Sport und Wertevermittlung am Beispiel des Projekts NGUVU Edu Sport e.V. in Kenia. „He keeps the children safe“


Master's Thesis, 2018

119 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretischer Rahmen
2.1. Sport und Fußball aus ethnologischen Perspektiven
2.2. „Sport evangelism“? Sport und Sporterziehung in Ethnologie und Entwick­lungszusammenarbeit
2.3. Zentrale Werte und ihre (sport-)erzieherische Vermittlung im kenianischen und deutschen Kontext
2.4. Aufwachsen in Kenia: Kindheit, Familie und Ethnizität

3. Projekt- und Standortbeschreibung

4. Forschungsverlauf und Methodenreflexion

5. „He keeps the children safe“: Analyse der Motive von Kindern und Familien für die Teilnahme am Projekt

6. Das NGUVU Edu Sport e.V. - Selection Team: Das Erschaffen einer Mannschaft im lokalen Kontext
6.1. „We are in Africa“ - Konstruktionen europäischer und afrikanischer Identitäten auf dem Fußballplatz und außerhalb
6.2. Albert Schweitzer oder „Sucher“? Bewegen und Handeln des Projektgründers in Juja
6.3. Rezeption des Projektes im Ort Juja

7. Exemplarische Analyse der Wertevermittlung durch Sport im Rahmen des Projekts NGUVU Edu Sport e.V
7.1. Der „NGUVU-Wertekatalog“: Perspektiven von Teilnehmern, Projektmitarbeitern, Erziehungsberechtigten und Lehrern
7.2. Umsetzung: Beobachtungen auf dem Fußballplatz und außerhalb

8. Zusammenfassung, Fazit

9. Quellenverzeichnis

10. Anhang

1. Einleitung

"Der Sport hat mit Entwicklungshilfe nichts zu schaffen", konstatierte der damalige SPD-En­twicklungsminister Erhard Eppler zu Beginn der 1970er-Jahre (zit. n. Ulbricht 2017: O.A.). Diese Ansicht hat sich seitdem im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (im Folgenden: BMZ) grundlegend geändert: Seit 2013 werden immer mehr Sportprojekte gefördert, in diesem Jahr liegt das Budget hierfür bei 47,5 Millionen Euro (Ul­bricht 2017: O.A.). Sport wird in den Projekten des BMZ dabei heute vor allem genutzt, um „Kindern und Jugendlichen sogenannte life skills zu vermitteln: Schlüsselkompetenzen wie Kommunikations-, Kooperations-, Organisations- und Kritikfähigkeit“ (BMZ 2015: 11).

Auch im internationalen Rahmen treten Sportprojekte mit erzieherischem oder der Zielsetzung der Vermittlung von sozialen oder persönlichen Kompetenzen spätestens seit Beginn dieses Jahrhunderts in Ländern des „globalen Südens“ immer stärker in Erscheinung (Kidd 2008: 370). In der „Declaration of the 2030 Agenda for Sustainable Development“ der Vereinten Na­tionen wird die Rolle des Sports für sozialen Fortschritt wie folgt definiert:

„Sport is also an important enabler of sustainable development. We recognize the grow­ing contribution of sport to the realization of development and peace in its promotion of tolerance and respect and the contributions it makes to the empowerment of women and of young people, individuals and communities as well as to health, education and social inclusion objectives.“ (United Nations 4th plenary meeting 2015: 10)

Das United Nations Office on Sport for Development and Peace (UNOSDP) sieht Sport darüber hinaus als Phänomen, das Menschen aller Kulturen, Nationen und Religionen verbinden kann und betont seine intrinsischen Werte wie Toleranz, Fairness, Teamwork und Disziplin (UNOSDP 2018: o.A.).

Doch obgleich Sport sowohl auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene solch um­fassend positive Effekte beigemessen werden, wurde der Ansatz der Sportpädagogik1 hin­sichtlich seiner Bedeutung für die Entwicklungszusammenarbeit2 bisher in der Ethnologie kaum behandelt. Diese Masterarbeit soll einen Beitrag zur Analyse der Ideen, Konzepte und Vorstellungen, die durch Sportprojekte in der Entwicklungszusammenarbeit erzieherisch ver­mittelt werden, sowie der Auswirkungen solcher Projekte auf lokaler Ebene leisten und dabei die Standpunkte der verschiedenen Gruppen, die in diesem Rahmen aufeinander treffen, in den Blick nehmen. Ich beleuchte dafür die Fragen, ob insbesondere Wertvorstellungen als von Pro­jektseite ins Spiel gebrachte Begriffe überhaupt von den Teilnehmern3, vor allem Kindern und Jugendlichen, angenommen werden, ob sie in der Lebensrealität der Teilnehmer eine Rolle spielen, was generell deren Motivation ist, an Projekten teilzunehmen und darin auf bestimmte Art und Weise zu agieren, und wie das lokale Umfeld der Teilnehmer diese und das Sportpro­jekt selbst wahrnimmt.

Entwicklungszusammenarbeit bzw. Umgang und Arbeit mit ihr gehören dabei nach wie vor zu den am meisten diskutierten Themenfeldern in der Ethnologie, nicht zuletzt, da Ethnologen in wenigen anderen Arbeitsbereichen so häufig eingesetzt werden und ihr Expertenwissen in der Praxis gefordert wird. Bierschenk schreibt der Auseinandersetzung mit Entwicklung hin­sichtlich der Modernisierung der deutschen Ethnologie sogar eine Vorreiterrolle zu (Bier- schenk 2014: 3). Dennoch existiert ein anhaltendes Ressentiment des Faches gegenüber dem Begriff der Entwicklung (Bierschenk 2014: 3) - so konstatiert etwa Calhoun: „Too often, the story seems to be: Moral white people come from the rich world to care for those in backward, remote places.“ (2010: 54). Umso wichtiger ist daher eine holistische Perspektive auf Entwick­lung, die alle Beteiligten mit ihren jeweiligen Handlungsstrategien und individuellen Deutun­gen gleichermaßen in den Blick nimmt (Bierschenk, Elwert und Kohnert, zit.n. Bierschenk 2014: 17) und Stereotype von aktiv Handelnden und passiv Annehmenden überwindet (Büschel und Speich 2009: 21). Gleichzeitig sind Campreghers Zweifel, ob es überhaupt möglich sei, sich „einerseits für bessere Entwicklungsprojekte einzusetzen, diese andererseits (2.) jedoch als hegemoniale Machtinstrumente abzulehnen und zudem gleichzeitig (3.) objek­tiv und unparteiisch die Akteure und ihre Interaktion zu beschreiben“ (2008: 5), berechtigt. Dennoch schließe ich mich im Rahmen meiner Masterarbeit seiner Forderung an, diesen Spa­gat zumindest zu versuchen und die verschiedenen Perspektiven auf Entwicklungszusamme­narbeit für eine umfassendere Ethnographie zu kombinieren (Campregher 2008: 5).

Vor diesem theoretischen Hintergrund versuche ich meine Fragen anhand eines aktuellen, ex­emplarischen sportpädagogischen Entwicklungszusammenarbeitsprojekts zu beantworten, das ich während einer knapp viermonatigen Feldforschung in der zentralkenianischen Stadt Juja untersucht habe. Das von einem deutschen Auswanderer gegründete Projekt NGUVU Edu Sport e.V. (im Folgenden: NGUVU) hat es sich hier zur Aufgabe gemacht, den teilnehmenden Kindern und Jugendlichen mit einer ganzheitlichen Lernmethode in Verbindung mit Sport - insbesondere Fußball - vom Projekt selbst definierte Werte wie Respekt, Toleranz und Selbst­bewusstsein zu vermitteln. Im Kontext der lokalen Umgebung des Projekts, dem Viertel Juja- Gachororo, in der Probleme wie Armut, Gewalt- und Drogenkriminalität zum Alltag gehören, sind diese Werte der Organisation zufolge unterrepräsentiert, für die Zukunft der Teilnehmer jedoch von großer Bedeutung.

Ziel der Forschung war somit, Teilnahmemotivation und Verhalten von Kindern während der Betreuung durch NGUVU anhand von Fallbeispielen, Interviews und Beobachtung aufzuzeigen und den Fragen nachzugehen, welche Elemente der Arbeit des Projekts entschei­dend auf die (Werte-)Bildung der Kinder wirken, inwiefern sich die durch das Projekt definierten (Wert-)Vorstellungen tatsächlich in der sozialen Realität der Kinder abbilden und welche Auswirkungen das Projekt auf das lokale Umfeld der Partizipanten in Juja hat.

Dabei stellte sich zunächst heraus, dass abseits der Vermittlung bestimmter Werte vor allem die Aspekte der Sicherheit und Grundversorgung, die durch das Projekt gewährleistet werden, für Kinder und ihre Familien eine tragende Rolle spielen, an NGUVU zu partizipieren. Im Hin­blick auf diese Konstellation möchte ich in meiner Masterarbeit die These überprüfen, ob nicht womöglich der Faktor, dass die Kinder in einem risikobehafteten und sozial benachteiligten Umfeld aufwachsen, dazu beiträgt, dass Werte und Lebenskompetenzen von den Teilnehmern aufgrund ebendieser Lebensumstände beschleunigt aufgenommen werden, da sie durch die Bereitstellung von Nahrung, finanziellen Mitteln und sicheren Räumen im Projekt in einem erhöhten Maß motiviert sind, zu lernen und umzusetzen, was ihnen beigebracht werden soll - und zwar bis zu einem gewissen Grad unabhängig davon, ob dies über Sport, Fußball oder an­dere Wege geschieht.

Weiterhin erwies sich die Konstruktion und das Auswahlverfahren, dem die Mitglieder meiner Fokusgruppe, dem „NGUVU Edu Sport e.V. Selection Team“, unterlagen, sowie die Effekte dieses Vorgangs auf die lokale Gemeinde als weiteres wichtiges Thema, dem ich in meiner Ar­beit Beachtung schenken möchte: Wie veränderte die Mitgliedschaft in dieser Auswahlmannschaft das Leben der Teilnehmer und ihrer Familien? Wie bewerten Außenste­hende in Juja das Projekt? Hier zeigt sich meines Erachtens die Ambivalenz von Sport als in­tegrativem Faktor: Sport fördert Gruppenbildung und -bindung (Francois/Schulze, zit. n. Pfis­ter 2002: 52), ist aber zugleich ständigen Prozessen der Aus- und Abgrenzung unterworfen (Scheuble und Wehner 2006: 28).

Durch die Analyse des von mir untersuchten Beispiels sowie unter Berücksichtigung ver­schiedener theoretischer Ansätze will ich in der vorliegenden Arbeit versuchen, Antworten auf die oben gestellten Fragen zu finden. Hierfür werde ich, um eine Grundlage für die spätere Da­tenanalyse zu schaffen, meiner Arbeit zunächst einen theoretischen Rahmen geben, in dem ich einen Überblick über bisherige ethnologische Perspektiven auf Sport und insbesondere Fußball liefere und hierbei von globalen über europäische und afrikanische letztlich zu kenianischen bzw. deutschen Sport- und Fußballstrukturen gelange. Darauf folgt eine Betrachtung der Sportpädagogik, ihrer Rolle in der Entwicklungszusammenarbeit und bisheriger ethnologisch­er Annahmen zu diesem Themenkomplex. Anschließend beleuchte ich anhand der beiden Gesellschaften, die im Rahmen meiner Forschung aufeinandertreffen, im folgenden Teilkapitel das näher, was in der Sporterziehung weitergegeben werden soll, indem ich mich mit Wertevorstellungen im Allgemeinen und besonders ihrer Vermittlung im erzieherischen Kon­text in Deutschland und Kenia auseinandersetze. Dieser Abgleich, der sich auf ethnologische und pädagogische Quellen stützt, soll erste Erkenntnisse darüber liefern, ob die angeführten Werte auf beiden Seiten überhaupt die gleiche Rolle spielen bzw. ob es unterschiedliche An­sätze in einer etwaigen Vermittlungsumsetzung gibt, um die Resultate später mit meinen eige­nen empirischen Ergebnissen in Bezug zu setzen. Da das Projekt im kenianischen Kontext stat­tfindet, liegt der Analyseschwerpunkt auf diesem Teil, während ich auf Werte in Deutschland nur im Rahmen ihrer Vermittlung in der Erziehung eingehe. Da sich meine Informanten-Kern- gruppe hauptsächlich aus Kindern und deren Umfeld zusammensetzt, schließe ich den theo­retischen Rahmen mit einer Betrachtung des Themas „Aufwachsen in Kenia“ ab und konzen­triere mich hierbei vor allem auf Aspekte der Familienstruktur und äußere Lebensumstände sowie schließlich Ethnizität, um herauszufinden, wie sich ethnische Strukturen und Konflikte in Kenia auf Kinder auswirken. Hierauf folgt die ethnographische Darstellung meines unter­suchten Projekts und des Standorts Juja sowie in Kapitel 4 eine kurze Beschreibung meiner Forschung und Reflexion meiner verwendeten Methoden. Anschließend beginne ich die An­alyse meiner in der Forschung gesammelten Daten mit der Untersuchung der Motive der Pro­jektteilnehmer und fokussiere dabei vor allem auf eines, das während meiner Forschung immer wieder eine Rolle spielte, nämlich die Bedeutung der Bereitstellung von Grundversorgung und Sicherheit durch das Projekt. Dann konzentriere ich mich auf die NGUVU- Auswahlmannschaft, meine Fokusgruppe, und die Auswirkungen dieses Projektteils auf lokaler Ebene. Insbesondere sollen hier Konstruktionen europäischer und afrikanischer Iden­titäten auf dem Fußballplatz und außerhalb, der Projektgründer als Schlüsselfigur im Ort sowie die lokale Rezeption des Projekts, vor allem durch Nichtteilnehmer, beleuchtet werden. In Kapitel 7 werde ich dann eine exemplarische Analyse von Wertevermittlung durch Sport an­hand von NGUVU durchführen. Hierfür nehme ich zunächst die Wertvorstellungen bzw. -er­wartungen meiner verschiedenen Informantengruppen in den Blick, um sie dann mit meinen eigenen Feldbeobachtungen abzugleichen, bevor ich meine Ergebnisse zusammenfasse und ein Fazit ziehe.

Ich stütze mich bei meiner theoretischen Analyse auf Blanchard und Cheska (1985), Besnier und Brownell (2012), die Beiträge in Fanizadeh et al. (2002), Giulianotti und Armstrong (2004) sowie verschiedene Werke von Baller als zentrale Quellen aus der Sportethnologie. Bei der Analyse von Sport bzw. Sporterziehung in der Entwicklungszusammenarbeit beziehe ich mich in Ermangelung ethnologischer Beiträge zu diesem Thema zusätzlich auf einige Quellen aus der Sportsoziologie und -wissenschaft. Hier sind vor allem Coalter (2013), Wrogemann (2000) und Keim (2003) hervorzuheben. In der Beschreibung der Wertevermittlung im kenian­ischen Bildungskontext beziehe ich mich verstärkt auf Quellen aus der kenianischen Päda­gogik wie Shehu (1998) bzw. auf die Kommunikationswissenschaftlerin Kaviti (2011), während ich mich im deutschen pädagogischen Kontext etwa auf Schubarth (2016) berufe. In Kapitel 2.4. ermöglichen es mir verschiedene Werke der Ethnologinnen Alber und Martin, der Philosophin und Religionswissenschaftlerin Kamaara (2015) sowie dem Historiker und Kul­turwissenschaftler Atieno-Odhiambo (2002), Umstände und Faktoren eines Aufwachsens in Kenia zu beschreiben. Auch ziehe ich einen Bericht von Unicef (2014) verstärkt für statistische Daten in diesem Themenfeld heran. Weite Teile meiner Analyse stützen sich auf meine eigenen Erfahrungen und Beobachtungen im Projekt bzw. auf meine Daten oder auf Gespräche und Interviews, die ich während meiner Forschung geführt habe.

Aufgrund des Rahmens dieser Arbeit werden die wirtschaftlichen Dimensionen des Fußballs auf globaler Ebene (vgl. hierzu Hödl 2002: 13-37) ausgeklammert, ebenso wie Genderdif­ferenzen im Sport (vgl. hierzu die Beiträge in Blomberg und Neuber 2015; zu Geschlechter- perspektiven in Sport- und Entwicklungsprogrammen im südlichen Afrika Meier 2012 und Brady 2005 und zu Genderdifferenzen im kenianischen Sport Achola und Njororai 1999). Die Geschichte des Sports und Fußballs in Deutschland und Afrika bzw. Kenia umreiße ich nur knapp (vgl. hierzu für Deutschland etwa Wagner 1998: 5-9 und Wagg 1995a bzw. im afrikanischen Kontext Alegi 2010, Wachter 2002 und Blacking 1987, letzterer im Besonderen zur präkolonialen Zeit, sowie Bale und Sang 1996 zur kenianischen Sportgeschichte, ins­besondere Kap. 3). Zur Geschichte und Geographie Kenias allgemein verweise ich auf Darwin 2013, Giulianotti und Armstrong 2004 und Knappert 1987. Auf das Thema Globalisierung gehe ich nur en passant ein (siehe hierzu besonders im Hinblick auf Sport das sportsoziologis­che Werk von Jarvie, Thornton und Mackie 2017). Was die Themenbereiche Geschichte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit (siehe Büschel 2014 und speziell zur historischen Au­farbeitung der Entstehung der Maßstäbe, die in ihr angewendet werden, Lepenies 2009), die Geschichte der Entwicklungstheorie (siehe die Beiträge in Fischer, Hödl und Sievers 2008), die Geschichte der ethnologischen Auseinandersetzung mit Entwicklung im deutschsprachigen Raum (siehe Bierschenk 2014) bzw. die Kritik an der Subdisziplin Entwicklungsethnologie sowie an ihrer Konstruktion in Diskursen, ihrer Institutionalisierung und praktischen Anwen­dung (etwa Escobar 1991, 1997 und besonders 1995 für Ansätze in einer „Postdevelopment Era“, sowie die Beiträge in Rahnema und Bawtree 1998) anbelangt, muss es bei den Verweisen auf die entsprechenden Autoren bleiben. Auch werde ich keine historische Betrachtung von Erziehung bzw. Sporterziehung liefern - an entsprechender Stelle verweise ich auf weiter­führende Literatur im kenianischen, deutschen oder allgemeinen Kontext. Bei der Analyse des Wertbegriffs muss es aufgrund des Rahmens dieser Arbeit bei einer knappen Definition bleiben (siehe zur Beschäftigung mit Werten in der Geschichte der Ethnologie bzw. ihrer Definition aus dieser Perspektive Firth 1953, Barth 1993 und Robbins 2009 sowie Heintz 2009). Für die theoretische Analyse europäischer Werte verweise ich auf die Beiträge in Joas und Wiegandt 2005 (besonders Reinhard 2005 und Joas 2005). Auch auf das Thema Migration werde ich nicht eingehen können, auch wenn einige meiner Informanten nicht aus dem Ort Juja stammen und hier als Geflüchtete oder Migranten leben (vgl. insbesondere zum Thema Kindesmigration Rodet und Razy 2011 und 2016).

2. Theoretischer Rahmen

Beginnen werde ich nun mit einem Überblick über bestehende ethnologische Theorien und Perspektiven zu Sport, insbesondere Fußball.

2.1. Sport und Fußball aus ethnologischen Perspektiven

In der Ethnologie herrscht noch immer Uneinigkeit über eine verbindliche Sportdefinition (Besnier und Brownell 2012: 448; Blanchard 2000: 150), nicht zuletzt, da das Phänomen im Fach lange Zeit ein wenig stiefkindlich behandelt wurde (Sands 2002: 3), obwohl seine Betra­chtung viel über eine Gesellschaft aussagen kann, da es immer in Zusammenhang mit anderen Erscheinungen zu stehen scheint, wie etwa Sozialisation oder Religion (Schneider 2002: 3). Antweiler sieht Sport sogar als ein Phänomen, das allen Gesellschaften weltweit gemein ist (2009: 113-128). Als Gründe für die geringe Beachtung des Themas nennt Sands, dass es sich erstens eher nicht in den klassisch ethnologischen Themen verordnen lässt und zweitens viele Ethnologen keine Sportler sind und so vor der teilnehmenden Beobachtung zurückschrecken (2002: 7). Viele Wissenschaftler halten Sport darüber hinaus für ein zu triviales Feld (Vidacs 2006: 336). Auch gibt es in vielen Gesellschaften keinen Begriff für Sport, was jedoch keines­falls dessen Abwesenheit impliziert (Schneider 2002: 3). Zudem wird Sport im 21. Jahrhundert zunehmend als globales Phänomen betrachtet, das Kultur eher homogenisiert statt differenziert (Sands 2002: 7). So fanden frühe ethnologische Forschungen zu Bewegungskulturen zwar schon durch Edward Tylor 1896 statt (Sands 2002: 4; Blanchard und Cheska 1985: 14), jedoch beschäftigten sich Ethnologen mit einigen Ausnahmen (etwa Clifford Geertz' Forschung 1973 zu Hahnenkämpfen auf Bali und Victor Turner mit seiner These der modernen „performance genres“, zu denen er Sport zählte; Blanchard und Cheska 1985: 23) bis in die 1980er-Jahre hinein nur wenig mit dem Thema (Besnier und Brownell 2012: 445). Erst durch die „Pioniere“ auf dem Feld der Sportethnologie, Kendall Blanchard und Alyce Cheska, und ihrem Werk „The Anthropology of Sport“ (1985) wurde dem Sport in der Ethnologie vollends mehr Aufmerksamkeit gewidmet (Besnier und Brownell 2012: 445). Hierin definieren die Autoren Sport als „physically exertive activity that is aggressively competitive within constraints im­posed by definitions and rules“ (1985: 60). Zugleich beinhaltet Sport ihrer Meinung nach ver­schiedene Ausprägungen von Spiel, Freizeit und Arbeit sowie athletische und nicht-athletische Varianten, wobei „athletisch“ den Grad der physischen Anstrengung beschreiben soll (1985: 60). Sport trägt des Weiteren Züge eines Rituals in sich und ist als „window on culture“ zu be­trachten, als Vehikel für Manifestationen von Normen und Werten, die für die Kultur der Gesellschaft fundamental sind, in welcher der Sport ausgeführt wird (Blanchard 2000: 149). Auch kann Sport als Integrations- und Kommunikationsmechanismus zwischen verschiedenen Gesellschaften dienen (Blanchard und Cheska 1985: 202). Eine andere, weiter gefasste Defini­tion stammt von Dyck, der Sport als Feld komplex angeordneter Aktivitäten, Beziehungen, „beliefs“ und Zweckmäßigkeiten beschreibt, die sich um kompetitive Performanzen mit ph- ysischen, sozialen und kulturellen Elementen drehen (2000: 13). Dabei variieren diese Aktiv­itäten in Raum- und Zeitspannen und die Wettbewerbselemente erfordern mal mehr, mal weniger körperliche Teilnahme und ziehen in der Regel mehr oder weniger viele Zuschauer an, die aus der Nähe oder der Distanz zuschauen und Sport als Ereignis interpretieren und zelebri­eren (Dyck 2000: 13). Die Bedeutung dieser Ereignisse geht über sich selbst hinaus und weist unter anderem auf Macht-, Identitäts-, Wirtschafts-, Politik- und Nationalstrukturen hin (Dyck 2000: 13, vgl. zu Sportereignissen auch Gruber 2014). Als Ergänzung zu dieser Definition möchte ich Schneider erwähnen, der das Leistungsprinzip betont, das allen sportlichen Aktiv­itäten gemein ist (2002: 16), sowie Hamayon, die konstatiert, dass bereits die antiken römis­chen Spiele der sozialen Konsensbildung dienten (2016: 21). Sport drückt sich ihrer Meinung nach im „highest collective level“ hauptsächlich in physischer Form aus und erfordert ein starkes Engagement des gesamten Körpers (Hamayon 2016: 300-301). Auf diese Weise unter­stützt Sport über seine Körperlichkeit Identitätsbildung (Hamayon 2016: 301). Auch in Bour- dieus Praxistheorie spielt die Beziehung zwischen Sport und Identitäten eine wichtige Rolle, er entwirft aber ein eher trennendes als ein integratives Bild des Sports (Bourdieu 1988: 153). Bourdieu behauptet gemäß seines Habitus-Konzepts, dass Sport dem Körper die soziale Klasse einschreibt - Freizeitaktivitäten sind also strukturell und keine Frage des persönlichen Geschmacks (1978: 828; 833-836). So drückt etwa Boxen seiner Meinung nach die instrumen- talische Beziehung zum Körper aus, die die Arbeiterklasse in allen Körperpraktiken an den Tag legt (Bourdieu 1978: 837). Besnier und Brownell widersprechen diesem Ansatz und ersetzen das Habitus-Konzept bei der ethnologischen Betrachtung von Sport durch das Konzept der „body culture“, das die Verkörperung und Internalisierung von „Kultur“ vor allem im Kontext lokaler Lebenswelten und lokaler Bedeutungen reflektiert (Besnier und Brownell 2012: 450). Denn: „Reconceptualizing the body as a cultural construction [...] opens up a space for exam­ining how sport creates connections between peoples at the same time that it strengthens local and national identities“ (Besnier und Brownell 2012: 454).

Mittlerweile hat die Empirie gezeigt, dass „westliche“ Sportarten und ihre Techniken und Ziele überall auf der Welt neben anderen lokalen, „traditionellen“ Sportaktivitäten zu finden sind (Besnier und Brownell 2012: 448). Insbesondere der Fußball ist heute ein globales Phänomen (vgl. hierzu die Beiträge in Wagg 1995) und steht auch im von mir untersuchten Projekt unbe­streitbar im Mittelpunkt. Auch wenn mehrere Parteien, etwa Länder wie Italien und China oder indigene Gruppen der USA oder Lateinamerikas die „Erfindung“ des Fußballs für sich reklamieren (Köpke et al. 2006: 33; 38; 53; 56/57), wird die „Heimat“ des Fußballs gemeinhin England zugeschrieben (Pfister 2002: 38), wo Fußball erstmals 1349 erwähnt wurde und 1888 die erste einheitliche Fußball-Liga entstand (Köpke et al. 2006: 46). Englands Faszination für Wetten und Partizipation am Sport, die sich aus der wenig scharfen Abgrenzung zwischen Adel und Bürgertum ergab, machten Sportarten mit einer gewissen Reglementierung und Standard­isierung notwendig (Pfister 2002: 38). Auch die frühe Industrialisierung und in Schulen propagierte Idealbilder wie das der „muscular Christianity“ begünstigten die Entstehung und den Siegeszug des Fußballs in England und danach vor allem durch die Kolonialisierung4 durch britische Seeleute, Soldaten und Unternehmer als „Exportschlager“ nahezu weltweit (Pfister 2002: 38; 40; 47; van Bottenburg 1991: 11). Dennoch hat Fußball in jedem Land eine eigene Geschichte und weist Unterschiede auf (Pfister 2002: 49), Wagg spricht sogar von weltweiten „Fußballkulturen“ (1995: xii). Verschiedene Gruppen haben den Sport aktiv aufge­griffen, sich ihn angeeignet und sogar gegen England als „Waffe“ eingesetzt (Pfister 2002: 49) - etwa in einigen afrikanischen Ländern, in die Fußball durch die Kolonisatoren eingeführt und dort von allen gesellschaftlichen Schichten begeistert aufgenommen wurde, wo er aber zugle­ich mit dem dortigen Kampf um Nationenbildung und Unabhängigkeit verbunden ist (Stuart 1995: 37). Heute wird der afrikanische Fußball auf internationaler und interafrikanischer Ebene als inoffizielle Messlatte des Fortschritts betrachtet - Versagen im Fußball wird auch als politisches Versagen wahrgenommen (Stuart 1995: 37, 38; Vidacs 2006: 338). Im lateinamerikanischen Fußball sind es einzelne Akteure, Talente aus den „unteren“ gesellschaftlichen Schichten zumeist, die zu Nationalhelden avancieren und so implizit Au­toritäten und Strukturen in Frage stellen (Biriotti del Burgo 1995: 65), gleichzeitig kämpft der Fußball dort zunehmend mit Problemen wie Korruption und Gewalt (Giulianotti 2002: 168; 173). In Asien professionalisieren sich etwa in Japan zunehmend Firmenteams, die zuvor auf Freizeitbasis gespielt haben, in wirtschaftlich immer erfolgreicheren Ligen (Manzenreiter 2002: 139-141). Gewisse Spieltechniken werden des Weiteren bestimmten Nationen zugeschrieben, über die diese sich zum Teil selbst definieren (Lanfranchi und Wagg 1995: 134). In Deutschland gilt Fußball spätestens seit dem ersten Weltkrieg (1914 zählte der Deutsche Fußballbund bereits 190.000 Mitglieder) als Nationalsport (Blödorn, zit.n. Pfister 2002: 46), ja, sogar als ein deutsches „Kulturgut“ (Krauss 2003: 201). Fußball hat auch in Deutschland englische Wurzeln und wurde 1874 in Braunschweig von anglophilen Lehrkräften eingeführt - allerdings unter der Prämisse, dass er „deutschen Verhältnissen angepasst, auf deutsche Wurzeln zurückgeführt und ausdrücklich als deutsches Spiel bezeichnet“ wurde (Pfis­ter 2002: 40). Ab den 1950er-Jahren erschien Fußball Vielen nicht als Rückkehr unter die „zivilisierten Nationen“, wie es die Regierung der Bundesrepublik darzustellen versuchte, son­dern vielmehr „als siegreiche Rückkehr, als Kompensation für den ,verlorenen‘ Krieg“ (Eisen­berg, zit n. Hermann 2012: 248). Krauss beschreibt das „Wunder von Bern“, das Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft 1954, als Deutschlands langsame Wiedergeburt als selbstbewusste Nation, eng verknüpft mit dem stetig im auf den Fußball bezogenen Diskurs verwendeten „Wir“ und der Vorstellung „Wir sind wieder wer“ (2003: 199). Erst mit der nachfolgenden Generation verschwand dieses kollektive Kompensationsbedürfnis allmählich (Hermann 2012: 248). Heute erhält der Fußball in Deutschland eine weitere Komponente, die damit einhergeht, dass wir es hier schon seit Jahren mit „multiethnischen Nationalmannschaften“ zu tun haben (Scheuble und Wehner 2006: 29), was zu zunehmenden Debatten über Rassismus und Antiras­sismus im Fußball geführt hat (vgl. zu diesem Thema Fanizadeh und Pinter 2002).

Fußball erfreut sich unter anderem deshalb weltweit einer solchen Beliebtheit, weil keine besondere Ausstattung benötigt wird um den Sport auszuüben und die wenigen Regeln leicht verständlich sind (Köpke et al. 2006: 19). Eine variable Zahl von Mitspielern und ein Ball - respektive ein Gegenstand, der diesen Zweck erfüllt - sind die einzig unverzichtbaren Ressourcen (Köpke et al. 2006: 19; 44). Darüber hinaus ist Pfister der Meinung, dass Fußball zur Entwicklung von Identitäten genutzt wird (2002: 51), und dass dieser Sport Gruppenbil­dung und -bindung fördert (Francois/Schulze, zit. n. Pfister 2002: 52). Diese Identitäts- und Gruppenbildung ist aber zugleich ständigen Prozessen der Aus- und Abgrenzung unterworfen (Scheuble und Wehner 2006: 28) und kann gerade als Ausdrucksmittel von Identität ebenso Unterschiede zwischen Menschen festigen (Yeo 2012: 152), die Woodward, um in einen spezi­fisch afrikanischen Kontext überzugehen, hierin vor allem entlang ethnischer Grenzen und „racial dimensions“ sieht (2004: 272).

Sport und andere Bewegungskulturen des präkolonialen Afrika wurden während der systema­tischen Reorganisation und Unterwerfung des Kontinents durch die Europäer weitestgehend zerstört, um durch andere ersetzt und teilweise in neuer Form wiederbelebt zu werden (Giu- lianotti und Armstrong 2004: 7). Sport spielte dann mit Ende des Kolonialismus für die Her­ausbildung afrikanischer nationaler Identitäten eine wichtige symbolische Rolle (Giulianotti und Armstrong 2004: 8). So kam Fußball über die jeweiligen Kolonisatoren in einzelne afrikanische Länder (die ersten Teams gründeten sich auf Sansibar in den 1870er-Jahren; Baller 2009: 110), wurde dort unter anderem aufgrund der erwähnten einfachen Durch­führbarkeit des Spiels auf lokaler Ebene begeistert angenommen und durch eigene Taktiken, ästhetische Codes und Spielformen adaptiert und „reinvented“ (Giulianotti und Armstrong 2004: 8/9). Fußball ist in Afrika also zweifellos kolonialistisches Erbe und war zu Beginn Ausdruck des europäischen Kulturimperialismus - jedoch festigt Fußball im postkolonialen Zeitalter nicht einfach vormals bestehende Herrschaftsverhältnisse, sondern befördert Emanzi­pation und Dissidenz (Wachter 2002: 118) und ist heute auf dem gesamten Kontinent extrem populär bzw. vor allem in den urbanen Gebieten Afrikas eine der am meisten praktizierten Freizeitbeschäftigungen (Baller 2009: 109/110). Nachdem der Sport bereits in der Kolonialzeit dazu genutzt wurde, den Körper der Kolonialisierten zu trainieren und ihnen Werte wie Diszi­plin, Ordnung, Fair Play und Teamgeist zu vermitteln (Baller 2006: 327), ist Fußball heute sozialer und politischer Mobilisator verschiedenster Gruppen und keinesfalls bloßes „Opium für das Volk“ (Baller und Saavedra 2010: 20). Fußball wird heute in Afrika aus verschieden­sten Motiven gespielt: Um sich selbst als „modern“ zu präsentieren, Status zu erlangen und so hierarchische Strukturen aufzulösen, um Geld zu verdienen oder einfach nur, um Spaß zu haben (Baller 2006: 327). Im afrikanischen Fußball werden Modernitäts- und Tradi­tionsvorstellungen, koloniale und postkoloniale soziale Praktiken sowie Gender, Ethnizität und Konflikte verhandelt (Baller 2006: 327). Gleichzeitig ist Fußball in Afrika häufig mit Politik und Prestigegewinn verbunden und besonders auf internationaler Ebene noch immer in postkoloniale Strukturen eingebunden (Wachter 2002: 117; Woodward 2004: 270/271). Je­doch, so konstatiert Woodward, wohnt dem afrikanischen Fußball, zumindest auf interna­tionaler Ebene, zugleich pankontinentaler Stolz und Solidarität inne, was im europäischen Fußball in diesem Maß kaum denkbar wäre (2004: 272). Einen weiteren wichtigen Aspekt im Hinblick auf afrikanischen Fußball in einer globalen Perspektive bilden die migratorischen Bewegungen junger Spieler, die den Kontinent verlassen, um in die Teams der großen west­lichen Fußballclubs aufgenommen zu werden - Missionen, die in der Gesamtzahl betrachtet nur selten erfolgreich sind und überhaupt meist Wunschtraum bleiben müssen (Woodward 2004: 273; Giulianotti und Armstrong 2004: 11).

Um den Fokus nun auf den Fußball in meiner Forschungsregion Kenia zu richten, ziehe ich Siundu heran, der den europäischen Fußball vor allem als Projektionsfläche für die kenianis- 13 che Jugend wertet, die hier zwar ihre Lebensrealität mit ihren Träumen konfrontiert sieht, aber zugleich auch eine „chance to imagine themselves as being more than what they are in materi­al and socio-economic terms“ (2011: 337). Waliaula stellt ebenfalls den Einfluss von europäis­chem Fußball beziehungsweise des Fan-Seins auf das gesellschaftliche Leben eines „mid-level urban“ Raums fest und konstatiert, dass dadurch eine „performance of the self and communi­ty“ stattfindet, die ein Wechselspiel zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft auslöst (2015: 1). Historisch betrachtet wurde im Sinne der „pulling together“-Philosophie des postkolonialen Kenia Sport und insbesondere Fußball von verschiedenen Regierungen im Hinblick auf ein „nation-building“ instrumentalisiert („Sport is one factor that unifies all people regardless of their race, tribe ethnicity or denomination“, zweiter kenianischer Präsident Moi, zit. n. Hognestad und Tollisen 2004: 218), diese Rhetorik aber keinesfalls immer umgesetzt (Giu- lianotti und Armstrong 2004: 22). Allgemein betrachtet deckt sich die Geschichte des Fußballs in Kenia weitgehend mit der des restlichen Kontinents und ist somit eine durch die ehemaligen britischen Kolonisatoren bedingte Historie: 1922 gründeten diese den ersten Fußballverband und Kinder wurden bereits auf britischen Missionsschulen in der Sportart unterrichtet (Pfister 2002: 48). Die Kenya Premier League existiert seit 1963 (Internet Archive Wayback Machine 2016: o.A.) und besteht heute aus 18 Vereinen (Sportstats 2018: o.A.). Die kenianische Na­tionalmannschaft wurde 1960 ins Leben gerufen (National Football Teams 2018: o.A.).

Von ethnologischen und historischen Perspektiven auf Sport und Fußball ausgehend werde ich im Folgenden zum Einsatz von Sportpädagogik und Fußball in der Entwicklungszusammenar­beit übergehen und aufzeigen, in welchem Kontext sich die Ethnologie bisher mit diesem Thema befasst hat.

2.2. „Sport evangelism“? Sport und Sporterziehung in Ethnologie und Entwick­lungszusammenarbeit

Trotz der negierenden Aussage des damaligen deutschen Entwicklungsministers, die ich einlei­tend zitiert habe, werden tatsächlich bereits seit den 1960er-Jahren Sportprojekte durch die Bundesrepublik im Ausland gefördert. Neben dem BMZ ist auch das Auswärtige Amt en­gagiert (Ulbricht 2017: o.A.). Seit 2001 gibt es einen Sonderbeauftragten der Vereinten Natio­nen (UN) für Sport im Dienst von Entwicklung und Frieden, zusätzlich unterstreicht die 2003 verabschiedete UN-Resolution 58/5 die Bedeutung von „Sport als Mittel der Förderung von Bildung, Gesundheit, Entwicklung und Frieden“ und 2013 erklärten die UN außerdem den 6.

April zum Internationalen Tag des Sports für Entwicklung und Frieden (BMZ 2015: 7). Der heutige Entwicklungsminister Gerd Müller ist - vor allem im Hinblick auf „benachteiligte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene“ (zit. n. BMZ 2015: 5) - somit auch ganz anderer Meinung als sein Vorgänger:

„Sport kann Werte vermitteln und Perspektiven aufzeigen, ein Zusammengehörigkeitsge­fühl über ethnische und soziale Grenzen hinweg schaffen, helfen, Gewalt zu verringern und Konflikte friedlich zu lösen. Sport stärkt die Persönlichkeit und vermittelt Werte wie Fair Play, Teamgeist, Disziplin und Respekt.“ (zit. n. BMZ 2015: 5).

Bernhard Felmberg, leitender Beamter im Entwicklungsministerium, fragt dennoch in einem Radiointerview: „[.] warum muss Sport eigentlich eine wesentliche Komponente der En­twicklungspolitik sein? Ist anderes nicht eigentlich viel offensichtlicher, Bekämpfung der Ar­mut, Hungerprävention und so weiter?“ (zit. n. Ulbricht: o.A.). Hognestad und Tollisen gehen in ihrer Forschung zur Nichtregierungsorganisation Mathare Youth Sports Association in Ke­nia (im Folgenden: MYSA; 2004: 210-211) ferner der Frage nach, was eine Sportorganisation in einem Viertel zu suchen hat, dessen Bewohner hauptsächlich damit beschäftigt sind, zu überleben (2004: 210). Selbst auf der Internetseite des UNOSDP ist zu lesen: „Sport is not a cure-all for development problems. As a cultural phenomenon, it is a mirror of society and is just as complex and contradictory“ (2018: o.A.). Genau in diesem Spannungsfeld zwischen kritischer Skepsis und Befürwortung des Konzepts bewegen sich auch die bisherigen ethnolo­gischen Perspektiven zum Thema - dass davon nur wenige vorhanden sind, unterstreicht die Notwendigkeit für das Fach, sich vertiefend mit Sport bzw. Sporterziehung und seiner Rolle in der Entwicklungszusammenarbeit zu befassen.

Der Soziologe Giulianotti identifiziert zunächst vier verschiedene Akteursgruppen im „Sport for Development and Peace“ (im Folgenden: SDP)-Sektor: Nichtregierungs- bzw. Nonprofit­Organisationen (im Folgenden: NGOs), Regierungs- bzw. Interregierungsorganisationen, den privaten Sektor, der zum Großteil aus freiwilligen Initiativen besteht, und politisierte NGOs bzw. soziale Bewegungen, die sich auf das Etablieren von sozialer Gerechtigkeit und Men­schenrechten konzentrieren (2012: 283, 284). Er betont weiter, dass Projekte dieser Akteurs­gruppen nicht nur auf den „globalen Süden“ beschränkt sind, sondern auch im „globalen Nor­den“ stattfinden (2012: 281). Beispiele sind die United Kingdom NGO Street League, die jun­gen Menschen mit einer kriminellen Vergangenheit über Fußball Arbeit, Erziehung und Training vermitteln will; oder auch diverse Basketball-Initiativen in den USA, die zur Kriminalitäts­und Gewaltprävention genutzt werden (Giulianotti 2012: 281). In Deutschland gibt es hier zahlreiche Projekte wie Camps oder Seminare, die versuchen, Menschen mit Migrationshin­tergrund durch Sport beschleunigt zu „integrieren“ (Yeo 2012: 148) - auch der Gründer des Projekts, das Gegenstand meiner Forschung ist, war in Deutschland auf dieser Ebene bereits in einer Münchner Straßenfußballliga und im Sport mit Geflüchteten engagiert (Firlej 2017: In­terview). Seit 1989 finanziert das deutsche Innenministerium Sportprogramme für Migranten, und der Deutsche Olympische Sportbund nennt sein Programm seit 2002 „Integration durch Sport“ (Müller 2014: 71). Besonders Fußball wird hierbei als „universelles Medium der Ver­ständigung jenseits sprachlicher Differenzen und nationaler Grenzen interpretiert“ (Müller 2014: 71) und viele Fußballverbände aus Europa engagieren sich durch sportpädagogische Ini­tiativen im In- und Ausland (Müller 2014: 71).

Sport ist laut Giulianotti für solche Initiativen aufgrund einiger ihm innewohnender Merkmale besonders geeignet (2012: 285). Er zählt hier etwa die einfache Durchführbarkeit auf, die At­traktivität besonders für junge Menschen, die Möglichkeit zur Entwicklung von Kreativität, Teambildung und Solidarität, das Schaffen neuer sozialer Kontakte und Beziehungen, die Sozialisation junger Menschen zu einem „rule-governed behavior“, das Potenzial, vor allem „universalist messages“ auf lokaler und globaler Ebene zu kommunizieren, die Fähigkeit, als „Eisbrecher“ zwischen Konfliktparteien zu wirken, diese in einen Dialog zu bringen, Stereo­type zu hinterfragen und traumatisierte Individuen zu resozialisieren (2012: 285). Laut den Sportwissenschaftlern Amusa und Adeniran besitzt Sport diese konfliktlösenden und „kul­turübergreifenden“ Mechanismen aufgrund seines internationalen Charakters, der auf weitest­gehend global gültigen Regeln fußt (2000: 103). Als Charakteristika erfolgreicher „SDP“-Pro- jekte definiert Giulianotti Nachhaltigkeit, „Empowerment“, Einbettung in den größeren sozialen, politischen und kulturellen Kontext, verschiedene Formen der steten Evaluation sowie Zusammenarbeit mit anderen Akteuren des Sektors (2012: 289, 290). Auch Amusa und Adeniran bezeichnen Sport als „vehicle for transmitting the values of the society“ (2000: 101), da vor allem Kinder durch spielerische Aktivitäten lernen, miteinander zu teilen und zu inter­agieren sowie verschiedene Rollen auszutesten (2000: 101).

Aufseiten der Ethnologie spricht Hamayon Sport und Spielen intrinsische Dynamiken zu, die zum Beispiel Selbstbewusstsein fördern (2016: 25). Im Einklang mit Minister Müller betonen Blanchard und Cheska speziell in einem multiethnischen Kontext unter anderem das Potenzial von Sport, verschiedene Gruppen zusammenzubringen (1985: 227). Weiter sei Sport durch 16 seine Regeln, die unabhängig von Sprache verstanden werden können, eine Art „universal lan- guage“ und fördere dabei „cross-cultural communication“, die helfe, Stereotype abzubauen (Blanchard und Cheska 1985: 227). Auch böten Sportprogramme die Möglichkeit, neue Werte zu etablieren - allerdings nur in dem Maß, in dem die Werte für die Gruppe, der sie vorgestellt werden, auch Relevanz haben (1985: 227-229). Blanchard und Cheska gehen weiter davon aus, dass gesellschaftliche Variation in Sportprogrammen im Verhalten der Teilnehmer vor allem in der Wahrnehmung, in Erwartungen sowie Motivation und Kommunikation widerge­spiegelt wird, und schreiben Sport in diesem Rahmen das Potenzial zu, eine Strategie für Kon­fliktmanagement zu sein bzw. partizipierenden Gruppen die Möglichkeit zu bieten, Elemente voneinander zu übernehmen und sich auszutauschen (1985: 227; 229).

Auf der anderen Seite stehen skeptische Meinungen zum Thema, nicht selten aus der allge­mein kritischen Haltung heraus, die viele Ethnologen gegenüber der Entwicklungszusamme­narbeit als „bösem Zwilling des Fachs“ (Ferguson, zit.n. Bierschenk 2014: 4) oder spätkolo- nialistischem Phänomen (Eckert und Wirz, zit. n. Büschel und Speich 2009: 13) einnehmen. Wie einleitend erwähnt gehe ich auf die Geschichte der Entwicklungszusammenarbeit im All­gemeinen bzw. die Beschäftigung mit und die Kritik an ihr innerhalb der Ethnologie nicht ver­tiefend ein, möchte hier aber eine Aussage von Lepenies diskutieren: Er beschreibt Entwick­lungszusammenarbeit als einen der letzten Orte des einseitigen Wissenstransfers von einem vermeintlich Wissenden zu vermeintlich weniger wissenden Subjekten - und plädiert aufgrund dieses immer noch existenten dualen Rollenverständnisses auch dafür, weiterhin den Begriff der „Entwicklungshilfe“ zu nutzen, da das in der aktuellen Rhetorik gebräuchlichere Wort „Entwicklungszusammenarbeit“ nach wie vor bestehende Machtstrukturen zwischen „Empfänger“ und „Geber“ verdecke (2009: 33, 34). Auch wenn mir diese Argumentation stichhaltig erscheint, ziehe ich in der vorliegenden Arbeit den Begriff der „Entwick­lungszusammenarbeit“ vor, weil erstens meine Informanten selbst diesen Begriff bzw. den Be­griff der „development cooperation“ auf das Projekt anwenden und weil zweitens das Wort „Hilfe“ meiner Meinung nach eine einseitige Passivität suggeriert, die ich in meinem Forschungskontext nicht beobachten konnte (vgl. Kap 5 und 7). Zudem muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass der Begriff der Entwicklung selbst, wie Macamo richtig anmerkt, bereits unkritisch impliziert, dass eine „Entwicklung“ nicht nur Ziel, sondern Schicksal aller Länder dieser Welt ist (2013a: 176). Er plädiert für eine Neudefinition des Wortes, die „Entwicklung“ als „highly idiosyncratic phenomenon that takes place within a political, economic and cultural context which countries share with one another“ begreift (Macamo 2013a: 190; für eine weit­erführende historische Aufschlüsselung des Entwicklungsbegriffs siehe Lepenies 2009).

Durch Sport sollte nun bereits im Kontext des Kolonialismus die „zivilisatorische Mission“ durchgeführt werden: Der Körper der Kolonisierten wurde dadurch „domestiziert“, dass heid­nische Reflexe, und das heißt einheimische kulturelle Praktiken, getilgt werden sollten (von Maltzan und Simo 2012: 13). Die „kolonialen Subjekte“ sollten durch Sporterziehung5 „wenigstens im Rahmen ihrer Möglichkeiten ,zivilisiert werden“ (Wachter 2002: 121; vgl. hierzu auch Mangan 1987: 138-172). Vermittelt wurden damals „viktorianisch-britische Werte“ wie die Unterordnung unter eine zentrale Autorität, Regelbefolgung und Teamgeist, von denen man glaubte, sie besser über Sport, und zwar insbesondere durch Fußball, als durch Bücher verankern zu können (Wachter 2002: 121). Fußball sollte zudem vor allem im Britis­chen Empire als pan-imperiales Bindeglied zwischen den verschiedenen „Rassen“ dienen (Wachter 2002: 121) - auf genau diese Unterschiede negierende Verbindungsmechanismen des Sports setzt die Entwicklungszusammenarbeit, wie ich oben gezeigt habe, heute noch immer, wenn auch freilich mit anderen Vorsätzen, was in der Ethnologie nicht selten in der Kritik re­sultiert, Sport homogenisiere „Kultur“ (Sands 2002: 7; vgl. Kap. 2.1.). Fußball im Besonderen hat jedoch gleichzeitig vor allem im afrikanischen Kontext gezeigt, wie Gruppen ihre Position durch Bewegungskulturen sichern, und zwar bereits während des Kolonialismus mit der Aneignung der Sportart durch die einheimischen Bevölkerungen (Giulianotti und Armstrong 2004: 17). Heute bietet Fußball eine symbolische oder auch faktische soziale Mobilität für Gruppen und Individuen, denen der Zugang zu Bereichen wie Arbeit oder Bildung erschwert wird (Giulianotti und Armstrong 2004: 17) - eine Annahme, die auch Amusa und Adeniran im Hinblick auf Sport allgemein teilen (2000: 101; 103-104) und der ich durch meine empirischen Daten im Verlauf dieser Arbeit beipflichten werde. Fußball wird heute etwa als Mediator in Konfliktregionen wie Ruanda und Burundi eingesetzt oder auch als therapeutische Maßnahme bei Kindersoldaten (Giulianotti und Armstrong 2004: 17). Dennoch ist es laut Giulianotti und Armstrong naiv, zu behaupten „that football is some kind of cross-cultural panacea that can incapacitate complex, embedded social conflicts“ (2004: 17).

Aufgrund des erwähnten Mangels an rein ethnologischen Ansätzen zum Thema ist an dieser Stelle ein kurzer Exkurs in die Sportsoziologie notwendig. Hier wird zwar das integrative und gemeinschaftsfördernde Potenzial von Sport sowie dessen intrinsische Fähigkeit, Werte zu vermitteln, betont, allerdings warnt man an vielen Stellen zugleich davor, Sport als „magisches Heilmittel“ zu betrachten (Young und Okada 2014: xvii) - ein gesunder Mittelweg zwischen Optimismus und Kritik sei die richtige Herangehensweise (Wilson 2014: 20). Coalter argu­mentiert, dass „SDP“-Projekten Skepsis hinsichtlich ihrer allumfassend positiven Wirkung und ihres Nutzens entgegengebracht werden sollte, und stellt die Frage, wer hier wirklich profitiert (Coalter 2013: 3,4). Er prägt den Term des „Sport Evangelism“ als Bezeichnung für die Ten­denz einiger Organisationen, Sport als Allheilmittel etwa gegen Armut, Krankheiten wie Aids oder Kriminalität zu betrachten (2013: 10; 13), und warnt davor, davon auszugehen, dass „de- prived communities“ automatisch Individuen hervorbringen, die sich durch Sport „entwickeln“ müssen (2013: o.A.). Weiter hinterfragt er Werte wie Selbstbewusstsein, die durch diese Sport­projekte gefördert werden sollen, und betont die Notwendigkeit, die individuellen Persön­lichkeiten, um die es geht, in den Fokus zu nehmen, da etwa diese selbstbewusstseinsfördernde Wirkung von Sport nicht generell angenommen werden und womöglich in einzelnen Fällen sogar eher negative als positive Auswirkungen auf die charakterliche Bildung von Kindern und Jugendlichen haben kann (Coalter 2013: 12, 13). Giulianotti nutzt ebenfalls den Term des „sport evangelism“ und rät davon ab, Sport als „inherently good“ zu betrachten (2012: 289). Er betont stattdessen die Relevanz des sozialen Kontextes, der Zwecke und Wege vorgibt, für die Sport genutzt und durch die dieser in die größere soziale Ordnung und in Machtgefüge einge­bettet wird (Giulianotti 2012: 289). „Sport-for-development-practice“ kann demnach auf lokaler Ebene unterstützend wirken, aber auch Stimmen unterdrücken oder Stereotype und Machtpositionen verstärken (Darnell 2014: 3, 11). In einer Untersuchung zu HIV/AIDS- Erziehung durch Sport in Sambia fordert Jeanes daher einen stärkeren Fokus der Programme darauf, wie erlangtes Wissen von Akteuren in konkrete Handlungen oder „agency“ umgesetzt werden kann (2013: 388). Auf der anderen Seite zeichnen Nicholson und Hoye nach, wie Sport die Bildung von individuellem sozialem Kapital fördern kann (2008: 2; vgl. hierzu auch Kap. 5), da besonders im Teamsport etwa soziale und politische Identitäten überwunden werden müssen, um sich, um siegreich zu sein, mit Menschen „unlike ourselves“ verbinden zu können (Putnam, zit.n. Nicholson und Hoye 2008: 2).

Ein eng verwandtes Thema, das in der ethnologischen Auseinandersetzung mit Entwick­lungszusammenarbeit noch weniger als der Einsatz von Sport an sich behandelt wurde, ist der bereits erwähnte pädagogische Ansatz der Sporterziehung, den auch das von mir erforschte Projekt NGUVU nach eigenem Selbstverständnis vertritt. Das Sportwissenschaftliche Lexikon 19 definiert Sportpädagogik zunächst als „(...) die übliche Bezeichnung für jenes Teilgebiet der Sportwissenschaft, in dem Sport im Zusammenhang von Bildung und Erziehung untersucht wird“ (zit. n. Prohl 2010: 9). Vertiefend versteht Prohl Sportpädagogik als historisch geprägten Begriff und als „Wissenschaft der Bildung und Erziehung im Rahmen der Bewegungskultur, in der sich problemgeschichtliche und gesellschaftliche Entwicklungen widerspiegeln“ (2010: 10). Prohl formuliert als Ziele des Lernens6 durch Sport, dass Erziehung hier „im Dienste be­wegungskultureller Bildung absichtlich unabsichtlich“ erfolgen und dass sie „qualitativ struk­turierte Prozesse der Bewegungserfahrung“ ermöglichen und Schlüsselqualifikationen des zu Erziehenden so unterstützen sollte, dass sich ein „individuell stimmiger demokratischer Habi­tus herauszubilden vermag“ (2010: 355). Im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit ist man etwa beim BMZ der Meinung, dass Sporterziehung die Lernfähigkeit bzw. geistige und motorische Entwicklung verbessert (2015:11) und dass „über Sport Bildungsthemen wie Umwelt, Kinderrechte oder die Gleichberechtigung der Geschlechter erfahrbar gemacht wer­den“ (2015:11) können, es jedoch in vielen Ländern keine geeigneten Sportangebote an den Bildungseinrichtungen gibt (2015: 11). Die Ethnologen Blanchard und Cheska definieren „physical education“ als etwas, das sich in der einen oder anderen Form in allen Gesellschaften wiederfinden lässt (1985: 59). Darüber hinaus ist diese Form der Erziehung immer normativ - Teilnehmer folgen einem vorgeschriebenen „regimen or enculturation“, die jemand anderes als wichtig für das individuelle bzw. gesellschaftliche Wohlbefinden erachtet (Blanchard und Cheska 1985: 59). Sporttrainer oder -erzieher müssten sich hierbei diesen Normen nicht unbedingt unterwerfen - denn auch wenn sie die normativen und kulturellen Konsequenzen ihrer Aktivitäten ignorieren, handelt es sich dabei immer noch um „physical education“ (Blanchard und Cheska 1985: 59). Doch indem Trainer die gesellschaftlichen Hin­tergründe ihrer Teilnehmer beachten und Aktivitäten entwickeln, die diesen entsprechen, kön­nen die jeweiligen Ziele der Sporterziehung laut Blanchard und Cheska effektiver erreicht werden (1985: 59). Einen anderen Aspekt der Kollision verschiedener kultureller Konzepte in der Sporterziehung spricht Sportwissenschaftler Wrogemann in seiner Forschung zu Sport und traditioneller Bewegungskultur der Aborigines im westlich geprägten Schulsystem Australiens an, indem er betont, dass sich unterschiedliche Konzepte, etwa hinsichtlich des Leistungs- gedankens, taktischen Verhaltens, Autoritätsanerkennung oder Zeit nicht ohne Weiteres aufeinander übertragen lassen (2000: 50-53; 71-73). Im Sportunterricht werde hier kaum auf das spezifische Lernverhalten der Aborigines eingegangen, was aber für eine optimale Förderung essenziell wäre (Wrogemann 2000: 226). Er plädiert daher für eine „kultursensible“ Ausbildung der Lehrkräfte, die Kenntnis und Verständnis der Vorstellungen dieser Gruppe vermitteln soll (2000: 222-223). Nur unter diesen Umständen hätte Sporterziehung die ihr zugeschriebene positive Wirkung, etwa im Hinblick auf Identitätsbildung, Gesundheits­förderung oder Integration7 (Wrogemann 2000: 222-227).

Ähnliche Bedenken äußert die Sportsoziologin Keim, die das Konzept der fünf deutschsprachigen Schulen in Südafrika, die sich allen Bevölkerungsgruppen öffnen, und deren Integrationspotenzial im Sport sowie Fälle verschiedener sozialer Hintergründe und fehlgeschlagener sportlicher Integration untersucht (2003: 47-163). Sie vertritt die These, dass, wo andere Ansätze versagen, Sport in der Erziehung als Vehikel für soziale Interaktion und Integration in einer multiethnischen Gesellschaft sowie dem Abbau von Barrieren dienen kann (2003: 13; 175; 183-187; 208). Dennoch betont sie auch, dass Sport diese Wirkung nur haben kann, wenn bestimmte Rahmenbedingungen erfüllt sind, und nennt als zentrale Faktoren, die die integrative Funktion von Sport hemmen, fehlende Infrastruktur, unterschiedliche mo­torische und intellektuelle Fähigkeiten von Projektteilnehmern, organisatorische Versäumnisse, Rassismus und Vorurteile, Versagensängste oder fehlende Aufmerksamkeit vonseiten der Poli­tik (Keim 2003: 187, 188). Nur wenn diese Hindernisse überwunden werden und die ver­schiedenen Arten, Sport durchzuführen, bzw. unterschiedliche Vorlieben bei den diversen eth­nischen Gruppen sowie „socio-anthropological factors“ wie Religion oder Sprache von den Lehrern und Trainern berücksichtigt werden, schreibt Keim Sporterziehung die erwähnten pos­itiven Effekte zu (2003: 204).

Ein Beispiel für ein aktuelles Projekt, das sich ebenfalls mittels Fußball eines sportpädagogis­chen Ansatzes bedient, ist die oben erwähnte, 1987 von einem Kanadier gegründete MYSA, die größte Jugendorganisation Afrikas im kenianischen Slum Mathare bei Nairobi (Hognestad und Tollisen 2004: 211). MYSA weist, obschon ungleich größer als NGUVU, viele Parallelen zum diesem Projekt auf: Es gibt eine Straßenfußballliga, einen „Fair Play Code“ und einen starken Fokus auf Disziplin in einem sonst eher „anarchischen“ Umfeld (Hognestad und Tol- lisen 2004: 212; 215)8. Vor dem Hintergrund, dass NGUVU-Projektgründer Firlej selbst fünf Monate lang als freiwilliger Trainer für MYSA gearbeitet hat, verwundern diese Parallelen wenig (Firlej 2017: per. Gespräch). Er kritisierte an MYSA den immer stärker werdenden Fokus auf Talentsuche, der ihn letztlich dazu veranlasst hat, das Projekt zu verlassen (Firlej 2017: per. Gespräch). Hognestad und Tollisen stellen hingegen in ihrer Forschung (die einzige mir bekannte in diesem Themenkomplex, die sich teilweise ethnologischer Methoden bedi­ente) bei MYSA resümierend fest, dass das Projekt als Erfolg zu werten ist, weil sich das Pro­gramm trotz Abhängigkeit von westlichen Akteuren auf lokale Partizipation und Verwaltung stützt und so in einem Umfeld, das von ethnisch sehr diversen Gruppen und schwersten Ent­behrungen geprägt ist, eine „foundation for improving material conditions and [...] a new Mathare identity charged with an improved sense of self-esteem“ geschaffen hat (2004: 223, 224).

Nachdem ich umrissen habe, wie und warum Sport(-erziehung) in der Entwicklungszusamme­narbeit eingesetzt wird, beleuchte ich im folgenden Teilkapitel Konzepte, die hierbei vermittelt werden sollen, indem ich mich beispielhaft mit Wertvorstellungen im Allgemeinen und ihrer Vermittlung im (sport-)erzieherischen Kontext im Besonderen in den beiden Gesellschaften auseinandersetze, die im von mir untersuchten Projekt aufeinandertreffen. Dabei wird der Schwerpunkt auf Kenia liegen.

2.3. Zentrale Werte und ihre (sport-)erzieherische Vermittlung im kenianischen und deutschen Kontext

Sport existiert nicht in einem wertneutralen sozialen, politischen oder ökonomischen Kontext (Jarvie, Thornton und Mackie 2017: o.A.). Deshalb erachte ich es als eine zentrale Aufgabe, an dieser Stelle im Hinblick auf meine Fragestellung Wertvorstellungen9 im sozialen und beson­ders erzieherischen Kontext der beiden Länder zu beleuchten, die in meiner Forschung durch das Projekt in Berührung kommen. Die Betrachtung des kenianischen Kontextes fällt als lokaler Rahmen des von mir beforschten Projekts dabei ausführlicher aus.

Zunächst beginne ich hierfür mit einigen Worten zum erzieherischen Kontext Kenias im All­gemeinen. Die staatlichen Schulen in Kenia sind unterfinanziert und schlecht ausgestattet (Neubert 2009: 24). Weiterführende Schulen gab es in vielen Landesteilen gar nicht, bis die Lücke von einem Privatschulsektor geschlossen wurde, der jedoch die Ungleichheit im Land zementiert (Neubert 2009: 24). Für wohlhabendere Schichten existieren unterschiedliche Pri­vatschulangebote, während finanziell benachteiligte Familien ihre Kinder nur auf staatliche Schulen oder Schulen, die mehr oder minder in Selbsthilfe betrieben werden, aber immer noch für Viele zu teuer sind, schicken können (Neubert 2009: 24). Theoretisch sind die Schulge­bühren in Kenia für die Grundschulen (Primary Schools) abgeschafft, praktisch müssen Fami­lien für Bücher, Uniformen und Registrierungs- bzw. Examensgebühren aufkommen, sodass pro Jahr pro Kind durchschnittlich Kosten von umgerechnet rund 90 US-Dollar entstehen - eine gewaltige Summe für die Mehrheit der kenianischen Familien, die von weniger als einem US-Dollar am Tag leben (Cantwell 2007: 15).

Das kenianische System folgt dem Muster 8-4-4, d.h. acht Jahre Primary School, vier Jahre Secondary School und vier Jahre College oder Universität (vgl. zum kenianischen Schulsystem im Detail Cantwell 2007 15-21). Das kenianische „Ministry of Education, Science and Tech­nology“ gibt an, dass 2012 95,7 Prozent aller Kinder der entsprechenden Altersgruppe zur Primary School gingen, allerdings schlossen nur 75 bis 80 Prozent diese auch ab (Unicef 2014: xx). 72 Prozent der kenianischen Schüler konnten 2010 eine weiterführende Schule besuchen (Unicef 2014: 149). Allgemein betrachtet folgt Kenia jedoch dem generellen Trend im subsa- harischen Afrika, demzufolge die Zahl der Schulabschlüsse und das „educational level“ in den letzten zwanzig Jahren gestiegen sind (Majgaard und Mingat 2012: 1).

Speziell die schulische Sporterziehung in den Blick nehmend unterscheidet der kenianische Erziehungswissenschaftler Shehu im kenianischen und allgemein subsaharischen Erziehungskontext das Modell der Sporterziehung von dem der traditionellen „physical educa- tion“ (Shehu 1998: 227)10. Er plädiert für eine Eingliederung von Sporterziehung in „physical education“, statt das eine durch das andere zu ersetzen (Shehu 1998: 231), denn „physical edu­cation must develop its essence from a societal fund of cultural values. In other words, the programme must be based on the awareness of a socio-cultural hierarchy of values and ideals and their internal inadequacies or contradictions“ (Shehu 1998: 230). Als Agenda der tradi­tionellen „physical education“ nennt er das Verbessern von Gesundheit und allgemeinem Wohlbefinden, kritischem Denken und sozialer Interaktion, Lebensqualität und das Ausbilden einer gesunden, wissbegierigen und sozialen Jugend (Shehu 1998: 230). Er kritisiert an der Entwicklung hin zur Sporterziehung die Verschiebung „from physicologic (i.e. a logic based on physical education), organised around the subject matter of human movement in various forms, to a sportologic (i.e. a logical organisation of sport activities), whose primary concern is competitive events“ (Shehu 1998: 228). Die einzigen Schüler, die hiervon profitieren, seien „competitive ones“ - diejenigen ohne diese Eigenschaft könnten nicht mithalten (Shehu 1998: 232). Daher sei diese Art der Sporterziehung in Shehus Verständnis unter Umständen „more impersonal and alienating given its emphasis on group contest systems“ (Shehu 1938: 232). Er hebt seine Überlegungen in einem nächsten Schritt auf eine soziopolitische Ebene und kri­tisiert die Annahme, Sporterziehung diene der „evolution of culture“ - vielmehr sei sie ein ide­ologischer Apparat für die Reproduktion eines „competitive capitalism in the playground“ (Shehu 1998: 232):

„The model is based on what one could call the competition postulate, that is, a non-em- pirical a priori principle that, given the prevailing market ideology, that is, the competi­tive ethos of Western society, it is reasonable to assume that the cultural evolution of hu­mankind may be quickened if more and more people participate in sport. Thus physical education is to be treated like the market where students individually or collectively seek to maximise utilities and where athletic interests are strategised and promoted just like economic interests amidst intense competition.“ (Shehu 1998: 232)

Somit adaptiere Sporterziehung die vorherrschende politische Praxis des Westens und wolle „physical education“ in diesem Zusammenhang reinterpretieren (Shehu 1998: 232). Das Konzept ignoriere freies, spontanes und individuelles Spielen oder auch das Recht, gar nicht an einem Team oder Wettbewerb zu partizipieren - nur weil die Sporterziehung davon ausgehe, Sport sei wichtig, werde die gleiche Annahme nun auch von Schülern in Afrika erwartet (She- hu 1998: 232). Weiter werde ausgeschlossen, wer keine „skills“ im Sport besitzt oder keinen „athletic value“ bietet (Shehu 1998: 232). In vielen Schulen des subsaharischen Afrikas ist das Hauptziel des Sportunterrichts im Sinne der traditionellen „physical education“ gesundheits­und spaßbezogen und umfasst „dance, calisthenics, self-testing activities, dance drama, stunts, 24 games and sport of low organisation“ (Shehu 1998: 233). Wettbewerb ist nur minimal vorhan­den, weil im Sportunterricht „recreation and revitalisation“ im Vordergrund steht11 - deshalb sind kompetitive Sportarten auch nicht Teil des Lehrplans und finden nur im Rahmen von in­ner- oder intraschulischen Wettbewerben statt (Shehu 1998: 233). Im „African prototype“ ist eine Sportstunde laut Shehu ein „moment of universality, the acting out of larger instructional units or movement tasks“ (1998: 234). „Sport education“ sei ein Kind des industriellen Kapi­talismus, die Reproduktion einer Gesellschaft, die eigentlich ein Markt ist (Shehu 1998: 234). Genau davon sei Afrika weit entfernt, da die meisten Gesellschaften hier nach wie vor „com- munal“ seien - und es seien die Bedürfnisse ebendieser Gemeinschaft, die die Haltungen von Schülern und Lehrern zum Sportunterricht formen (Shehu 1998: 234). „The western model did not recognize/respect the African traditions of collective association, social interaction and group values, but rather focused on individual achievement“ (Burnett van Tonder, zit. n. Amusa 2010: 6) - daher halten viele afrikanische Gesellschaften das westliche Sporterziehungsmodell schlicht für nicht relevant (Amusa 2010: 6). Heute enthält Sporterziehung laut Amusa nichts mehr, das „uniquely African“ ist (2010: 8,10)12.

NGUVU-Gründer Firlej berichtete in mehreren Gesprächen, dass der Schulsport in Kenia einen geringeren Stellenwert habe als etwa in Deutschland, wo, wie ich ebenfalls aus eigener Erfahrung berichten kann, Kindern bereits in der Grundschule Schwimmen und verschiedene Ballsportarten beigebracht werden und etwa im Gymnasium das Unterrichtsfach Sport - in der Regel mehrstündig unterrichtet - fester Bestandteil des Stundenplans ist und von Rhythmischer Sportgymnastik über Leichtathletik bis hin zu Basketball ein breites Spektrum an Sportarten absolviert und auch benotet wird. Firlej betonte entgegen Shehus Aussagen immer wieder, dass Sport allgemein in kenianischen Schulen kaum eine Rolle spiele und die Kinder sich viel zu wenig bewegen (2017/2018: per. Gespräche). NGUVU-Trainer Owuor erzählte mir in einem Gespräch, dass der Sportunterricht häufig ausfiele, um andere Fächer zu wiederholen, in denen viele Kinder Probleme hätten (2018: per. Gespräch). Wenn Sport gemacht werde - immer un- benotet - dann meist solcher, der auf physische Fitness abzielt, wie beispielsweise Dauerlauf (Owuor 2018: per. Gespräch). Verschiedene Lehrer aus sechs Primary Schools, die ich inter­viewte, erzählten jedoch, dass durchaus auch etwa Fußball gespielt oder getanzt werde. Alle interviewten Kinder aus der NGUVU-Auswahlmannschaft waren sich aber zugleich einig, dass sie Sport in der Form, wie sie ihn im Projekt durchführen, aus der Schule nicht kannten, auch wenn einige angaben, manchmal Fußball zu spielen oder zu laufen. Hier zeigt sich also bereits, was ich im ethnographischen Teil der Arbeit näher beschreiben werde: Das Projekt bi­etet eine Art der Sporterziehung, die im pädagogischen Diskurs Kenias teilweise kritisch gese­hen wird und die die Teilnehmer aus ihrem sonstigen schulischen Kontext nicht kennen oder gewöhnt sind - geschweige denn in Kombination mit Wertvorstellungen, die über dieses Konzept vermittelt werden sollen.

Von diesen Feststellungen zur (Sport-)Erziehung ausgehend, beleuchte ich nachfolgend einige Werte, die in der ethnologischen, soziologischen und pädagogischen Literatur für das kenianis­chen Selbstverständnis als prägend genannt werden. In Kenia, wie im restlichen Afrika, lässt sich laut Gyekye Religiöses nicht vom Nichtreligiösen, Sakrales nicht vom Säkularen und Spirituelles nicht vom Materiellen trennen, da Religion alle Bereiche des Lebens durchdringt (zit. n. Getui 2008: 122). In Mbitis Worten: „Religion permeates into all departments of life so fully that it is not easy or possible to isolate it“ (zit. n. Getui 2008: 123). Kaviti spricht von einer Philosophie des religiösen Respekts füreinander (2011: 97). Die Mehrheit der Menschen in Kenia sind Christen (Getui 2008: 120). Konfessionell betrachtet gibt es mehr Protestanten als Katholiken, gemeinsam machen sie jedoch etwa knapp 70 Prozent der Bevölkerung aus (Hognestad und Tollisen 2003: 226). Getui betont den Wert, der in Kenia darauf gelegt wird „a good person“ zu sein (2008: 126). Was ein guter Mensch ist, definiert sich hierbei fast auss­chließlich aus der Religion, deren Wertekanon13 Anleitung für moralische Verpflichtungen, Sanktionen und Verantwortung in der Gemeinschaft bietet (Getui 2008: 126). Die ersten Worte der Präambel der kenianischen Verfassung lauten „We the people of Kenya ACKNOWLEDG­ING the supremacy of the Almighty God of all creation“, auch wenn in Artikel 8 festgelegt wird, dass Kenia keine Staatsreligion hat (Golan 2015: 25, 26). Darüber hinaus definiert die Präambel „pride in diversity and commitment to national unity, respectful of the environment, nurturing the well-being of the individual, family, community, nation, and government based on essential values of human rights, equality, freedom, democracy, social justice and the rule of law“ als nationale Werte (Pal Ghai 2015: 4). Eine Vermittlung dieser „civic values“ (Otiende und Oanda 2000: 212) findet im schulischen Rahmen jedoch laut Otiende und Oanda kaum statt: „Social Studies“, das einzige Fach im Lehrplan, das das Potenzial dafür hätte, dreht sich hauptsächlich um Faktenwissen über das politische System, welches den Schülern durch veraltete Lehrbücher und Frontalunterricht beigebracht wird (2000: 210-213). Owuor erzählte mir jedoch in einem persönlichen Gespräch, dass mittlerweile im Fach „Social Studies“ in der Primary School durchaus auch Menschen- und Kinderrechte, Geschichte und die verschiedenen ethnischen Gruppen behandelt werden (2018b: per. Gespräch). Zusätzlich existiert das Fach „Christian Religious Education“, das sich laut Owuor aber eher auf Bibelkunde konzentriert (2018b: per. Gespräch).

Weiter beschreibt Ocobock etwa Disziplin als einen Wert, der in Kenia bereits durch Staats­gründer Kenyatta als etwas charakterisiert wurde, das allen jungen Menschen von Natur aus fehlt und was sie daher durch konstant harte Arbeit, Selbstkontrolle und Gehorsam gegenüber den Älteren lernen müssen (2017: 244). In Kap. 7 werde ich zeigen, dass dieser Wert auch für all meine Informanten eine herausragende Rolle spielt. Gyekye unterstreicht weiter und eben­falls im Einklang mit den Aussagen vieler meiner Informanten (vgl. Kap. 7) die Relevanz gemeinschaftlicher Werte für das Individuum (zit. n. Getui 2008: 127), denn „whatever hap­pens to the individual happens to the whole group and whatever happens to the whole group happens to the individual“ (Mbiti, zit. n. Getui 2008: 127), wobei Getui Gemeinschaft hier als eine Gruppe von Menschen sieht, die einen „overall way of life“ teilen (Getui 2008: 127). Auch Kaviti betont mit Blick auf Kenia, dass afrikanische Gesellschaften „heavily socialist and humanistic in nature“ und von „communalism“ statt „individualism“ geleitet sind, da sie das Individuum immer in einem gemeinschaftlichen Zusammenhang betrachten (2011: 97). Folglich habe das Individuum neben Rechten vor allem Pflichten gegenüber dieser Gemein­schaft - sei es in der Familie oder Gemeinde (Kaviti 2011: 98). Dennoch schreibt Gyekye dem Individuum eine gewisse Stellung in der kenianischen Identität zu, die vor allem mit Eigenver­antwortung bzw. -initiative und Eigenständigkeit einhergeht (zit. n. Getui 2008: 124).

[...]


1 Ich werde die Begriffe „Sportpädagogik“ und „Sporterziehung“ in der vorliegenden Arbeit synonym benutzen, da sie auch von meinen Informanten so verwendet wurden und ein Großteil der von mir konsultierten (englischsprachigen) Literatur hier ebenfalls keine verbindliche Unterscheidung trifft. Lediglich Sportwissenschaftler Prohl weist darauf hin, dass Sportpädagogik eine Subdisziplin der Sportwissenschaft ist, während Sporterziehung die praktische Ausführung ihres Studiensubjekts darstellt (vgl. Kap. 2.2.).

2 Eine knappe Diskussion dieses Begriffs findet sich in Kap. 2.2., für eine historisch perspektivierte Definition siehe Büschel und Speich 2009, zur Abgrenzung von „humanitärer Hilfe“ und „charity“ vgl. die Beiträge in Everill und Kaplan 2013 bzw. Fassin 2012.

3 Ich werde zugunsten einer besseren Lesbarkeit in der gesamten Arbeit dort auf eine Genderdifferen­zierung verzichten, wo sie inhaltlich nicht erforderlich ist.

4 Eine umfassende Diskussion des Kolonialismus- bzw. Kolonialisierungsbegriffs kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Ich verstehe die Konzepte hier im Sinne der fachgeschichtlichen Reflexionen und theoretischen Perspektiven, die Watts aufzeigt (1997: 69-72).

5 Vgl. zur Geschichte von Sport und Erziehung allgemein Gigliola und Terret 2005.

6 Eberspächer definiert Lernen als „den Erwerb relativ überdauernder Erfahrungen, die Verhalten und Verhaltensmöglichkeiten verändern. Dies kann unabsichtlich (inzidentelles Lernen) und absichtlich (intentionales Lernen) ablaufen. Man lernt beispielsweise motorisch, sozial, kognitiv und emotional“ (zit.n. Wrogemann 2000: 58, vgl. zu verschiedenen Lerntypen wie Lernen durch Imitation oder sukzessive Annäherung Wrogemann 2000: 58-61).

7 Vgl. für eine allgemein sozialwissenschaftliche Definition des Begriffs „Integration“ Münch 2001: 7591-7596.

8 Eine detaillierte ethnographische Beschreibung von MYSA findet sich bei Hognestad und Tollisen 2004: 211-216; zur Effektivität der HIV-Prävention durch das Projekt vgl. die Studie von Delva und anderen 2010.

9 Ich verstehe den Wertbegriff hier nach Kluckhohn et al. als „Begriff vom Wünschenswerten, explizit oder implizit, bezeichnend für ein Individuum oder charakteristisch für eine Gruppe. Er beeinflusst die Auswahl der verfügbaren Arten, Mittel und Ziele des Handelns“ (1963: 331). Diese Werte mani­festieren sich in Ideen, Symbolen und Normen, die „in unseren verhaltensmäßigen Regelmäßigkeiten evident werden“ (Kluckhohn, 1963: 329).

10 Für einen kurzen geschichtlichen Überblick über schulische Sporterziehung in Afrika siehe Amusa 2010; Mafela und Mgadla 2000: 1-10 zum historischen Kontext von Erziehung in „British Colonial Africa“; für eine sowohl prä- als auch postkoloniale historische Perspektive auf Erziehung in Kenia im Allgemeinen vgl. Hall 1973: 57-121 sowie Närman 1995: 157-181; auf „physical education“ im gle­ichen Zeitraum, die hier präkolonial hauptsächlich als Vermittlung von Nahrungsbeschaffungstech­niken durch Jagen oder Fischen bzw. im Bereich der Weitergabe traditioneller Tänze betrachtet wird, siehe ebenfalls Hall 1973: 151-201 und zu traditionellem Sport und Spielen in Ostafrika Wanderi 1999.

11 Halls Ausführungen belegen, dass eine derartige Interpretation des Sportunterrichts bereits kurz nach der Unabhängigkeit Kenias vorherrschte; dies habe teilweise dazu geführt, dass dieser nicht ernst genommen oder als notwendiges „Übel“ aufgefasst wurde (1973: 151-157).

12 An dieser Stelle sei mit Macamo angemerkt, dass „der Begriff Afrika zunächst einmal eine intellek­tuelle Kategorie [ist], die unter bestimmten historischen Umständen konzeptuell erfaßt wurde“ (1999: 19). Macamo behauptet weiter, dass „Afrika“ ein „Produkt der Moderne“ ist (1999: 215) und es vor dieser intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Begriff keine selbsterfasste bzw. im ethnologischen Sinn emische Identität der Afrikaner gab (1999: 19). Eine genauere Analyse dieser Behauptung lässt sich im Rahmen dieser Arbeit nicht durchführen, allerdings sollten Macamos Thesen hier und auch im Hinblick auf die Analyse der Konstruktionen europäischer und afrikanischer Identität in Kap. 6.1. nicht unerwähnt bleiben.

13 Vgl. zum christlichen Wertekanon im afrikanischen Kontext Musopole 1994.

Excerpt out of 119 pages

Details

Title
Sport und Wertevermittlung am Beispiel des Projekts NGUVU Edu Sport e.V. in Kenia. „He keeps the children safe“
College
University of Frankfurt (Main)
Grade
1,0
Author
Year
2018
Pages
119
Catalog Number
V1130193
ISBN (eBook)
9783346493699
ISBN (Book)
9783346493705
Language
German
Keywords
Sport, Werte, Ethnologie, Kenia, Ostafrika, Grassroots, NGO, Entwicklungshilfe, Anthropology of Development, Entwicklungsethnologie, Jugendarbeit
Quote paper
Katharina Wilhelm (Author), 2018, Sport und Wertevermittlung am Beispiel des Projekts NGUVU Edu Sport e.V. in Kenia. „He keeps the children safe“, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1130193

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