Inszenierungen des Bösen in phantastischer Kinder- und Jugendliteratur


Proyecto/Trabajo fin de carrera, 2008

117 Páginas, Calificación: 3


Extracto


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Einleitung

I. Definition und Abgrenzung phantastischer Kinder- und Jugendliteratur
1. Zur Definition phantastischer Literatur
1.1. Minimalistische Definition: Tzvetan Todorov
1.2. Theorien von Louis Vax und Roger Caillois
1.3. Maximalistische Definition: Gerhard Haas
2. Zur Definition phantastischer Kinder- und Jugendliteratur
2.1. Die frühe Forschung: Anna Krüger, Ruth Koch und Göte Klingberg
2.2. Theorie der Dreiteilung der sekundären Welt: Maria Nikolajeva
2.3. Forschungsergebnisse zur Phantastikdefinition der 1990er Jahre
2.4. Neueste Forschungsergebnisse
2.5. Abgrenzungsversuch der Begriffe nach Kaulen
3. Abgrenzung der phantastischen Literatur zu benachbarten Genres
3.1. Abgrenzung vom Märchen
3.2. Abgrenzung von Fantasy
3.3. Abgrenzung von Science Fiction
3.4. Abgrenzung von (Anti-)Utopie
4. Themen und Motive der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur
4.1. Phantastische Reisen
4.2. Die phantastische Schwelle
4.3. Das fremde Kind
4.4. Hexen und Zauberer
4.5. Der Kampf zwischen Gut und Böse
5. Funktionen der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur

II. Das Böse
1. Was ist das Böse? – Ein Definitionsversuch
2. Warum gibt es das Böse? – Die Dichotomie von Gut und Böse
3. Streiten um das Böse – Das Problem der Theodizee
4. Das Böse als Triebfeder des Fortschritts
5. Heiligt der Zweck alle Mittel?
6. Die Selbstverteidigung der Menschheit
7. Der Kampf gegen die ohnmächtige Verzweiflung
8. Die Figur des Teufels
9. Die Faszination des Bösen

III. Inszenierungen des Bösen in phantastischer Kinder- und Jugendliteratur
1. Astrid Lindgren: Mio, mein Mio
1.1. Das Land Außerhalb – Die Welt der Dunkelheit
1.2. Ritter Kato – Personifikation des Bösen
2. Astrid Lindgren: Die Brüder Löwenherz
2.1. Das Land Karmanjaka
2.2. Tengil, der Tyrann
3. James Krüss: Timm Thaler
4. Otfried Preußler: Krabat
4.1. Das Leben auf der Mühle
4.2. Figuren des Bösen: Der Müller und der Gevatter
4.3. Die Funktion der Träume
4.4. Christliche Motive
5. Michael Ende: Momo
5.1. Die grauen Herren – Diebe der Zeit
5.2. Gesellschafts- und Zivilisationskritik in Momo
6. Joanne K. Rowling: Harry Potter
6.1. Lord Voldemort
6.2. Die Todesser
6.3. Die Dementoren
6.4. Ambivalenz der Figuren
7. Inszenierungen des Bösen in phantastischer Kinder- und Jugendliteratur – eine Zusammenfassung

IV. Ausblick

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Einleitung

Phantastische Literatur hat am Beginn des 21. Jahrhundert Konjunktur. Die große Nachfrage wird mit zahlreichen Werken für gehobene Ansprüche bis hin zur Tri­vialliteratur bedient. Romane, ja ganze Zyklen und Serien spielen in phantastischen Welten und begeistern Groß und Klein. Die Stadt Wetzlar kann sich sogar rühmen, eine eigene Bibliothek ausschließlich der Phantastik zu widmen. Gerade Joanne K. Rowlings Harry Potter -Zyklus (engl. 1997 – 2007) hat als mehrfach-adressierte Literatur[1] einen regelrechten (Lese-) Boom ausgelöst: „Kein Werk aus der Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur war seit dem Zweiten Weltkrieg [auch bei den erwachsenen Lesern] annähernd so erfolgreich.“ (Kaulen 2003, S. 36). Im Zeitalter der Technik tragen nicht nur Bücher zum großen Erfolg der phantastischen Literatur bei. Auch die Medien haben Konjunktur und Ver­filmun­gen von J.R.R. Tolkiens Fantasy-Klassiker Der Herr der Ringe, George Lucas’ Stars Wars -Reihe oder dem Harry Potter -Zyklus ließen und lassen welt­weit Mil­lionen von Zuschauern in die Kinos strömen.

Phantastische Kinder- und Jugendliteratur gibt es jedoch nicht erst seit dem 20. Jahrhundert. Sie blickt auf eine lange Tradition zurück. 1811/1812 erschien der erste Band der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen, deren „wunderbare Ge­schichten“ als Kinderliteratur angesehen wurden. Die Brüder Grimm äußerten Bedenken, „die Märchen nur als Kinderlektüre anzusehen“ (Kaminski 1998, S. 91). Sie bereinigten die Märchen von „für das Kinderalter nicht passenden Aus[drücken]“ (Grimm in: Rölleke 2007, S. 14) und präsentierten die Märchen kindgerecht. E.T.A. Hoffmanns Wirklichkeitsmärchen Nussknacker und Mause­könig (1816) und Das fremde Kind (1817) gehörten ebenfalls zur intentionalen Kinderliteratur[2]. Hoffmanns Wirklichkeitsmärchen wurden jedoch eskapistische Tendenzen vorgeworfen wurden und er fand in Frankreich weit mehr Beachtung als in der deutschen Heimat. Das bestätigt auch Haas (2000, S. 331). Die Anfänge der phantastischen Literatur im deutschsprachigen Raum waren durch Hoffmann zwar vielversprechend, doch Haas (2000, S. 331) konstatiert „nur schwer erklär­bare Brüche und Verdrängungserscheinungen“ der Entwicklung der phantasti­schen Literatur in Deutschland.

Im Gegensatz dazu können Skandinavien und der angelsächsische Raum auf eine kontinuierlichere Tradition zurückblicken, denn „[d]ie etablierteste Tradition phantastischen Erzählens war in Großbritannien entstanden“ (Kaminski 1998, S. 94). Die „Brüche“ der deutschen Phantastiktradition hängen laut Kaminski

damit zusammen, dass hier die Kinderliteratur traditionell mit der Pädagogik pa­rallelisiert wird. Anders in England, dort war die Phantastische Literatur in erster Linie ein reizvolles literarisches Spiel mit dem Möglichen und Unmöglichen. (Kaminski 1998, S. 94)

Diese Tendenz ändert sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als 1949 aus Schwe­den Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf importiert wird. Zwar wird das Buch damals nicht als Kinderlektüre, sondern ausschließlich als Jugendbuch[3] angesehen und sollte Kindern und Jugendlichen unter vierzehn Jahren vorenthalten werden. Der Grundstein des Wiedereinzugs der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland war jedoch gelegt. Die Rezeption Pippi Langstrumpfs „ermög­lichte eine (verspätete) Rezeption vieler Werke der klassischen englischen kinder­literarischen Phantastik“ (O’Sullivan 2003, S. 2) und eine Tradition, „die ihren Anfang, aber keine unmittelbare Fortsetzung“ (O’Sullivan 2003, S. 2) im deutsch­sprachigen Raum hatte, gelangte wieder nach Deutschland.

In den 1950er/1960er Jahren sind es deutsche Autoren wie Otfried Preußler (Die kleine Hexe, 1957) und James Krüss (Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen, 1962) die in Lindgrens Fußstapfen treten. In den 1970er Jahren gibt es eine erste Fantasy-Welle, die von der Publikation Tolkiens Der Herr der Ringe (engl 1954 – 1955), mit fünfzehnjähriger Verspätung (1969/1970) gegenüber der englischen Originalausgabe, ausgelöst wird. Der deutsche Autor der 1970er Jahre ist Michael Ende, der „mit seinen Werken (Momo, 1973; Die unendliche Geschichte, 1979) zeitweise sogar als ein ‚deutscher Tolkien’ gefeiert wurde“ (Kaulen 2003, S. 31). Doch erst Ende der 1990er Jahre kann der Harry Potter -Zyklus eine zweite fulmi­nante Erfolgswelle der phantastischen Literatur auslösen.

Die Erfolgswelle der phantastischen Literatur in den 1970er Jahren hat zur Folge, dass sich auch die Wissenschaft in zunehmendem Maße mit der Phantastik ausei­nandersetzt. Zunächst sind es, bis auf wenige Ausnahmen, Beiträge zur Phantastik in der allgemeinen Literatur, die in den fünf von Rein A. Zondergeld heraus­ge­geben Phaїcon -Bändchen (1974 – 1984) veröffentlicht werden und bis heute grundlegend für die Phantastikforschung sind.

Im I. Kapitel der vorliegenden Arbeit werden zunächst die wichtigsten Beiträge zur Phantastikforschung vorgestellt. Besonders hervorzuheben ist die Introduction à la littérature fantastique (dt. Einführung in die fantastische Literatur, 1972) des bulgarischen Literaturtheoretikers Tzvetan Todorov, die im 1. Abschnitt des I. Kapitels vorgestellt wird. Bernhard Rank bemerkt zu Recht, dass man um den Theorieansatz „auch dann nicht herum[kommt], wenn man sich ‚nur’ um die Kinder [-und Jugend]literatur kümmern möchte“ (Rank 2002, S. 104). Der 2. Abschnitt des I. Kapitels gibt einen Überblick der Forschungsergebnisse zur phantastischen Kinder- und Jugendliteratur von der frühen Forschung (Anna Krüger, Ruth Koch, Göte Klingberg) über Gerhard Haas, den bedeutendsten Ver­treter der weiten Phantastikdefinition, bis hin zu den Beiträgen der 1980/1990er Jahre (Maria Nikolajeva und Carsten Gansel) und den neuesten Forschungs­er­gebnissen von Birgit Patzelt. Im 3. und 4. Abschnitt werden zum einen die phantastische Kinder- und Jugendliteratur von benachbarten Genres wie Märchen, Fantasy, Science Fiction und (Anti-) Utopie abgegrenzt, zum anderen wichtige Themen und Motive der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur dargestellt.

Eines der zentralen Themen der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur ist der Kampf zwischen Gut und Böse. Die ethischen Motive von Gut und Böse stehen in Opposition zueinander und so weiß wie das eine, so schwarz wird oft das andere inszeniert. In der vorliegenden Arbeit soll vor allem der Frage nachgegangen wer­den, wie das Böse in der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur inszeniert wird. Die zu analysierenden Werke sind einem Zeitraum von etwa 50 Jahren ent­nommen, sodass nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch Unterschiede in den Inszenierungen dargestellt werden können.

Das II. Kapitel befasst sich mit der Darstellung des Bösen. Ausgehend vom Guten wird im 1. Abschnitt ein Definitionsversuch unternommen. Der 2. Abschnitt geht der Frage nach, warum das Böse existiert. Im 3. Abschnitt das Problem der Theo­dizee angesprochen, der Rechtfertigung Gottes. Es stellt sich die Frage, wie die Existenz des Bösen mit der Gerechtigkeit und Güte Gottes vereinbar ist. Der 4. Abschnitt stellt Kants Theorie „Das Böse als Triebfeder des Fortschritts“ vor, während der 5. Abschnitt der Auffassung, dass der Zweck alle Mittel heiligt, wi­derspricht. Die Abschnitte 6 und 7 stellen die Ohnmacht der Menschheit angesichts der Übermacht des Bösen dar und führen zu dem Schluss, dass Nächsten­liebe das einzige Mittel im Kampf gegen das Böse ist. Schließlich wird im 8. Abschnitt auf die Figur des Teufels und dessen Helfershelfer eingegangen, denn als Hauptdarsteller des Bösen darf er in einer Darstellung des Bösen nicht fehlen. Obwohl das Böse „schlecht“ und „falsch“ ist, so scheint es die Menschen dennoch zu faszinieren. Auf diese Faszination geht der 9. Abschnitt ein.

Das III. Kapitel setzt sich im Wesentlichen aus Einzelanalysen der Werke phantastischer Kinder- und Jugendliteratur zusammen, in denen das Böse in Oppo­si­tion zum Guten dargestellt wird. Die Figuren des Bösen und gegebenenfalls die mit dem Bösen assoziierten Orte werden analysiert und charakteristische Merk­male herausgearbeitet. Abschließend wird ein Fazit gezogen und überprüft, ob die Inszenierungen des Bösen konstant blieben oder Wandlungen unterworfen waren und ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat. Ein Ausblick im IV. Kapitel schließt die Arbeit ab.

I. Definition und Abgrenzung phantastischer Kinder- und Jugendliteratur

In seiner Dissertation Phantastik in der Kinder- und Jugendliteratur der Gegen­wart stellt Meißner 1989 (S. 29) fest, dass die Forschungslage zur Definition des Gattung Phantastik in der Kinder- und Jugendliteratur wegen mangelnder Begriffs­klarheit recht unübersichtlich erscheint und der Versuch der Nebeneinan­der­stellung voneinander abweichender Konzeptionen zu weiterer Begriffsver­wirrung geführt hat. Auch gut zehn Jahre später sieht Tabbert diesbezüglich in der For­schung keine Übereinstimmung:

Was als Spezifikum phantastischer Erzählungen im allgemeinen und phantasti­scher Kindererzählungen im besonderen zu verstehen sei, ist umstritten und damit auch die Frage, was diesem Literaturtyp zugerechnet werden kann. Für literaturdidaktische Zwecke empfiehlt es sich Definitionen unterschied­licher Reichweite im Bewusstsein zu haben und an phantastische Literatur im enge­ren, im weiteren und im weitesten Sinne zu denken.“ (Tabbert 2000, S. 187)

Eine Abgrenzung der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur zur realistischen Kinder- und Jugendliteratur ist dagegen in den meisten Definitionen zu finden. Letztlich wird auch diese Arbeit keine eindeutige Definition liefern (können), wohl aber unter Bezug auf die wesentlichen Forschungsbeiträge die Begriffs­ent­wicklung im deutschsprachigen Raum für die Kinder- und Jugendliteratur re­kon­struieren. Abhandlungen zur phantastischen Literatur für Erwachsene werden nur insoweit dargestellt, als sie in der Diskussion um die phantastische Literatur für Kinder und Jugendliche aufgegriffen worden sind. Ziel ist es, die bis heute recht unübersichtliche Forschungslage ordnend darzustellen.

1. Zur Definition phantastischer Literatur

1989 stellt Meißner fest, dass man sich genötigt sehe von „Defiziten der Theo­riediskussion“ zu sprechen, wenn man „nach einer Theorie der phantasti­schen Literatur [im deutschen Sprachraum] such[e]“ (Meißner 1989, S. 9). Zehn Jahre später ist es für Gansel (1999, S. 91) weiterhin offen „ob es sich bei Phantastik bzw. dem Phantastischen um eine Gattung, eine Darstellungsweise, einen Stil oder eine Struktur handelt“. Die kreative Fähigkeit, Gedächtnisinhalte zu neuen Vorstel­lungen zu verknüpfen und sich etwas in Gedanken auszumalen hingegen, nämlich die Phantasie, ist längst in Wissenschaft und Forschung angekommen und „seit jeher Gegenstand von ästhetischen Theorien. Das literarisch Phantastische, die phantastische Literatur hingegen ist überhaupt erst seit einigen Jahr­zehnten wissenschaftsfähig“ (O’Sullivan 2003, S. 4). Nach Haas (2000, S. 331) ist die Entwicklung der phantastischen Literatur in Deutschland „von nur schwer er­klär­baren Brüchen und Verdrängungserscheinungen gekennzeichnet“. Dabei könnte man erwarten, in einem Land, „in dem E.T.A. Hoffmann [...] zur Schlüs­selfigur der literarischen Phantastik wird“ (Haas 2000, S. 331) und die Grimm­schen Märchen „als spezifische Gattung das Märchenhaft-Phantastische weltweit in einem ganz eigenen und prägenden Modell sichtbar gemacht haben“ (Haas 2000, S. 331), eine lange und reiche Tradition dieser Gattung vorzufinden. Doch E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen/Wirklichkeitsmärchen[4] Nussknacker und Mause­könig (1816) und Das fremde Kind (1817), die den Beginn der phantasti­schen Literatur in Deutschland darstellen, werden eher in Frankreich als in Deutschland gelesen. Demzufolge sind es auch keine deut­schen, sondern französi­sche Theoretiker, deren grundlegende Publikationen[5] in den 1970er Jahren die theo­retische Diskussion zum Genre der Phantastik in Deutsch­land in Gang gesetzt und gefördert haben. Erst Anfang der 1970er Jahre findet die Phantastik im deut­schen Sprachraum größere Beachtung, was auch Haas (1984, S. 267) bestätigt. Unterstützt wird dies von einer Öffnung des Lite­raturbegriffs und den Theoreti­kern Todorov, Caillois und Vax, die 1972, bzw. 1974 ins Deutsche übersetzt und von Haas 1978 in einem grundlegenden Aufsatz ausgewertet wurden.

Wilperts Sachwörterbuch der Literatur nimmt erst gute 30 Jahre (1989) nach der Erstauflage (1955) das Stichwort „Phantastische Literatur“ folgendermaßen auf:

I. im weitesten Sinne Sammelbegriff für alle Literatur außerhalb relig.-myth. Kontexts, die die realist. Ebene überschreitet zugunsten des Irrealen, Surrealen, Wunderbaren, Übernatürlichen, Zauberhaften, Unheimlichen, Bizarren, Grotes­ken, Okkulten, Traumhaften, Unbewussten, Halluzinatorischen, Visionären, Gespenstisch-Geisterhaften oder deren versch. Kombinationen. Sie geht dabei oft vom Realen aus und eröffnet plötzlich oder allmählich e. phantast. Gegen­welt, die die Realität verfremdet und übernatürl. Mächte und Wesenheiten postuliert, teils als märchenhafte Fluchtwelt vor der als unerträgl. empfundenen Alltagswelt, als Öffnung des Lebens zu den dunklen Seiten, als reines Gedan­kenspiel der Phantasie oder als Ausgeburt der Daseinsangst. P.L. umfasst daher endlose Sonderformen von Schauerroman, Gothic Novel, Gespenstergeschichte und Fantasy bis zur Science Fiction.

II. im engeren Sinne die lit. Darstellung des Wunderbaren/Unheimlichen in ei­ner Weise, die Leser und Figuren zwischen Realität und Imagination un­schlüs­sig werden lässt und aus dem Schwebezustand ästhet. Werte zieht.

Die oben zitierte Enzyklopädie differenziert zwischen „engem“ und „weitem“ Sinn der Phantastikdefinition, man spricht auch von den sogenannten minimalis­tischen und maximalistischen Genredefinitionen der Phantastik. O’Sullivan (2003, S. 4) schreibt in diesem Zusammenhang von den „beiden Pole[n] der Phantastikbestimmung“. Die meisten Definitionen sind zwischen diesen beiden Polen angesiedelt und sollen nun im Folgenden dargestellt werden.

1.1. Minimalistische Definition: Tzvetan Todorov

Der wohl meistzitierte aber auch meistumstrittenste Beitrag zur internationalen Phantastikforschung ist die 1970 in Frankreich erschienene Abhandlung Introduction à la littérature fantastique (dt. Einführung in die fantastische Literatur, 1972) des bulgarischen Literaturtheoretikers Tzvetan Todorov.

Todorovs Forschungsansatz ist strukturalistisch angelegt und rückt den Leser in den Mittelpunkt der Argumentation, was auch Nix (2002, S. 21) bestätigt. Dabei lässt Todorov „nicht das phantastische Ereignis an sich, sondern allein die [sub­jektive] Reaktion des im Text implizierten Lesers auf dieses Ereignis als Kriterium des Phantastischen gelten“ (Nix 2002, S. 21). Todorov (1992, S. 26) defi­niert Phantastik dann auch als „die Unschlüssigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Grenzen kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat“. Das Phantastische setzt nach Lem (1974, S. 100) einen „naiven Realismus“ des Lesers voraus. Der Leser muss einen Text so lesen, als ob er „von realen, gewöhnlichen Vorfällen Bericht erstatte“ (Lem 1974, S. 100). Bleibt aber der Leser im Verlauf der Lektüre unschlüssig, dann handelt es sich um einen phantastischen Text. Diesen Standpunkt vertritt auch Haas (1978, S. 343f.): „bleibt der leser in der schwebe, wie er den text ver­stehen soll: als der ‚natürlichen’ welt oder einer ‚übernatürlichen’ welt [...] zuzu­ordnen, dann liegt ein [...] phantastischer text vor“. Diese Begriffsbestimmung präzisiert und vervollständigt Todorov dahinge­hend, dass das Phantastische drei Bedingungen erfüllen muss:

Zuerst einmal muss der Text den Leser zwingen, die Welt der handelnden Per­sonen wie eine Welt lebender Personen zu betrachten, und ihn unschlüssig werden lassen angesichts der Frage, ob die evozierten Ereignisse einer natür­lichen oder einer übernatürlichen Erklärung bedürfen. Des weiteren kann diese Unschlüssigkeit dann gleichfalls von einer handelnden Person empfunden werden [...]. Dann ist noch wichtig, dass der Leser in Bezug auf den Text eine be­stimmte Haltung einnimmt: er wird die allegorische Interpretation ebenso zurückweisen wie die ‚poetische’ Interpretation[6]. (Todorov 1992, S. 33)

Phantastisches wird bei Todorov folglich über den Schlüsselbegriff „Unschlüs­sigkeit“ definiert. Gerade darin sieht Haas (1995, S. 2) jedoch die Problematik einer solchen Definition: „Das Phantastische wird zu einen psychologischen Phänomen, dessen wesentliches Merkmal die temporäre Unentschiedenheit des je­weiliges Lesers im Prozess der Lektüre ist“.

Phantastisches kann dementsprechend nur so lange andauern, wie die Unschlüs­sigkeit anhält. Dies stellt auch Kulik fest:

Wird die Unschlüssigkeit durch eine Erklärung, die den Gesetzen der Realität entspricht, aufgehoben, gehört das Werk nicht mehr der Phantastik, sondern dem Unheimlichen an. Werden für die Erklärung des Ereignisses, das Un­schlüssigkeit ausgelöst hat, hingegen neue Naturgesetzte anerkannt, handelt es sich um das Wunderbare. (Kulik 2005, S. 23)

Dem „Unheimlichen“ steht folglich am anderen Ende der Skala das „Wunder­bare“ gegenüber und genau in deren Grenzbereich bewegt sich die Phantastik. Zur Phantastik können deshalb nur solche Texte gezählt werden, die die Unschlüssig­keit des Lesers bis zum Schluss, ja bis über den Schluss hinaus, aufrechterhalten können. Kann die Unschlüssigkeit letztlich doch aufgelöst werden, so ordnet Todorov (vgl. 1992, S. 42f.) den Text je nach Erklärung zum Phantastisch-Unheimlichen oder Phantastisch-Wunderbaren, die jeweils als Zwischenstufen den Übergang zum unvermischt Unheimlichen (Horrorgeschichte) oder unver­mischt Wunderbaren (Märchen) darstellen.

Abb. 1: Stufen des Phantastischen (vgl. Todorov 1992, S. 43)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Todorovs Abhandlung ist oft widersprochen worden. Marzin (1982, S. 58) be­mängelt, dass „[d]as Phantastische [...], wenn man Todorovs Definition ernst nimmt, gar keine Gattung, sondern lediglich eine Spielart von zwei anderen Gattungen“ sei. Die Abgrenzung der Phantastik, als unvermischt Phantastisches, führt jedoch zu Problemen, denn nur sehr wenige Texte[7] „halten die ‚Unschlüssigkeit’ bis ans Ende durch“ (Meißner 1989, S. 10). Aufgrund dieser starken Be­grenzung wird die Theorie Todorovs auch als „minimalistische Definition“ oder „enge Definition“ bezeichnet. Eine solch enge Definition hat den entscheidenden Vorzug, dass sie nicht ohne weiteres jeden „realistischen Text, in dem plötzlich das ‚Übernatürliche’ auftritt, ohne Unterschied dem Genre zuschlägt“ (O’Sullivan 2003, S. 5). Der Phantastik werden bei Todorov nur solche Texte zugeordnet, in denen die Unschlüssigkeit des Lesers über das phantastische Ereignis vorherrscht. Zudem ist anzumerken, dass Todorov seine minimalistische Definition der phan­tastischen Literatur ausdrücklich nur auf den Zeitraum vom Ende des 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bezieht. Laut Nix (2002, S. 22) „bestreitet [er sogar] die Existenz phantastischer Texte nach 1900, da in der Literatur des 20. Jahrhunderts [...] der Glaube an eine empirisch erfassbare Realität als Referenzrahmen des Übernatürlichen nicht mehr gegeben sei“.

Marzin (1982, S. 55) wirft Todorov einerseits vor, dass eine „extrem enge Fas­sung der Gattung der phantastischen Literatur entsteht“. Andererseits werden dem implizierten Leser „Funktionen zugeschrieben [...], die nur ein ‚realer Leser’[8] erfüllen kann“ (Marzin 1982, S. 57): So erfordert beispielsweise die Unschlüssig­keit über das Ende hinaus den realen Leser, denn der implizierte Leser hört mit Abschluss der Lektüre auf zu existieren. Lem (1974, S. 119f.) bemängelt an der Theorie Todorovs, dass sie „als Verallgemeinerung [...] unzulänglich“, ja sogar „eine falsche Verallgemeinerung“ sei, denn einige Werke phantastischer Literatur ließen sich so nicht einordnen und würden „dadurch ‚heimatlos’, da sie sich auch in anderen literarischen Gattungen nicht unterbringen“ ließen. Lem zufolge ist Todorovs Theorie

als kulturelle Tatsache schädlich, da sie den einer humanistischen Theorie an­gemessenen Platz verlässt, um ihre Klassifikations- und Diagnoseschemata in eine Voraussage zu verwandeln, die einem Todesurteil für die gesamte Phan­tastik gleichkommt. Es ist recht schwer sich einen krasseren Fall einer im Dogmatismus mündenden Usurpation vorzustellen. (Lem 1974, S. 120)

Trotz Lems heftiger Attacke und Marzins Vorwürfen hat kaum ein anderes Mo­dell die internationale Phantastikdiskussion so sehr beeinflusst und ist „[d]as bis heute noch immer am häufigsten zitierte theoretische Werk zur phantastischen Literatur“ (Meißner 1989, S. 10). Neben der strukturalistischen Theorie Todorovs gibt es eine ganze Reihe theoretischer Ansätze, in denen versucht wird, die phan­tastische Literatur auf inhaltlicher Ebene zu definieren. Im Folgenden werden die Theorien der französischen Literaturwissenschaftler Louis Vax und Roger Caillois vorgestellt.

1.2. Theorien von Louis Vax und Roger Caillois

Vax verdeutlicht gleich zu Beginn seines Aufsatzes aus dem Jahre 1974, dass er nicht den Versuch unternehmen wird, das Phantastische zu definieren. Damit be­zieht er angesichts der bis heute andauernden Definitionsschwierigkeiten eine verständliche Position und vermeidet von vornherein möglichen Vorwürfen eines „Todesurteils“ für die Phantastik. Sein Anliegen ist vielmehr, „das Gebiet des Phantastischen [durch Aufzeigen der Beziehungen zu benachbarten Genres] ein­zugrenzen“ (Vax 1974, S. 11).

Der einfachste Definitionsansatz zur Bestimmung phantastischer Texte ist die Gegenüberstellung einer realistischen, empirisch-alltäglichen Welt zu einer irrational-unerklärbaren Welt, in der Ungewöhnliches geschieht. Haas (1978, S. 342) sieht im „punktuellen zusammenstoss beider bereiche“ den Ursprung des Phantastischen. Tritt das Irrational-Unerklärbare in die empirisch-alltägliche Welt, so entsteht „ein Konflikt zwischen dem Realen und dem Möglichen“ (Vax 1974, S. 16) und das Phantastische tritt in Erscheinung. Nach Vax (1974, S. 17) erfor­dert das Phantastische „im strengen Sinne [...] den Einbruch eines übernatürlichen Ereignisses in eine von der Vernunft regierte Welt“. Diesen Einbruch in die empi­risch-alltägliche Welt beschreibt Vax (1974, S. 16) als befremdlich, unerträglich, ja skandalös: „Das Phantastische ist mit dem Skandal verbunden, wir sind ge­zwungen, das Unglaubliche zu glauben“. Caillois differenziert diese Bestimmung:

Im Phantastischen [...] offenbart sich das Übernatürliche wie ein Riss in dem universellen Zusammenhang. Das Wunder wird dort zu einer verbotenen Ag­gression, die bedrohlich wirkt, und die Sicherheit einer Welt zerbricht, in der man bis dahin die Gesetze für allgültig und unverrückbar gehalten hat. Es ist das Unmögliche, das unerwartet in einer Welt auftaucht, aus der das Unmögli­che per definitionem verbannt worden ist. (Caillois 1974, S. 46)

Kern der Argumentation Vax’ und Caillois’ stellt demnach der Einbruch des Fremden, bis dahin Unbekannten in die empirisch-alltägliche Welt dar. Mit diesen Beschreibungen definieren Vax und Caillois die phantastische Literatur auf in­haltlicher Ebene und ordnen ihr einen gewissen Grundbestand an Motiven[9] zu[10]. Nach Gansel (1998, S. 597) scheint ein solches „Vorgehen [Überlegungen zum Phantastischen von der Ebene der Handlung aus] nach wie vor geeignet, größere Teile der phantastischen Literatur zumindest quantitativ zu erfassen“.

1.3. Maximalistische Definition: Gerhard Haas

Der minimalistischen Definition Todorovs steht die maximalistische Definition gegenüber, deren bedeutendster Vertreter der deutsche Literaturwissenschaftler Gerhard Haas ist. Mit Haas’ 1978 veröffentlichtem Aufsatz Struktur und funktion der phantastischen literatur erfährt die Phantastikdiskussion eine entscheidende Erweiterung, denn Haas ist bemüht einen weiter greifenden Begriff der Phantastik einzuführen, der über die bisherigen Definitionen hinausgeht, was auch Kulik (2005, S. 22) bestätigt. Damit vertritt Haas einen weiten Definitionsansatz der Phantastik, „bei dem im Extremfall alle erzählenden Texte, in deren fiktiver Welt die Naturgesetzte verletzt werden, zur Phantastik gezählt werden“ (O’Sullivan 2003, S. 5). Das Phantastische kann in einem solchen Extremfall einfach als Ge­gensatz zur Mimesis dargestellt werden. Es ist aber weder sinnvoll, noch hilfreich den Phantastikbegriff derart weit zu fassen. Diese Auffassung vertritt auch Marzin (1982, S. 98) und richtet an Haas den Vorwurf der „Hypergattung“. Würde man dieser Argumentation folgen, so wäre „jegliche Art von fiktionaler Literatur eo ipso auch schon phantastische Literatur“ (Kaulen 2003, S. 33), da nicht nur die phantastische Literatur von erfundenen und nicht-realen Welten handelt.

Haas tritt seit 1978 dafür ein, „literarische Phantastik nicht als Gattung, sondern als eine Form bildlichen, ‚wilden Denkens’ zu verstehen, wie es von dem franzö­sischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss [1973] als Alternative zum begrifflichen Erkenntnisweg beschrieben worden ist“ (O’Sullivan 2003, S. 5). Das „wilde Den­ken“ ist nach Haas folgendermaßen charakterisiert:

- ‚Wildes denken’ setzt einen globalen und integralen determinismus voraus; al­les steht mit allem auf rational nicht aufhellbare weise in zusammenhang;
- ‚wildes denken’ ist immer wieder intuitive antizipation von methoden und ergeb­nissen, die die wissensschaft in ihrem vorsichtig-sorfältig begründendem gang erst in der jeweiligen zukunft einholt;
- ‚wildes denken’ ist erkenntnisgewinn auf der ebene der sinnlichen wahrnehm­nung und der einbildungskraft, ist ein ‚denken’ in komplexen bildern, die auf etwas verweisen, was bedeutung hat und was, im laufe der geistesgeschichte logisch ergreifbar, idee oder wissenschaftliche erkenntnis geworden ist oder noch wird;
- ‚wildes denken’ ist eine art – eine art! – ‚intellektueller bastelei’, mit einem be­grenzten bestand von material, das immer neu geordnet wird und das prinzipiell heterogen ist. (Haas 1978, S. 349)

Haas stellt dabei nicht die These auf, dass das wilde Denken mit der Struktur des Phantastischen völlig identisch sei, wohl aber ließe sich zeigen, dass das Phantas­tische Elemente des wilden Denkens enthält. Kulik (2005, S. 31) konstatiert, dass „[d]ie Struktureinheit der phantastischen Literatur damit aus dem wilden Denken und dem Menschen als Gattung zukommenden, ethnologisch und tiefenpsycholo­gisch nachweisbaren Vorstellungseinheiten erschlossen werden [kann]“. Haas nimmt die von Lévi-Strauss betonte Neuordnungsfunktion (beispielsweise nach dem Einbruch des Phantastischen in die empirisch-alltägliche Welt) als Anlass, die phantastische Literatur als Neuordnungsversuch mit heterogenen Elementen zu beschreiben. Entstehen dabei Brüche oder Risse[11], liegt im engeren Sinne Phan­tastik vor. Diesen Standpunkt vertritt auch Haas (1978, S. 350), der konsta­tiert, dass dem strukturell die Phantastik entspricht, „die einen nicht geringen teil der kinder- und jugendliteratur prägt“. Phantastik zeichnet sich nach Haas (1978, S. 350) dadurch aus, dass sich bei der Neuordnung „überraschende, skurrile, er­heiternde konstellationen, überlagerungen und querstellungen oder freie neue figuren ergeben“. Dahl bemerkt 1986 in seiner Abhandlung Die Entstehung der Phantastischen Kinder- und Jugenderzählung in England, dass Haas damit

offenbar der Einzige [ist], der in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam macht, dass man [...] eine weitere Ausprägung der phantastischen Literatur, nämlich die phantastische Kinder- und Jugendliteratur mit ihrer häufigen Ver­wendung des Phantastischen für ein spaßhaftes Spiel, total ausklammert. (Dahl 1986, S. 21)

Lem warf der minimalistischen Theorie Todorovs vor, Texte heimatlos zu machen und sprach von einem Todesurteil für die gesamte Phantastik. Im Gegensatz dazu stellt Dahl (1986, S. 22) fest, dass „bei Haas der Wunsch deutlich [wird], zu einer Beschreibung der phantastischen Literatur zu kommen, die nicht vorschnell Texte heimatlos macht, die eindeutig nicht der realistischen Literatur zuzuordnen sind“.

In Überlegungen zur Kinder- und Jugendliteratur wird oft ganz selbstverständlich angenommen, dass die für die Analyse der Kinder- und Jugendliteratur einge­setzten theoretischen Begriffe aus der allgemeinen Literatur stammen. Bei der phantastischen Literatur ist dies jedoch nicht der Fall, denn erste, unabhängig von der allgemeinen Theoriediskussion entwickelte Forschungsansätze und Begriffs­definitionen gab es bereits Ende der 1950er Jahre. Die folgenden Abschnitte geben einen Überblick der Forschungsergebnisse zur phantastischen Kinder- und Jugendliteratur, der aufgrund der Uneinigkeit der verschiedenen Ansätze keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.

2. Zur Definition phantastischer Kinder- und Jugendliteratur

Bei allen Differenzen in der Phantastikforschung scheint zumindest Einigkeit über den Anfang der Theoriediskussion im deutschen Sprachraum zu bestehen: Die phantastische Erzählung wird als eigene Gattung erstmals bei den deutschen Jugendliteraturkritikerinnen Krüger und Koch erwähnt.

2.1. Die frühe Forschung:

Anna Krüger, Ruth Koch und Göte Klingberg

Koch stellt 1959 (S. 55) fest, dass phantastische Erzählungen schon „seit einigen Jahrzehnten“ erscheinen. Der schwedische Literaturwissenschaftler Klingberg (1969, S. 64f.) bemängelt zu Recht, dass die Wirklichkeitsmärchen E.T.A. Hoffmanns bei Koch unerwähnt bleiben. Auch die Märchensammlung der Brüder Grimm bleibt sowohl bei Krüger als auch bei Koch unerwähnt. In ihrer Abhand­lung über Das fantastische Buch aus dem Jahre 1960 erwähnt Krüger (S. 343), dass sie bereits 1952 die Idee hatte, Werke „unter den Märchen [...], die ihrer Struktur nach keine Kunstmärchen sind [...] [als] ‚Fantastische Abenteuer­geschichten’“ zu charakterisieren. Koch weist in ihrem Aufsatz Phantastische Erzählungen für Kinder aus dem Jahre 1959 die von Krüger gewählte Bezeichnung „phantastische Abenteuergeschichte“ jedoch zurück, da darin das abenteu­erliche Moment zu stark betont wird und „sie die Vielfalt in diesen Kin­derge­schichten nicht umschließt“ (Koch 1959, S. 56). Sie wählt ihrerseits den Begriff der „phantastischen Erzählung“ und ordnet „die phantastischen Erzählungen [...] zwischen Märchen und Abenteuergeschichten [ein, da] alle [phantasti­schen Er­zählungen] ein Stück Realität [enthalten]“ (Koch 1959, S. 56). 1960 distanziert sich Koch von der Bezeichnung „fantastische Abenteuer­geschichte“ und geht zur Bezeichnung „fantastische Bücher“ über.

Krüger und Koch gehen, wie später auch Vax und Caillois, vom Märchen aus, um im Gegensatz dazu phantastische Erzählungen zu charakterisieren. Phantastische Erzählungen, betrachtet man „meistens als Märchen, weil sie viel Märchenhaftes enthalten. Sie haben jedoch einen anderen Charakter als diese Gattung“ (Koch, 1959, S. 55). Phantastische Erzählungen werden bei Koch folgendermaßen beschrieben:

In jenen Erzählungen bestehen Wunderwelt und Wirklichkeit ein einem oft merkwürdigen Gegensatz nebeneinander. Eine alltägliche Begebenheit erhält durch die plötzliche Wendung ins Phantastische ihr eigentümliches Gepräge. [...] Neben die Vertreter des Alltags, meist nüchtern denkende Erwachsene, treten Gestalten aus dem Reich der Phantasie, die über geheimnisvolle Mittel und Kräfte verfügen. Die Kinder in den Erzählungen zeigen sich zum Teil vom Wunder, zum Teil von der Wirklichkeit befangen. Im Märchen kennen wir den Gegensatz der aus verschiedenen Welten kommenden Wesen nicht. In ihm ge­hören sie alle dem Wunderland an, denn im Märchen ist das Unwirkliche selbstverständlich. (Koch 1959, S. 55)

Die Gegenüberstellung und damit das Nebeneinander von Wunder(-welt) und Wirklichkeit beschreibt Krüger später (1965, S. 48) als Modell zweier Ebenen:

Zur phantastischen Geschichte gehören [...] zwei Ebenen[12]: die Realität und ein durch ein märchenhaftes einmaliges Ereignis verwandelter Weltausschnitt, in den Übernatürliches plötzlich und zum Erstaunen der Buchhelden hereinbricht.

Dieses Nebeneinander von Wunder und Wirklichkeit wird dann auch als das Hauptmerkmal der phantastischen Erzählung von Krüger und Koch hervorge­hoben. Kulik (2005, S. 19) vermerkt, dass „[d]iese Textsortenbestimmung zunächst akzeptiert [wird]“ und laut Meißner (1989, S. 20) „in den Folgejahren still­schweigend übernommen und kaum hinterfragt“.

Krüger und Koch lieferten recht allgemeine Beschreibungen der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur, sodass schnell Forderungen nach einer genaueren Bestimmung und Abgrenzung zu benachbarten Textsorten entstehen, was auch Kulik (2005, S. 19) bestätigt. Klingbergs Beiträge zu einer genaueren Definition waren dabei maßgebend. Er gliedert die surreal-komische und die mythische Er­zählung aus der phantastischen Kinder- und Jugenderzählung aus und grenzt so die phantastische Erzählung enger ein.

Die erste Abgrenzung bezeichnet er 1969 in seinem Aufsatz Die phantastische Erzählung für Kinder noch als „Nonsensliteratur“, geht aber 1974 dazu über, von der „surreal-komischen Erzählung“ zu sprechen. Als Beispiele nennt er Pamela Travers’ Mary Poppins -Serie (engl. 1934 – 1988) oder Michael Endes Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (1960). Nonsens-Züge finden sich zwar auch in phantastischen Geschichten, es ist jedoch für Klingberg nicht ausreichend, um auf eine Abgrenzung zu verzichten. Der Unterschied zwischen phantastischer Erzäh­lung und surreal-komischer Erzählung besteht für ihn darin, dass

[d]as Geschehen der surreal-komischen Kinder- und Jugenderzählung [...] sich grundsätzlich in einer, meist der realen, vertrauten Welt des Leser ab[spielt]. Die phantastische Erzählung dagegen handelt von zwei verschiedenen, aufein­ander stoßenden oder einander übergehenden Welten. Sie ist ferner durch eine nachvollziehbare, immanent stringente Logik gekennzeichnet. (Klingberg 1974, S. 222)

Die zweite Abgrenzung Klingbergs ist die „mythische Erzählung“. Das Motiv der mythischen Welt kann zwar auch in phantastischen Erzählungen vorkommen, doch war dies für Klingberg ebenfalls nicht ausreichend. Als Beispiele nennt er J.R.R. Tolkiens Der kleine Hobbit (engl. 1937) oder C.S. Lewis’ Narnia -Zyklus (engl. 1950 - 1956). Klingberg (1974, S. 227) liefert folgende Definition: „Mit ‚mythisch’ bezeichne ich eine Erzählung, die in einer mythischen Welt und nur in dieser Welt spielt, gleichzeitig aber (im Gegensatz zu der surreal-komischen Er­zählung) logisch aufgebaut ist.“ Ein besonderes Charakteristikum der mythischen Erzählungen ist, dass oft Landkarten der mythischen Länder gezeichnet werden[13].

Ebenso wie Caillois 1974 Märchen, Wundergeschichten und Science Fiction von der Phantastik abgrenzt, so unterscheidet Klingberg die mythische und surreal-komische Erzählung. Da aber Klingberg selbst schon einwandte, dass sich die abgegrenzten Elemente auch in den phantastischen Erzählungen wiederfänden, ging er 1980[14] dazu über von einer Literatur der „fremden Wirklichkeiten“ zu sprechen.

Kulik (2005, S. 21f.) sieht in Klingbergs Aufsatz Die phantastische Kinder- und Jugenderzählung von 1974 „eine[n] Abschluss der frühen Diskussion um die Textsortenbestimmung der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur“ in zwei­erlei Hinsicht: Zum einen referiere der Aufsatz in knapper Form die bisherigen Forschungsergebnisse und führe die Begriffe der surreal-komischen und mythischen Erzählung ein, zum anderen erscheinen „jenseits der Kinder- und Jugend­literaturforschung [...] Arbeiten, in denen die phantastische Literatur für Erwach­sene abweichend von der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur definiert wird“ (Kulik 2005, S. 22). Klingberg nimmt diese Arbeiten zwar zur Kenntnis[15], geht aber nicht tiefer darauf ein, „da eine Anwendbarkeit auf die Kinder- und Jugendliteratur allgemein nicht gegeben ist“ (Kulik 2005, S. 22).

2.2. Theorie der Dreiteilung der sekundären Welt: Maria Nikolajeva

Nach Haas (1995, S. 2) „definiert Klingberg phantastische Texte durch den Zu­sammenstoß oder Neben-, bzw. Ineinander einer realistischen und einer nicht-realistischen fremden Wirklichkeit“. Die Zweiweltenstruktur ist schon bei Krüger und Koch definiert worden und liegt nahezu allen theoretischen Modellen der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur zugrunde. Die russisch-schwedische Anglistin Maria Nikolajeva stellt in ihrer Dissertation The magic code (1988) eine Dreiteilung der phantastischen Welt vor und unterscheidet zwischen einer „ge­schlossenen“, „offenen“ und „implizierten“ sekundären, sprich phantastischen, Welt:

Closed world will denote a self-contained secondary world without any contact with the primary world (= high fantasy).

Open world is a secondary world that has a contact of some kind, and both pri­mary and secondary worlds are present in the text.

Implied world is a secondary world that does not actually appear in the text, but intrudes on the primary world in some way (= low fantasy). (Nikolajeva 1988, S. 36)

Nikolajevas Ansatz unterscheidet sich im Gegensatz zu Klingberg dadurch, dass alle drei Formen der sekundären Welt die Phantastik bestimmen, während Klingberg die „closed world“ als mythische Erzählung von der phantastischen Erzählung abgegrenzt. Die wesentlichen Merkmale der Phantastik sind nach Nikolajeva (1988, S. 12): „[T]he presence of magic, that is, magical beings or events, in an otherwise realistic world, the sense of the inexplicable, of wonder, and the violation of the natural laws”. Die Verletzung der Naturgesetze findet sich auch schon bei Haas’ maximalistischer Definition, insofern entwickelt Nikolajeva hier keinen grundlegend neuen Ansatz.

2.3. Forschungsergebnisse zur Phantastikdefinition der 1990er Jahre

Für die Forschungsergebnisse Anfang der 1990er Jahre ist vor allem Wolfgang Biesterfeld zu nennen, der um einen Neuansatz einer Textsortendefinition bemüht ist. Wie auch Meißner schon 1989 eine „mangelnde Begriffklarheit“ konstatiert, so spricht Biesterfeld (1993, S. 71) von einer „Definitionsnot“ und führt den Oberbegriff der „extra-empirischen Literatur“ (Biesterfeld 1993, S. 75) ein. Dieser Oberbegriff soll sowohl für die Erwachsenen- als auch für die Kinder- und Ju­gendliteratur gleichermaßen gültig sein. Biesterfeld geht es dabei „um mehr als um ‚Genres’, ‚Gattungen’ oder ‚Textsorten’“ (Biesterfeld 1993, S. 79), weshalb er auch nicht von Genres, sondern von „Elementen der extra-empirischen Literatur“ spricht. Diese sind für ihn: Utopie, Fantasy, Science Fiction, Horror, Märchen, Sage, Naturwissenschaft und Philosophie. Phantastik als solcher wird keine wei­tere Beachtung geschenkt. Extra-empirische Literatur wird von Biesterfeld (1993, S. 79) abschließend folgendermaßen definiert: „Extra-empirische Literatur ist wie die Flüssigkeit, die sich einem Kristallglas mit achtfach geschliffenem Boden, je nach Bewegung und Neigung des Gefäßes, dem Auge darbietet.“

Für Carsten Gansel ist das Phantastische hingegen dadurch gekennzeichnet, „dass es von den Wahrscheinlichkeiten einer bestimmten historisch-sozialen Erfah­rungswirk­lichkeit [...] weit abweicht“ (Gansel 1998, S. 597). Figuren, Handlungen und Ereignisse werden so dargestellt, „wie das in der empirischen Wirklichkeit nicht oder noch nicht möglich ist“ (Gansel 1998, S. 598). Zehn Jahre nach Nikolajevas Ansatz hat er ähnliche Modelle aufgestellt, „die jeweils nach dem Verhältnis von real-fiktiver und phantastischer Handlungsebene fragen“ (Gansel 1998, S. 598). Er unterscheidet dabei zwischen den Grundmodellen A, B und C:

Grundmodell A: In die real-fiktive Welt treten plötzlich Figuren, Gegenstände, Erscheinungen, die aus einem phantastischen Handlungskreis kommen oder in­nerhalb der real-fiktiven Welt laufen phantastische Veränderungen (Ver­wand­lungen) ab.

Grundmodell B: Durch bestimmte Schleusen gelangt man aus der real-fiktiven Welt in die phantastische und zurück.

Grundmodell C: Die Konstruktion von eigenen phantastischen Welten, die in verfremdeter Form Spiegelbild der realen sein können.

Das „Grundmodell A“ ist äquivalent zu Nikolajevas „implied world“ und ist wohl die bekannteste Variante der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur. Als Bei­spiele seien hier die Titelfiguren in Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf (schwed. 1945 - 2007) und Pamela Travers’ Mary Poppins genannt. Ebenso lassen sich James Krüss’ Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen (1962) und Otfried Preußlers Krabat (1971) diesem Modell zuordnen. In den 1990er Jahren ist

[e]ine aktuellere Variante [...] vor dem Hintergrund der technologischen Mo­dernisierungsschübe [...] hinzugekommen, die sogenannte ‚Discworld-Novel’[16]. Sie nutzt traditionelle Motive des Phantastischen [...]. Allerdings werden nun­mehr die rationale Gesetzmäßigkeiten überschreitenden Ereignisse durch das Ausnutzen der Möglichkeiten des Computers motiviert. Nicht geheime Mächte oder phantastische Fähigkeiten führen zur Wirklichkeitsdehnung, sondern die Computer- bzw. Mediensimulation. (Gansel 1998, S. 599)

Das „Grundmodell B“ ist äquivalent zu Nikolajevas „open world“ und kann als „die klassische Variante des Phantastischen“ (Gansel 1998, S. 599) betrachtet werden. Die Zweiweltenstruktur ist hier ausschlaggebend, was auch O’Sullivan (2003, S. 8) bestätigt: Das Modell ist „durch das Zusammentreffen zweier Welten, einer alltäglich-realistischen (primären) und einer räumlich und/oder zeitlich ab­gesonderten phantastischen (sekundären) [Welt bestimmt]“. In der Kinder- und Jugendliteratur werden die beiden Welten über kindliche/jugendliche Grenzgänger miteinander in Verbindung gebracht, die bestimmte Schwellen und Um­steigepunkte[17] überschreiten. Als Beispiele dieses Modells seien hier Mio, mein Mio (schwed. 1954) und Die Brüder Löwenherz (schwed. 1973) von Astrid Lindgren genannt. Eines der prominentesten Beispiele ist Joanne K. Rowlings Harry Potter -Zyklus (engl. 1997 – 2007), als Schwelle und sprichwörtlicher Um­steigepunkt dient hier das Gleis 9 ¾ am Londoner Bahnhof King’s Cross.

Das „Grundmodell C“ ist äquivalent zu Nikolajevas „closed world“ und steht da­mit dem Märchen nahe. Nach Todorov handelt es sich hierbei um „unvermischt Wunderbares“. Die „Existenz von zwei Handlungskreisen (real-fiktive Ebene vs. phantastische Ebene) [...] [wird] zugunsten der Konstruktion einer phantastischen Eigenwelt [aufgehoben]“ (Gansel 1998, S. 600 - Hervorhebung im Original S.M.). Als Beispiele seien hier Michael Endes Momo (1973) und J.R.R. Tolkiens Der kleine Hobbit und Der Herr der Ringe genannt.

Die phantastische Welt ist nach ihren ganz eigenen Gesetzen aufgebaut, die aber im Verlauf der Erzählung nicht verletzt werden (dürfen). Für Nix (2002, S. 33) stellt diese „innere Logik der fremden Welt [den Garant der Zweiweltenstruktur dar] für die das ‚Wahrheitserlebnis’ essentiell ist“. Dahl fasst dies prägnant zu­sammen:

So wie die Kongruenz zwischen der innerliterarischen und der außerlitera­ri­schen Realität nicht durch Verweise auf den Märchencharakter des Erzählten zerstört werden darf, so entspricht es nicht der Phantastischen Kinder- und Jugenderzählung, dass die innere Logik des Übernatürlichen durch Wider­sprüche aufgehoben wird und damit das jeweils Phantastische unglaubwürdig macht. (Dahl 1986, S. 25)

Nix (2002, S. 33) definiert, Dahl folgend, die phantastische Kinder- und Jugend­erzählung „als selbstständiges [...] Genre, das sich durch eine logisch konstruierte Verbindung zweier gegensätzlicher Wirklichkeitsbereiche auszeichnet“. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass alle Literatur, „in der keine im Text erkenn­bare Berührung zwischen einer dem realistischen Prinzip entsprechenden Welt und einer fremden irrealen Welt gegeben ist“ (Nix 2002, S. 33) nicht zur phantas­tischen Kinder- und Jugenderzählung gezählt werden kann. Bevor jedoch eine Ab­grenzung zu benachbarten Genres erfolgen kann, müssen die Begriffe inner­halb der Textsorte differenziert werden.

2.4. Neueste Forschungsergebnisse

Um die Darstellung der Forschungsergebnisse zur phantastischen Kinder- und Jugendliteratur abzuschließen, sei auf die Dissertation Phantastische Kinder- und Jugendliteratur der 80er und 90er Jahre von Birgit Patzelt aus dem Jahre 2001 hinge­wiesen. Nach einem historischen Rückblick des phantastischen Erzählens für Kinder und Jugendliche und der Darstellung und Diskussion der vorher­gegan­genen Forschung kommt sie zu folgender Arbeitsdefinition:

Die [phantastischen] Erzählungen gestalten eine fiktiv-reale Welt, in der eine oder mehrere Figuren mit einem für sie übernatürlichen, d.h. mit ihrer Welt nicht zu vereinbarenden, Phänomen konfrontiert werden. Dieses phantastische Phänomen tritt als strukturbildendes Element auf, d.h. es wirkt unmittelbar auf das Handlungsgeschehen ein. Im Text wird die Konfrontation mittels einer Er­klärungsstruktur thematisiert. Die fiktiv-reale Welt des Textes ist mit dem Realitätskonzept des Lesers vereinbar. (Patzelt 2001, S. 65)

Damit definiert sie laut O’Sullivan die phantastische Kinderliteratur „im engeren Sinne“ (O’Sullivan 2003, S. 10). Der Begriff der „Konfrontation“ ist dabei her­vorzuheben, ist aber nicht - wie bei Todorov – „auf eine einzige, negative Form festgelegt“ (Patzelt 2001, S. 66):

Es kann sich dabei um einen Einbruch, einen Riss handeln, verbunden mit Schrecken, Entsetzen, Grauen. Gerade in der Kinder- und Jugendliteratur ist es jedoch eher so, dass einem ersten Erschrecken oder Erstaunen eine angstfreie Auseinandersetzung folgt. Wichtig ist, dass überhaupt eine Reaktion auf über­natürliche Ereignisse stattfindet. (Patzelt 2001, S. 66)

2.5. Abgrenzungsversuch der Begriffe nach Kaulen

Bislang wurden die Begriffe Phantastisches, Phantastik und phantastische Literatur synonym verwendet. In den dargestellten Diskussionsbeiträgen fällt die Verwendung der Begriffe unterschiedlich und uneinheitlich aus. Bei Kaulen (2003, 33f.) findet man einen Abgrenzungsversuch, der im Folgenden zusammen­gefasst wird.

Das Phantastische: Hierzu zählt Kaulen (2003, S. 33) „all jene literarischen Dar­stellungsmittel – Figuren, Motive oder Formelemente – [...], welche von der Wahrscheinlichkeit der historisch-sozialen Erfahrungswelt abweichen“. Solche Elemente finden sich auch in realistischen Texten, z.B. sprechende Tiere in den Fabeln oder Traumgestalten in Rahmen eines ansonsten ‚realistischen’ Textes. Diese Elemente machen jedoch „den Text, in dem sie auftauchen, noch nicht zu einem Teil der phantastischen Literatur, sondern sind allenfalls ein Indiz für des­sen Fik­tionalität“ (Kaulen 2003, S. 33).

Literarische Phantastik: Die literarische Phantastik stellt bei Kaulen einen Oberbegriff verschiedener literarischer Textsorten dar, „für welche das Auftreten phantastischer Inhalte und Formelemente per definitionem gattungsbestimmend ist“ (Kaulen 2003, S. 34). Von ihr ist erst dann zu sprechen, „wenn wunderbare, übernatürliche Geschehnisse und phantastische Darstellungsmittel [...] eine domi­nante, die gesamte Textstruktur prägende Bedeutung besitzen“ (Kaulen 2003, S. 34). Zur literarischen Phantastik zählen folglich Textsorten wie das Märchen, die Sage, die Legende, der Mythos, die Utopie und Anti-Utopie, die Science Fiction, der Schauer- und Horrorroman und auch die phantastische Erzählung, bzw. der phantastische Roman[18].

Phantastische Literatur: Phantastische Literatur ist als Gattungsbegriff zu ver­stehen. Hierzu zählen die phantastische Erzählung und der phantastische Roman. Im engeren Sinne bezeichnet phantastische Literatur

einen speziellen literarischen Texttypus, der sich von Märchen, Science Fiction-Romanen und anderen phantastischen Genres vor allem durch die Zweidimen­sionalität der fiktional dargestellten Wirklichkeit unterscheidet. [...] Die phantastische Erzählung und der phantastische Roman thematisieren den Dualismus und Konflikt zweier divergierender Weltordnungen: einer natürlich-empirischen Handlungsebene, die mit unserer normalen Alltagserfahrung und Alltagslogik kompatibel ist (primäre oder ‚reale’ Welt), und einer anderen sekundären, transrationalen und übernatürlichen (eben: phantastischen) Handlungs­dimen­sion, die über die Alltagserfahrung und unser empirisch-rationales Bewusstsein hinausweist. (Kaulen 2003, S. 34)

Die phantastische Literatur ist demzufolge eine Grenzüberschreitung „in andere, imaginäre Erzähldimensionen (Anderswelten) und macht den Bruch zwischen beiden Wirklichkeitsbereichen innerhalb der fiktionalen Welt selbst thematisch und explizit“ (Kaulen 2003, S. 34). Das wichtigste Merkmal dieser Gattung ist „die Zweidimensionalität des Textes“ (Kaulen 2003, S. 34).

Kaulens Abgrenzungsversuch dient zwar der Übersichtlichkeit der Begriffe, doch ist eine solche Abgrenzung keineswegs einheitlich von allen Wissenschaftlern und auch nicht immer mit dieser Terminologie vorgenommen worden, was auch O’Sullivan (2003, S. 7) bestätigt.

3. Abgrenzung der phantastischen Literatur zu benachbarten Genres

In den bisher dargestellten Forschungsbeiträgen wurden der literarischen Phan­tastik unterschiedliche Textsorten zugeordnet. Kaulen (2003, S. 35) spricht auch von „Sub­genres phantastischer Literatur“. Er unterscheidet zwischen dem Märchen, der Sage, der Legende, dem Mythos, der Utopie und Anti-Utopie, der Science Fiction und den Schauer- und Horrorromanen, Biesterfeld dagegen zwischen der Utopie, der Science Fiction, der Phantastik, der Fantasy und der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur, um nur zwei Ansätze zu nennen. Im Folgenden wird nicht auf alle Abgrenzungen eingegangen, stellvertretend werden die Ab­grenzungen vom Mär­chen, von Fantasy, von Science Fiction und (Anti-) Utopie dargestellt.

[...]


[1] Unter mehrfach-adressierter Literatur versteht man Literatur, die nach Ewers (2000a, S. 28) sowohl an Kinder und Jugendliche als auch Erwachsene adressiert ist.

[2] Unter intentionaler Kinder- und Jugendliteratur versteht man Literatur, die Kinder und Jugendliche nach Ewers (2000a, S. 17f.) aus Sicht von Literaturvermittlern lesen sollen.

[3] Von Kinderliteratur spricht man nach Ewers (2000b, S. 14) bei Werken, die für Kinder bis zum 10./11. Lebensjahr geschrieben wurden, Jugendliteratur richtet sich an 12- bis 14jährige Leser.

[4] Eine genauere Definition liefert Abschnitt 3.1. des I. Kapitels.

[5] Haas nennt hier vor allem die fünf Phaїcon -Bändchen, die zwischen 1974 und 1984 von Rein. A. Zondergeld herausgegeben wurden. Zondergeld sah die Aufgabe dieses Almanachs darin, „Originalbeiträge anzuregen, die von wesentlicher Bedeutung für eine Diskussion über die Phantastik sein könnten“ (Zondergeld 1974, S. 10).

[6] Was Todorov unter allegorischer und poetischer Interpretation versteht, wird jedoch lediglich anhand von Beispielen zu verdeutlichen versucht (vgl. Todorov 1992, S. 32).

[7] Todorov nennt in diesem Zusammenhang nur zwei Beispiele: Henry James’ The Turn of the Screw (1898) und Prosper Merimées Die Venus von Ille (1840).

[8] Ein realer Leser steht in Opposition zu einem impliziten Leser, denn er liest das Buch wirklich, ist somit real.

[9] Auf Motive der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur nach Klingberg wird gesondert im 4. Abschnitt dieses Kapitels eingegangen.

[10] Vax (1974, S. 31 – 42) führt unter dem Hinweis, dass das Wichtigste nicht das einzelne Motiv, sondern dessen Gebrauch sei, folgende Motive an: „Der Werwolf“, „Der Vampir“, „Die vom menschlichen Körper losgelösten Teile“, „Die Störungen der Identität“, „Das Spiel mit dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren“, „Die Veränderung der Kausalität, des Raumes und der Zeit“ und „Die Regression“. Caillois (1974, S. 63 – 66) hingegen liefert folgende Beispiele: „Der Teufelspakt“, „Die Seele in Not, die, damit sie zur Ruhe kommt, verlangt, dass eine gewisse Handlung vollbracht wird“, „Das Gespenst, das zu einer wilden und ewigen Fahrt verdammt ist“, „Die Verkörperung des Todes, die unter den Lebenden erscheint“, „Das undefinierte, unsichtbare ‚Ding’, das bedrückend wirkt, das anwesend ist und das tötet oder verletzt“, „Die Vampire, d.h. die Toten, die eine ewige Jugend erlangen, indem sie das Blut der Lebenden aussaugen“, „Die Statue, die Puppe, die Rüstung oder der Automat, die sich plötzlich beleben und eine gefährliche Unabhängigkeit erreichen“, „Der Fluch eines Zauberers, der eine schreckliche und übernatürliche Krankheit heraufbeschwört“, „Die Phantomfrau, die aus dem Jenseits kommt und eine tödliche Verführung ausstrahlt“, „Die Umkehrung der Gebiete des Traums und der Wirklichkeit“, „Das Zimmer, das Apartment, das Stockwerk, die Wohnung oder die Straße, die aus dem Raum verschwinden“ und „Der Stillstand oder die Wiederholung der Zeit“

[11] Mit Hinweis auf den Riss nimmt Haas Bezug auf Caillois.

[12] Klingberg konstatiert, dass E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen auch von zwei Welten handeln, „und zwar in einer Weise, dass eine irreale Welt unvermittelt in einer realistischen Alltagswelt sichtbar wird“ (Klingberg 1974, S. 222). Somit können sie als Vorläufer der phantastischen Erzählung angesehen werden.

[13] Man denke an die detaillierten Karten zu Tolkiens Der Herr der Ringe (engl. 1954 – 1955).

[14] „In seinem Buch De främmande världarna i barn- och ungeloms litteraturen (Stockholm 1980) gibt Klingberg diese Einteilung auf. Er sagt dazu: ‚Dies bedeutet nicht, dass ich solche Gruppierungen als unnütz betrachte. Vor allem die Unterscheidung von logisch kohärenten und nonsenshaften oder eine unsinnig-verrückte Welt spiegelnden Geschichten ist wichtig, wenn man über literarische Gesetze [...] und Funktionen spricht. Mehr als Begriffe leistet jedoch die sorgfältige phänomenologische Unterscheidung.’“ (Haas, Klingberg 1984, S. 272)

[15] Klingberg geht dabei, wenn auch nur knapp, hauptsächlich auf Todorov ein.

[16] 1999 führt Gansel in seinem Buch Moderne Kinder- und Jugendliteratur: ein Praxisbuch für den Unterricht zusätzlich die Bezeichnung „Cyberspace-Novel“ (S. 168) ein.

[17] Eine genauere Beschreibung phantastischer Schwellen liefert Abschnitt 4.2. des I. Kapitels.

[18] Eine Begriffsabgrenzung liefert Abschnitt 3 des I. Kapitels.

Final del extracto de 117 páginas

Detalles

Título
Inszenierungen des Bösen in phantastischer Kinder- und Jugendliteratur
Universidad
University of Frankfurt (Main)
Calificación
3
Autor
Año
2008
Páginas
117
No. de catálogo
V112625
ISBN (Ebook)
9783640131891
ISBN (Libro)
9783640134434
Tamaño de fichero
890 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Kinder- und Jugendliteratur, Harry Potter, Krabat, Timm Thaler, Momo, Mio mein Mio, Die Brüder Löwenherz, Das Böse, phantastische Literatur
Citar trabajo
Sarah Müller (Autor), 2008, Inszenierungen des Bösen in phantastischer Kinder- und Jugendliteratur, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/112625

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