Pionierarchitektur - Ein bergtouristisches Entwicklungskonzept für den Copland Track in Neuseeland


Mémoire (de fin d'études), 1999

109 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhalt

Grundlagenforschung
Geschichte des Alpinismus
Ort der Götter und Fabelwesen
Im Dienste der Wissenschaft
Poesie der Berge
Ansturm auf die Gipfel
Architektur der Berge
Gibt es eine alpine Architektur?
Regeln für den, der in den Bergen baut
Das Berghotel
Die Schutzhütte
Die Biwakschachtel
Landschaftsgebundenes Bauen
Eigenschaften von Landschaft
Konfrontation der Natur mit dem Bauwerk
Wie sollen wir bauen?
Architektur in der Region
Zum Begriff der Region
Regionales Bauen
Regionalistische Architektur
Zur Sache
Schluß
Der Copland Track
Geographische Parameter
Geschichte
Bestand

Inspirationen
Neuseeländische Architekten
Ian Athfield
Michael Wyatt
Architekturbüro Vandkunsten
Ersatzbau der Stüdlhütte von Albin Glaser

Entwurfskonzept
Grundgedanken
Karangarua Lodge
Standort
Entwurfsidee
Material und Konstruktion
Ver- und Entsorgung
Splinter Creek Hut
Standort
Entwurfsidee
Material und Konstruktion
Ver- und Entsorgung
Lean Peak Shelter
Standort
Entwurfsidee
Material und Konstruktion
Ver- und Entsorgung

Anhang

Literatur

Grundlagenforschung

Geschichte des Alpinismus

Ort der Götter und Fabelwesen

Die Beziehung des Menschen zur Bergwelt ist uralt und reicht bis in die graue Frühzeit der Menschheitsgeschichte zurück. Es darf als gesichert angenommen werden, daß Gebirgsketten wohl zu keiner Zeit einen wirklich unüberschreitbaren Wall für den Menschen gebildet haben. Es liegen unverkennbare Anzeichen vor, daß schon in sehr früher Zeit selbst mächtige Gebirge mit gewaltiger Längen- und Breitenausdehnung durchschritten wurden, wenn auch naturgemäß immer nur auf den niedrigsten, womöglich schneefreien Einsenkungen.

Man kann davon ausgehen, daß die erste Begehung der Gebirge aus dem praktischen Bedürfnis und den Notwendigkeiten des menschlichen Lebens hervorgegangen ist. Im Verkehr von Mensch zu Mensch, von Stamm zu Stamm, vorzüglich aber im gegenseitigen Austausch von Erzeugnissen und Lebensbedürfnissen durch den frühen Handel gelangten einzelne Menschen bald auch über sperrende Naturhindernisse, wie die Gebirge, in fremde Länder. Die Gebirge waren bei diesen Wanderungen niemals das Ziel selbst, sondern nur der - im übrigen gern gemiedene - Weg zum Ziel.

Soweit nun diese Menschen jener Zeit überhaupt mit dem Gebirge in Berührung traten, oder in Sicht seiner Erhebungen wohnten, betrachteten sie diese mit Ernst und Ehrfurcht. Die Gipfel lagen für sie in unerreichbaren Höhen, umgeben von allen Geheimnissen des Unbekannten und Unzugänglichen. Was lag da näher, als daß der damalige Mensch in den hochragenden Gipfeln der Berge eine für ihn unerklärliche, überirdische Erscheinung erblickte, die er darum auch zum Wohnsitz höherer Welten ausgestaltete? Die für ihn unerreichbaren Gipfel wurden zum Symbol der Ewigkeit und zum Träger der Gottheit.

Diese Verehrung der Bergwelt als Sitz von Gottheiten war aber nicht nur den frühesten Naturvölkern eigen. Sie erhielt sich Jahrhunderte hindurch und ist in gleicher Weise auch bei den Hochkulturen des Altertums – und hier wiederum insbesondere bei den Hellenen – zu finden. Grundsätzlich galt den alten Griechen jeder hohe Berg als natürlicher Thron der Götter. Der thessalische Olymp wurde für sie zum Götterberg schlechthin, zum Wohnsitz der Titanen. „Heilige Berge“ finden sich auch in allen übrigen Ländern, vor allem aber im alten Morgenland. Dem Götterberg „Meru“ der alten Inder im Himalaja gebührt in dieser Hinsicht der Vorrang. Aber auch der Sinai im Nahen Osten galt bei seinen Umwohnern als unnahbarer Berg Gottes - schon lange vor Moses.

Die Beziehung des Menschen zur Bergwelt selbst war also vorwiegend religiöser Art, insofern die Menschen, wie heute noch im fernen Osten, in den Bergen die Wohnstätte geheimnisvoller Kräfte und den Sitz von Gottheiten sahen. Selbst die Vorstellung vom Tod wurde mit der Bergwelt in Verbindung gebracht. Das Hochgebirge wurde unter diesen Verhältnissen so gut wie völlig gemieden, sahen die alten Kulturen in den unbekannten Gebirgen voll Schrecken und Einsamkeit doch nicht nur den Aufenthaltsort überirdischer Wesen, sondern auch einen fürchterlichen Ort des Grauens und der Strafe.

Im Grau der frühen Weltgeschichte verliert sich bei welchen Gelegenheiten und an welchen Orten der Mensch zum ersten Mal seinen Fuß auf die Gipfel größerer Bergerhebungen setzte. Es ist aber zu vermuten, daß bei aller Ehrfurcht die ersten Berge als Sitz der Gottheiten erklommen wurden, um den Göttern Verehrung zu zeigen. Der naive Glaube, daß die von den Höhen ausgehenden Gebete und Anrufungen infolge der Erhebung des Menschen über die Erdniederungen von den Gottheiten leichter erhört werden würden, wurde später auch vom Christentum aufgegriffen und oftmals verwertet. Im Buddhismus wurden in Ausübung tiefer Religion regelrechte Wallfahrten auf Berggipfel unternommen, von denen mache bis ins Hochgebirge führten.

Mit ziemlicher Klarheit ergibt sich daraus, daß die erste Erschließung von Gebirgen durch Überschreitung von Pässen aus reinen Zweckmäßigkeitsgründen hervorging, wogegen die Triebfeder zu den ersten Gipfelbesteigungen rein ideeller Natur war. Wie aber bei der ersten Eröffnung von Pässen durch den Handelsverkehr das Gebirge selbst niemals Zweck war, niemals um seiner selbst Willen aufgesucht wurde, sondern nur unter dem Zwang der Notwendigkeit durchschritten wurde, so galt auch den von ihren Religionen geführten ersten Gipfelersteigern der Berg selbst nichts und hatte für sie nur als Träger ihres Ziels Bedeutung. Auch muß betont werden, daß die Überschreitung von Pässen durch den Handel sich naturgemäß immer nur auf einige wenige, besonders geeignete und leicht begehbare Gebirgseinschartungen beschränkte. Was links und rechts des Weges lag, blieb gleich den übrigen Gebirgsgebieten in tiefstes Dunkel gehüllt, wie denn auch die von den Religionen erschlossenen Berggipfel auf einzelne, besonders begünstigte Erhebungen beschränkt blieben.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Zur Zeit der Römer wurden zahlreiche Alpenpässe befestigt und ausgebaut. Sie dienten dem verstärkten Handelsverkehr, aber auch militärischen Zielen. Im Mittelalter wurde das Reisen zudem erleichtert durch die allenthalben in den Alpen ins Leben gerufenen Hospize. Infolge ihrer Stille, Abgeschiedenheit und großartigen, ehrfurchtgebietenden Erscheinung vermochten die Alpen sich als Gebiet für religiös-philosophische Betrachtung, Beschaulichkeit und Weltflüchtigkeit in dieser Zeit eine besondere Geltung zu verschaffen. Sie wurden zur Zufluchtstätte weltabgewandter Einsiedler. Die Art tiefen Eindringens in die Gebirgswelt vollzog sich in der festen Form klosterartiger Ansiedlungen.

Das Empfinden des Mittelalters der alpinen Landschaft gegenüber war im wesentlichen das antike, nur mit dem Unterschied, daß an die Stelle der einfachen Interesselosigkeit des Altertums allmählich die abergläubische Furcht vor dem Unbekannten, Unerforschten und Übernatürlichen getreten war. Eine Reise durch die Alpen galt zu jener Zeit als etwas Außergewöhnliches, und nur mit Empfindungen des Schauders vermögen die Reiseschilderungen dieser Zeit der Erscheinungen des Hochgebirges zu gedenken. In tiefen Bergschluchten sollten Drachen hausen, Kobolde und Gespenster in finsteren Höhlen hocken und der Teufel selbst am Wege lauern, um den einsamen Wanderer in den Abgrund zu stürzen. Daß ein Mensch bei solcher Gefährdung und derart übertriebenen Vorstellungen ohne zwingende Notwendigkeit sich in das Hochgebirge verlief, war eine seltene Ausnahme und galt als unerhörtes Vorkommnis, ganz abgesehen davon, daß in jener Zeit kaum jemand zu der Ersteigung eines aussichtsreichen Gipfels besondere Lust verspürte.

Furcht war es, Furcht vor allen möglichen, vor wirklichen und eingebildeten Dingen, welche die Menschen jener Zeit von den Bergen zurückhielt. Zu einer Zeit, in der die Erde bereits umsegelt war, lag über den Alpen, wie selbstverständlich auch über den anderen Hochgebirgen der Welt, noch der dichte Schleier des Unbekannten und der Unberührtheit.

Zum ersten Mal wurde der finstere Bann, den das Mittelalter über die Hochwelt der Berge gelegt hatte, im 14. Jahrhundert von dem sonnigen Italien aus gebrochen. Zu derselben Zeit, da man allgemein in den Bergen nur Gespenster und Tierungeheuer verborgen wähnte und Hexen tanzen sah, richtete der italienische Gelehrte und Dichter Francesco Petrarca (1304 - 74), ein Zeitgenosse Dantes, den Blick auf die Alpengipfel. Von der Überzeugung erfüllt, daß sich von diesen Gipfeln aus weitere Horizonte eröffnen würden, unternahm er eine Bergfahrt um ihrer selbst willen. Die alpinhistorische Forschung bezeichnet Pertrarca mehrfach als den „geistigen Vater des Alpinismus“. Petrarcas Vorgehen war rein alpin, sowohl hinsichtlich der Entstehung und des Ausgangspunktes seines Vorhabens, als auch durch sein Verhalten während des Aufenthaltes am Gipfel, wo er die Aussicht bewunderte, um sie später eingehend zu schildern. Die Leistung Petrarcas ist dennoch mehr eine Einzelerscheinung.

Die „Entdeckung“ der Alpen, ihre Erschließung und Erforschung im großen Maßstab mußte somit einer noch späteren Zeit vorbehalten bleiben.

Im Dienste der Wissenschaft

Die neue Zeit der Weltgeschichte wird in alpiner Hinsicht eröffnet durch eine der glanzvollsten Gestalten am Ausgang des Mittelalters, durch Leonardo da Vinci (1452 - 1519). Als Geist von universeller Größe, als Maler des Gebirges, gleichzeitig aber auch als Gelehrter und Forscher in allen mit der Natur in Verbindung stehenden Fragen, erschienen ihm die Bergerhebungen der höchsten Beachtung wert. Leonardo da Vinci ist vielleicht der erste Mensch, der der wilden Majestät des Hochgebirges ein durchaus sympathisches Gefühl entgegenbrachte. Des öfteren suchte er sie auf, um Einblick in ihren Aufbau und ihre Bodengestaltung zu gewinnen, die Höhen zu messen und die Gesetze der Physik zu verstehen. Besonders oft besuchte er die Berge um den Comer See, er soll aber auch größere Gipfel der Westalpen erstiegen haben.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Handel, Religion und Politik, die in der Weltgeschichte des Altertums und des Mittelalters, wenn auch nur mittelbar, manchen Beitrag zur Erschließung der Gebirge geleistet haben, rückten von nun an eher in den Hintergrund. An ihre Stelle trat der Wissensdrang, der Forschertrieb des Menschen. Um diese Zeit ging die Würdigung der Berge und die Betätigung in ihnen von unternehmenden Einzelpersonen, von Dichtern und Malern auf den breiten Kreis der Gelehrten, auf die Humanisten und die Topographen und später die Botaniker über. Insbesondere in der Schweiz des 16. Jahrhunderts gewann die Enthüllung von Geheimnissen der Alpen an Bedeutung. Um das Material für ihre Topographien zu sammeln, unternahmen die Urväter Tschudi, Münster, Stumpff und Schöpf, aber auch ihre wissenschaftlichen Nachfolger des öfteren selbst Alpenreisen, wirkliche alpine Rundreisen, in deren Verlauf sie die wichtigsten der damals begangenen Pässe der Schweiz überschritten. Das Augenmerk lag zu jener Zeit klar auf den alpinen Übergängen, während die Gipfel des Hochgebirges noch in scheinbarer Unerreichbarkeit lagen.

1555 trat ein Mann in alpiner Hinsicht in den Vordergrund, der für die Entwicklung des Naturempfindens gegenüber der Gebirgswelt unter seinen Zeitgenossen größte Bedeutung gewinnen sollte: Conrad Gesner (1516 - 65), ein berühmter Züricher Naturforscher und Polyhistor. Im genannten Jahr bestieg Gesner den Gipfel des sagenumwobenen Pilatus und richtete sich mit seinen späteren Darlegungen entschieden gegen die dem Berg anhaftenden abergläubischen Anschauungen. Zum ersten Mal zeigte sich damit ein Lichtblick im hoffnungslos dunklen Nebel finsterer mittelalterlicher Anschauungen.

Gesner war vor allem Botaniker, und seine diversen Bergreisen hatten in erster Linie das Studium der alpinen Flora zum Ziel. Aber er war auf seinen Bergfahrten nicht nur Gelehrter, er fand seine Freude auch an der weiten Aussicht und an der Vielfalt der Bergbildungen. Das Verständnis für die landschaftliche Schönheit der Alpenwelt hat in ihm einen Vorkämpfer gefunden.

Langsam, unendlich langsam, verglichen mit den Entwicklungsgeschwindigkeiten der heutigen Zeit, vollzogen sich während der ersten Jahrhunderte ihres Erscheinens die Fortschritte in der Alpintouristik. Einfache Berge, leicht und mühelos zu erreichende Gipfel bildeten das bevorzugte Ziel. Unbeholfenheit und Unvertrautheit mit dem alpinen Gelände, nicht zuletzt auch vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber der Bergwelt an sich verhinderten ein schnelleres Voranschreiten auf dem eingeschlagenen Weg.

In Anbetracht dieser geringen alpintouristischen Betätigung des 16. Jahrhunderts konnte sich auch die Kartographie jener Zeit im allgemeinen nicht über bescheidene Anfänge erheben. Und doch wiesen die entstandenen Karten von Aventinus, die Schweizer Karte von Tschudi, die Landtafel von Apian und die Kartenwerke von Mercator schon einige Fortschritte gegenüber den Strichzeichnungen vergangener Dekaden auf. Aber auch diese Karten spiegelten immer noch in der figürlichen und gleichmäßig kegelartigen Darstellung der Berge nur ein Zerrbild der Alpen wider.

Während in den italienischen, französischen und deutschen Alpen nichts geschah, nichts versucht wurde, um die Irrtümer und falschen Anschauungen zu zerstreuen, während dort selbst zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch Veröffentlichungen erschienen, die des Mittelalters würdig waren, so ist demgegenüber festzustellen, daß alle bisher geschilderten Anstrengungen, das Wissen über das Gebirge zu heben und sein Wesen klarzustellen, von der Schweiz ausgegangen war. Das war in gewissem Sinne das Werk der Glaubensreformation, die in die kulturelle Entwicklung der Schweiz tief eingriff. Wenn auch schon im 16. Jahrhundert die Elemente vorhanden waren, durch deren Zusammenwachsen der Alpinismus hätte entstehen können, so sollte der Sturmlauf auf die Gipfel der Schweiz noch lange nicht beginnen.

Die von der Tätigkeit Gesners ausgegangene bescheidene Wirkung und damit fortschreitende Entwicklung des nun bereits in Erscheinung getretenen alpinen Gedankens wurde wieder im Keim erstickt durch die mit dem 17. Jahrhundert einsetzenden religiösen Zwiste und Kriege, die in ihrer Leidenschaftlichkeit die Kulturen ganz Europas erschütterten und sie in ihrer allgemeinen Entwicklung um Jahrzehnte zurückwarfen. Die frühen mittelalterlichen Anschauungen griffen wieder um sich und allerlei Fabeln, so z.B. die Drachensagen, kamen aufs neue in Umlauf. Von einer touristischen Betätigung in den Alpen konnte kaum mehr die Rede sein.

Abgesehen von einigen Darstellungen der bildenden Kunst, befaßte sich die gebildete Welt des 17. Jahrhunderts überhaupt nicht mehr mit den Alpen, die Künstler betrachteten das Gebirge nur von weitem und benutzen es in ihren Werken nur als nebensächliches Beiwerk, als Hintergrund für die bildliche Handlung. Die Augen und Bestrebungen der gebildeten Welt waren in diesem Zeitabschnitt ausschließlich nach Paris und Versailles gerichtet, mit ihrem Sonnenkönig Louis XIV. von Frankreich (1638 - 1715). Die Alpen mit ihrem rauhen und strengen Aussehen waren keineswegs imstande, die schöngeistige Welt jener Tage irgendwie anzuziehen. Die Alpen waren fast gleich jener „terra incognita“ als welche die frühen Geographen die Wüsten Afrikas und Asiens auf ihren Karten verzeichneten.

Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts sollte es dauern, bis für das Verständnis der Bergwelt die Morgenröte anbrach. Nunmehr sollten auch die großen Werke der alpinen Wissenschaftler entstehen, jene Werke, die zum ersten Mal im großen Maßstab den Versuch unternahmen, den über den Alpen und deren Erscheinungen liegenden Schleier zu lüften. Jenen Männern war die Bergwelt nur Studiengegenstand, doch trotz ihrer ausschließlich wissenschaftlichen Ziele, die den Arbeiten dieser Gelehrten zugrunde lagen, sollte ihr Wirken eben durch das Bestreben, die Erkenntnis der Alpen in ihrer Tatsächlichkeit zu fördern, auch in rein alpiner Hinsicht von Bedeutung werden.

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Der Anstoß ging von dem Züricher Professor und Mediziner Johann Jakob Schleuchzer aus. Er griff auf Gesner als Vorbild zurück. Wie dieser nahm auch er die Alpen in seinen Erforschungsplan der schweizerischen Landeskunde und Naturgeschichte auf und wandte sich dem Gebirge zu. Im scharfen Gegensatz zu seinem gründlichen Wissen stand sein Glauben an die in unerforschten Tiefen der Alpen hausenden Drachen, die er sogar in bestimmte Klassen teilte: in geflügelte und flügellose, mit Füßen versehene und fußlose. Hiermit bewies Schleuchzer, wie sehr seine Zeit auch in ihren besten Geistern immer noch in abergläubischen Vorstellungen der dunkelsten Art befangen war.

Schleuchzers Gebirgsfahrten waren wirkliche Entdeckungsfahrten, wenn man sich vor Augen hält, daß nicht nur die alpinen, sondern überhaupt alle geographischen Kenntnisse seiner Zeit noch in den Kinderschuhen steckten. Da auch seine Schriften gleich denen seiner Vorgänger nur für den engen Kreis der Gelehrten bestimmt waren, mußte sein alpines Wirken trotz aller wissenschaftlichen Bedeutung ebenfalls der Nachhaltigkeit und Tiefe entbehren. Sein Einfluß hat auch kaum die Grenzen seines Heimatlandes überschritten. Immerhin war durch sein Vorgehen der auch nach Beginn der neuen Zeit noch Jahrhunderte lang über den Alpen gelegene Bann nun endgültig gebrochen. Sie waren in die Beachtung der Menschen, zunächst vor allem der Gelehrtenkreise, eingetreten, um fortan nicht mehr aus dem menschlichen Gesichtskreis zu verschwinden. Doch blieb diese beginnende Entschleierung der Berge vorerst noch örtlich begrenzt; denn wenn man in der Schweiz auch anfing, die Alpen zu erkennen und zu werten, so blieben die übrigen Länder, Frankreich, Italien und Deutschland hiervon noch unberührt.

Poesie der Berge

Im großen und ganzen betrachtet, war die Bewegung zugunsten der Erkenntnis der Berge seit Beginn der neuen Zeit im wesentlichen von den Naturforschern, den Botanikern und den Medizinern ausgegangen. Man kann also im allgemeinen sagen, daß die Naturwissenschaft seit dem 16. Jahrhundert die große Bahnbrecherin in der Enthüllung der Berge war. Sie hat die Gelehrten ins Gebirge geführt und bei den Wissenschaftlern unmerklich die Liebe zur alpinen Natur, den Sinn für die Eigenart der Berglandschaft und die Wißbegier der Entdeckung im Bereich der Gebirgshöhen hervorgerufen. Nun aber sollte zu diesem gelehrten Antrieb ein Neues treten: die schöngeistige Wertung der Berge.

Prof. Albrecht von Haller (1708 - 77), der von Jugend auf die Alpen naturforschend durchstreift hatte, wurde auch zum Dichter und Sänger der Berge. Haller war ein überlegener Geist in der Kraft des Ausdrucks, sowohl in Beziehung auf seine Wissenschaft als Mediziner und Botaniker, wie auch hinsichtlich seiner Fähigkeiten als Philosoph und Dichter. Der Einfluß, den er durch die Veröffentlichung vieler bergbegeisterter Gedichte auf die gebildeten Kreise gewann, war ganz anderer Art als der Einfluß seines gelehrten Zeitgenossen Schleuchzer.

Haller war der erste, von dem gesagt werden kann, daß er eine fühlbare Wirkung gegenüber den in den Kreisen der Gebildeten über die Alpenwelt herrschenden Vorurteilen erzielte. Sein beschreibendes Lehrgedicht „Die Alpen“ von 1732, die Schilderung einer in der Schweiz unternommenen Bergwanderung, erregte großes Aufsehen und fand ein für jene Zeit geradezu riesige Verbreitung. Dieses Gedicht, das mehr den Alpenbewohnern als der Alpenlandschaft galt, und welches das Bergvolk als eine kleine, patriarchalische, glückliche und gastfreie Welt schilderte, deren Tugend den verwöhnten und verweichlichten Städtern vorbildlich gegenübergestellt wurde, wirkte mehr für die Berge als jeder der zeitgenössischen dickleibigen Bände wissenschaftlicher Art.

Hallers Gedicht war ein literarischer Erfolg, der einen fühlbaren Einfluß auf die Voraussetzungen alpinen Reisens ausübte und die Art der alpinen Wißbegier allgemein veränderte. Bisher hatte die naturwissenschaftliche Beachtung der Alpen, vor allem in der Schweiz, jede anderer Regung überwuchert. Die Alpen bestanden überhaupt nur, wenn sie als Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen in den Bereich der menschlichen Betrachtung einbezogen worden waren. Seit Haller sie besungen hatte, änderte sich das. Die nichtwissenschaftliche Welt begnügte sich nun nicht mehr damit, sie von weitem zu sehen, man wollte sie auch besuchen, sie durchwandern, um selbst die Eindrücke zu verspüren, von denen Haller so vielversprechend geschrieben hatte.

Was von den Männern der Wissenschaft nicht erwartet werden konnte und was Haller nicht vollständig gelungen war, das vollendete der französische Schriftsteller und Philosoph Jean Jaques Rousseau (1712 - 78) zu Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Während die Gelehrten und Professoren über Eis und Gletscher diskutierten, während die wissenschaftlichen Reisen anfingen, sich über alle Länder auszudehnen, führte Rousseau die Alpen erfolgreich in das schöngeistige Schrifttum seiner Zeit ein.

Durch die Wirkung seiner Schriften war es Rousseau endgültig gelungen, dem Verständnis für die Wunder der Bergwelt auch Eingang in die Kreise der durch Überkultur verwöhnten Gesellschaft seiner Zeit zu verschaffen. Genf wurde der Ausgangspunkt dieser Umwälzungen der Begriffe. Rousseaus empfindsame Betrachtungen der Alpenlandschaft fanden weit über die Grenzen der Schweiz hinaus willige Aufnahme. Sie förderten damit auch nachhaltig die Erschließung der Schweiz und ihrer Bergwelt als Reisegebiet, so daß Schweizreisen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts für die führenden Köpfe in Deutschland, Frankreich und England bereits eine Sache des guten Tones geworden waren.

Rousseaus Vorgänger Haller hatte die Gebirgsnatur nicht wie die Gelehrten rein verstandesmäßig, sondern als erster bereits mit dem Gefühl erfaßt und sie dadurch lieben und schätzen gelernt, aber er hatte für sie noch keine alles andere ausschließende Verehrung errichtet, sie nicht als überlegene Erzieherin betrachtet. Rousseau tat diesen neuen Schritt: er war in Wirklichkeit, nach einem Ausdruck der damaligen Zeit, ein Verliebter der Natur. Rousseau faßte die Natur in einer philosophischen und romantischen Art auf. Unter seiner Feder wurde die rauhe und gräßliche Natur zu erhabener Schönheit. Aber was Rousseau in der Landschaft suchte war nicht die Schönheit des Anblicks als solche, war nicht, was gefällig, anmutig, reizend ist: er suchte vielmehr, was seine Seele mit Staunen und Bewunderung erfüllte, was den Geist in irgendeiner Form, in nachdenklicher oder erschütternder Weise bewegt.

Mit diesen beiden hervorragenden Poeten Haller und Rousseau waren in der Betrachtung der Gebirgswelt zwei neue Gesichtspunkte in Erscheinung getreten, die sich für die Förderung des Verständnisses der Bergwelt als ungemein wirksam erweisen sollten: das literarisch-ästhetische und das philosophisch-moralische Element., Dabei ist zu beachten, daß diese neuen Elemente in beiden Fällen in sentimentaler, also in empfindsamer, weltschmerzlerischer Färbung erschienen. Da diese Erscheinungsformen dem Geschmack der Zeitgenossen sehr entgegenkamen, vollzog sich in überraschend kurzer Zeit ein vollständiger Umschwung in der Bewertung der Gebirgsnatur.

Rousseau, dem Apostel der Weltflüchtigen und Vorkämpfer der „Rückkehr zur Natur“, der seiner aus Kulturmüdigkeit entsprungenen Liebe zur Natur ergreifenden Ausdruck verliehen hatte, war es also vorbehalten geblieben, durch seine Schriften die Massen der Gebildeten aufzurütteln und für die Schönheit der Gebirgslandschaft zu begeistern. Sein Einfluß auf die Menschen seiner Zeit und auch die späteren Generationen war ungeheuer. Ihm kann in dieser Hinsicht niemand an die Seite gestellt werden, nicht einmal Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832), der im Ganzen drei Reisen in die Schweiz unternommen hatte und durch die klangvollen Schilderungen seiner Eindrücke und Beobachtungen ebenfalls zu seinem Teil mitwirkte, der Alpenlandschaft neue Freunde zu gewinnen.

Der nun einsetzende „exaltierte Geschmack“ an der wilden Natur begann, indem er mit der vorherrschenden Geschmacksrichtung zusammenstieß, sich ihr teilweise anzupassen versuchte und zunächst eine wahre Überschwemmung mit Tempeln der Freundschaft, Einsiedeleien für süße Unterhaltungen und nachgeahmten Ruinen und Felsanlagen verursachte. Die nun vorbereitete Welt begriff jedoch bald, daß es nötig war, die Natur in ihren eigenen Schöpfungen und nicht in Nachahmungen zu erleben. Man trat der Bergnatur endlich selbst gegenüber, wenn auch meist nur in Talreisen. Die Auswirkung des dort Gesehenen war ungeheuer, die Umwälzung in den Begriffen vollzog sich revolutionär. Die Hochwelt der Alpen flößte nicht mehr länger Furcht und Entsetzen ein, sondern löste nun eher eine furchtsame Neugierde, ein wohliges Erschauern aus.

Die Liebe der meisten Gebildeten zur Bergwelt war lediglich platonischer Art und verlangte noch nicht nach einer tatsächlichen Besitzergreifung. Selbst ein Vordenker wie Rousseau, der seine Zeitgenossen so energisch auf die Alpen verwiesen hatte, wurde nicht in Versuchung geführt, in Höhen vorzudringen, die noch nie zuvor ein menschlicher Fuß betreten hatte. In dieser Hinsicht war Rousseau nie ein Bergsteiger und weit davon entfernt, ein Vorläufer oder Bahnbrecher des tätigen Alpinismus zu sein.

Wenn selbst ein Schöngeist wie Rousseau kein Verständnis dafür zu entwickeln vermochte, konnte erst recht nicht erwartet werden, daß sie seine begeisterte Anhängerschaft anregen würde. Bergsteigen war mit Mühen verbunden, Hindernisse waren dabei zu überwinden, es erforderte ein volles Aufgehen in der selbst gestellten Aufgabe. Die verwöhnte Gesellschaft des Rokoko begnügte sich entsprechend damit, die Natur zu verbessern, sie fand Gefallen daran, bei Schäferspielen die einfache Daseinsfreude der Landbewohner nachzuahmen und bemühte sich im übrigen, das Leben mit einer gewissen graziösen Leichtigkeit und Gefälligkeit zu verbringen. Man begnügte sich mit Reisen in die Bergtäler, betrachtete die Gipfel von unten und begeisterte sich an der Schönheit der Berglandschaft. Zu einer Begehung und Durchforschung der Hochwelt der Alpen im größeren Maßstab war der Weg noch immer recht weit.

Ansturm auf die Gipfel

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Der im 18. Jahrhundert erwachsene wissenschaftliche Geist hatte dazu geführt, daß mehr und mehr Schönheiten und Reichtümer der Erde entdeckt wurden. Das aufmerksame Studium der Welt hatte die Forschenden nicht nur zur sicheren Erkenntnis des Tatsächlichen, sondern unmerklich auch zu dessen Bewunderung geführt. Zur gleichen Zeit aber, in der die Gelehrten in der Natur die Lösung der Welträtsel suchten, entdeckten die Denker darin bisher ungeahnte Schönheiten. So kam das 18. Jahrhundert in einem bemerkenswerten Grad zur Liebe zur Natur, wobei man sich in der Bewunderung nicht mehr auf das Flachland und die Hügellandschaften beschränkte; das Gebirge selbst wurde vielmehr nun endlich gewürdigt und geschätzt, wenn nicht gar begriffen.

Diese Neuorientierung äußerte sich in den Folgejahren durch eine Anzahl erster Bergbesteigungen in den Alpen. Die groß angelegten Unternehmungen der Ersteigung des Mont Blanc und des Großglockners im ausgehenden 18. Jahrhundert sind der Beginn und die Einleitung einer den Hochgipfeln der Alpen zugewendeten alpinistischen Tätigkeit. Noch stand die wissenschaftliche Würdigung weitaus vor der Bewunderung der Natur und der Freude über die Schönheit der Berge. Diese nahm man wohl als willkommene Beigabe hin, setzte aber die Hoffnungen und Gedanken in erster Linie auf die wissenschaftliche Ausbeute der Bergunternehmungen. So war das Bestreben darauf gerichtet, den jeweils erstiegenen Berg zu messen und von seinem Gipfel aus einen Einblick in das umliegende Gebirge zur Klarstellung vieler geographischer Fragen zu gewinnen.

Zum Ende des 18. Jahrhunderts hin erschienen denn auch in schneller Folge eine Reihe von guten Karten des Alpenraumes, die vom Standpunkt der wissenschaftlichen Erforschung der Alpen von höchster Bedeutung und auch in touristischer Hinsicht nicht ohne Belang waren. Mit diesen Kartenwerken war in der Gebirgskartographie ein großer Schritt getan. Sie bildeten fortan ein wichtiges, ja unentbehrliches Hilfsmittel der Alpenreisenden.

Der Alpinismus ist somit ausschließlich eine Bewegung der neueren Zeit und seine Entstehung fällt zusammen mit der anderer Bewegungen in eine Zeit erster Ansätze neuerer Kulturentwicklung. Damals vollzog sich eine tiefe Veränderung allen Denkens und Fühlens in der europäischen Kulturwelt.

Insbesondere in England freute sich der Bergsport wachsender Beliebtheit. Hier tauchte erstmals der zeitgemäße Gedanke des Zusammenschlusses der einheimischen Alpinisten auf und mündete 1857 in der Gründung des ersten Alpine Clubs. Wenig später folgte die Gründung von Alpenvereinen in Österreich, der Schweiz, Italien und Deutschland. Für die Erschließung der Alpen waren diese Vereine von entscheidender Bedeutung. So übernahmen sie Weg- und Hüttenbauten, erstellten eigene Kartenwerke und gaben eigene Zeitschriften heraus.

Nahezu zeitgleich mit dem Beginn der wissenschaftlichen Erforschung und Erschließung der europäischen Alpen gegen Ende des 18. Jahrhunderts wandte man sich auch außereuropäischen Gebirgen zu. In diese Zeit fallen die großen Forschungsreisen des Alexander von Humboldt (1769 - 1859) und Leopold von Buchs, in deren Zusammenhang unter anderem bedeutende bergsteigerische Leistungen in den Anden Südamerikas vollbracht wurden. Aber auch andere Gebirge, wie der russische Kaukasus oder das riesige Himalajagebirge rückten nun in den Blickpunkt des alpinistischen Interesses.

Schon aus rein räumlichen Gründen der Entfernung vermochten die Gebirgsmassive Innerafrikas oder die Neuseelands erst in zweiter Linie die Beachtung der frühen Alpinisten auf sich zu ziehen. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts rückten die neuseeländischen Südalpen in das Sichtfeld für hochtouristische Betätigung. Bei den Alpen Neuseelands wirkte erschwerend, daß infolge der Nähe zur südpolaren Grenzzone die Schneegrenze um rund 1000 Meter niedriger liegt als bei den europäischen Alpen. Unter außerordentlich erschwerten Bedingungen erstieg hier W. C. Green mit Schweizer Führern 1882 zum ersten Mal den Mount Cook, den höchsten Gipfel der Südalpen. Er schilderte das Gebirge und seine darin unternommenen Bergfahrten eindrucksvoll in dem Buch „The High Alps of New Zealand“. Nach dieser ersten alpinistischen Gipfelbesteigung auf neuseeländischem Boden machte erst 1894 wieder ein junger englischer Bergsteiger, Edward U. Fitz-Gerald, von sich reden, als er zusammen mit seinem berühmten Schweizer Begleiter Matthias Zurbriggen auszog, um das bislang unerforschte Gebirge zu erschließen. Mt. Sealy, Mt. Tasman, Mt. Haidinger, Mt. Sefton und das Silberhorn wurden von ihnen erstiegen. Der Mt. Cook wurde durch die von Zurbriggen allein vollführte Ersteigung nach einer Pause von mehr als einem Jahrzehnt wieder von eines Menschen Fuß betreten. In seinem Buch „Climbs in the New Zealand Alps“ beschrieb Fitz-Gerald diese Erschließungsfahrt.

Neben der wissenschaftlichen Erschließung und Erforschung traten auch in den außereuropäischen Hochgebirgen der reine Abenteuerdrang, also die Hochtouristik als solche, in Erscheinung. Es sei hier verwiesen auf die vielfachen Bestrebungen, immer größere Gipfelhöhen zu bezwingen und Rekorde für die größte von Menschen überhaupt noch zu ersteigende Höhe zu erzielen. Die Erklärung dafür findet sich auch hier in den elementaren Triebfedern der neuzeitlichen Alpinistik, nämlich das eigene Selbstbewußtsein durch immer neue gemeisterte Herausforderungen zu erhöhen. Noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein versuchten Alpinisten in ihren Unternehmungen den Sieg des Menschen über die Natur zu erringen.

Als 1922 schließlich selbst der höchste Gipfel der Erde, der Mount Everest, bezwungen war und unberührte Bergspitzen allmählich rar wurden, änderte sich der Geist des Bergsports nachhaltig. Die breite Masse der Bergbegeisterten suchte nicht mehr den Sieg über die Natur, sondern vielmehr respektvoll die Natur selbst. In der schnellebigen Industriegesellschaft der Neuzeit wurden die Berge zum Synonym für Dauerhaftigkeit und Orte der Ruhe und Regeneration.

Heute begegnet man der Naturlandschaft des Hochgebirges vielerorts mit Ehrfurcht und Respekt, wohl wissend, daß sie einige der wenigen noch verbliebenen halbwegs natürlichen Lebensräume auf dem Erdenrund verblieben sind. In diesem Sinne sind Umweltschutzgedanken in der heutigen Alpinistik deutlich stärker ausgeprägt als noch vor wenigen Jahrzehnten. Die meisten Bergsteiger sind sich heute bewußt, daß sie in den Bergen nur zu Gast sind – zu Gast in einem der wenigen Rückzugsgebiete der Natur. Im Mittelpunkt des Interesses steht somit nicht mehr den Sieg über die Natur zu erlangen, sondern vielmehr die grandiose Hochgebirgslandschaft zu bewahren, damit sie auch kommenden Generationen noch in ihrer Ursprünglichkeit als Naturerlebnis zur Verfügung steht.

Architektur der Berge

Die infrastrukturelle Erschließung des neuseeländischen Hochgebirges steckt heute noch in den Kinderschuhen. Die Wanderwege sind oft noch echte, kaum erschlossene Buschpfade. Übernachtungshütten sind einfach zusammengezimmerte Verschläge aus Wellblech oder Holz, die ähnlich der ersten Schutzhütten in den Alpen auf das nötigste reduziert sind. Lediglich einige wenige Routen sind besser ausgebaut, mit größeren und komfortableren Hütten versehen und dadurch natürlich auch deutlich stärker frequentiert.

Auch wenn die vorhandene Infrastruktur mit der Erschließung der europäischen Alpen bei weitem nicht vergleichbar – und in ihrer Dichte hoffentlich auch lange Zeit nicht vergleichbar sein wird – so lohnt doch der Blick in die Region, wo der Alpinismus wie wir ihn heute kennen entstand. Eine Analyse der bergtouristischen Architektur macht nur dort Sinn, wo der Erschließungsprozeß bereits weit fortgeschritten und somit bereits eine adäquate Antwort auf die veränderten Bedingungen des Bauens im Hochgebirge gefunden wurde. So können gemachte Fehler erkannt und in anderen Teilen der Welt vermieden werden. Man sollte dabei auch nicht vergessen, daß die Alpenregion noch vor gut 100 Jahren ebenso eine unerschlossene Wildnis darstellte, wie heute weite Teile Neuseelands.

Noch vor wenigen Jahrzehnten herrschte in Architektenkreisen eine insgeheime Abneigung gegen alles, was mit der Bergwelt zusammenhing. Damals erfuhr man von der „Alpenfestung“ der Nazis, gehörten Bergsteigerfilme mit Leni Riefenstahl und Luis Trenker dazu wie Hitlers „Berghof“ am Obersalzberg. Die Alpen waren politisch besetzt, und zwar von den Nationalsozialisten – mitsamt ihrer „jodelnden Architektur“.

Kein junger Mensch kannte damals auch nur ein Bauwerk vom Tiroler Architekten Clemens Holzmeister (geb. 1886) oder Lois Welzenbacher, die schon 1930 auf ganz unterschiedliche Weise versucht hatten, die alpine Architektur aus der Sackgasse eines bornierten Heimatschutzes zu führen. Nahezu vergessen waren auch Adolf Loos´ “Regeln für den, der in den Bergen baut“ aus dem Jahre 1913. Wie die Alpen selber auf enge Täler und schroffe Grate beschränkt wirkten (als Synonyme für blockiertes Denken in der Bergwelt und den Rassismus im früheren Deutschen Alpenverein), so schien das Bauen in den Bergen gefangen im Kanon des Schweizer Chalet-Stils, der sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hatte. Nur vereinzelt gab es Ansätze, örtliche Tradition für eine neue Baukultur fruchtbar zu machen.

Doch die Zeiten haben sich geändert. Tatsächlich läßt sich von einer „Dialektik der Alpen“ sprechen. Dem deutschen Schriftsteller Arnold Zweig (1887 - 1968) zufolge muß das Leben in den Bergen nicht auf rückwärts gewandte Traditionalismen hinauslaufen, sondern kann gleichermaßen den Genuß von befreiender Höhenluft bedeuten. Und wenn einem beispielsweise in den Dolomiten frühmorgens die Felswände ins Zimmer leuchten, dann begreift man jenes „Gotteswerk“, von dem Adolf Loos seiner Zeit gesprochen hat: ursprüngliche Erhabenheit. Hinzu kommt, daß in den letzten Jahren eine junge Generation von Architekten, die selber in den Regionen lebt, das Bauen in den Bergen ebenso vorurteilsfrei wie radikal neu begonnen hat – von Savoyen bis nach Slowenien.

Gibt es eine alpine Architektur?

Vor der Frage nach einer bergtouristischen Architektur, sei vorab die Existenz und eventuell die Definition einer alpinen Architektur hinterfragt. Ist der Begriff aus der Luft gegriffen? Und wenn nicht, welches sind dann seine Erkennungszeichen?

Der Begriff einer „alpinen Architektur“ ist in dem Sinne ein kulturelles Konstrukt, als es a posteriori formuliert wurde und einen ganz unterschiedlichen Themenkreis betrifft; dabei soll die Hypothese gelten, daß es einerseits mit dem Gebirge als Phänomen und andererseits mit den Empfindungen in Verbindung steht, die dieses Phänomen auszulösen vermag: etwa Aufstieg, Gefahr, Grenzerfahrung, Weite, Natur im Reinzustand, Friede, usw.

Es handelt sich nicht um bereits bestehende Kategorien, nach denen alle neu zu untersuchenden Arbeiten eingereiht werden können. Angesichts der neuen Werke ist das „Corpus“ der alpinen Architektur selbst einer ständigen Veränderung ausgesetzt. Nicht jeder, der will, macht alpine Architektur; außerhalb einer kulturellen Vereinbarung gibt es wenig Gründe, die für die adäquate Bezeichnung „alpines Bauwerk“ sprechen.

Es mag Mythomanen auf der Suche nach dem Echten mißfallen, doch wie die sogenannte regionale ist auch die alpine Architektur keine natürliche Absonderung von Land und Leuten; nicht einmal der moralische oder ideologische Gebirgskontext ermöglicht eine verbündende Eingebung, ein natürliches Zusammenfließen der Absichten. Die Wünschbarkeit, wenn nicht sogar die Legitimation eines pluralistischen und offenen Gesichtspunktes ergibt sich aus dem Ursprung der modernen alpinen Architektur selbst. Eine größere Disparität von technischen, materiellen, formalen, poetischen und ideologischen Ansätzen als sie die Bautätigkeit in den Alpen im 20. Jahrhundert aufweist, läßt sich kaum denken. Noch gibt es keinen Katalog der verschiedenen und bis zur Karikatur erweiterten Aspekte, Themen, Programme und Strömungen, die kulturelle, ideologische und künstlerische Gesichtspunkte aus der Architekturszene der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts geprägt haben.

Mit der Industrialisierung Mitteleuropas im frühen 19. Jahrhundert begann auch die Eroberung der Berge, die Kolonialisierung der Alpen. Besonders die britische high society richtete ihren Blick auf die scheinbar unberührte Landschaft und erschloß sie sich als ästhetischen Ausgleich zu ihrer heimischen industrialisierten Umwelt. Mit dem Aufkommen des modernen Tourismus ging auch die Verklärung des Gewöhnlichen einher, die allmähliche Sentimentalisierung der ruralen Verhältnisse. Der Bauer wurde zur Symbolfigur einer nicht entfremdeten Welt stilisiert, die vorgefundenen Haustypologien als im Einklang mit der Natur stehende Bauformen kanonisiert. Die Fremden aus den Städten entdeckten das sogenannte Authentische, wollten es gegen jegliche Veränderungen schützen und richteten sich gleichzeitig komfortabel darin ein.

Die Ironie der Geschichte liegt darin, daß der sogenannte Einheimische seine eigene Kultur gar nicht als Einheit und die Erhaltung derselben nicht als dringlich ansah. Denn er orientierte sich eher an den von außen kommenden modernen Errungenschaften und wollte von deren Vorteilen profitieren. Die Idee, Land und Heimat zu retten, ist deshalb eine Erfindung der Städter, entstanden aus dem kompensatorischen Bedürfnis gegenüber der zunehmenden Industrialisierung, der Verstädterung und der ökonomischen Internationalisierung. Durch die Erhaltung des Kleinen und Überschaubaren versuchte man, ein gesichertes Refugium in der sich beschleunigenden Wirklichkeit zu errichten, wie der Wiener Prof. Friedrich Achsleitner ausgeführt hat: „Heimat war von Anfang an ein romantischer Fluchtbegriff, entstanden aus dem Bewußtsein eines Verlustes. Das, was es zu retten galt, war eigentlich mit dem Erkennen der Gefahr schon verloren.“

In der ruralen Welt wurden Hotels, Bahnhöfe und andere Bauwerke errichtet, die bis dahin unbekannt waren und in ihren Funktionen wie daraus resultierenden Kubaturen die vorhandenen dörflichen Strukturen zu sprengen drohten. Diese neuen Bauaufgaben ohne örtliche Vorbilder mußten im Sinne der propagierten Idylle eingekleidet werden. So entstanden Grandhotels im internationalen Stil von St. Moritz, mit optischen Versatzstücken vom Semmering und Zitaten aus Bayern. In gewissem Sinne wurden typologische Hybride geschaffen, die ihre Anleihen aus allen möglichen Regionen und gut gemeinten Handbüchern entnahmen, um Authentizität vorzutäuschen. Diese teilweise faszinierenden Mischformen wurden oft sehr sensibel in den topographischen Kontext eingebettet. Im Laufe der massentouristischen Erschließung verflachte dieser sensitive Umgang und führte dazu, daß die jeweilige Charakteristik des Ortes unberührt blieb, da das Gelände nur als Oberfläche, als Hintergrundphänomen für eine vordergründig ästhetische Inszenierung diente.

Das Dilemma der heimatschützenden Ideologien rührt daher, daß sie die strukturellen Veränderungen mit kosmetischen Mitteln zu bedecken versuchen. Entgegen den Zielen des Heimatschutzes setzte bereits im 19. Jahrhundert – obzwar im Kleide des sogenannten Regionalismus – die Urbanisierung der alpinen Landschaft ein. Doch trotz dieser Bemäntelung konnte die Entwicklung des Alpenraumes zur erweiterten Stadtlandschaft nicht aufgehalten werden. Der Alpenkörper wurde vordergründig mimetisch eingekleidet und die dahinter ablaufenden Veränderungen mit Bildern und Mythen zugedeckt. Ironischerweise beschleunigte die ideologische Verklärung der Berge sogar ihr Zerstörung, da die Suche nach dem „Ursprünglichen“ und „Wahren“ immer mehr Leute in die Alpen trieb. Zusätzlich zum ästhetischen Genuß wurde begonnen, die felsigen Regionen auch als Orte der Selbsterfahrung zu entdecken. Das die Gefahr suchende Individuum hielt Einzug in die Wälder, Felswände und Täler.

Ganz im Sinne der Politisierung einzelner Begriffe wie Nation, Heimat, Körper und Arbeit begann das 19. Jahrhundert auch die Konstruktion Landschaft und die damit zusammenhängende Ästhetik zu ideologisieren. In die Natur wurde hineingeschrieben, was scheinbar aus ihr zu hören war. Sie diente als ein gigantischer Verschiebebahnhof identitätsprägender Fiktionen und wurde symbolisch ausgebeutet. Der Wald sprach plötzlich Deutsch und die Berge klangen national. Entsprechend mußte auch die Architektur gestaltet sein und als Hilfsmittel für Identitätsbildung herhalten. Der Erste Weltkrieg verstärkte diese Tendenz, und das aufkommende Medium Film transportierte die neuen Ideologien in die Köpfe der Massen.

Gerade das moderne Architekturbewußtsein richtete den Blick auf diese strukturellen Veränderungen und erarbeitete Gegenstrategien, die nicht frei von eigenen Identitätsvorstellungen waren. Geprägt von der Ideologie, wonach die äußere Erscheinung eines Gebäudes den funktionalen wie sozialen Zusammenhängen entsprechen müsse, wurden moderne Bauformen entwickelt, die entweder der Transformation traditioneller alpiner Architekturen entstammten oder sich an ortsfremden internationalen Typologien orientierten, die auf den spezifischen Ort reagieren sollten. Beispielhaft für diese beiden unterschiedlichen Entwicklungsstränge stehen die Architekten Clemens Holzmeister und Lois Welzenbacher. Grundlegend für das Verständnis der Positionen ist die konträre Auffassung von Landschaft.

Während für Holzmeister, vereinfacht gesprochen, die Landschaft ein Ganzes ist, empfand Welzenbacher die Landschaft als Mosaik von Orten mit unterschiedlichen Qualitäten. Denn die Begriffe „Natur und Gelände entziehen sich auch den kulturellen Konnotationen und demzufolge den ikonographischen Konventionen, die der Begriff Landschaft impliziert. Dies kommt der spezifischen Bildfeindlichkeit der Moderne entgegen. Das Entwurfsmaterial wird von den Modernen analysiert, abstrahiert und formuliert aufgrund von Modalitäten, die einem abstrakt gewonnenen Programm gehören. In der Komposition des Gebäudes privilegieren sie das Räumliche und im Gelände das Plastische; in der Landschaft wählen sie die für die Gestaltung des Bewegungsraumes nützlichen Segmente und Sequenzen.“

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Welzenbacher versuchte das Wesen des Geländes beziehungsweise der Natur herauszuarbeiten und Raum werden zu lassen, er brach mit Übereinkünften und entfernte sich von den regionalen Normen. Während Welzenbacher auf die jeweilige Situation individuell reagierte und die Bauwerke als präzise räumliche Antworten formulierte, stellte Holzmeister hingegen seine Bauten in den Kontext der vorhandenen Konventionen. Er verwertete alte Formen, transformierte sie und folgte in seiner Architektursprache einer historisierenden Typologie. Während Welzenbacher abstrakt arbeitete, die Häuser als Organe, als Miniaturlandschaften und als dramaturgische Kunstgriffe in der Natur ansah, ordnete Holzmeister seine Bauwerke mimetisch in die Kulturlandschaft ein. Welzenbacher war weniger an einer typologischen Linie innerhalb seiner Entwürfe interessiert, da er das Kleid den Entstehungbedingungen der Form unterordnete, wogegen Holzmeister von der Bildhaftigkeit der traditionellen Kultur zu seinen Formen gelangte. Enthalten die Bauten von Welzenbacher filmische Momente und folgen damit einer Dramaturgie von Räumen und Blicken, widmete sich Holzmeister der malerischen Wirkung seiner Architektur innerhalb eines pittoresken Landschaftsbildes.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Vertreter der sogenannten alpinen Architektur der zwanziger und dreißiger Jahre rangen um einen den Bergen entsprechenden formalen Ausdruck und versuchten innerhalb ihrer jeweiligen Strategien zwischen Tradition, Ortsbezogenheit und Moderne zu vermitteln. Doch spielte sich diese Auseinandersetzung vor dem Hintergrund einer anderen gesellschaftlichen wie ökonomischen Wirklichkeit ab, die von vielen Einflußgrößen, die unser heutiges Leben bestimmen, unberührt war.

Diese unterschiedlichen Auffassungen und die darin angelegten konträren architektonischen Programme bestimmten bis heute das Spannungsverhältnis in der Ästhetikdiskussion um das Bauen in den Bergen beziehungsweise in der Landschaft. In den späteren dreißiger Jahren, vor allem in den deutschsprachigen Ländern, besonders aber unter dem Nationalsozialismus, wurde diese Diskussion eindeutig von den Vertretern eines mimetischen Architekturverständnisses geprägt. Das Haus mußte im Rückgriff auf alte Typologien in ein kanonisiertes Landschaftsbild eingepaßt werden und wurde damit ideologisch besetzt. Es entstanden Baufibeln, welche die Erscheinung der Bauten vorschrieben und den Geschmack eines breiten Publikums nachhaltig bestimmt haben.

Die im Nationalsozialismus angelegte Bewegung des Massentourismus („Kraft durch Freude“ und Volkswagen) wurde nach dem Zweiten Weltkrieg demokratisiert. Im Zuge dessen verlagerte sich die Eroberung der Berge von der Ebene der Individualisten und Mitglieder gehobener Bildungsschichten auf die anonyme Masse. Für diese wurde gebaut, was dem kollektiven ästhetischen Bedürfnis zu entsprechen schien. Typologisch orientierte man sich am Bauernhaus und blies es bis zur Unkenntlichkeit auf. Doch abseits dieser stereotypen Entwicklung nahm die Zersiedelung der alpinen Räume erschreckende Ausmaße an. Die Industrialisierung des Reisens bedingte auch die Kommerzialisierung der Landschaft und führte zu einem baulichen Wildwuchs. Betrachtet man heute nüchtern die Situation, so haben sich die Grenzen zwischen Stadt und Land, zwischen Naturraum und Lebensraum aufgelöst. Es gibt heute, pointiert formuliert, kein freies Land mehr, sondern nur noch Restflächen, die für Freizeitnutzungen oder als ökologische Nische, wo die Natur „sich selber überlassen“ wird, freigehalten werden.

Die Alpen stellen sich als durchsiedeltes Gebiet dar, das nach ökonomischen Kriterien bespielt und genutzt wird. Zwar kann der Naturraum nicht völlig verbaut werden, doch wurde über die gesamte Region ein ausgedehntes Netz von Wirksystemen gezogen. Diese reichen von Verkehrsadern, Liftanlagen, Forstwegen und Wanderwegen über Kletterrouten bis hin zu scheinbar unsichtbaren Einflußgrößen wie Luftverschmutzung oder Klimaschwankungen. Wir leben nicht mehr in einem Bio‑, sondern in einem „Technotop“, was heißt, daß unser Verständnis zur Natur auf ökonomisch, technologischen und letztendlich nachhaltigen Bedingungen aufbaut. Ihre Erhaltung ist auch nur über diese Kategorien zu bewerkstelligen. In gewissem Sinne halten wir uns heute Natur, indem wir sie erhalten, wir schützen sie in Naturparks und Reservaten und halten uns selber per symbolischem Akt von ihr fern. Wir erleben den endgültigen Abschied von Natur und Landschaft als Naturprodukt und überschreiten eine imaginäre Grenze zur lebensbestimmenden Künstlichkeit. Die allerorts feststellbare Trauer kompensiert nur den Verlust, ohne ihn rückgängig machen zu können.

In Anbetracht dieser realen Verhältnisse muß das Thema „Bauen in den Bergen“ neu gedacht werden. Was ehemals die spezifische Erscheinung des Landes ausmachte beziehungsweise die ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen bestimmte, hat sich im Zuge des strukturellen Wandels der Welt, der auch den Alpenraum nicht verschonte, verflüchtigt. Die Alpen haben sich zu einem Wirtschaftsraum entwickelt, der global vernetzt und durch Transportwege an alle Länder angebunden ist. Die Industrialisierung des Tourismus brachte das Fremde ins Dorf und die Wohnzimmer und veränderte die mentalen Muster sogar in den hintersten Tälern. Die strukturelle wie ökonomische Vernetzung der einzelnen Orte, zumindest mit den europäischen Verhältnissen, läßt heute die klare Abgrenzung von Stadt und Land nicht mehr gelten. Es ist ein diffuses europäisches Stadtmodell entstanden, ein semiurbaner Raum, in den Berge, Seen und Täler gleich Stadtparks eingestreut sind.

Die Aufhebung der grenzen zwischen den einst relativ klaren Systemen erfolgt sowohl soziokulturell, ökonomisch als auch ganz konkret räumlich. So verflüchtigt sich heute der alpine Raum aufgrund der Zersiedelung, es entstehen räumliche Aggregatzustände, die in alten Denkkategorien betrachtet als nicht bestimmbare identitätslose Mosaiksteinchen erscheinen und nur mehr durch Ortsschilder unterscheidbar sind. Zwar begann man schon in den dreißiger Jahren die Veränderungen der Stadt-Land-Beziehung zu registrieren und dementsprechend Begriffssysteme zu entwickeln, doch blieben viele dieser Überlegungen noch in den alten Mustern des Urbanen beziehungsweise Ruralen stecken. Sie wurde von einem harmoniesüchtigen Denken geprägt, sei es, daß sie die historische Erscheinung der Stadt unreflektiert zu verteidigen suchten oder das heile Landleben in den Vordergrund rückten. Bis heute prägen diese scheinbaren Antagonismen und die damit verfestigten Emotionen die Diskussion und verhindern ein problemorientiertes Handeln. Vor allem existiert ein widerständiges Moment in den Köpfen der Bevölkerung, nämlich der Mythos, daß die Alpenregion noch immer ein agrarisch bestimmtes Landschaftsgebilde sei, obwohl real nur etwa drei bis fünf Prozent der Bevölkerung von der Land- und Forstwirtschaft leben. Diese Fiktion wird von den politischen Vertretern unterschiedlichster Richtungen bis hin zu den Fremdenverkehrsexperten am Leben erhalten und beeinflußt (un)bewußt die anstehenden Entscheidungsprozesse. Die Verteidigung dieses Klischees unterdrückt in vielen Fällen den angemessenen Umgang mit den Problemen und reduziert die Debatte auf die Ebene des leidigen Bilderstreits. Dieser ergeht sich zumeist in der Auseinandersetzung um die Dachform oder die optische Erscheinung eines Bauwerks und verliert somit die wesentlichen Ansatzpunkte aus den Augen.

Aufgrund der vorangeschrittenen tertiären Urbanisierung der Landschaft, die vor allem von der Veränderung der individuellen Mobilität, der Ausdehnung der Pendlereinzugsbereiche, der Ausweitung des Dienstleistungssektors, der ökonomischen Umbrüche und der Vermarktung des Freizeitwertes des Landes geprägt ist, müssen auch andere Maßstäbe für die Raumnutzung wie für die regionale Infrastrukturentwicklung angelegt werden. Zeitgemäßes Bauen – abseits von Ästhetikdebatten – beginnt bei der Raumplanung und bei der politisch brisanten Frage nach den Eigentumsverhältnissen. Die sogenannte moderne Architektur ist nur der formale Zankapfel innerhalb einer nicht geführten inhaltlichen Diskussion.

„Architektur ist per definitionem lokal, das heißt, an den Ort, die Topographie, das Gelände gebunden. Doch sie verkörpert ästhetische Werte und entwickelt Wohnmodelle, die die Grenzen des Ortes, selbst die Grenzen von Nationen überschreiten.“ Der italienische Architekt Renzo Piano (geb. 1937) reflektiert damit präzis den Zustand unserer global vernetzten Kultur und lenkt den Blick auf den wesentlichen Aspekt der Ortsbezogenheit. Die anstehenden Interventionen durch Architektur – nicht nur in den Alpen – werden sich in Zukunft vermehrt um die Problemfelder Verdichtung, Ressourcenschonung, Entwicklung flexibler und nutzungsneutraler Raumstrukturen, Umnutzung funktionslos gewordener Bauten und Vernetzung heterogener Siedlungsmuster drehen. Diesen Eingriffen muß ein abstraktes, analytisches Denken zugrunde liegen, das sich am jeweiligen Ort konkretisiert und so bewußt wie behutsam mit dem Vorhandenen umgeht. Diese Sensibilität drückt sich nicht in einer ästhetischen Angleichung an den bestehenden Kontext aus, sondern ist durch intelligente Behandlung der Themenstellung bestimmt. In Verbindung mit einer Entideologisierung der Materialien beziehungsweise Bauformen unter einem überregionalen Aspekt zu betrachten ist und sich an den realen Bedingungen orientieren sollte, könnte seine kultivierte Wiedergewinnung der Landschaft beginnen. Denn die Kritik an der sogenannten „Lederhosenarchitektur“ richtet sich nicht allein gegen ihre formale Pseudoerscheinung, sondern gegen den bewußtlosen Umgang mit Raum und Ressourcen, der die nachhaltige Entwicklung der alpinen Landschaft behindert.

Regeln für den, der in den Bergen baut

Baue nicht malerisch. Überlasse solche wirkung den mauern, den bergen und der sonne. Der mensch, der sich malerisch kleidet, ist nicht malerisch, sondern ein hanswurst. Der bauer kleidet sich nicht malerisch. Aber er ist es.

Baue so gut als du kannst. Nicht besser. Überhebe dich nicht. Und nicht schlechter. Drücke dich nicht absichtlich auf ein niedrigeres niveau herab, als auf das du durch deine geburt und erziehung gestellt wurdest. Auch wenn du durch die berge gehst. Sprich mit den bauern in deiner sprache. Der wiener advokat, der im steinklopferdialekt mit dem bauer spricht, hat vertilgt zu werden.

Achte auf die formen, in denen der bauer baut. Denn sie sind der urväterweisheit geronnene substanz. Aber suche den grund der form auf. Haben die fortschritte der technik es möglich gemacht, die form zu verbessern, so ist immer diese verbesserung zu verwenden. Der dreschflegel wird von der dreschmaschine abgelöst.

Die ebene verlangt eine vertikale baugliederung; das gebirge eine horizontale. Menschenwerk darf nicht mit gotteswerk in wettbewerb treten. Die habsburgwarte stört die kette des wienerwaldes, aber der husarentempel fügt sich harmonisch ein.

Denke nicht an das dach, sondern an den regen und schnee. So denkt der bauer und baut daher in den bergen das flachste dach, das nach seinem technischen wissen möglich ist. In den bergen darf der schnee nicht abrutschen, wenn er will, sondern wann der bauer will. Der bauer muß daher ohne lebensgefahr das dach besteigen können, um den schnee wegzuschaffen. Auch wir haben das flachste dach zu schaffen, das unseren technischen erfahrungen nach möglich ist.

Sei wahr! Die natur hält es nur mit der wahrheit. Mit eisernen gitterbrücken verträgt sie sich gut, aber gotische bogen mit brückentürmen und schießscharten weist sie von sich.

Fürchte nicht, unmodern gescholten zu werden. Veränderungen der alten bauweise sind nur dann erlaubt, wenn sie eine verbesserung bedeuten, sonst aber bleibe beim alten. Denn die wahrheit, und sei die hunderte von jahren alt, hat mit uns mehr inneren zusammenhang als die lüge, die neben uns schreitet.

[...]

Fin de l'extrait de 109 pages

Résumé des informations

Titre
Pionierarchitektur - Ein bergtouristisches Entwicklungskonzept für den Copland Track in Neuseeland
Université
University of Hannover  (Institut für Regionale Architektur und Siedlungsplanung)
Note
1,0
Auteur
Année
1999
Pages
109
N° de catalogue
V11054
ISBN (ebook)
9783638173216
ISBN (Livre)
9783638717106
Taille d'un fichier
5686 KB
Langue
allemand
Mots clés
Pionierarchitektur, Entwicklungskonzept, Copland, Track, Neuseeland
Citation du texte
Timo Neubauer (Auteur), 1999, Pionierarchitektur - Ein bergtouristisches Entwicklungskonzept für den Copland Track in Neuseeland, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/11054

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