Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Begriffsbestimmungen
2.1 Das Normalarbeitsverhältnis
2.2 Atypische und prekäre Beschäftigung
3 Die strukturelle Verschiebung des Arbeitsmarktes
3.1 Entwicklung und Ausmaß atypischer Beschäftigung
3.2 Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses
4 Schlusswort
Literaturverzeichnis
Anhang
1 Einleitung
„Arbeit hat sich [...] zerfasert, abgrenzbare Konturen verloren, ist zerstückelt, flexibel zusammengesetzt, intensiviert, „desynchronisiert“ worden.“
- Ulrich Mückenberger.1
Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist Teil eines fortschreitenden Strukturwandels. Seit Mitte der 1970er Jahre steht dieser unter stetigem Anpassungsdruck, sodass die Forderungen nach neuen Rahmenbedingungen für veränderte Arbeitsverhältnisse wiederkehrend in beschäftigungspolitischen Debatten gefordert werden. Als Antwort sowie Deregulierungsmaßnahme folgte Mitte der 1980er Jahre das Beschäftigungsförderungsgesetz, welches eine Erleichterung der befristeten Beschäftigung vorsah. Der Diskussion um die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes folgend, wurden im Jahr 2001 die Teilzeit- und Befristungsgesetze und im Jahr 2003 die sogenannten Hartz-Gesetze erlassen. Die dadurch entstandene Ausweitung der Teilzeitarbeit und die rechtliche Lockerung für unterschiedliche Beschäftigungsformen, ließ den Anteil von atypischen und prekären Beschäftigungen ansteigen. Besonders durch die Expansion dieser Form von Beschäftigungsverhältnissen, wird der Arbeitsmarkt mit neuen Problemen konfrontiert. Als Hauptleidtragende wird dabei der Standard und damit das Normalarbeitsverhältnis (NAV) angesehen. Durch die Anpassungen des Erwerbslebens tritt das NAV zunehmend in den Hintergrund und lässt den Normalitätsgehalt von Beschäftigungsverhältnissen auf dem Arbeitsmarkt schwinden.
Ziel dieser Ausarbeitung ist demnach die Klärung der Frage, ob das NAV durch die Ausweitung atypischer und prekärer Beschäftigungsverhältnisse erodiert und ob weitere Faktoren zur Erklärung des arbeitsmarktpolitischen Strukturwandels herangezogen werden können.
Um die inhaltlich relevanten Begrifflichkeiten voneinander abgrenzen zu können, werden zunächst das NAV und die atypische sowie prekäre Beschäftigung definiert. Dabei werden die Ergebnisse des Mikrozensus herangezogen, um den Diskussionsgehalt mit statistischen Daten stützen zu können. Im Anschluss wird der Fokus auf die Verschiebung des Arbeitsmarktes gelegt, indem zunächst die Entwicklung und das Ausmaß atypischer Beschäftigungen skizziert wird. Darauffolgend widmet sich die Arbeit der Hauptthese der Erosion des NAVs und führt verschiedene Erklärungsansätze an. Die Zusammenführung zuvor gewonnener Erkenntnisse und ein Ausblick im Kontext der Vereinbarkeit von Flexibilität und sozialer Sicherung schließen die Ausarbeitung ab.
2 Begriffsbestimmungen
Auf dem deutschen Arbeitsmarkt existiert eine Reihe von verschiedenen Beschäftigungsverhältnissen, die sich sowohl inhaltlich als auch rechtlich voneinander abgrenzen lassen. So gibt es neben dem sogenannten NAV zahlreiche andere Varianten von Erwerbsformen. Um ein besseres Verständnis für die Rahmenbedingungen der Erwerbstätigkeit in Deutschland zu erlangen, werden im Folgenden die Erwerbsformen des NAVs und der atypischen sowie prekären Beschäftigung vorgestellt.
2.1 Das Normalarbeitsverhältnis
Das NAV entwickelte sich in Deutschland in der Zeit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Neben Standardisierungs- und Normalisierungsprozessen von Arbeitsformen führte die Entwicklung von individuellen Beschäftigungsformen zu der Entstehung der Rahmenbedingungen von abhängigen Beschäftigungsverhältnissen. Das NAV versucht demnach „in die durch Flexibilität begründete Unsicherheit, Unordnung und Unruhe der Lohnarbeiterexistenz sozusagen Korsettstangen von Gewißheit, Voraussehbarkeit und Frieden einzuziehen“2. Durch die tayloristische Arbeitsteilung erlangte die Entwicklung des NAVs im Postfordismus ihren Höhepunkt, indem die Abhängigkeit des Lohneinkommens zur gesellschaftlichen Normalität wurde.3
Gemäß des Statistischen Bundesamtes (2015b) ist unter einem NAV ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis zu verstehen, welches direkt zwischen dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber mit einem Arbeitsvertrag festgehalten wird. Diese Beschäftigung muss unbefristet sein und einer Vollzeittätigkeit oder einer Teilzeittätigkeit mit mindestens 21 Wochenstunden entsprechen. Zusätzlich wird der Arbeitnehmer vollständig in die sozialen Sicherungssysteme, wie die Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung und Krankenversicherung, integriert, um über das Erwerbseinkommen die Ansprüche auf Leistungen der Versicherungen erwerben zu können. Ebenso soll das NAV existenzsichernd sein, da auf diese Weise der Lebensunterhalt finanziert werden soll.4
Nach Mückenberger (1985a) zieht die Definition des NAVs weitere Kreise und umfasst, neben dem bereits aufgeführten deskriptiven Charakter, sowohl einen normativen als auch qualitativen Ausdruck. Das NAV wirkt demnach als „herrschende Fiktion“5, welche eine normalisierende Wirkung auf die Entwicklung von Erwerbsformen hat. Dazu gilt es als Bezugspunkt für juristische Ordnungen und ist folglich nicht als Durchschnittsangabe aller vor- findlichen Beschäftigungsformen anzusehen.6
2.2 Atypische und prekäre Beschäftigung
Eine einheitliche Definition atypischer Beschäftigungsformen ist in der Literatur nicht zu finden, jedoch erfolgt diese meist in Abgrenzung zu dem NAV. Grundsätzlich ist darunter ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis zu verstehen, welches in geringfügiger Beschäftigung, Zeitarbeit, befristeter Beschäftigung oder Teilzeitbeschäftigung mit maximal 20 Stunden in der Woche ausgeübt wird. Die Autoren Schmeißer et al. (2012) und Kress (1998) fügen zu den unter dem Begriff der atypischen Beschäftigung fallenden Beschäftigungsverhältnisse zusätzlich die (Solo-)Selbstständigkeit, die Ich-AGs und Heim- und Telearbeit hinzu.7
Anders als bei dem NAV, ist die Existenzsicherung keine zwingende Eigenschaft atypischer Beschäftigungsverhältnisse. Trotz dessen können durch diese Form der Beschäftigung, im Vergleich zum NAV, individuelle Interessen besser verfolgt werden, da die Möglichkeit der Kombinationen einzelner Beschäftigungsformen vorhanden ist.8 So kann beispielsweise die Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit Hilfe von Teilzeitbeschäftigungen unterstützt oder Berufserfahrungen in verschiedenen Branchen gesammelt werden.9
Auch wenn die Begriffe der prekären und atypischen Beschäftigung oft synonym verwendet werden, sind diese Erwerbsformen voneinander abzugrenzen. Prekarität muss demnach nicht bei jeder Form der atypischen Beschäftigung vorliegen.10 Die Bundeszentrale für politische Bildung (2014) beschreibt dies wie folgt: „Atypische Beschäftigungsverhältnisse sind nicht durchweg als prekär anzusehen, da ihre Auswirkungen neben dem Individualeinkommen von Kontextfaktoren sowie von ihrer rechtlich-institutionellen Ausgestaltung abhängen“11.
Eine prekäre Beschäftigung liegt demnach grundsätzlich vor, wenn das Lohneinkommen keine existenzsichernde Wirkung hat oder die Beschäftigung nicht von Dauer ist. Sowohl Leih- und Zeitarbeit, Beschäftigung im Niedriglohnsektor als auch Minijobs und unbeabsichtigte Teilzeitarbeit werden zu dieser Beschäftigungsform dazugezählt. Das daraus resultierende erhöhte Armutsrisiko bildet dabei die Haupteigenschaft prekärer Beschäftigung. Zusätzlich steht der subjektive Charakter dieser Art von Beschäftigungsverhältnissen im Mittelpunkt, welcher den Fokus auf außervertragliche Bedingungen, wie Sinnverluste, Anerkennungsdefizite und Planungsunsicherheit legt.12
3 Die strukturelle Verschiebung des Arbeitsmarktes
Die strukturelle Verschiebung der Erwerbstätigkeit und damit des Arbeitsmarktes in Deutschland zieht eine große Aufmerksamkeit auf sich. Das NAV bildet als klassische Erwerbsform den Standard des Erwerbsmarktes. Als Stabilitätssymbol steht es gleichzeitig für die soziale Sicherung und einen gesicherten Arbeitsplatz. Allerdings zogen verschiedene Faktoren substanzielle Veränderungen der Erwerbsarbeit mit sich. Neben der gestiegenen Frauenerwerbstätigkeit steht besonders der wirtschaftliche Wandel hin zu einer Industriegesellschaft im Mittelpunkt der Diskussionen. Zusätzlich bildeten sich im Laufe der Zeit die im vorherigen Kapitel beschriebenen atypischen Beschäftigungsverhältnisse aus und unterstützen mittels hoher Beschäftigungszahlen den Strukturwandel des Arbeitsmarktes. Aus den Unsicherheiten und Ängsten gegenüber den Veränderungen des Erwerbslebens heraus, entstand letztlich die These der Erosion des NAVs.
Nachdem im vorherigen Kapitel eine begriffliche Abgrenzung vorgenommen wurde, wird im Folgenden zunächst erörtert, wie sich die atypische Beschäftigung seit den 1990er Jahren entwickelt und welchen Umfang diese Erwerbsform angenommen hat. Für die Untersuchung der Entwicklungen der einzelnen Erwerbsformen atypischer Beschäftigung werden Ergebnisse des Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes hinzugezogen. Im Anschluss gilt es die These zu beantworten, inwiefern die Erosion des NAVs bestätigt oder wiederlegt werden kann. Zusätzlich soll geklärt werden, welche Einflussfaktoren neben der Expansion atypischer und prekärer Beschäftigungen für die Klärung der These herangezogen werden können.
3.1 Entwicklung und Ausmaß atypischer Beschäftigung
Der Anteil atypischer Beschäftigungsverhältnisse ist seit den frühen 1990er Jahren bis dato stark angestiegen. Von dieser Entwicklung sind insbesondere junge Menschen, Frauen, Alleinerziehende und Geringqualifizierte betroffen. Während der Anteil atypischer Beschäftigte im Jahr 1991 circa 13 % aller Kernerwerbstätigen betrug, wuchs dieser im Jahr 2017 auf ein Niveau von 20 %. Allerdings bleibt der Anstieg ab dem Jahre 2013 konstant auf diesem Prozentsatz. Die einzelnen Formen atypischer Beschäftigung, wie Teilzeitarbeit, befristete Beschäftigungen, geringfügige Beschäftigungen und Zeitarbeit, weisen jedoch unterschiedliche Entwicklungen und Dynamiken auf.13
Die am weitesten verbreitete Form atypischer Beschäftigung, stellt die Teilzeitarbeit dar. Seit dem Jahr 1991 hat sich dieser Anteil von 2,6 Mio. auf 4,8 Mio. Beschäftigte nahezu verdoppelt. Im Jahr 2007 erreichte die Teilzeitarbeit mit 14,4 % aller Kernerwerbstätigen ihren Höchststand, welcher im Jahr 2017 allerdings auf 12,9 % abfällt. Besonders die Charakteristika der Zeit- und Kostenersparnis der Teilzeitarbeit stehen für die Expansion dieser Erwerbsform. Dazu können Vorzüge aus den gezahlten Lohnkosten für Arbeitgeber attraktiv wirken. Sowohl die im Vergleich zu dem NAV geringen Bruttolöhne als auch nicht gezahlte Leistungen, wie das Urlaubsgeld, stellen Kosteneinsparungsmöglichkeiten dar.14
Hinzu kommt, dass im Vergleich zu dem NAV, speziell Teilzeitbeschäftigten eine höhere Beschäftigungsstabilität zuzuschreiben ist. Die Faktoren dafür sind aufgrund der verkürzten Arbeitszeit deutlich zu erkennen: Kinderbetreuung, familiäre Verpflichtungen, berufliche Fortbildung oder fehlende Vollzeitbeschäftigung. Besonders für Frauen ist demnach diese Erwerbsform attraktiv, sodass fast jede zweite Frau einer Teilzeitbeschäftigung nachgeht. Auf europäischer Ebene nehmen, unter den 41 Mio. Teilzeitbeschäftigen, Frauen einen Anteil von 77 % ein. sind ebenso unter 41 Mio. Teilzeitbeschäftigten 77 % Frauen. Jedoch muss beachtet werden, dass nicht jede Teilzeitbeschäftigung freiwillig ausgeübt wird: Rund 19 % der Männer und 10 % der Frauen waren im Jahr 2017 unfreiwillig teilzeitbeschäftigt. Allerdings konnte zwischen den Jahren 2008 und 2017 eine Abnahme der unfreiwillig Teilzeitbeschäftigten von 23 % auf 12 % verzeichnet werden.15
Unter dem Aspekt der Beschäftigtenzahlen folgt nach der Teilzeitbeschäftigung die Gruppe der befristet Beschäftigten. Der Anteil dieser Erwerbsform beträgt mit 2,6 Mio. Beschäftigten 7 % aller Kernerwerbstätigen. Seit den 1990er Jahren ist diese Entwicklung durch Auf-und Abwärtsbewegungen in den Beschäftigtenzahlen geprägt. Der Versuch einer flexiblen Ausgestaltung des Arbeitsmarktes kann durch das Instrument der befristeten Beschäftigung unterstützt werden. Befristete Beschäftigungen finden zunehmend als temporärer Ersatz sowie als verlängerte Probezeit ihren Einsatz. Auch wenn dadurch der berufliche Einstieg geebnet werden kann, besteht das Risiko, keine unbefristete Arbeitsstelle finden zu können. Allerdings ist dabei ein Abwärtstrend zu erkennen: Während im Jahr 2007 noch 31 % keine unbefristete Arbeitsstelle fanden, waren es im Jahr 2017 lediglich 23 %. Ebenso ist die Befristungsquote im europäischen Raum in dem gleichen Zeitraum auf einem stabilen Niveau von 11 % geblieben. Jedoch sind zunehmend junge Menschen befristet beschäftigt. Im Jahr 2017 waren 53 % der Jugendlichen im Alter von 15 bis 24 Jahren befristet beschäftigt. Dabei gaben allerdings lediglich 5 % an, keinen unbefristeten Arbeitsplatz finden zu können.16
[...]
1 Mückenberger, 2015.
2 Mückenberger, 1985b, S. 17.
3 Vgl. Hirsch/Roth, 1986.
4 Vgl. Statistisches Bundesamt, 2015b.
5 Mückenberger, 1985a, S. 422.
6 Vgl. Mückenberger, 1985a, S. 422.
7 Vgl. Kress, 1998; Schmeißer et al., 2012.
8 Vgl. Statistisches Bundesamt, 2015a.
9 Vgl. Statistisches Bundesamt, 2018, S. 50-51.
10 Vgl. Keller/Seifert, 2006a, S. 238.
11 Bundeszentrale für politische Bildung, 2014.
12 Vgl. Brinkmann et al., 2006, S. 17; Deutscher Gewerkschaftsbund, o. J.; Statistisches Bundesamt, 2015a.
13 Vgl. Anhang 1; Zeh, 2017, S. 40. Vereinzelt werden zu der Gruppe atypischer Beschäftigungen die SoloSelbstständigen hinzugezählt. Siehe dazu Hünefeld, 2016, S. 10.
14 Vgl. Anhang 1; Brehmer/Seifert, 2008, S. 513; Brenzel et al., 2013, S. 1; Fischer et al., 2015, S. 68-69; Voss/Weinkopf, 2012, S. 10.
15 Vgl. Brehmer/Seifert, 2008, S. 502; Statistisches Bundesamt, 2018, S. 50, 52.
16 Vgl. Anhang 1; Hohendanner, 2010, S. 1; Hohendanner/Gerner, 2010, S. 29; Statistisches Bundesamt, 2018, S. 22, 54, 56.