Der Begriff Mikropolitik, verstanden als Politik „im Kleinen“, ist fester Bestandteil alltäglichen Sprachgebrauchs. Doch was sich konkret dahinter verbirgt, bleibt häufig unklar und verschwommen. Mikropolitik ist ein Phänomen, dass sich der direkten Beobachtung entzieht, es liegt vor allem an der Bewertung des Beobachters, ob ein Verhalten als Mikropolitik oder nicht zu sehen ist. Dieser hier kurz skizzierten Problematik des Begriffs und Phänomens „Mikropolitik“ wird im ersten Abschnitt der Hausarbeit nachgegangen.
Weiterhin möchte diese Hausarbeit nicht nur die allgemeinen Aspekte der Mikropolitik thematisieren, sondern speziell auf mikropolitische Erscheinungen in sozialen Organisationen eingehen. Dabei soll insbesondere Mikropolitik im Kontext von Führen und Leiten in sozialen Organisationen im Vordergrund stehen.
Im Folgenden wird dabei so verfahren, dass in einem ersten Schritt erörtert wird, was der schillernde Begriff Mikropolitik umfasst: Wann taucht der Begriff erstmals im deutschsprachigen Raum auf und welche Konzepte und Forschungstraditionen werden mit ihm umrissen?
In einem zweiten Schritt soll Aspekten der Mikropolitik in sozialen Organisationen nachgegangen werden. Auch bei sozialen Organisationen ist zu vermuten, dass sich die involvierten Personen mikropolitischer Verhaltensweisen bedienen, da auch hier, wie in anderen Einrichtungen, mikropolitische Prozesse zur Regulierung des organisatorischen Alltag von Nöten sind.
Inhalt
1. Mikropolitik im Kontext von Führen und Leiten
2. Mikropolitik: Eine Begriffsbestimmung
3. Mikropolitik in sozialen Organisationen
3.1. Einzelfallstudie (Klaus Wolf: Machtprozesse in der Heimerziehung)
3.1.1. Forschungsdesign
3.1.2. Ergebnisse
3.2. Mikropolitische Analyse der Heimgruppe
3.2.1. Intersubjektivität, Multipersonalität
3.2.2. Interessen, Konflikte
3.2.3. Macht (-grundlagen, -demonstrationen)
3.2.4. Interdependenz, wechselseitige Nutzenstiftung
3.2.5. Spielräume, Ambiguitäten, Informationsabhängigkeit
3.2.6. Zeit
3.2.7. Legitimität, Ordnung
3.2.8. Handlungszwang und Handlungslust
4. Resümee und Ausblick
5. Forschungsliteratur
1. Mikropolitik im Kontext von Führen und Leiten
Der Begriff Mikropolitik, verstanden als Politik „im Kleinen“, ist fester Bestandteil alltäglichen Sprachgebrauchs. Doch was sich konkret dahinter verbirgt, bleibt häufig unklar und verschwommen. Mikropolitik ist ein Phänomen, dass sich der direkten Beobachtung entzieht, es liegt vor allem an der Bewertung des Beobachters, ob ein Verhalten als Mikropolitik oder nicht zu sehen ist. Dieser hier kurz skizzierten Problematik des Begriffs und Phänomens „Mikropolitik“ wird im ersten Abschnitt der Hausarbeit nachgegangen.
Weiterhin möchte diese Hausarbeit nicht nur die allgemeinen Aspekte der Mikropolitik thematisieren, sondern speziell auf mikropolitische Erscheinungen in sozialen Organisationen eingehen. Dabei soll insbesondere Mikropolitik im Kontext von Führen und Leiten in sozialen Organisationen im Vordergrund stehen.
Im Folgenden wird dabei so verfahren, dass in einem ersten Schritt erörtert wird, was der schillernde Begriff Mikropolitik umfasst: wann taucht der Begriff erstmals im deutschsprachigen Raum auf und welche Konzepte und Forschungstraditionen werden mit ihm umrissen?
In einem zweiten Schritt soll Aspekten der Mikropolitik in sozialen Organisationen nachgegangen werden. Auch bei sozialen Organisationen ist zu vermuten, dass sich die involvierten Personen mikropolitischer Verhaltensweisen bedienen, da auch hier, wie in anderen Einrichtungen, mikropolitische Prozesse zur Regulierung des organisatorischen Alltag von Nöten sind.
2. Mikropolitik: Eine Begriffsbestimmung
Bei der Beschäftigung mit Mikropolitik sind zwei Beobachtungen voranzustellen:
Zum einen wird Mikropolitik generell nur zögernd rezipiert. Weder klassische Organisationstheorien (Bürokratieansatz, Scientific Management oder Taylorismus, Administrations- und Managementlehre) noch moderne Organisationstheorien (entscheidungsorientierte, verhaltensorientierte, situative oder systemorientierte Ansätze) berücksichtigen eine politische Dimension der Organisation.[1] Oswald Neubergers Lehrbuch zum Themenbereich Mikropolitik (Neuberger: Mikropolitik. Der alltägliche Aufbau und Einsatz von Macht. 1995) kann derzeit als einziges Lehrbuch zum Thema angeführt werden.[2]
Eine andere Beobachtung, ist, dass Mikropolitik ein Begriff von großer Komplexität ist. Davon zeugen insbesondere die zahlreichen unterschiedlichen Definitionsvorschläge, die eines verdeutlichen: Was Mikropolitik ist,
lässt sich nicht anhand EINER allgemeingültigen Aussage bzw. Definition ausmachen, wenngleich fraglich ist, ob es diese – einmal abgesehen von naturwissenschaftlichen Bereichen – überhaupt gibt. Die Vielzahl unterschiedlicher Definitionsvorschläge zeugt von einer breiten Bestimmung dessen, was der Begriff umfasst. Die Definitionen erstrecken sich von eher psychologisch ausgerichteten Erklärungsansätzen bis hin zu stärker organisationssoziologisch orientierten Sichtweisen. [herv. C.M.][3]
Um die Sichtweise auf das Verständnis von Mikropolitik in dieser Arbeit zu schärfen, soll in Kürze der Weg nachgezeichnet werden, der zeigt, was unter Mikropolitik seit ihrer Einführung in die wissenschaftliche Theorie verstanden wird.
Als eigentlicher “Begründer“ des Begriffs Mikropolitik (“micropolitics“) in der wissenschaftlichen Literatur gilt der britische Soziologe Tom Burns.[4] Anders als im deutschsprachigen Raum wurden in der anglo-amerikanischen Literatur bereits in den sechziger Jahren politische Dimensionen der Organisation unter Stichworten wie “workplace politics“, “organizational politics“ und “company politics“ verhandelt.[5] Diesen Ansätzen liegt analog zu Burns die Auffassung zugrunde, dass Organisationen soziale Systeme seien, in denen Menschen ihre jeweils eigenen Interessen verfolgen und deren Inter-Aktion in Form von Kämpfen, Aushandlungs-, Kompromissbildungs-, und Entscheidungsprozessen abläuft.[6] Dieses Verhalten wird insofern als “politisch“ aufgefasst, als dass es neue Räume materieller oder personeller Art schafft.[7]
In Deutschland erfolgt die Diskussion um Mikropolitik erst ab Mitte der 70er Jahre; hier sind insbesondere die organisationspsychologischen Beiträge von Horst Bosetzky zu nennen. Nach Bosetzky
meint [Mikropolitik] den Versuch des einzelnen Organisationsmitglieds, persönliche Ziele (organisationsbezogene wie individuelle) durch das Eingehen von Koalitionen (Seilschaften, Promotionsbündnissen) mit anderen Personen und Gruppierungen innerhalb und außerhalb der Organisation schneller und besser zu erreichen.[8]
Dabei scheint der Begriff des “Mikropolitikers“ bei Bosetzky eher negativ besetzt zu sein. Er vertritt die Ansicht, dass derjenige, der mikropolitisch handelt, also der mikropolitische Akteur, dies entsprechend einer idealtypischen Konstruktion des “Machtgewinnlers“ tut und letztlich nichts anderes als „Machtvermehrungsstrategien“ betreibt. Mikropolitik wird bei Bosetzky auf eine spezifische Verhaltensdisposition als Folge einer durch Sozialisierungsprozesse geprägten Motivstruktur von Menschen zurückgeführt, mit anderen Worten, insistiert er stark auf Macht als Motivstruktur infolge von Sozialisation. Er bleibt damit einer eher machiavellistischen Tradition verbunden.[9]
Eine andere Bedeutung erhält Mikropolitik im Sinne von Crozier und Friedberg. In Erweiterung zu Burns und Bosetzky verweisen diese Autoren auf Mikropolitik in Zusammenhang mit Macht und Spiel. “Macht“ ist dabei als ein alltäglicher Bestandteil in sozialen Prozessen zu verstehen, eine „vitale, nicht aus der Welt zu schaffende Tatsache, von der unser Denken ausgehen muss.“[10] Macht bedeutet für die Autoren Handlungs vorrausetzung und im weitesten Sinne eine Interessen durchsetzung. "Macht zum Verschwinden bringen heißt im Grunde nichts anderes, als die Autonomie der Akteure aus der Welt zu schaffen“[11].
[J]ede ernstzunehmende Analyse kollektiven Handelns [muss] Macht in das Zentrum ihrer Überlegungen stellen, denn kollektives Handeln ist im Grunde nichts anderes als alltägliche Politik. Macht ist ihr ‚Rohstoff'.[12].
Eine Organisation sei
letzten Endes nichts anderes als ein Gebilde von Konflikten und ihre Funktionsweisen das Ergebnis der Auseinandersetzung zwischen kontingenten, vielfältigen und divergierenden Rationalitäten relativ freier Akteure, die die zu ihrer Verfügung stehenden Machtquellen nutzen.[13]
Der Machtaspekt wird bei Crozier und Friedberg zudem in Verbindung mit Inter-aktion um den Komplex des Spiels erweitert. Dabei wird der Spielbegriff nicht als bloße Metapher benutzt, sondern als ein konkreter Mechanismus aufgefasst,
mit dessen Hilfe die Menschen ihre Machtbeziehungen strukturieren und regulieren und sich doch dabei Freiheit lassen. Das Spiel ist das Instrument, dass die Menschen entwickelt haben, um ihre Zusammenarbeit zu regeln.[14]
Anders als Bosetzky sprechen sich die Autoren gegen eine ausschließlich negativ konnotierte Auffassung von Macht aus und begreifen Mikropolitik als alltägliches Phänomen in Unternehmen.[15]
Bis dahin kann zusammenfassend festgestellt werden, dass es offenbar zwei Grundpositionen gibt: Auf der einen Seite diejenigen, die Mikropolitik mit egoistischem und illegitimen Verhalten von Akteuren zur Durchsetzung eigener Ziele, auch oder insbesondere auf Kosten anderer, in Verbindung bringen (u.a. Burns und Bosetzky) und auf der anderen Seite diejenigen, die Mikropolitik weniger auf die dysfunktionalen Wirkungen hin untersuchen, sondern sich mit den durch Mikropolitik bedingten Regulationsmechanismen in Organisationen beschäftigen (Crozier und Friedberg).[16]
Bosetzky thematisierte in Deutschland als erster den Begriff der Mikropolitik, im Anschluss daran wurde das Phänomen von Neuberger auf die Führungsproblematik übertragen. Diese Übertragung kann in Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit bürokratieähnlichen Ansätzen gelesen werden, wobei an die Stelle von vordergründig rationalen bürokratischen Entscheidungen vielmehr Aushandlungs prozesse in den Vordergrund treten. Unter “mikropolitischer Perspektive“ sind Organisationen keine monolithischen Einheiten; entgegen einer unilateralen hierarchischen Einflussbeziehung wird bei dem mikropolitischen Modell „von multiplen vernetzten Einflussquellen ausgegangen, die die Führungskraft [entgegen dem monolithischen Modell] zum Teil nur indirekt – vermittelt über Dritte - tangieren.“[17] Aus dieser Perspektive wird die Führungskraft als „Akteur und Adressat in einem Einflussnetz“[18] gesehen.
Mit anderen Worten überwindet eine mikropolitische Perspektive eine monokratische Auffassung von Führung zugunsten einer polyzentrischen, was bedeutet, dass
… jede Position in Organisationen (auch jede Führungsposition) […] sowohl als Quelle wie als Ziel einer großen Zahl von Einflusslinien angesehen [wird], die von allen Seiten kommen und nach allen Seiten gehen: Man beeinflusst und wird beeinflusst von Vorgesetzte(n), KollegInnen, Unterstellte(n), Stäbe(n), Außenstehende(n) usw. Die streng asymmetrische Einflussbeziehung der Führungskraft (von oben bestimmt, nach unten bestimmend) gibt es nicht mehr.[19]
[...]
[1] Vgl. Maruschke, Christiane: Reorganisationen und Mikropolitik: Eine Analyse am Beispiel eines Baukonzerns. Marburg 2005. [Diss], S. 19. >> http://archiv.ub.uni marburg.de/diss/z2007/0111/pdf/dcm.pdf (28.09.07) (weiter zitiert als Maruschke: Reorganisationen und Mikropolitik).
[2] Da in dieser Hausarbeit Mikropolitik in Zusammenhang mit Führung erörtert werden soll, wird hier ein anderer Text Neubergers rezipiert: Neuberger, Oswald: Führen und führen lassen. Ansätze, Ergebnisse und Kritik der Führungsforschung. 6., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Lucius & Lucius 2002. [darin: “Führung und Mikropolitik”, S. 680-729]. (weiter zitiert als Neuberger: Führung und Mikropolitik).
[3] Ebd., S. 20; Vgl. auch die unterschiedlichen Definitionen des Begriffs bei Neuberger (Neuberger: Führung und Mikropolitik, S. 686).
[4] In seinem Werk „Microplitics: Mechanism of Institutional Change“ (1960/62) wird der Begriff erstmals verwendet.
[5] Vgl. Maruschke: Reorganisationen und Mikropolitik, S. 20.
[6] Vgl. ebd.
[7] In diesem Sinne ist wohl der „Mechanism of Institutional Change“ bei Burns zu verstehen.
[8] Bosetzky, Horst: Managementrolle: Mikropolitiker. In: Staehle, Wolfgang H. (Hrsg.): Handbuch Management. Die 24 Rollen der exzellenten Führungskraft. Wiesbaden: Gabler 1991, S. 287. Die erstmalige Beschäftigung mit dem Phänomen Mikropolitik erfolgte in: Bosetzky, Horst: Die instrumentelle Funktion der Beförderung. In: Verwaltungsarchiv 63 (1972), S. 372-384.
[9] Bosetzky, Horst: Machiavellismus, Machtkumulation und Mikropolitik. In: Zeitschrift für Organisation 46 (1977), S. 121-125; „Machtvermehrungsstrategien“ (ebd., S. 121).
[10] Crozier, Michel und Erhard Friedberg: Die Zwänge kollektiven Handelns. Über Macht und Organisation. Neuausg. Frankfurt am Main: Hain 1993, S. 276. [erstmals 1979 erschienen].
[11] Ebd., S. 18.
[12] Ebd., S. 14.
[13] Ebd., S. 56f. Crozier und Friedberg unterscheiden vier große Machtquellen; die Verfügung über eine oder mehrere Machtquellen kann als Vorraussetzung zur (gelungenen) Aktivität im mikropolitischen Sinne gesehen werden, vgl. ebd., S. 50 ff.
[14] Ebd., S. 68.
[15] Vgl. auch Maruschke: Reorganisationen und Mikropolitik, S. 22.
[16] Vgl. Ebd., S. 23.
[17] Neuberger: Führung und Mikropolitik, S. 680.
[18] Ebd.
[19] Ebd., S. 680f.
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