellekts ebenso die Förderung der Persönlichkeiten als Leitmotiv des pädagogischen Handelns angesehen.8
Das im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert angewandte formalistische Turnen von Spiess und Maul wurde nun in Folge der reformpädagogischen Einflüsse kritisiert und verdrängt. Für die Neuorientierung in der Sportpädagogik sorgten zahlreiche Impulse der eigenständigen Disziplinen der Leibesübungen, wie beispielsweise die Gymnastikbewegung, die Wanderbewegung oder die Bewegung des Natürlichen Turnens.9 Besonders das Konzept des Natürlichen Turnens hatte das reformpädagogische Denken in der Schulsportpolitik beeinflusst und weiterentwickelt. Diese Form der Turn- und Körpererziehung wurde von den Österreichern Karl Gaulhofer (1885-1941) und Margarete Streicher (1891-1941) entwickelt und erstmals in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg eingeführt. Seit Beginn der Weimarer Republik setzte sich Erich Harte (1855-1955), Vorsitzender des preußischen Turnervereins, für die Einführung und Publikation des Natürlichen Turnens in Deutschland ein.10
Innerhalb dieses Konzepts wandte man sich gegen das künstliche und förmliche Turnen des 19. Jahrhunderts und zielte auf ein Turnen, welches sich an der Natur der Schülerinnen und Schüler11 orientierte. Die Naturmäßigkeit und die Lebensnähe der SuS standen hierbei im Vordergrund. In Bezug auf die schulische Leibeserziehung bedeutete dies, die Abkehr von starren Haltungsformen und formalisierten Vorschriften des Gerätturnens. Das Natürliche Turnen sollte eine Entwicklungshilfe darstellen, mit der die natürlichen physischen und psychischen Anlagen der SuS hervorgebracht werden sollten. Das Bewegungsziel im Sportunterricht wurde nun durch die biologisch-physiologischen Gesetzmäßigkeiten der SuS bestimmt, sodass der Schwerpunkt auf die individuelle Bewegungslösung verschoben wurde.12
Methodische Maßnahmen für die erfolgreiche Durchführung des Natürlichen Turnens waren unter anderem das selbstständige Entdecken von Bewegungsformen, das selbstständige Lösen der Bewegungsaufgaben und die Nichtbereitstellung von Lösungsschemata, sodass die SuS nicht in fertige Muster gedrängt wurden. Für die TurnlehrerInnen bedeutete dies, dass sie keine weiteren Methoden auswählten, mit denen die SuS auf direktem Wege das Klassenziel erreichen sollten, vielmehr sollten Unterrichtstechniken verwendet werden, welche die Entwicklung des einzelnen Individuums in der Klasse förderten.13 Weiterhin erhielten die Bereiche Gesundheitspflege und Lebensführung Einzug in die körperliche Erziehung, sodass neben den Leibesübungen auch gesundheitlich-hygienische Inhalte angestrebt wurden.14
Nachdem den Mädchen und Frauen in der Weimarer Republik prinzipiell der Zugang zu allen Bildungsinstitutionen offenstanden, schien es so, als würde die Benachteiligung des weiblichen Geschlechts aufgehoben worden sein. Auch in den Bereichen der sportlichen Erziehung wurde versucht, den Jungen und Mädchen gleichermaßen Aufgaben zuzuschreiben. In Preußen versprach man sich mit der schulischen Leibeserziehung von beiden Geschlechtern den Wiederaufbau und die Pflege der ,Volksgesundheit‘. Jedoch sahen nicht alle Länder die weibliche Leibeserziehung als bedeutend und sittlich an, sodass beispielsweise in Bayern die katholische Kirche forderte, dass für die weibliche Leibeserziehung ein Ort gewählt werden müsste, der nicht von der Öffentlichkeit einzusehen sei.15
Auf der methodischen und inhaltlichen Ebene wurde sich an den damals herrschenden Rollenbildern und -aufgaben orientiert. Die weibliche Leibeserziehung sollte der körperlichen und seelischen Wesensart der Mädchen entsprechen und sie auf ihre spätere Aufgabe als Frau und Mutter vorbereiten. Die inhaltlichen Schwerpunkte wurden hier auf das Turnen, das Spiel und das Tanzen gesetzt. Bei der methodischen Vorgehensweise wurden Höchstleistungen, wie bei den männlichen Leibesübungen gefordert, mit dem Verweis auf die prädeterminierten Körperverhältnisse der Mädchen und Frauen abgelehnt.16
[...]
1 Zimmermann, Gertrud, Der Weg der weiblichen Leibeserziehung, in: Leibesübungen und körperliche Erziehung, 56. Jahrgang (1937), Heft 4/5, S. 86-89, hier S. 87.
2 Hitler, Adolf, Mein Kampf, Band 2, München 1943, S. 453.
3 Pfeiffer, Lorenz, Turnunterricht im Dritten Reich, Köln 1987, S. 3.
4 Vgl. Gruppe, Ommo & Krüger, Michael, Einführung in die Sportpädagogik, 3., neu bearbeitete Auflage, Schorndorf 2007, S. 144.
5 Arbeiter-Turnzeitung (ATZ), Zentralorgan des ATSB, Heft 6 (1919), S. 33, zitiert nach: Beyer, Erich, Sport in der Weimarer Republik, in: Ueberhorst, Horst (Hrsg.), Geschichte der Leibesübungen, Band 3/2, Berlin 1982, S. 657-700, hier S. 665.
6 Vgl. Beyer, Erich, Sport in der Weimarer Republik, S. 665f.
7 Stibbe, Günter, Zur Tradition von Theorie im schulischen Sportunterricht, Ahrensburg bei Hamburg 1993, S. 151.
8 Vgl. Gruppe & Krüger, Einführung in die Sportpädagogik, S. 144f.
9 Vgl. Stibbe, Zur Tradition von Theorie im schulischen Sportunterricht, S. 136.
10 Vgl. Gruppe & Krüger, Einführung in die Sportpädagogik, S. 145f.
11 Im Folgenden mit SuS abgekürzt.
12 Vgl. Stibbe, Zur Tradition von Theorie im schulischen Sportunterricht, S. 155f.
13 Vgl. Gruppe & Krüger, Einführung in die Sportpädagogik, S. 146.
14 Vgl. Stibbe, Zur Tradition von Theorie im schulischen Sportunterricht, S. 156.
15 Vgl. Pfister, Gertrud, Leibesübungen in der Weimarer Republik, in: Dies. (Hrsg.), Frau und Sport, Frankfurt am Main, 1980, S. 15-53, hier S. 44.
16 Vgl. Ottendorf, H. (Hrsg.), Richtlinien für die körperliche Erziehung an den höheren Mädchenschulen Preußens, Berlin 1926, S. 11-31.