Wedekinds Lulu zwischen Gesellschaft, Erotik und Gewalt. Männliche Gewaltphantasien, La Femme fatale und das Patriarchat um 1900

Das Böse - eine Frau?


Dossier / Travail de Séminaire, 2020

37 Pages, Note: 1,0

Sophia Wimmer (Auteur)


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Männliche Gewaltphantasien um 1900

2. Lulu als Imago der Femme fatale
2.1 Das Urwesen
2.2 Das Triebwesen
2.3 Das Machtwesen

3. Das Patriarchat
3.1 Die Bourgeoisie - Der Leitfaden des Patriarchats
3.2 Die Demi-Monde: Gestalten der Halbwelt
3.3 Das Dirnenmilieu: Heterotopie des bürgerlichen Raums

4. Auswertung: Die Wurzel des Bösen

6. Literaturverzeichnis

7. Abbildungsverzeichnis

« On ne nait pas femme : on le devient. »

Simone de Beauvoir (1949) : Le deuxième Sexe, Tome II.

1. Männliche Gewaltphantasien um 1900

„Hereinspaziert in die Menagerie,

Ihr stolzen Herrn, ihr lebenslust'gen Frauen,

Mit heißer Wollust und mit kaltem Grauen

Die unbeseelte Kreatur zu schauen,

Gebändigt durch das menschliche Genie.“ [LEB, Prolog, S.13]

Der Prolog zu Frank Wedekinds 1913 überarbeiteten Version der „Lulu-Tragödie“ gilt als Manifest moderner Männerphantasmen. Ein Tierbändiger, posierend mit Hetzpeitsche und geladenem Revolver, führt die zentrale Figur Lulu als Schlangenwesen vor - eine „Bestie“1 2, geschaffen um „zu morden, ohne dass es einer spürt“3.

Die Frau als entartetes, schönes Raubtier - eine Vorstellung, die um 1900 nicht nur Wedekind, sondern eine ganze Generation von Psychologen, Philosophen und Künstlern beflügelt - und mit sich eine Welle der blanken Angst vor dem „Rätsel der Weiblichkeit“ reißt. Die weibliche Sexualität wird in zahlreichen wissenschaftlichen Schriften tabuisiert, reglementiert und anders als die männliche bewertet - so forciert auch in diesem Bereich die „Doppelmoral“ als Motiv der Frühen Moderne. Bewusst gelebte, ostentative Sexualität wird von den männlichen dominierten Theoretikern als krankhaft oder gar dämonisch bewertet. Ein durchgängiges Credo ist, dass „[e]in Weib von geschlechtlicher Aktivität [...] als ein ihre Sphäre überschreitendes unweibliches Weib [erscheint]“4. Otto Weininger postuliert mit seinem 1903 erschienenen, misogynen Werk „Geschlecht und Charakter“ den teuflischen Charakter und die lediglich auf Sexualität ausgerichtete Existenz der Frau, welche „die absolute Gewalt der männlichen Geschlechtlichkeit über das Weib“5 rechtfertigen soll. Während C. G. Jung die Frau als eine unheilvolle Metamorphose des Lust- und Todestriebs6 reklamiert, gilt ihr Wesen bei Nietzsche als „Natur[,] [ die] natürlicher als die des Mannes [ist]“7. Verborgen im kollektiven Unterbewusstsein des Männlichen und befeuert von Darwins sozialer Ideologie der evolutionären Divergenz zerren Psychologie und Philosophie vom sexualisierten Geschlechterantagonismus.8 Einen Schritt weiter gehen die kriminologischen Theorien Cesare Lombrosos und die Schriften der Wiener Satirezeitschrift „Die Fackel“, für die unter anderem auch Wedekind schrieb: Das „Weib“ steht im Mittelpunkt zwischen Kriminalität, Skandal und Verbrechen - denn auch hier weidet man sich an den Sexualtheorien a la Weininger.9 Auch die Kunst um 1900 spielte mit stilisierten, zumeist perniziösen Weiblichkeitsbildern - Gemälde wie Franz von Stucks „Die Sünde“ (1893), Max Klingers „Die Sirene“ (1895) oder Gustav Klimts „Danaë“ (1907)10 zeigen einen sinnlich-allegorischen Frauentypus eingebettet in bedrohliche, meist fließend strukturierte Tiefendimensionen. Der weibliche Körper wird als „Objekt [...] des männlichen Blickes [positioniert,] sinnlich-lasziv und ikonenhaft starr“11.

Es sind vor allem prototypische Hohlformen der ästhetizistischen Weiblichkeit, die im Fin de Siècle Einzug in den interdependenten Größen Kunst und Literatur finden. Delia, Salomé, die Vampirin, Lilith: Die Angst vor dem anderen Geschlecht kennt viele Gesichter. Und doch verbindet sie eins: Eine schöne Oberfläche, unter der sich, ganz in Freudianischer Manier, eine subversive, unbekannt­dämonische Tiefe befindet. Schönheit wandelt sich in der Kunst zum Todbringer, die Literaten frönen dem erotischen Szenario, in dem Männer unter Einsatz weiblicher Sinnlichkeit hingerichtet werden.12 Opferphantasmen sind der letzte Schrei in der Moderne.

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Abb. 1 „DANAË“, GUSTAV KLIMT, 1907 (links), Abb. 2 „DIE SÜNDE“, FRANZ VON STUCK, 1893 (rechts):

Die Künstler um 1900 zeigten sich fasziniert von mythischen Figuren, die zum einen göttliche Liebe und Transzendenz, zum anderen die aufkommende, verhängnisvolle Figur der femme fatale gekonnt verkörpern. Während Klimt die Befruchtung der lasziv­unschuldigen Danaë, Mutter des Perseus, durch den Goldregen zeigt, widmet sich Stuck dem alttestamentlichen Sündenfall. Die Schlange auf den Schultern der Frau symbolisiert Verführung und Gefahr gleichermaßen.

Als nennenswert gilt das Werk von Catulle Mendès, der mit seinen Monstres parisiens ein disharmonisches Frauenbild der „Sündenbabel“ Paris im 19. Jahrhundert zeichnet, das zwischen „perverser Erotik, [...] verführerischer Sinnlichkeit und raffinierter Brutalität“13 wankt. Jene Anthologie gilt als Inspirationsquelle für Wedekinds Lulu-Dramenkomplex, soll die Gesamtheit der weiblichen Ungeheuer mit ihrem Maß an Gewalt, Inzest und Unzufriedenheit doch ein komplexes Abbild Lulus in Der Erdgeist und Die Büchse der Pandora ergeben.14 Ihr Weg von der Kinderprostituierten über die reiche Witwe bis hin zur Straßendirne ist gesäumt mit zahlreichen Männerleichen und würde somit dem Mendèschen Prototyp des femme monstre 15 entsprechen. Auch der Untertitel einer früheren Fassung des Dramas, Eine Monstreträgodie (entstanden 1892-94)16 deklariert einen Wert des Perniziösen, der mit dem Lulu-Komplex in Verbindung steht. Ist Lulu also tatsächlich als ein „monstre“ konstruiert, die ihre Sinnlichkeit mit Brutalität einsetzt, um das männliche Kollektiv zu massakrieren, wie es das Gewaltphantasma um 1900 postulieren will?

Um dieser und der Frage nach der Problematik der Weiblichkeitsimaginationen um 1900 nachzugehen werden im Folgenden verschiedene Motive von Frank Wedekinds letzter Fassung des Lulu-Komplex (Version 1913) aufgegriffen und analysiert. Auf diskursgeschichtliche Aspekte, etwa Sigmund Freuds Psychoanalyse oder Otto Weiningers Geschlechtertheorie, wird verwiesen, um den Zusammenhang von zeitgenössischer Sexualwissenschaft und Literatur zu verstehen. Um eine geeignete Begrifflichkeit für das suggestiv-böse „monstre“-Bild, dessen Schnittmenge mit der zentralen Figur der Lulu abgeglichen werden soll, zu verwenden, wird der um 1900 populäre Weiblichkeitstypus der femme fatale gewählt. Die Kategorien „Urwesen“, „Triebwesen“ und „Machtwesen“, die in der Begriffsbestimmung der femme fatale eine wichtige Rolle spielen, werden dabei ausführlich skizziert.

Einen Blick auf das männliche Kollektiv bietet der zweite Hauptteil der Arbeit: Dabei werden Strukturen, Motive und Raumkonzeptionen - in Anlehnung an die Strukturprinzipien literarischer Texte nach Juri Lotman - betrachtet. Fokus liegt dabei auf die Interaktion zwischen den männlichen Zentralfiguren und dem Charakter Lulu und dem dabei entstehenden Geschlechterverhältnis.

In der abschließenden Auswertung soll die Frage nach dem Bösen im weiblichen Charakter Lulu geklärt werden.

2. Lulu als Imago der Femme Fatale

„Das Weib blüht in dem Moment, wo es den Menschen auf Lebenszeit ins Verderben stürzen soll.

Das ist [...] seine Naturbestimmung.“ [LEB, Büchse der Pandora, S.209]

Mit diesen Worten resümiert Alwa Schön zu Ende der Büchse der Pandora seine Beziehung zur Hauptfigur Lulu. Dabei spricht er ihr nicht nur jegliche Humanität ab, sondern illustriert einen männermordenden, triebhaften Typus von Frau, die den „Verfall“ [LEB, ebd. ] mit sich reißt. Alwa, der Künstler, greift eine klassische Stereotype der Naturalisten, Décadents und Symbolisten auf: Die femme fatale, eine Imagination über das Weib, die Wunschbild und Schreckensvision in einer zwiespältigen Disposition vereint. Es sind nicht nur die intradiegetischen Figuren, die dieses Urteil mit weiteren Aussagen wie „ Sie ward geschaffen, Unheil anzustiften “ [LEB, Prolog, S.15] und „ Was uns unter die Erde bringt, gibt ihr Kraft und Gesundheit wieder “ [LEB, Büchse der Pandora, S.136] zu untermalen versuchen: Auch der Großteil der gegebenen Fachliteratur17 scheint Lulu als femme fatale absolue zu erhöhen. Sie gilt hier als „der männermordende Vamp, als männervernichtende Verführerin oder als die sexuell schamlos agierende Frau“18. Um sich dem Verständnis der femme fatale im ausgehenden 19. Jahrhundert methodisch anzunähern und die konstitutiven Elemente für die Deutung zu bestimmen, sollte zunächst das grundlegende Bedeutungspotential dieser Weiblichkeitsimagination definiert werden.

Abb. 3 (l.) / 4 (u.) : Illustration zu „Erdgeist“. Aus der Mappe von Alastair.

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Alastairs Zeichnungen zierten die ursprüngliche Ausgabe des Erdgeist -Zyklus. Die Werke, ursprünglich Rot-Schwarze- Graphiken, zeigen Lulu als eine dämonische, blutverschmierte femme fatale, welche die Männer in ihren Bann zieht.

Eine der bekanntesten Definitionen stammt von Stein, für den die femme fatale „in maliziöser Genüßlichkeit den Tod als einen hocherotischen Opfergang und die Liebe als ein zerstörerisches Herrschaftsritual dar[biete]“19.

Hilmes „Minimaldefinition“ nimmt diese Elemente auf und fokussiert sich auf die Merkmalsüberschneidungen des femme fatale -Typus in der deutschsprachigen Literatur:

„[Sie ist] eine meist junge Frau von auffallender Sinnlichkeit, durch die ein zu ihr in Beziehung geratender Mann zu Schaden oder Tode kommt. Die Verführungskünste einer Frau, denen ein Mann zum Opfer fällt, stehen [...] im Zentrum. [...] [Es wird] ein Weiblichkeitsbild entworfen, das in einem für alle Beteiligten problematischen Spannungsverhältnis von Eros und Macht angesiedelt ist. [...] [Zentral wird] die dem Mann Verderben und Tod bringende Macht weiblicher Sinnlichkeit thematisiert [...].“20 21

Brittnacher geht mit seiner Erklärung dieser Weiblichkeitsimagination noch einen Schritt weiter und illustriert ein Schreckbild der Frau:

„Das mythische Urbild der Femme fatale [...] schenkt nicht Leben, sie raubt es. Sexualität dient nicht allein ihrer Lust, nicht dem Überleben ihrer Gattung. Sie verwandelt die Welt in den trostlosen 21 Schauplatz eines vorzivilisatorischen Geschlechterkampfes zurück. [...] [S]ie sucht den Kampf.“

Eine vollständige Definition des femme fatale -Typus gilt allerdings als unmöglich, zu ungenau und unvollständig seien die Ergebnisse, was auf die ihr innewohnende Dissonanzen zurückzuführen ist.22 Potentiell lassen sich folgende Merkmalsdurchschnitte des Chiffres femme fatale erkennen: Sexuelle Attraktivität, sinnlich-verführerische Elemente, Machtstreben, destruktive oder als Gewalt erlebte Handlungen, Aktionsradius zwischen Wunsch- und Angstbild, mythische Komponenten.

Um dieses literarische Weiblichkeitsmotiv auf Wedekinds Lulu zu übertragen und ihren Objektstatus als „monstre“ zu fixieren, werden folgend konstitutive Elemente, die sich auf den ersten Blick dem Topos der femme fatale annähern, paradigmatisch aufgezeigt.

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Abb. 5: EDVARD MUNCH, „DAS WEIB“, um 1900 (unvollständig): Munchs Bilder entspringen einem dämonisierten Jugendstil, der über den malerischen Expressionismus hinausging. Fasziniert vom „Dämon Weib“ zeichnete er die Frau in drei Formen ihrer Existenz. Die zentrale Position nimmt eine dämonisch wirkende Nackte - deren Darstellung dem femme fatale-Typus entspricht, ein, die den Blick durch ihre offensiven Reize auf sich zieht und damit die unschuldige Jungfrau (rechts) und die verblühte Schattenfrau (links) verdrängt.

2.1 Das Urwesen

„Im Mythos und in der Literatur hat es den Typus der Femme fatale immer gegeben, denn [...] [diese] sind nur die dichterische Widerspiegelung des wirklichen Lebens; [...] es hat an mehr oder minder vollkommenen Exemplaren herrschsüchtiger und grausamer Frauen nie gefehlt.“

Das Motiv der femme fatale gleicht einem unendlichen Prinzip: Es durchzieht die gesamte Literatur seit der altbabylonischen Zeit und stellt Verbindungen zwischen animalischen und göttlich­mythologischen Frauenvisionen dar. Ihre Herkunft gilt als ungewiss - ebenso wie die Lulus: Sie scheint mythischen Ursprungs zu sein, und niemand, außer ihr Ziehvater Schigolch, scheint dem vorsintflutlichen Prinzip folgen zu können:

LULU. Ich heiße seit Menschengedenken nicht mehr Lulu.

SCHIGOLCH. Eine andere Benennungsweise?

LULU. Lulu klingt mir ganz vorsintflutlich. [...] Ich heiße jetzt...

SCHIGOLCH. Als bliebe das Prinzip nicht immer das Gleiche! [LEB, Erdgeist, S.51]

Der Name „Lulu“ bezieht sich für die gleichnamige Figur damit auf eine Art eigenen, substantiellen Charakter mythologischen Ursprungs, der vor ihrer Rolle als wechselndes Besitzgut der Ehemänner existierte. „Vorsintflutlich“ bezeichnet durch den kulturell kodierten, biblischen Bezug nicht nur eine mystisch-göttliche Komponente, sondern auch eine gefährliche Naturgewalt, die das menschliche Geschlecht - im konkreten Fall die Ehemänner, die an ihr scheitern - in den Abgrund mitreißt. Lulu deklariert sich also als eine nicht menschliche Lebensform, ein „ES, ein Prinzip, älter als die Menschheit“23 24, das gemäß eigener Aussage „[k]eine Seele“ [LEB, Erdgeist, S.112] besitze. Dabei wird Lulu nicht nur einer Naturgewalt gleichgesetzt: Betont werden auch ihre animalischen Potentiale. Diese treten nicht nur durch die Schlangen-Darstellung im Prolog des Erdgeist s hervor, sondern auch innerhalb der Textstellen, in denen sie sich als „Tier“ [LEB, Erdgeist, S.52] deklariert. Die eingangs gewählte Bezeichnung des „wahre[n] [...] wilde[n], schöne[n]Tier[s]“ [LEB, Prolog, S.14] folgt der Interpretation Nietzsches, der die Natur der Frau nicht nur als natürlicher als die des Mannes erklärt, sondern auch von einer „Unerziehbarkeit und innerlichen Wildheit“25 des Weibes, gar einer Bändigung des wilden, weiblichen Wesens durch die Peitsche26 spricht. Dass die Domestizierung zum „Prachtstier“ [LEB, Erdgeist, S.53] ihre animalischen Ur-Potentiale „an die Kette []legt“ [LEB, Erdgeist, S.56], wird an mehreren Textstellen des Erdgeist s erkenntlich. Lulu lebt als Ehefrau Schwarz' wie ein Tier im Käfig, das lediglich „liege, schlafe und [...][sich] strecke bis es knackt“ [LEB, Erdgeist, S.52], sich zwar „königlichen Luxus“ [LEB, Erdgeist, S.52] hingeben könne, dafür aber der (sinnlichen) Freiheit beraubt ist. Selbst der Applaus im Theater, der ihrem Auftritt gebührt, wird von Alwa mit einer Szene „ in der Menagerie, wenn das Futter vor dem Käfig erscheint “ [LEB, Erdgeist, S.80] gleichgesetzt. Das wilde, dem Typus der femme fatale entsprechende Wesen in Lulu weißt somit deutlich als animalisch besetzte Züge auf, die sich innerhalb der Produktionskultur wiederfinden.

Jene tierische Urform Lulus, die der Tierbändiger als „[d]ie Urgestalt des Weibes“ [LEB, Prolog, S.16] deklariert, wird auch durch den mythischen Topos, den Lulu verkörpern soll, figuriert. Der Mythos, der als Gegenspieler des Logos gilt, greift im konkreten Fall überlieferte Traditionen und Erfahrungswissen auf,27 um damit ein interkulturelles Wesen zu erschaffen, das sich dem Irrationalen und Ursprünglichen unterordnet. Die mythischen Komponenten, welche die Textordnung Lulu zuschreibt, umfassen eine dämonische, weibliche Sexualität, ganz in der Manier der femme fatale. Lulu wird dem Leser im Prolog als Schlange präsentiert und konnotiert damit den Sündenfall Evas, einen misogynen Mythos der verderblichen Frau, der als klassisches Dogma der christlichen Tradition den „drohenden Rückfall des Menschen in die bewusstseinslose, gottferne Natur propagiert“28. Schigolch, der Lulu als „schöne Melusine“ [LEB, Erdgeist, S.53] tituliert, greift ebenfalls auf das Konzept des gleichnamigen, als perniziös semantisierten Sagenwesens auf, das in sein Geisterreich zurückkehrt, als ihr Gatte sie in ihrer wahren Nixengestalt beobachtet.29 Das mythologische Konzept und die geläufige Vorstellung der femme fatale in der Kultur des Fin de siècle wird durch die Titeleien der beiden Lulu- Dramen vollends ausgeschöpft: So referiert die Bezeichnung Die Büchse der Pandora auf die bekannte Pandora-Figur, die, erstmals vom griechischen Dichter Hesiod erfasst, von Erasmus von Rotterdam als „Unheilsquell“30 tituliert wird. Der Mythos der ersten Frau, die von den Göttern als Strafe für den Mann geschaffen wurde und durch das Öffnen ihrer Büchse sämtliches Unheil über die Welt kommen ließ, gilt seit der Spätantike als heidnisches Pendant des biblischen Sündenfalls. Pandora wird, wie Eva, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als femme fatale gewertet , ein „Schönes Übel“, dem nichts als die Hoffnung bleibt.31 Dasselbe Schicksal, so fingiert es der Titel, gehe also auch mit Lulu einher.

Ähnlich verhält es sich mit der Titulierung des ersten Teils des Lulu- Dramas: Dieser bezieht sich, in symbolischer Anlehnung an Goethes Faust I (1808) und Heinrich Heines Elementargeister (1835/37) auf die magische Konstitution des „Weltgeist“-Dämons, der als schaffende Natur auf der Erde wirkt.32 Dieses schöpferisch-gebärende Grundelement des Göttlichen geht auf Frank Wedekinds Grundidee der Betitelung Lulus zurück, wie man im Tagebucheintrag vom 4. Dezember 1892 lesen kann: „... gehe dann zu Tisch und gegen Abend nach Hause um den ersten Akt meiner Astarte fertig zu schreiben.“33 Aus Astarte, alt-synkretische Fruchtbarkeits-, Liebes- und Kriegsgöttin, wird Gaia, die altgriechische Urmutter der Erde, die aus dem Chaos hervorging, und schließlich Pandora, das verheerende Göttergeschenk34 - also mythische Frauenkonzeptionen, die wie Lulu als ursprünglich-destruktiv semantisiert sind.

Auch der Tanz, den Lulu im dritten Aufzug des Erdgeist s aufführt, ordnet sich dem mythologischen Konstrukt unter: Wie ihr Verehrer, Prinz Escerny, bemerkt, „ berauscht sie sich[,] [wenn sie ihr Solo tanzt,] an ihrer eigenen Schönheit - in die sie selber zum Sterben verliebt scheint“ [LEB, Erdgeist, S.81]. Lulus Tanz liegt wie der der biblischen Königstochter Salomé, ebenfalls ein populärer femme fatale ­Mythos um 1900, zwischen „Eros und Tod“35, es ist ein berauschender Urtanz zwischen „sexueller Askese und erotischer Imagination“36. Wedekind selbst meinte: „[Es war die] Mode von 1904, Lulu war Salome.“37 Ein Element, das die beiden Frauenbilder vereint, ist der Aspekt der Dekonstruktion und Mortifikation des glorifizierten Mannsbildes aufgrund gekränkter Eitelkeit: Während Salomé nach ihrem Tanz Johannes den Täufer enthaupten ließ, kostete Lulus Tanz und das folgende Aufbegehren ihrem Schutzherren Dr. Schön metaphorisch den Kopf - und so unterschreibt er, wie Johannes stets im Gedanken an „Gott“ [LEB, Erdgeist, S.96], mit dem Abschiedsbrief an seine Verlobte sein eigenes Todesurteil: „Jetzt - kommt die - Hinrichtung...“ [LEB, ebd. ].

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Abb. 6 (l.) / Abb. 7 (u.) : Zeitgenössische Darstellung der Frau in der Pariser Belle Époque: Die gefeierte Tänzerin und Kurtisane Otéro (links) verzückt mit ihrem Tanz als Salomé.

Unten: Montage eines Frauenkopfes zur mythischen Figur der Medusa.

2.2 Das Triebwesen

Mit dem erläuterten Urzustand des Weibes geht eine übermächtige sexuelle Macht einher: Die femme fatale überschreitet nicht nur die Grenzen existentieller Konventionen, sondern auch die der geläufigen Sexualnorm.

Lulu ist mit einer tierähnlichen Triebhaftigkeit ausgestattet, wie ihr Verhalten im dritten Aufzug der Büchse der Pandora dem Leser zeigen soll:

LULU (tonlos). Hat mich der Mensch erregt! ALWA. Wie viel hat er dir gegeben?

LULU (ebenso). Hier ist alles! Nimm!

Ich gehe wieder hinunter. [LEB, Büchse der Pandora, S.206]

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Abb. 8: GUSTAV-ADOLF MOSSA:

ELLE, 1905. Die sexuelle Vampirin thront auf dem Leichenberg ihrer Verflossenen.

Potentiell soll die Prostitution für Lulu und ihre Gefährten das Überleben sichern, weder Sinnlichkeit, noch Erotik oder gar Selbstbestimmung haben in diesem Metier Platz, folgt man den Umgangsformen sowie der negativ konnotierten Darstellungsform Lulus und ihrer Geschlechtspartner. Und doch zeigt Lulu ein hohes Maß an sexueller Erregung sowie Desinteresse an ihrer Vergütung - sie wünscht sich lediglich Triebbefriedigung. Dabei geht sie so weit, dass sie von ihrem letzten Kunden, der sich später als Jack the Ripper entpuppt, kein Geld verlangt, sondern ihm „das ganze [Geldstück gibt]“ [LEB, Büchse der Pandora, S.220]. In der Verschmelzung mit dem Lustmörder erfüllt sie ihre sehnlichste, sexuelle Fantasie - meint sie doch bereits im ersten Aufzug der Büchse der Pandora zu Alwa: „ Mir träumte alle paar Nächte einmal, ich sei einem Lustmörder unter die Hände geraten “ [LEB, Büchse der Pandora, S.158].

Lulus Sexualverhalten kennzeichnet sich durch Nymphomanie, Masochismus und Promiskuität - und, dem Bild der femme fatale entsprechend , eine dem Produktionszeitraum fremde, autonome weibliche Sexualität, die gemäß Dijkstra der „aggressive[n] Gewalt der sexuellen Vampirin aus dem frühen 20. Jahrhundert“38 entspricht.

Ihre sexuelle Triebkraft und das damit verbundene Sexualorgan werden in einen Machtkontext gesetzt: Die ursprünglich mythologisch semantisierte Büchse der Pandora verweist dabei nicht nur auf das Gefäß, sondern auch auf das Geschlechtsorgan Lulus, das, wie die Pandorabüchse in ihrer Ursprungsform, Lebensfülle und Unheil zugleich liefert. Bemerkenswert ist dabei die Dekonstruktion ihres betont „hübschen Mund[es]“ [LEB, Büchse der Pandora, S.220] durch Jack, der ihr damit nicht nur ihre sexuelle Triebkraft, sondern ihr Leben nimmt. Die Libido, das „Lustprinzip“ in der Psychoanalyse, betreibt gemäß Freud auch den Lebenserhalt des Individuums, „da nur dann die , Sehnsucht nach dem eigenen Tod' zu ihrer logischen Opposition werden kann.“38 Lulus Lust ist Leben. Der Verlust des damit verbundenen Sexualorgans geht einher mit dem Tod.

Durch Jacks Bezeichnung als „Mund“ kann weiterhin bewusst Bezug zum transkulturellen Motiv der Vagina dentata aufgebaut werden, der verschlingenden, sexuell unstillbaren Vagina, deren gigantischer Mund als Eingang zur Hölle oder auch „Rachen des Hades“39 stilisiert wird. In ihrer Urform gilt sie als nährender, aber auch destruktiver Schoß der Erdmutter,40 als „blinde Entfesselung des Weiblichen“41. Es handelt sich hierbei um eine Motiv-Wanderung, denn auch Lulu kann gemäß dem mythologischen Prinzip als Erdmutter/-geist gewertet werden. Ihre gefährliche Sexualität als Urangst des Mannes kann nur in Form einer kompletten Dekonstruktion zerstört werden kann. Jack reißt den sexuellen Zweikampf an sich - und entgeht damit Lulus gierigem, sexuellen Verhängnis, wie es in den Vagina dentata -Geschichten stets geschildert wird.

Auch das männliche Geschlechtsorgan dient im Erdgeist als Vermittler sexueller Reize: Indem sich Lulu mit „Orchideen“ [LEB, Erdgeist, S.104] schmückt, greift sie das altertümliche Hodenmotiv (vom griech. „ orchis “) auf, welches mit der Bedeutung der Pflanze als Aphrodisiakum einhergeht.42 Verstärkt wird der Eindruck einer offensiven, bedrohlichen Sexualität durch die Tatsache, dass sie dem sexuell unerfahrenen Gymnasiasten Hugenberg die Brust entgegenstreckt und ihn auffordert, an den Blüten zu „[r]iechen“ [LEB, Erdgeist, S.104]. Orchideen, durch Domestizierung und Züchtung als geruchsneutral bekannt, behalten vor allem in ihrem Naturzustand den Geruch. Einige Arten ködern Pollenverbreiter mit ihrem Sexuallockstoff43, die sodann, geblendet vom verführenden Duft, im Schlund der Orchidee enden. Die Orchidee gilt somit, wie die Vagina dentata, als ursprüngliche, verhängnisvolle Triebhaftigkeit der Frau. Lulu demonstriert offensiv ihre Sexualität. Sie, von Herkunft „Blumenmädchen“ [LEB, Erdgeist, S.75]44, ist die Hure von Natur aus, eine femme fatale, die durch ihre Hingabe ans orgiastische Triebspiel die Moral negiert. Denn: Wie auch der Mythos steht die fleischliche Lust dem Logos hier konträr entgegen.

[...]


1 Wedekind, Frank: Lulu. Erdgeist - Die Büchse der Pandora. Köln, 2014; im Folgenden (ab Kapitel 2.1) aus Übersichtsgründen zitiert im Text als [LEB, Dramenteil mit Seitenzahl].

2 ebd.

3 Wedekind (2014), S.15.

4 Fleming, Jens: „Sexuelle Krise“ und „Neue Ethik“. In: Grisko, Michael/ Scheuer, Helmut: Liebe, Lust und Leid. Zur Gefühlskultur um 1900. Kassel, 1999, S.27-55, hier: S.38.

5 Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. Hamburg, 2014, S.408.

6 Dijkstra, Bram: Das Böse ist eine Frau. Männliche Gewaltphantasien und die Angst vor der weiblichen Sexualität. Hamburg, 1999, S.332.

7 Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. In: Colli, Giorgio / Montinari, Mazzino (Hg.): Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral. Kritische Studienausgabe Band 5, 2. Auflage. München, 1999, S.9-244, hier: S.178.

8 Vgl. Wetzel, Michael: Das Böse ist eine Frau (1999), in: Deutschlandfunk, URL: https://www.deutschlandfunk.de/das-boese-ist-eine- frau.700.de.html?dram:article_id=79227 (Stand: 20.02.2020).

9 Vgl. Haas, Willy: Die Belle Epoque. München: Desch, 1967, S.43.

10 Vgl. Günther, Stephanie: Weiblichkeitsentwürfe des Fin de Siècle. Berliner Autorinnen: Alice Berend, Margarete Böhme, Clara Viebig. Bonn, 2007, S.156.

11 Clemenz, Manfred: Klimts Frauen verraten uns die Wahrheit über die Männer (2018), in: Neue Züricher Zeitung, URL: https://www.nzz.ch/feuilleton/einhundertster-todestag-gustav-klimt-ld.1361028 (Stand: 04.03.2020).

12 Vgl. Walz, Sandra: Tänzerin um das Haupt. München, 2008, S.133.

13 Florack, Ruth: Wedekinds „Lulu“. Zerrbild der Sinnlichkeit. Tübingen, 1995, S.38.

14 Vgl. Florack (1995), S.40.

15 Vgl. ebd.

16 Vgl. Florack (1995), S.268.

17 Vgl. zu diesem Verständnis: Hilmes, Carola (1990), S.13. / Schober, Anna (2001), S. 15f./ Bartl, Andrea (2002), S.103-130.

18 Csef, Herbert: Der Femme fatale-Mythos und seine moderne Inszenierung in „Lulu“ von Frank Wedekind. In: IZPP, Ausgabe 1/2019, S.4. Aufgerufen unter: http://www.izpp.de/fileadmin/user_upload/Ausgabe_1_2019/008_Csef_1_2019.pdf (Stand: 04.03.2020).

19 Stein, Gerhard: „Vorwort“. In: Ders. (Hg.): Femme fatale. Vamp. Blaustrumpf. Sexualität und Herrschaft, Band 3. Frankfurt am Main, 1985, S.11-20, hier: S.12.

20 Hilmes, Carola: Die Femme Fatale. Ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur. Stuttgart, 1990, S.10.

21 Brittnacher, Hans Richard: Erschöpfung und Gewalt: Opferphantasien in der Literatur des Fin de siècle. Köln - Weimar - Wien, 2001, S.215.

22 Vgl. Walz (2008), S.113.

23 Praz, Mario: La Belle Dame sans Merci. In: Praz, Mario: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik. München, 1994, S.167-250, hier: S.167.

24 Gallati, Alfons: Individuum und Gesellschaft in Frank Wedekinds Drama - Drei Interpretationen. Zürich, 1981, S.72.

25 Nietzsche (1999), S.178.

26 Nietzsche, Friedrich: Von alten und jungen Weiblein. In: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Chemnitz, 1883, S. 92-95, hier: S.95.

27 Csef (2019), S.2.

28 Früchtel, Frank: Modernisierung männlicher Sexualität. Schwäbisch Gmünd und Tübingen, 1994, S.239.

29 Vgl. Langemeyer, Peter: Frank Wedekind: Lulu. Erdgeist. Die Büchse der Pandora. Stuttgart, 2005, S.31.

30 Langemeyer (2005), S.46.

31 Vgl. Langemeyer (2005), S.47.

32 Vgl. Langemeyer (2005), S.6.

33 Galatti (1981), S.73.

34 Vgl. ebd.

35 Brittnacher (2001), S.213.

36 Brittnacher (2001), S.169.

37 Bovenschen, Sylvia: Inszenierung der inszenierten Weiblichkeit. Wedekinds „Lulu“ - paradigmatisch. In: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt am Main, 1979, S.43-59, hier: S.45.

38 Thomé, Horst: Autonomes Ich und „Inneres Ausland“: Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848-1914). Tübingen, 1993, S.638.

39 Ross, Sonja: Die Vagina Dentata in Mythos und Erzählung. Transkulturalität, Bedeutungsvielfalt und kontextuelle Einbindung eines Mythenmotivs. Völkerkundliche Arbeiten Band 4. Bonn, 1994, S.38.

40 Vgl. Ross (1994), S.44.

41 ebd.

42 Vgl. Langemeyer (2005), S.44.

43 Strnadl, Susanne: Wie Orchideen ihre Bestäuber manipulieren (2014), in: DerStandard/Wissenschaft, URL: https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/w-wie-wissen/sendung/2012/orchideen-100.html (Stand: 10.03.2020).

44 Vgl. zu diesem Verständnis: Schön spricht in LEB, Erdgeist, S.62, 28-30 von ihrer Herkunft als Blumenverkäuferin. Nach

Fin de l'extrait de 37 pages

Résumé des informations

Titre
Wedekinds Lulu zwischen Gesellschaft, Erotik und Gewalt. Männliche Gewaltphantasien, La Femme fatale und das Patriarchat um 1900
Sous-titre
Das Böse - eine Frau?
Université
University of Passau
Note
1,0
Auteur
Année
2020
Pages
37
N° de catalogue
V1127241
ISBN (ebook)
9783346492968
ISBN (Livre)
9783346492975
Langue
allemand
Mots clés
wedekinds, lulu, gesellschaft, erotik, gewalt, männliche, gewaltphantasien, femme, patriarchat, böse, frau
Citation du texte
Sophia Wimmer (Auteur), 2020, Wedekinds Lulu zwischen Gesellschaft, Erotik und Gewalt. Männliche Gewaltphantasien, La Femme fatale und das Patriarchat um 1900, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1127241

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Titre: Wedekinds Lulu zwischen Gesellschaft, Erotik und Gewalt. Männliche Gewaltphantasien, La Femme fatale und das Patriarchat um 1900



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