Kann eine elternähnliche Erziehung auch in Kindertagesstätten erfolgen?

Ein Vergleich zwischen Eltern-Kind-Beziehung und der Erzieher*innen-Kind-Beziehung


Dossier / Travail, 2020

27 Pages, Note: 1,4

Anonyme


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Historischer Hintergrund

3 Die Theorie Herman Nohls

4 Definitionen
4.1 Erziehung
4.2 Kindertagesstätte

5 Rechtsansprüche nach dem SGB

6 Die Familie

7 Bindungsbeziehungen

8 Die Kindertagesstätte
8.1 Die Erziehungs- und Bildungspartnerschaft mit den Eltern
8.2 Das Berliner Eingewöhnungsmodell
8.3 Elternbeteiligung

9 Vergleich zwischen Eltern-Kind-Beziehung und der Erzieher*innen-Kind-Beziehung

10 Kritik an den Kindertagesstätten

11 Fazit

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Die Erziehung beginnt bei jedem Kind schon im Kleinkindalter. Die ersten Jahre gelten als sie wichtigsten und entscheidendsten in der frühkindlichen Entwicklung. Dabei sind die Eltern die ersten durch die Kinder Erziehung erfahren. Im fortgeschrittenen Alter, sobald sie schulpflichtig sind, kommt dann noch die Schule als zusätzliche Erziehungs- und Bildungsinstanz hinzu. Vor der Schulzeit besuchen die meisten Kinder jedoch noch die Kindertagesstätte beziehungsweise den Kindergarten. Bemerkbar macht sich das in der steigenden Anzahl an Kindertagesstätten, welche aktuell so hoch ist wie nie zuvor (vgl. Günther et al., 2016, S. 150). Die Kindertagesstätten gelten als die erste Bildungseinrichtung, die Kindern erweiterte und umfassende Erfahrungs- und Bildungsmöglichkeiten über das familiäre Umfeld hinaus bietet. Andererseits behauptet man, dass ausschließlich die Familie ein sicherer Garant für eine gelingende kindliche Entwicklung ist (vgl. van Dieken, 2012, S. 9). Doch dabei stellt sich die folgende Frage: Kann eine elternähnliche Erziehung auch in der Kindertagesstätte erfolgen?

Das gilt es in dieser Arbeit herauszuarbeiten. Es wird untersucht, ob eine solche Erziehung in Kindertagesstätten gewährleistet werden kann und somit mit der elterlichen Erziehung vergleichbar ist oder ob sie ausschließlich durch die Eltern erfolgen kann. Dazu wird die Fragestellung auf Grundlage der von Herman Nohl entwickelten Theorie über die sozialpädagogische Bewegung in Deutschland, in der die Erziehung eine wichtige Rolle einnimmt, untersucht. Hierzu wird zunächst unter Berücksichtigung der geschichtlichen Hintergründe genauer auf die formulierte Theorie Nohls eingegangen und diese einer kritischen Würdigung unterzogen. Daraufhin werden alle zentralen Begriffe dieser Arbeit definiert und die Rechtslage zur Inanspruchnahme einer Kindertagestätte geklärt. Anschließend wird ein ausführlicher Blick auf die verschiedenen Familienformen, die Bindungsbeziehung sowie die Kindertagesstätte geworfen. Dabei wird, die Erziehungs- und Bildungspartnerschaft mit den Eltern, sowie dessen Bedeutung für die Erziehung von Kindern in Kindertagesstätten geklärt. Des Weiteren werden die Erzieher*innen-Kind-Beziehung und die Eltern-Kind-Beziehung miteinander verglichen, woraufhin noch kritische Aspekte der Kindertagestätte erläutert werden. Im Laufe dieser Gliederungspunkte wird dabei immer wieder Bezug zu Nohls Theorie hergestellt, sodass die Bedeutung für die Praxis verdeutlicht wird. Abschließend wird ein Fazit gezogen, indem das Ergebnis der Arbeit präsentiert und dadurch die Antwort auf die Frage ausformuliert wird.

2 Historischer Hintergrund

Nach dem ersten Weltkrieg, also zur Zeit der Weimarer Republik, begann der Pädagoge Herman Nohl seine Arbeit im sozialen Bereich. Nach Kriegsende stieg die Zahl der sozialen Probleme ins unermessliche, sodass ein Großteil der Menschen in dieser Zeit unter erbärmlichsten Bedingungen lebte. Vor allem Familien, Kinder und Jugendliche in den Arbeitsvierteln der Großstädte waren betroffen. Besonders schwer traf es die Familien, denen die wirtschaftliche, soziale und psychische Grundlage entzogen wurde. Sie besaßen dadurch nicht mehr die Möglichkeit ihre eigenen Kinder zu erziehen und die Jugendlichen zu begleiten, was wiederum zur Folge hatte, dass immer mehr Kinder und Jugendliche vernachlässigt wurden, einige Kinder sogar komplett ohne Eltern aufwachsen mussten. Aufgrund dessen stieg die Zahl der Kranken-, Pflege- und Erziehungsanstalten in der Zeit des deutschen Reiches erheblich an. Nohls Blickwinkel auf die miserablen Zustände der Bevölkerung in dieser Zeit wurden geprägt von der Jugend- und Volkshochschulbewegung. Die um 1900 entstandene Jugendbewegung stellte eine Gegenbewegung zur damals vorherrschenden Pädagogik dar. Dabei bildeten junge Menschen Gruppen und Gemeinschaften, deren Ziel es war aus eigener Kraft eine wahrhaftige Lebensgestaltung zu entwickeln. Zeitgleich entstand in Zusammenarbeit mit der Jugendbewegung die Volkshochschulbewegung. Diese setzte sich für Bildungsarbeit im Sinne der Erwachsenen- und Volksbildung innerhalb des bürgerlichen Lebens ein, woraufhin nach dem ersten Weltkrieg auch zahlreiche Volkshochschulen eröffnet wurden. Menschen aus allen Schichten hatten nun die Möglichkeit sich dort zu treffen und gemeinsam zentrale Lebensfragen zu besprechen. In der Weimarer Republik war die Zielsetzung der staatlich geförderten Volkshochschulen die Erhaltung und Verjüngung der deutschen Kultur auf demokratischer Grundlage (vgl. Engelke et al., 2018, S. 273 f.).

Obendrein wurde Nohl von dem philosophischen System Wilhelm Diltheys beeinflusst. Die philosophischen Grundlagen Diltheys wurden zur Erklärung und Begründung seiner, gegen die naturwissenschaftlichen Erkenntnisverfahren, gerichteten geisteswissenschaftlichen Methode entwickelt. Sie beinhalten ein Menschenbild, das die vom menschlichen Geist geschaffene Wirklichkeit betont. Nohl wendet diese Grundlagen für seinen eigenständigen (sozial-) pädagogischen Ansatz an. Die Ursachen und die Lösung der sozialen Probleme der Weimarer Republik durch diese Sichtweise zu sehen und als (sozial-)pädagogische zu interpretieren, darin begründete Nohl die Akzeptanz der Sozialen Arbeit in Deutschland (vgl. Engelke et al., 2018, S. 273 f.). Dilthey formulierte die Frage was geschehen kann, um die Pädagogik zum Range einer wirklichen Wissenschaft zu erheben (vgl. Engelke et al., 2018, S. 277). Nohl greift diese Frage nach der Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen Wissenschaft auf und ist seither der Meinung, dass am Eingang jeder Theorie der Erziehung die Frage gestellt werden muss, ob es überhaupt Pädagogik als Wissenschaft gibt, und falls ja, in welchem Sinn es sie gibt (vgl. Nohl, 2002, S. 133 f.).

Nohl bemühte sich sehr den zeitgeschichtlichen Kontext in seine Theorie und Entwürfe miteinfließen zu lassen. Die Pädagogik sollte dabei gefestigt werden und zusätzlich zur Politik als weitere entscheidende Säule zur Beseitigung der gesellschaftlichen und kulturellen Missstände fungieren. Die Suche nach einer neuen geistigen Einheit Deutschlands spielte hierbei eine zentrale Rolle (vgl. Raithel et al., 2009, S. 147).

3 Die Theorie Herman Nohls

Als Grundlage seiner Theorie zieht Nohl die Erziehungswirklichkeit heran. Dabei stellt sich zu Beginn von Nohls Pädagogik die Frage: „Wie wird erzogen?“. Somit folgt Nohl von Grund auf einem anderen Ansatz als beispielsweise Paul Natorp, dessen Ausgangsfrage „Wie soll erzogen werden?“ lautet (vgl. Engelke et al., 2018, S. 277). Nachdem Nohl einige Ausgangspunkte für eine wissenschaftliche Pädagogik betrachtete (vgl. Nohl, 2002, S. 133-150) kam er zu folgendem Entschluss:

„Der wahre Ausgangspunkt für eine allgemeingültige Theorie der Bildung ist die Tatsache der Erziehungswirklichkeit als eines sinnvollen Ganzen. Aus dem Leben erwachsend, aus seinen Bedürfnissen und Idealen, ist sie da als ein Zusammenhang von Leistungen, durch die Geschichte hindurchgehend, sich aufbauend in Einrichtungen, Organen und Gesetzen – zugleich sich besinnend auf ihr Verhalten, ihre Ziele und Mittel, Ideale und Methoden in den Theorien – eine große objektive Wirklichkeit, wie Kunst und Wirtschaft, Recht und Wissenschaft ein relativ selbstständiges Kultursystem, unabhängig von den einzelnen Subjekten, die in ihm tätig sind, und von einer eigenen Idee regiert, die in jedem echt erzieherischen Akt wirksam ist und doch wieder nur faßlich [sic!] wird in ihrer geschichtlichen Entfaltung“ (Nohl, 2002, S. 150).

In der Geschichte der Pädagogik entfaltet sich für Herman Nohl die selbst ergründete, eigengesetzliche und innerlich zusammenhängende Kontinuität der pädagogischen Idee, weshalb die Pädagogik für ihn eine Wissenschaft mit einer allgemeingültigen Theorie für alle Zeiten darstellt. Nur durch die Methode des Verstehens wird einem diese Idee beziehungsweise diese Theorie laut Nohl bewusst. Da in der Erziehungswirklichkeit Gegensätze und Doppelseitigkeiten vorgegeben sind und diese sowohl eine Einheit bilden als auch die Eigenart und Eigengesetzlichkeit der Pädagogik bestimmen, hat die wissenschaftliche Theorie der Bildung von diesen Gegensätzen und den Bezügen aufeinander auszugehen (vgl. Engelke et al., 2018, S. 278). Nach Nohl (2002, S. 151) kann nur aus der systematischen Analyse der Erziehungsgeschichte verstanden werden was Erziehung im eigentlichen Sinne überhaupt ist. Dabei kommt im geschichtlichen Zusammenhang der Sinn der erzieherischen Leistung immer deutlicher zum Vorschein. Das reine Wesen der erzieherischen Leistung sowie ihre Eigenart und Eigenwertigkeit werden vor ihr selbst immer klarer, gleichzeitig auch ihre Stellung im allgemeinen Kulturzusammenhang, ihre Verflechtung mit anderen Kultursystemen, ihre Abhängigkeit von diesen und ihre Rückwirkung auf sie; all dies ist voneinander nicht zu trennen (vgl. Nohl, 2002, S. 152). Nur durch solch eine wechselseitige Erhellung von Erlebnis und Objektivation erhält die eigene Stellungnahme in der pädagogischen Auseinandersetzung der Zeit diejenige Überlegenheit und Freiheit, welche aus der Einordnung der Gegenwartsforderungen in die großen geschichtlichen Zusammenhänge entsteht. Zwischen der geschichtlichen und systematischen Einsicht existiert ebenfalls eine ähnlich wechselseitige Abhängigkeit. Die geschichtliche Untersuchung befasst sich mit systematischen Kategorien, die durch die Besinnung des Lebens und dessen Entwicklung gewonnen werden. Dabei besteht der schöpferische Lebensprozess selbst darin, einzelne Erlebnisse aufzufassen, zu ergänzen, zu deuten und auf der Grundlage früherer gemachten Erfahrungen, auf den er selbst wieder umformend zurückwirkt, umzugestalten. Die Besinnung ist im geistigen Leben enthalten, während das System der Geschichte sowie ihre Trennung nur einen bedingten und relativen Prozess im Leben darstellt, der immer wieder aufgehoben wird. Die systematische Untersuchung der Pädagogik geht hingegen vom eigenen Sinn des pädagogischen Lebens aus und analysiert zudem den Bildungsvorgang auf die in ihm enthaltenen Bezüge, in denen der Zögling und seine Bildsamkeit, die Erzieher*innen oder die führende und bildende Kraft, ihre Bildungsgemeinschaft, ihr Bildungsideal sowie ihre Bildungsmittel zu einem dynamischen Zusammenhang miteinander verbunden sind (vgl. Nohl, 2002, S. 152 f.).

Auch die pädagogische Autonomie sieht Nohl als äußerst wichtig an. Dabei stellt für ihn das Verhältnis von Subjekt und Objekt die Grundantinomie beziehungsweise den grundsätzlichen Widerspruch des pädagogischen Lebens dar. Diese verdeutlicht die Grenze der Pädagogik (vgl. Engelke et al., 2018, S. 279). „Hier ist das Ich, das sich aus sich und seinen Kräften entwickelt und sein Ziel zunächst in sich selbst hat, und dort sind die großen objektiven Inhalte, der Zusammenhang der Kultur und die sozialen Gemeinschaften, die dieses Individuum für sich in Anspruch nehmen und ihre eigenen Gesetze haben, die nicht nach Wille und Gesetz des Individuums fragen“ (Nohl, 2002, S. 161). Aus pädagogischer Sicht bedeutet dies, dass ein Kind nicht bloß Selbstzweck ist, sondern es auch den hin erzogenen objektiven Gehalten und Zielen verpflichtet ist. Dabei haben die objektiven Gehalte ihren eigenen Wert und sind nicht nur als Bildungsmittel für den individuellen Menschen vorgesehen. Somit muss ein Kind ebenfalls auf die Kulturarbeit, den Beruf und die nationale Gemeinschaft hin erzogen werden und nicht ausschließlich für sich selbst. Für Nohl füllt diese Polarität alle einzelnen pädagogischen Verhältnisse und Leistungen (vgl. 2002, S. 161). Für ihn ist eine bedeutende Leistung der Pädagogik im Haushalt des geistigen Lebens, die regelmäßig aufkommende Verobjektivierung der Jugend aufzuheben (vgl. Nohl, 2002, S. 162). Im Vergleich zur alten Pädagogik, die komplett im Dienst der anderen und den objektiven Aufgaben stand, handelt die neue Pädagogik im Sinne des Individuums. Für Nohl stellt die pädagogische Grundeinstellung das Kind beziehungsweise das Individuum und sein subjektives Leben in den Mittelpunkt. Das bedeutet dementsprechend, dass die Pädagogik gegenüber keinen objektiven Mächten, wie dem Staat, der Kirche, Wissenschaft oder Wirtschaft verpflichtet ist (vgl. Nohl, 2002, S. 159) Die Aufgabe der Pädagogik ist demzufolge den Zögling selbst und seine körperlichen und geistigen Entfaltungen zu fördern und nicht diesen nach bestimmten vorgegebenen objektiven Zielen zu erziehen (vgl. Engelke et al., 2018, S. 280). Das kann nur geschehen, wenn die pädagogische Fachkraft zum Kind eine leidenschaftliche und liebevolle Beziehung aufbaut (vgl. Kuhlmann, 2013, S. 136).

Der richtige pädagogische Bezug spielt gerade deshalb für Nohl eine sehr wichtige Rolle. Nohl sieht die Entwicklung der Industrie, der Großstädte, der Arbeits- und Wohnverhältnisse des 19. Jahrhunderts, sowie die naturwissenschaftliche Aufklärung und die Entwicklung der Spezialwissenschaften über die Seelen als Grund für die Auflösung aller Bindungen, der völligen Wertlosigkeit des Menschen und die damit einhergehende neue soziale und sittliche, körperliche und geistige Not an. Aus dieser allgemeinen Lebensnot der Bevölkerung entstanden alle Gegenbewegungen und zudem wurde das gesamte pädagogische Denken geprägt (vgl. Nohl, 2002, S. 4). Diesem einsamen Ich beziehungsweise diesem hilferufenden Menschen soll in erster Linie durch die Pädagogik geholfen werden. Für Nohl bedeutet Mensch sein zu dürfen, die Kräfte, in denen der Sinn unseres Lebens erfüllt wird, in sich zur Entfaltung bringen zu dürfen. In diesem Menschsein sieht er hauptsächlich die sich aus den geschichtlichen Ereignissen entwickelte Verbundenheit der Menschen (vgl. Engelke et al., 2018, S. 280).

Der richtige pädagogische Bezug, was so viel bedeutet wie das eigene schöpferische Verhältnis zwischen dem Zögling und dem Erziehenden, welches sie miteinander verbindet, ist der Schüssel für eine erfolgreiche pädagogische Arbeit. Baut der Erziehende ein Verhältnis auf das sowohl Liebe, Haltung, Vertrauen und Achtung als auch ein Gefühl von eigener Bedürftigkeit und Anschlusswille beinhaltet, so kommt es zur Bindung des Zöglings an den Erziehenden. Dabei sind die Bindung und der pädagogische Bezug zu jedem Menschen individuell zu gestalten. Für Nohl bilden die pädagogische Bindung und die Kenntnis des zu erziehenden Individuums unentbehrliche Vorsetzungen für eine erfolgreiche pädagogische Arbeit. Zur Kenntnis des zu erziehenden Individuums gehört das Wissen über seinen äußeren und inneren Zustand, seines äußeren und geistigen Milieus und seiner personalen und pädagogischen Situation. Anders als die alte vorherrschende Pädagogik, welche die Schwierigkeiten betrachtete, die ein Kind macht, geht die neue nach Nohl hingegen von den Schwierigkeiten aus die ein Kind hat. Dafür nennt Nohl auch hier die Methode des Verstehens als den pädagogischen Weg zu den Kindern und Jugendlichen (vgl. Engelke et al., 2018, S. 281).

Nohl beschreibt die Grundeinstellung, mit der Pädagogen Kindern gegenüberstehen als eine Mischung aus realistischem und idealem Sehen. Seiner Ansicht nach ist der Mensch nämlich ein Doppelwesen, dem man sich entweder von außen erklärend, also naturwissenschaftlich, oder von innen verstehend und somit geisteswissenschaftlich nähern kann (vgl. Engelke et al., 2018, S. 281 f.). Dabei leiten drei Vorsetzungen die geisteswissenschaftliche beziehungsweise verstehende Psychologie. Zum einen trägt jeder Mensch in gewisser Weise den ganzen Menschen und somit das System des Menschen in seinem Inneren, was uns ermöglicht andere Menschen zu verstehen. Des Weiteren beinhaltet jeder Ausschnitt des geistigen Lebens sämtliche geistigen Grundrichtungen eines Menschen. Zu guter Letzt ist ein Einheitspunkt in jeder Individualität vorhanden, der die seelische Reichhaltigkeit von innen heraus formt (vgl. Nohl 1970, 21 ff., zit. n. Engelke et al., 2018, S. 282). Von großem Belangen sind für Nohl auch die Geschlechter- und Rassenunterschiede in der pädagogischen Menschenkunde. Für ihn liegt die realistische biologische und die ideale geisteswissenschaftliche Bestimmung der Geschlechter zum einen in der Mütterlichkeit als Wesensfunktion des weiblichen Geschlechts und zum anderen in der Ritterlichkeit als Wesensfunktion des männlichen Geschlechts. Die Rasse sieht er nicht als geschichtlichen, sondern Biologischen Begriff an. Nohl versteht unter einer Rasse Körperformgruppen mit einer Anzahl charakteristisch erbgleichen Merkmalen, wobei diese Merkmale in einem anschaulichen Typus, welcher für Nohl den Leitfaden darstellt, verbunden seien. Die Auslese sieht er als entscheidende Ursache der Rassenbildung und der Wandlung der Anlagen an sich (vgl. Engelke et al., 2018, S. 282).

Neue Formen der sozialen Erziehung zu entwickeln war für Nohl die gegenwärtige pädagogische Aufgabe. Seiner Meinung nach wird vor allem ein neuer Kulturwille gebraucht. Dieser soll dabei anstelle des unbewussten Aufwachsens in der Familie die elementaren Lebensverhältnisse in all ihren Dimensionen bewusst entwickeln und gestalten. Die beiden bisherigen Erziehungsorte „Familie“ und „Schule“ sieht er als nicht mehr ausreichend an, weshalb diese durch Erziehung außerhalb der Familie und Schule ergänzt werden muss. Als neue geeignete Maßnahmen schlägt Nohl zum Beispiel Mütterberatungsstellen, Mütterschulungen, Tagesheimschulen und Pflichtkindergärten vor (vgl. Engelke et al., 2018, S. 283).

Die neue Form beziehungsweise den neuen Ort der Erziehung außerhalb der Familie und Schule bezeichnet er als Sozialpädagogik. Für die Sozialpädagogik als Teilbereich der allgemeinen Pädagogik nutzt Nohl einige Bezeichnungen wie beispielsweise „Notstandspädagogik“, „Jugendwohlfahrt“ und „Jugendwohlfahrtsarbeit“. Dabei hat die Sozialpädagogik vor allem die Jugend geweckt. Als Ursache einer solchen geistigen Bewegung sieht er die Not der Menschen an, denn Gegenbewegungen wie die Arbeiterbewegung, die Mission der Kirchen, die Frauenbewegung, die sozialpolitische Bewegung oder die neuen jugendlichen Verbindungen sind alle aus einer Notsituation oder anderen problematischen Situation heraus entstanden. Die pädagogische Gesinnung dieser Einheit, die Nohl als geistiges Zentrum der Jugendwohlfahrtsarbeit bezeichnete, ist, dass sich diese immer auf den einzelnen Menschen konzentriert, da dieser Menschen als Individuum gefördert werden soll. Deshalb ist für Nohl auch die auf den fremden Menschen gerichtete Liebe die tragende Kraft der Jugendwohlfahrtsarbeit (vgl. Engelke et al., 2018, S. 284).

Nohl erkennt an, dass es bereits eine „Wohlfahrtspflege“ gibt, die von Wohlfahrtspfleger*innen vollzogen werden. Dennoch differenziert er die Sozialpädagogik und Wohlfahrtspflege, indem er das Ziel der Wohlfahrtspflege genauer betrachtet. Das Wohl des ganzen Menschen erklärt Nohl als Ziel der Wohlfahrtspflege, während er die tiefere Aufgabe der Wohlfahrtspflege jedoch darin sieht, die gesamte Masse zu personalisieren, dadurch den Einzelnen zu stärken und ihm geistige Inhalte, Kraft und Bindung zu geben. Der Einzelne soll das Gefühl bekommen Mitglied der Gesellschaft zu sein, seinen Platz darin gefunden zu haben und dadurch geformt und mit Eigenleben erfüllt werden. Laut Nohl besteht die größte Not in der Seele des Menschen selbst, weshalb ein Großteil der gebotenen Hilfe Erziehungshilfe sein sollte, die das Ziel verfolgt den Willen zur Selbsthilfe und die Verantwortlichkeit für sich selbst sowie für die Gemeinschaft herbeizuführen. Dem Einzelnen Kraft und Mut zur Selbsthilfe zu verleihen ist für Nohl demnach die primäre Zielsetzung der Jugendhilfe und Erziehung (vgl. Engelke et al., 2018, S. 285). Nohl kritisiert an der Wohlfahrtspflege die seiner Auffassung nach auftretende Herabsetzung des Verantwortungsgefühls der Menschen. Für ihn sollte sich die Wohlfahrtspflege nicht auf die Krankheit konzentrieren, sondern auf die Gesundheitserhaltung der Menschen und somit nicht die Idee des Mitleids, sondern die pädagogische Idee verfolgen. Ein ähnliches Problem sah er auch in der Jugendhilfe, die erst nach einem negativen Ereignis handelte. Nohl war überzeugt, darin einen schweren Konstruktionsfehler im Aufbau der ganzen Arbeit erkannt zu haben, weshalb er eine positive Wendung der Jugendhilfe herbeiführen wollte (vgl. Engelke et al., 2018, S. 286).

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Résumé des informations

Titre
Kann eine elternähnliche Erziehung auch in Kindertagesstätten erfolgen?
Sous-titre
Ein Vergleich zwischen Eltern-Kind-Beziehung und der Erzieher*innen-Kind-Beziehung
Université
Heidenheim University of Cooperative Education
Note
1,4
Année
2020
Pages
27
N° de catalogue
V1129385
ISBN (ebook)
9783346494528
ISBN (Livre)
9783346494535
Langue
allemand
Mots clés
kann, erziehung, kindertagesstätten, vergleich, eltern-kind-beziehung, erzieher*innen-kind-beziehung
Citation du texte
Anonyme, 2020, Kann eine elternähnliche Erziehung auch in Kindertagesstätten erfolgen?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1129385

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