Leseprobe
I NHALTSVERZEICHNIS
Einleitung
1 Schulabsentismus
1.1 Erscheinungsformen von Schulabsentismus
1.2 Entstehungskontexte des Fernbleibens
1.3 Einflussfaktoren für schulabsentes Verhalten
1.3.1 Biologische Faktoren
1.3.2 Familie
1.3.3 Peers
1.3.4 Schule
1.4 Folgen
2 Soziale Arbeit an Schulen
2.1 Merkmale und Aufträge von Schulsozialarbeit
2.2 Aufgaben und Ziele sozialpädagogischer Fachkräfte
2.3 Differierende Trägermodelle
2.4 Rahmenbedingungen
3 Chancen und Grenzen sozialer Arbeit an Schulen
3.1 Organisatorische Kooperation
3.1.1 Vermittlung zwischen Institutionen
3.1.2 Vernetzung mit kommunalen Vereinen
3.2 Operative Kooperation
3.2.1 Handlungsplanung mit Lehrkräften
3.2.2 Beratung und Begleitung von Heranwachsenden
3.2.2.1 Einzelfallarbeit mit Heranwachsenden
3.2.2.2 Eltern als Ressource
3.2.2.3 Gruppenangebote für Peers
Fazit
Literaturverzeichnis
A BKÜRZUNGSVERZEICHNIS
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
EINLEITUNG
Viele Kinder können es zu ihrer Einschulung kaum erwarten Lesen und Schreiben zu lernen sowie in der Schule neue Freundschaften zu schließen. Grundsätzlich ist der Eigenantrieb durch die „motivierende Vorarbeit“ der Eltern und Verwandten hoch, denn es eröffnet sich eine neue aufregende Lebenswelt, welche die Kinder dazu einladen soll, sich Wissen anzueignen.
Ist die Motivation zum Schulbeginn groß, lässt diese im Laufe der Schuljahre jedoch nach. Die Schülerinnen und Schüler sehen sich konfrontiert mit einer Wissensflut aus diversen Fächern, die anhand eines starren Stundenplans systematisch abgearbeitet werden. Mit dem steigenden Leistungsdruck von Seiten der Schule, den individuellen Unterstützungsmöglichkeiten der Eltern sowie der Vergleiche mit den Mitschülerinnen und Mitschülern können sich Umstände ergeben, welche nur schwer für die Heranwachsenden zu bewältigen sind. Schulische, familiäre oder individuelle Faktoren können dazu beitragen, dass Heranwachsende den Unterricht verweigern oder gar ganz fernbleiben. Wird die Schule nicht mehr als positiver Lern- und Erfahrungsort von den Heranwachsenden wahrgenommen, lassen sich die negativen Auswirkungen von Schulabsentismus hinsichtlich der Schulkarriere und dem weiteren Werdegang nur erahnen.
Das Phänomen „Schulabsentismus“ ist in seinen unterschiedlichen Ausprägungen gegenwärtiges Thema an Schulen und stellt die Lehrkräfte, Eltern als auch Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter vor enorme Herausforderungen. Im Schulalltag sind sozialpädagogische Fachkräfte eine wichtige Anlaufstelle bei Problemen. Bei der Bearbeitung von Problemen greifen diese auf vielseitige Methoden zurück und arbeiten direkt mit Lehrenden, Heranwachsenden, ihren Eltern und anderen Kooperationspartnern zusammen. Die Aktivierung und Reintegration von schulvermeidenden Heranwachsenden zählen zu den komplexen Aufgaben der pädagogischen Fachkräfte. Sie sind oftmals die festen Bezugspersonen und unterstützen bei der Entwicklung sozialer Kompetenzen.
Die folgende Arbeit setzt sich mit der Reintegration von Schülerinnen und Schülern bei Schulabsentismus auseinander. Es ergibt sich hieraus die zentrale Frage:
Welche Chancen und Grenzen bestehen für die Soziale Arbeit an Schulen bei der Reintegration schulabsenter Heranwachsender?
Von der zentralen Fragestellung ausgehend, ergibt sich folgender Aufbau:
Das erste Kapitel fokussiert den Themenbereich „Schulabsentismus“. Um ein einheitliches Verständnis zu schaffen, wird vorab der Begriff des Schulabsentismus definiert. Weiterhin befasst sich das Kapitel mit den verschiedenen Erscheinungsformen dieses Phänomens, damit ein ganzheitlicher Überblick ermöglicht werden kann. Darauf aufbauend, geben die Entstehungskontexte einen tieferen Einblick in unterschiedliche Faktoren. Es erfolgt eine Unterscheidung hinsichtlich individueller und familiärer Entstehungsbedingungen sowie schulischer und peer-bezogener Zusammenhänge. Abschließend werden mögliche individuelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen von Schulabsentismus aufgezeigt.
Das zweite Kapitel konzentriert sich auf das Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit an Schulen. Zu Beginn wird die Soziale Arbeit unter Herleitung ausgewählter Theorien als Ganzes beschrieben. Darauf aufbauend wird schulische Sozialarbeit nach Merkmalen und Aufgaben aufgeschlüsselt. Es werden Bezüge zu unterschiedlichen Rahmenbedingungen der Sozialen Arbeit an Schulen hergestellt und die Auswirkungen beschrieben, welche durch bestehende Differenzen hervorgebracht werden.
Das dritte Kapitel befasst sich mit Inhalten der Kooperationen. Anfänglich erfolgt hierzu eine nähere Begriffsbestimmung. Im Anschluss wird Kooperation auf organisatorischer und operativer Ebene hinsichtlich des Zugewinns für Kinder und Jugendliche untersucht. Dazu werden Chancen und Grenzen von Sozialer Arbeit an Schulen aufgezeigt als auch praktische Handlungsmöglichkeiten für die pädagogischen Fachkräfte herausgearbeitet.
Das Fazit fasst die Erkenntnisse der einzelnen Kapitel zusammen, dem einher geht die Beantwortung der zentralen Frage.
1 SCHULABSENTISMUS
Der Begriff des Schulabsentismus ist ein gegenwärtiges Thema im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs, da ein Fernbleiben vom Unterricht für Heranwachsende negative Auswirkungen für die Aneignung von Wissen haben kann und darauf aufbauend eine Vermittlung in den Arbeitsmarkt erschwert wird. In Deutschland gilt zur Wahrung, der zu erwerbenden Kenntnisse, die allgemeine Schulpflicht, weshalb die Bedeutung und Relevanz vom Begriff „Schulabsentismus“ eng an rechtliche Normen gebunden ist (vgl. SÄLZER 2010: 14).
Unter Absentismus sind wiederholte Fehlzeiten durch Abwesenheit zu verstehen, die nicht durch medizinische Gründe oder chronische Erkrankungen erklärbar sind. Absentismus ist dabei abhängig von Motivationsfaktoren, welche sich in der Zufriedenheit, dem Vorhandensein von inneren und äußeren Konflikten oder interfamiliären Problemen darstellen (vgl. MEINEL: 2018). Auf die Wahrnehmung der allgemeinen Schulpflicht bezogen, lässt sich Absentismus als ein unrechtmäßiges Versäumen von Unterricht verstehen. Es bildet sich ein komplexes Phänomen mit diversen Einflussfaktoren auf sozialer, familiärer, schulischer und individueller Ebene ab (vgl. PSCHYREM- BEL REDAKTION: 2016).
Schulabsentismus tritt in allen Schulen sowie Schulformen auf und lässt sich nicht über das Geschlecht zuweisen. Schülerinnen und Schüler neigen gleichermaßen zu schulabsenten Verhalten aufweisen, wobei männliche Schüler eher zu chronischen; und weibliche Schüler eher zu gelegentlichen schulabsenten Verhalten neigen. Unabhängig vom Geschlecht besteht ein Zusammenhang zwischen der Wahrscheinlichkeit und der Häufigkeit von Fehlzeiten. Die Häufigkeit des Auftretens wächst mit gesammelter Erfahrung und damit einhergehend mit steigenden Jahrgang. Die Fehlzeiten wachsen im 5. Jahrgang an und erreichen im 9. Jahrgang ihren Höchstwert. Auch die Schulform gibt Aufschluss über die relative Häufigkeit des Fehlens. So weisen Schulformen mit einem geringeren Anspruch im Vergleich zu Schulformen mit einem höheren Anspruch öfter Fehlzeiten von Heranwachsenden auf. Hinsichtlich der Fehlzeiten sind einzelne Schulversäumnisse vom möglichen chronischen bzw. manifestierten Schulabsentismus abzugrenzen. Schulversäumnisse lassen sich auf legitime Gründe zurückführen, wie etwa im Falle von Krankheiten oder nachvollziehbaren Beurlaubungen. Es ergibt sich hieraus eine Anwesenheitsquote von etwa 96 %. Allerdings liegt die tatsächliche Anwesenheitsquote zwischen 88 - 90 %. Die Differenz von 4 - 5 % begründet sich im gewollten Schulabsentismus, welcher zudem auf die Aktualität und Wichtigkeit des Themas hinweist, da Versäumnisse mit einer negativen schulischen Lern- und Leistungsperformanz einhergehen sowie die Entwicklung von sozialer Kompetenz erschweren (vgl. ALBERS und RICKING 2018: 17f.).
1.1 ERSCHEINUNGSFORMEN VON SCHULABSENTISMUS
In der Alltagssprache und den allgemeinen Informationsmedien wird der Begriff mit unterschiedlichen Bezeichnungen synonym verwendet. Ohne den jeweiligen Kontext zu berücksichtigen, wird die Vernachlässigung der gesetzlichen Schulpflicht mit ähnlichen Begriffen beschrieben oder gleichgesetzt. Um dem Gesamtphänomen in seiner Breite gerecht werden zu können, ist eine Klärung zu den verschiedenen Bezeichnungen notwendig. In der Fachdiskussion bildet der Begriff „Schulabsentismus“ den Oberbegriff zu verschiedenen Formen, welche sich untergliedern sich in:
- Schulschwänzen
- Schulverweigerung
- Schulentzug durch Eltern
Diese Formen schulvermeidender Verhaltensmuster lassen sich nach ihren unterschiedlichen Bedingungskonstellationen unterscheiden, wodurch Mischformen jedoch nicht auszuschließen sind. (vgl. Sälzer 2010, S. 14ff.). Die Begriffsdefinitionen bilden die Grundlage für eine differenzierbare professionelle Soziale Arbeit, weshalb sich der weitere Teil der Arbeit mit der Unterscheidung der Erscheinungsformen schulabsenten Verhaltens auseinandersetzt.
Beim Schulschwänzen handelt es sich nach dem medizinischen Diagnoseschlüssel, um eine Verhaltensstörung, die sich nach aggressiven oder dissozialen andauernden Sozialverhalten unterscheidet. Diese Verhaltensmuster verbindet dennoch eine gemeinsame Grundlage und zwar der des bedingten Vorhandenseins sozialer Bindung. Ist die Soziale Bindung unzureichend herausgebildet, zeigt diese sich auf durch abweichende Verhaltensmuster und einer bedingten Anpassungsfähigkeit im Gruppengefüge (vgl. DIMDI und BFARM 2020: 874).
Schulschwänzen ist eine Unterform des Schulabsentismus bei der sich Heranwachsende aus eigenen Antrieb heraus für eine temporäre oder anhaltende Abwesenheit im Unterricht entscheiden. Die temporäre Abwesenheit umfasst Ersatzhandlungen während des Unterrichts wie häufige Toilettengänge, Zuspätkommen oder Zufrühgehen. Der Anteil an der Teilnahme am Unterricht überwiegt jedoch zum Anteil der Abwesenheit. Die anhaltende Abwesenheit verhält sich im Vergleich dazu gegensätzlich. Hier werden ganze Unterrichtsstunden oder unbeliebte Fächer ausgelassen. Die Entscheidung zum Regelverstoß dient einzig der Erfüllung von subjektiven Bedürfnissen, welche dadurch befriedigt werden, dass schulische Tätigkeiten durch außerschulische Tätigkeiten mit einem höheren Unterhaltungswert ersetzt werden. Diese Ersatzhandlungen umfassen das Treffen von Freunden, länger schlafen sowie die Ausübung von Hobbies. Die Abwesenheit im Unterricht
erfolgt ohne das Wissen der Eltern und so kommt es, dass gegenüber der Schule keine Begründungen vorgetragen werden, da die Ersatzhandlungen nicht auf Ängsten basieren. Die Folgen vom Schulschwänzen zeigen sich anhand von einer verringerten Herausbildung schulischer und sozialer Fertigkeiten (vgl. ROGGE und KOGLIN 2018: 51 ff.).
Bei Schulverweigerung handelt es sich aus psychologischer Sicht um eine phobische Störung, welche sich für Betroffene mit neurotischen als auch somatoformen Folgen offenbart. Genauer beschrieben, ist von einer spezifischen Angststörung zu sprechen, deren körperliche Symptome durch innerpsychische Prozesse ausgelöst werden. Die Symptome werden durch schulische Belange hervorgerufen und sind mit einem ausgeprägten Vermeidungsverhalten verbunden (vgl. DIMDI und BFARM 2020: 751, 874).
Kinder und Jugendliche neigen dann zu einem vermeidenden Verhalten, wenn für diese bedrohliche Momente bevorstehen. Die Bedrohlichkeit definiert sich im schulischen Kontext als etwas Unausweichliches, dass nicht durch eigene Ressourcen bewältigt werden kann. Als besondere Belastungen werden Konflikte mit Mitschülern oder Lehrern wahrgenommen. Weitere Situationen bilden sich in der Ankündigung von Leistungskontrollen oder der täglichen Trennung zu den Eltern ab. Die Heranwachsenden reagieren dann mit körperlichen Symptomen, wie Bauch- und Kopfschmerzen oder Übelkeit bis hin zu Panikanfällen. Ferner handelt es sich um psychosomatische Reaktionen, da die genannten körperlichen Umstände nicht durch physische Verletzungen hervorgebracht werden. Im direkten Vergleich zum Schulschwänzen verbringen Betroffene die Zeit nicht in der Öffentlichkeit, sondern in der elterlichen Wohnung. Dem einher geht das Wissen der Eltern und Schule über den Verbleib der jeweiligen Heranwachsenden. Die Folgen der Schulverweigerung gleichen den Folgen vom Schulschwänzen, da die Möglichkeit zur Herausbildung sozialer und geistiger Kompetenzen verwirkt wird (vgl. ROGGE und KOGLIN 2018: 51ff.).
Die dritte Variante von Absentismus wird, ungleich zu den ersten beiden, durch die Eltern initiiert. Beim Schulentzug durch Eltern verletzen Erziehungsberechtigte bewusst die Schulpflicht ihrer Kinder und halten diese gegen ihren Willen vom Schulbesuch ab. Die Verletzung der Schulpflicht zeigt sich durch die vorzeitige Herausnahme der Kinder aus dem Unterricht. Die Entscheidung der Eltern leitet sich hierbei aus abweichenden kulturellen Wertevorstellungen ab, die überwiegend für die Eltern vom Vorteil sind. Elternbezogene Vorteile sind unter anderem die durch Heranwa- chende zu erwartende Unterstützung im Haushalt oder Betrieb, Pflege im Krankheitsfall und die Verschleierung von familiärer Gewalt. Damit die Verletzung der Schulpflicht möglichst unauffäl- lig bleibt, erteilen Eltern Verbote zum Verlassen der Wohnung. Die Eltern sind sich in solchen Fällen ihres Regelverstoßes bewusst, wenn diese ihre Kinder vom Schulbesuch zurückhalten. Das Kind kann daraus Verhaltensweisen erlernen, welche durch die Eltern legitimiert sind und sich durch eine ablehnende Haltung gegenüber schulischer Belange äußern (vgl. RICKING und SPECK 2018: 17ff.).
Aus medizinischer und psychologischer Sicht können sich für Heranwachsende Störungen in der Beziehungsfähigkeit entwickeln. Diese versuchen die elterlichen Bedürfnisse bestmöglich zu befriedigen, um deren Erziehungskompetenz auszugleichen. Als Resultat bildet sich ein abnormes Beziehungsmuster zu den engsten Bezugspersonen heraus, wodurch Trennungsängste zu den Eltern und Ängste gegenüber dem Unbekannten in der Herausbildung gestärkt werden (vgl. DIMDI und BFARM 2020: 126, 799).
Die folgende Tabelle „Überblick - Schulabsentismus“ veranschaulicht die beschriebenen Formen anhand ihrer Gemeinsamkeiten (in grau hinterlegt) und Unterschiede.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Tabelle „Überblick - Schulabsentismus“, eigene Darstellung)
Die Begriffsbestimmungen zu den einzelnen Unterformen von Schulabsentismus brachten hervor, dass diese aufgrund ihrer verschiedenen Indikatoren zu unterscheiden sind. Die Unterformen sind jedoch nicht trennscharf voneinander abgrenzbar, da diese zum einen gleiche Indikatoren aufweisen und zum anderen sich wechselseitig in der Herausbildung begünstigen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass schulabsentes Verhalten bei Heranwachsenden nicht nur auf den Gegenstand der Schule zu begrenzen ist. Schulabsentismus bildet sich durch individuelle Entstehungskontexte heraus und zeigt sich im Ergebnis in der jeweiligen Unterform.
1.2 ENTSTEHUNGSKONTEXTE DES FERNBLEIBENS
Um Soziale Arbeit an Schulen möglichst professionell für die Betroffenen gestalten zu können, ist es notwendig, sich mit den Kontexten für das Fernbleiben auseinanderzusetzen sowie Bezüge zu den jeweiligen Lebenswelten herzustellen.
Die Lebenswelt ist ein Umfeld, welches das alltägliche Handeln und die Wahrnehmung eines Individuums durch Wissen, Traditionen und gesammelte Erfahrungen prägt. Als ein Ort des Erfahrens ist diese nach objektiven und subjektiven Räumen zu unterscheiden. Objektiv betrachtet handelt es sich um einen Raum, welcher sich durch seine Ausstattung, von anderen Räumen unterscheidet. Als Unterscheidungsmerkmale sind unter anderem das Alter von Individuen, das gesellschaftliche Umfeld als auch die kulturelle Ausstattung anzuführen. In der subjektiven Dimension hingegen, definiert sich die Lebenswelt über räumliche, zeitliche, und biographische Inhalte. Die gesammelten Erfahrungen äußern sich dann in Empfindungen, Denkweisen und Handlungen, woraus eine individuelle Wahrnehmung und Bewertung spezifischer Lebenslagen entsteht (vgl. BECK und GREVING 2012: 16ff.; WETZEL 2015: 71ff.).
Daraus ergibt sich, dass jedes Individuum seine eigene Autonomie entwickelt, um den vielfältigen Aufgaben und Problemen des eigenen Alltags zu begegnen. Die Autonomie wird durch individuelle, subjektbezogene sowie gesellschaftliche Bedingungen mitbestimmt wird (vgl. GRUNWALD und THIERSCH 2016: 35ff.). und ist an familiären Bedingungen, das soziale Milieu, Peers und selbst gewählten Aktivitäten gebunden. Für Kinder und Jugendliche entstehen daraus eine Vielzahl von Leistungsansprüchen, den gerecht zu werden ist, um den eigenen Ansprüchen sowie gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen. Neben den vorhandenen Leistungsansprüchen stehen Heranwachsende zusätzlich vor diversen Entwicklungsaufgaben, welche durch den schrittweisen Prozess des Erwachsenwerdens gegeben sind. Die Wahrung der eigenen Interessen, Wünsche und Vorstellungen stehen dabei im Spannungsverhältnis zu institutionellen Anforderungen. Mit dem Älterwerden und steigender Klassenstufe nimmt Schule, als institutionelle Einrichtung, eine zunehmend größere Rolle bei Kindern und Jugendlichen ein. Heranwachsende empfinden diese zunehmend als einen Lern- und Lebensort mit stets vorhandenen und steigenden Belastungen (vgl. BERNGRUBER et al. 2018: 86).
Das Verhältnis von Schule als Lebenswelt steht dabei in einem anwachsenden Spannungsverhältnis zu außerschulischen Lebenswelten, wie der Familie, den Peers und den Interessen. Der Grund liegt hierfür in dem Vorhandensein von konkreten Bezügen zwischen den Lebenswelten. Trotz der Vielfältigkeit außerschulischer Lebenswelten lassen diese sich kaum mit den schulischen Anforderungen verbinden. Es lassen sich dazu Gegensätze ableiten zwischen dem, was in der Schule gemacht und abgefordert wird und dem, was Schülerinnen und Schüler außerhalb von Schule tun und welche Erfahrungen sie dort sammeln (vgl. MACK 2012: 90f.).
1.3 EINFLUSSFAKTOREN FÜR SCHULABSENTES VERHALTEN
Schulabsentes Verhalten ist nicht nur das Ergebnis eigener Persönlichkeitsmerkmale von Heranwachsenden. Die Ursachen sind vielmehr in einem multikausalen Geflecht zu sehen, in denen die sozialen Interaktionen verschiedene Einflussgrößen aufweisen. Jede Lebenswelt definiert hierbei eigene Bedingungsfaktoren, die sich zueinander unterscheiden. Diese Faktoren stehen überwiegend im schulischen Kontext, wobei diese jedoch nicht zwangsläufig daran gebunden sind. Der Entschluss zum Fernbleiben entwickelt sich über die Summe verschiedener Faktoren aus unterschiedlichen Lebenswelten, welche jedoch nicht losgelöst voneinander zu betrachten sind. Um schulabsente Verhaltensmuster differenziert erfassen zu können, ist eine integrative Betrachtung der gesellschaftlichen, individuellen und familiären Einflüsse als auch der institutionellen Eigenschaften von Schule notwendig. Die verschiedenen Einflussfaktoren lassen sich in individuellen und institutionellen Perspektiven unterscheiden. Die individuelle Perspektive umfasst Gründe für ein bestimmtes Verhalten, das aus biologischen Eigenschaften wie Geschlecht, Alter und Begabung entsteht. Die biographischen Erfahrungen, das familiäre Umfeld, die Peers und Bekannten werden hierbei mit herangezogen (vgl. STAMM et al. 2009: 35f.). Die institutionelle Perspektive dagegen setzt sich mit Schule als allgemeine Bildungsinstitution auseinander. Hierbei werden spezifische Strukturen, die Attraktivität sowie Normen und Werte von Schule als Variablen herangezogen und in Verbindung mit schulabsenten Verhalten gebracht (vgl. STAMM et al. 2009: 39).
Der folgende Abschnitt befasst sich hierzu mit einer genaueren Unterscheidung der Perspektiven und schlüsselt diese nach den jeweiligen Faktoren auf.
1.3.1 BIOLOGISCHE FAKTOREN
Das Kindes- und Jugendalter ist geprägt von einem Reifeprozess, der auf biologischen Faktoren basiert. Diese Faktoren unterscheiden sich in
- Geschlecht
- Lebensalter
- genetische Varianten (vgl. PLECKO 2019)
Das Geschlecht stellt ein zentrales Element für die Selbstdefinition und Identität von Individuen dar und unterliegt der Selbstinszenierung, welche öffentlich vollzogen wird. Die Inszenierung von Geschlechtlichkeit dient Jugendlichen zur Herausbildung der personalen Identität, wobei diese jedoch im Widerspruch zu geschlechtstypischen Normierungen und Bewertungen der Gesellschaft steht. Die Gesellschaft greift hierbei regulierend über Zuschreibungen, Erwartungen, und Wertschätzungen ein. Diese Regulationen unterscheiden sich je nach gelebter Kultur und Geschichte, differenzieren in jedem Fall aber zwischen dem, was typisch männlich und weiblich ist. Aus den kulturell gewachsenen Gewohnheiten entsteht so eine Geschlechterordnung mit gegensätzlichen Positionen. Männlichen Jugendlichen wird Kraft und Überlegenheit zugeschrieben. Sie gelten außerdem als impulsiv und aufständisch. Mädchen hingegen werden Aspekte der Verletzlichkeit und Schwäche zugeschrieben. Von weiblichen Jugendlichen erwartet man ein gemäßigtes und rücksichtsvolles Verhalten. So kommt es, dass bei gleichen Regelverstößen im schulischen Kontext unterschiedliche Toleranzgrenzen für Jugendliche gelten (vgl. RENDTORFF 2014: 284ff.).
Kommt es zu delinquenten Verhalten, so ist dieses bei beiden Geschlechtern vorzufinden. Es besteht jedoch ein Unterschied darin, wie Schulabsentismus mit Bezug auf die Geschlechterdifferen- zierungen ausgelebt wird. Mädchen neigen eher zu einem passiv-verweigernden Verhalten. Innerhalb der Schule beschäftigen sich Schülerinnen mit unterrichtsfernen Dingen beschäftigt oder entfernen sich gedanklich. Außerhalb der Schule ziehen sich diese bevorzugt in die elterliche Wohnung zurück. Jungs hingegen legen ein aktives Ablehnungsverhalten an den Tag. Der Unterricht wird von Schülern bewusst gestört. Entscheiden sich diese fürs Schwänzen, wird die Zeit genutzt um sich mit Freunden zu treffen (vgl. STAMM et al. 2009: 36).
Das Geschlecht bildet in Bezug auf Schulabsentismus eine geringe Einflussgröße ab. Hier ist viel mehr das Zusammenspiel mit gesellschaftlichen Erwartungshaltungen hervorzuheben, woraus dann schulabsentes Verhalten abzuleiten ist. Die Geschlechtlichkeit als Rollenbild ist allerdings kein Entstehungsgrund für Delinquenz, sondern findet seine Gewichtung eher in den gelebten Formen von Schulabsentismus.
Das Lebensalter als Faktor für Schulabsentismus ist nicht nach Jahreszahlen zu messen, sondern steht in Verbindung mit dem Reifeprozess. Adoleszenz ist ein Stadium des fließenden Übergangs, in dem sich Heranwachsende körperlich und kognitiv entwickeln. Neben dem physiologischen Wachstum und der geistigen Reifung gilt es auch an den gesellschaftlichen und institutionellen Anforderungen zu wachsen. Die Heranwachsenden stehen hier vor der Herausforderung ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie diese von anderen wahrgenommen werden und sich selbst wahrnehmen. Im Zuge dessen werden die eigenen Erfahrungen aus den früher umgesetzten Rollen mit den gegenwärtig vorherrschenden Idealtypen in Verbindung gebracht. In diesem neuen Lebensabschnitt sind Jugendliche dadurch einer Kombination von Erlebnissen mit jeweils eigenen Umständen ausgesetzt. Die Herausbildung des angepassten Bewusstseins kann insofern erschwert sein, da dieses mit der Intensität und dem Zeitpunkt des Reifeprozesses kollidiert (vgl. NOACK- NAPOLES 2014: 51ff.).
Die kognitive Entwicklung wird durch besonders schnelle Gedächtnisleistungen und prozessuales Denken charakterisiert, die ein hohes Maß an Informationsverarbeitung erlauben. Die Verfügbarkeit von erreichbarem Wissen lässt die Bedeutung der Übernahme von tradiertem und Erfahrungswissen zurücktreten. Im Zusammenhang dazu ließ sich feststellen, dass Mädchen früher in den Reifeprozess eintreten und der kognitive Kontrollprozess schneller heranreift als bei Jungen (vgl. THYEN und KONRAD 2018: 21f.). Diese Erkenntnisse zeigen sich auch anhand des durchschnittlichen Alters beim Schulschwänzen, welches bei Jungen mit 10,6 Jahren und bei Mädchen mit 14,8 Jahren liegt (vgl. STAMM et al. 2009: 36).
Genetische Varianten bezeichnen den Umstand, dass Menschen von Geburt an unterschiedliche Veranlagungen besitzen, welche die körperliche Verfasstheit sowie psychische Merkmale und Prozesse beeinflussen. Die Veranlagungen selbst geben allerdings nur einen Teilausblick über die zu erwartenden Leistungen, da diese im Zusammenhang mit nichtgenetischen Ursachen stehen. Diese Ursachen unterscheiden sich nach sozialen Gruppen, Gesellschaften sowie Situationen und beeinflussen das Genom individuell. Die sozialen Umstände bestimmen hierbei das Verhalten als auch den Umgang mit genetischen Positionen oder Misserfolgen maßgeblich mit (vgl. DIEWALD 2010: 4ff.). Mit Hinblick auf die Gesellschaftsschichten lässt sich darlegen, dass Angehörige der Oberschicht Bildung als ein kulturelles Erbe wahrnehmen und sich Begabung durch den Erfolg im Bildungssystem definiert. Bildungserfolg in der Mittelschicht bestätigt sich hingegen durch Fleiß und Anstrengungsbereitschaft, wohingegen Angehörige der Unterschicht sich weniger mit den Werten des Bildungssystems identifizieren können, was sich auf die Begabung als auch die schulische Leistung auswirkt (vgl. KRAMER 2014: 433f.).
Der Sozialraum als auch die schulische Leistung unterliegen stereotypen Etikettierungen, die mit negativen Kompetenz- und Leistungserwartungen verbunden sind. Es entstehen besonders dann Folgen für die kognitiven Leistungen von Schülerinnen und Schüler, wenn ohnehin schon genetische Positionen vorliegen, die mit Lernschwierigkeiten, wie etwa Dyskalkulie oder Legasthenie, einhergehen (vgl. PIT-TEN CATE und KRISCH LER 2020 199f.). Liegen solche Teilleistungsstörungen vor, sind bedarfsgerechte Erschließungen von Ressourcen und Bewältigungsstrategien notwendig. Werden diese nicht vorgenommen, reagieren Heranwachsende darauf frustriert in Form von oppositionellen Verhalten. Dadurch wird wiederum die soziale Ausgrenzung verstärkt und die Entwicklung von Komorbiditäten, wie soziale Ängste, begünstigt (vgl. ENDRES et al. 2018: 345). Als Folge neigen Kinder und Jugendliche häufiger zu Absentismus, um den unangenehmen Erfahrungen in der Schule aus dem Weg zu gehen (vgl. STAMM et al. 2009: 37.).
1.3.2 FAMILIE
Absentismus ist in allen sozialen Schichten und familiären Konstellationen vorhanden. Als Faktor beeinflusst die Familie das Entstehen von schulabsenten Verhaltensmustern insofern, da die Schulerfahrungen der Eltern und Geschwister, die schulische Übergangsgestaltung und die fami- lialen Lebensverhältnisse auf den Entscheidungsprozess zum Fernbleiben einwirken und den Bildungserfolg maßgeblich mitbestimmen (vgl. KASANMASCHEFF und MARTSCHINKE 2016: 138).
Für den Einfluss des familiären Kontexts lässt sich vorab festhalten, dass dieser in einem geringen Zusammenhang mit der materiellen und sozialen Lage steht. Vielmehr trägt das Verhalten und die Einstellung der Eltern gegenüber der Institution Schule als Bildungseinrichtung sowie die Familienkonstellation zu absenten Verhaltensmustern von Kindern bei. Die bereichs- und situationsspezifische Ausprägung von Vertrauen der Eltern in die Lehrkräfte und in die Schule hat einen mittelbaren Einfluss auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler. Auch stellt eine etwaige Zusammenarbeit einen wichtigen Aspekt zwischen den Elternhaus und der Schule dar. Beteiligt sich die Familie an der Bewältigung schulischer Inhalte, zeigen sich positive Effekte anhand von Noten, Anwesenheitsraten, Zahl der belegten Kurse und Vorbereitung auf die Schule. Als Beispiel lässt sich anführen, dass Kinder und Jugendliche aus sozialschwachen Gebieten in Hinblick auf Leistungen und Anwesenheitsraten keine Defizite aufweisen, wenn sich die Eltern aktiv für die Schule ihrer Kinder einsetzten und ihnen Bildung wichtig war (vgl. STAMM et al. 2009: 36ff.; BORMANN et al. 2019: 177).
Die Wichtigkeit und Einstellung zur Bildung weist darauf hin, dass die kindliche Kompetenzentwicklung maßgeblich durch die Familie beeinflusst wird. Die Förderung beginnt jedoch nicht erst im Schulalter, sondern bereits im frühkindlichen Alter. Das Üben von bildungsnahen Aktivitäten wie Vorlesen, Singen oder spielerische Beschäftigung mit Zahlen und Würfeln ermöglichen dem Kind Vorläuferfähigkeiten für den Schriftspracherwerb und mathematische Kompetenzen aufzubauen. Neben der elterlichen Unterstützung sind es auch die Schulerfolge der älteren Geschwister, die den Schuleinstieg erleichtern und das Selbstkonzept von Schulkindern sowie deren Schulleistungen fördern. Die Vorstellungen der Familie und ihre Ressourcen haben zudem Auswirkungen auf das Sozialverhalten der Kinder. Das Sozialverhalten wird durch familiale Praktiken wie gemeinsame Aktivitäten in Form von Ausflügen, der gemeinsamen Erledigung von Haushaltsaufgaben oder Gesprächen bestärkt (vgl. GRGIC und RAUSCHENBACH 2020: 9ff.).
Bildungsleistungen spiegeln sich allerdings nicht nur in den Erziehungsvorstellungen und elterlichen Verhalten wieder, sondern auch im Vertrauensverhältnis zu den Eltern. Das Vertrauensverhältnis wird durch eine positive Eltern-Kind-Interaktion ermöglicht. Das gemeinsame Verbringen von Zeit und elterliches Interesse an der Lebenswelt des Kindes ermöglicht es diesem, sich bei schulischen Frust zu offenbaren, sodass an gemeinsamen Lösungen gearbeitet werden kann (vgl. KNOPPICK et al. 2018: 506). Das Vertrauen wird hierbei auf andere Lebensbereiche generalisiert. Die erlebte Stabilität in der Familie und diese Erfahrung verallgemeinern sich hierbei auf den Kontext der Schule. Neben der elterlicher Zuwendung ist das Vorhandensein beider Elternteile ein weiterer kausaler Grund für Schulabsentismus. Kinder, die mit beiden leiblichen Elternteilen aufwachsen, haben eine stärkere Bindung an gesellschaftliche Institutionen und ein geringes Bedürfnis sich entziehen zu müssen. Im Umkehrschluss weisen Heranwachsende von Alleinerziehenden ein höheres Vermeidungsverhalten auf. Die abweichende Einstellung zur Wahrnehmung der Schulpflicht korreliert jedoch nicht mit der geringeren Verhaltenskontrolle durch nur den einen Elternteil oder durch ein geringeres Risiko entdeckt zu werden (vgl. RICKING und SPECK 2018: 110f.). Das Vermeidungsverhalten ist eher ein Abbild der subjektiv empfundenen Unzufriedenheit mit der Familienkonstellation. Wenn es unter anderem darum geht, dass Kinder und Jugendliche mit ihren Eltern über Probleme sprechen, so werden Unterschiede zwischen Mutter und Vater deutlich. Zwar werden Mütter häufiger als Ansprechpersonen in schwierigen Momenten wahrgenommen, dennoch wird bei bestimmten Themen der Vater als Ratgeber bevorzugt (vgl. BERNGRU- BER et al. 2018: 96; KING 2013: 153).
Familie ist mit der jeweils eigenen Dynamik ein Ausgangspunkt hinsichtlich des Prozesses der adoleszenten Entwicklung. Familie ist zugleich Gegenstand adoleszenter Lebensentwürfe und Thema vom Identitätsprojekt. Die familialen Beziehungen bilden hierbei den Hintergrund von adoleszenter Individuation. In Konflikt dazu steht die Neukonstruktion, welche durch außerfami- liale Erfahrungen mitgestaltet wird. Im Rahmen von Gleichaltrigenbeziehungen und Jugendkulturen besteht die Konstruktionsleistung ebenfalls darin, die Beziehungs- und Interaktionserfahrungen mit Institutionen zu verknüpfen und neu zusammen zusetzen (vgl. KING 2013: 118).
1.3.3 PEERS
In modernisierten Gesellschaften unterscheidet sich die Zukunft der Kinder von der der Eltern. Peers erhalten hierbei eine wachsende Bedeutung. Gleichaltrige, nehmen insofern einen Stellenwert ein, da diese je nach Kontext und Ressourcen defensive Verhaltensmuster verstärken oder auch Umwandlungen vorantreiben (ebd. 16, 127ff.). In Freundschaftsbeziehungen suchen Heranwachsende auf Dauer nach Gleichheit. Die Prozesse der Ablösung und Neufindung in Peergroups reichen über spielerisches und riskantes Austesten von Grenzen bis hin zur Devianz. Im Hinblick auf die Bildungsorientierung und schulische Leistungen wächst die Bedeutung von Peers im Alter zwischen 11 und 15 Jahren. Jugendliche nutzen diese soziale Ressource vor allem als Kompensationsraum für schulische Belastungen. Mit zunehmendem Alter der Heranwachsenden wächst außerdem die Bedeutung von gemeinsamen Aktivitäten die außerhalb der Schulzeit stattfinden, was mit einen Bedeutungsverlust der Institution einhergeht (vgl. KRÜGER et al. 2015: 179f.). Freundesgruppen können in verschiedener Hinsicht Auslöser für delinquentes Verhalten sein. Heranwachsende weisen eine individuelle Delinquenzbereitschaft auf, welche über die Anpassung an geltende Einstellungen und Verhaltensweisen beeinflusst wird. So kommt es, dass sich Jugendliche in Gruppen aufgrund von Konformitätsdruck anders Verhalten als gewohnt, um einen Ausschluss zu vermeiden. (vgl. BAIER et al. 2010: 315).
Die wechselseitige Beeinflussung des Verhaltens kann demonstratives Fernbleiben von der Schule bewirken oder sich in Verstößen gegen Regeln des Unterrichts wie Zuspätkommen oder bewusstes Stören resultieren. Diese Verhaltensweisen tragen dann zur Beliebtheit von Schülerinnen und Schüler bei und wirken sich statusfördernd in der Freundesgruppe aus (vgl. STAMM et al 2009: 39). Daraus kann eine Selbstentwicklung entstehen, die sich hinderlich auf den Bildungsverlauf auswirkt und bis zum schulischen Scheitern reichen kann. Die Selbstentwicklung kann auch dadurch bestärkt werden, dass die negativen Leistungszuschreibungen seitens der Lehrkräfte erfolgen (vgl. HÖBLICH 2010: 30).
1.3.4 SCHULE
Schule, als allgemeinbildende Institution, hat einen erheblichen Einfluss auf die Herausbildung schulaversiven Verhaltensweisen bei Lernenden. Absentes Verhalten wird zwischen Heranwachsenden und Lehrpersonen sowie der Schule als Ganzes beeinflusst. So kann die Gefahr darin bestehen, dass durch die Orientierung des Unterrichtsgeschehens an Leistungen, Ansätze zu schulmeidenden Verhaltensweisen mit impliziten oder expliziten Strategien unterstützt werden (vgl. Stamm 2009: 40). Die Interaktionsbeziehung zwischen den Lernenden und Lehrerenden geht über die bloße Vermittlung von kognitiven Fähigkeiten hinaus, da es zusätzlich um die Vermittlung von gesellschaftlichen Normen geht. Das Lehrhandeln ist hierbei mit vielfältigen Formen der Typisierung verknüpft, woraus sich über Etikettierungs- und Stigmatisierungsprozesse folgenreiche negative Karrieren entwickeln können (vgl. HUMMRICH und KRAMER 2017: 60).
Lern- und Bildungsprozesse korrelieren dabei mit Kommunikation und Haltung der Lehrkräfte und welche Werte diese vertreten. Stark abweichende Vorstellungen gehen hierzu mit Konflikt- und Abgrenzungspotentialen einher, die sich ebenfalls auf das Miteinander zwischen den Schülerinnen und Schülern beziehen (vgl. BREMER und LANGE-VESTER 2014: 76f.). In der Schule geht es auch darum, sich im Anspruch von Leistung und Begabung zu positionieren und sich mit anderen Gleichaltrigen zu messen. Anerkennungs- und Abstoßungsverhältnisse variieren hierbei je nach Schule und Schulform (vgl. KRAMER et al. 2015: 216). Die Nichterfüllung emotionaler Anerkennungsbedürfnisse birgt zusätzlich ein Risiko von biografischen Problemaufschichtungen, da Lehrpersonen und Schule aufgrund eingeschränkter Möglichkeiten diese nur bedingt berücksichtigen können (vgl. BUSSE und SANDRING 2015: 246).
Dabei entwickeln Heranwachsende Vorstellungen von sich, welche im Verhältnis zu sich und zur Schule gesetzt werden. Sie entwerfen sich als angepasst, widerständig oder moderat und symbolisieren ihre Haltung durch die Art, wie sie am Unterricht und am Schulgeschehen insgesamt teilnehmen. Innerhalb der pädagogischen Ordnung von Schule stehen Heranwachsende zudem vor der Herausforderung Lösungen für die eigenen Individuationsproblematiken zu finden. In Anbetracht sich steigender Leistungsanforderungen durch höhere Klassenstufen können sich daraus weitere oppositionelle Muster entwickeln, wodurch das empfundene Passungsverhältnis von Jugendlichen als vermehrt unvereinbar wahrgenommen wird (vgl. HUMMRICH und KRAMER 2017: 105, 176, 228). Des Weiteren verlängert sich die Lebenszeit in der Schule durch den Erwerb höherer Bildungsabschlüsse. Dies steht konträr zur wachsenden Bedeutung von Peers und Freizeitaktivitäten (vgl. BERNGRUBER et al. 2021: 80).
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