Die Soziologie des Neoliberalismus. Ein Forschungstagebuch


Hausarbeit (Hauptseminar), 2020

24 Seiten, Note: 1,0

Anonym


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

Der klassische- und der Neo-Liberalismus

Die Krisenhaftigkeit des Liberalismus

Die Wurzel allen Übels? Das Walter Lippmann Kolloquium.
Sag, wie hast Du es mit der Demokratie?

Ist der Neoliberalismus alternativlos?
Der Jäger der falschen Propheten
Die Frage nach der Gewalt

Demokratie, nein danke? Wie autoritär ist der Liberalismus?

Fazit und Evaluation

Literaturverzeichnis

Einleitung

Zu Beginn dieser Ausarbeitung möchte ich kurz erläutern, warum ich das Thema dieser Ausarbeitung, die Soziologie des Neoliberalismus, für außerordentlich wichtig halte. Sicherlich könnte ich es mir an dieser Stelle einfach machen und alleine schon die bloße Existenz, beziehungsweise meinen Besuch dieses Seminars, als Begründung des vorliegenden Textes anführen. Doch der Weg des Sozialwissenschaftlers oder der Sozialwissenschaftlerin sollte niemals der des geringsten Widerstandes sein, so dass sich derart schlichte und wenig reflektierte Urteile, meiner Ansicht nach, verbieten.

Der Geist des Neoliberalismus hat längst von unserer Gesellschaft Besitz ergriffen, so lautet meine These direkt zu Beginn. Dies wurde während der Corona-Krise erneut offensichtlich, zum Beispiel im Gesundheitswesen. Die Gesellschaft empörte sich plötzlich kollektiv, dass zum Beispiel Krankenhäuser einer marktliberalen Gewinnlogik, anstatt einer staatlichen Versorgungslogik unterworfen sind. Man darf gespannt sein, wie lange die Empörung anhält. Bereits jetzt, da sich Teile der Gesellschaft an die Krise gewöhnt zu haben scheinen, wird der Aufschrei leiser, ja teilweise kaum noch vernehmbar.

Doch auch weniger sichtbar als im Gesundheitssystem, hat die Idee des Neoliberalismus unser kollektives Denken der vergangenen Jahre mehr und mehr geprägt. Viele Menschen streben, nicht bloß hierzulande, nach Selbstoptimierung, meist körperlicher und beruflicher Natur. Nun scheint es gegen Selbstoptimierung zunächst nicht viele Einwände zu geben, doch dient sie letzten Endes meist ausschließlich dem Zweck, ökonomisch erfolgreicher zu sein, sich besser vermarkten zu können und somit den eigenen materiellen Wohlstand zu mehren.

Alleine die Formulierung sich vermarkten verrät uns, worum es bei dieser Vorstellung eigentlich geht. Hört man nicht heute des Öfteren im Rahmen von Vorstellungsgesprä­chen oder Assesment Centern: „Man muss sich bloß gut verkaufen können“, „Es kommt darauf an, wie Du dich selbst vermarktest “. Mir scheinen diese Begrifflichkeiten aus dem Bereich des Handels und der Marktwirtschaft in Bezug auf menschliche Individuen äu­ßerst zynisch zu sein.

Zu guter Letzt finden wir heute kaum noch einen kritischen Bericht über die neoliberale Ideologie in unseren Medien. Wohlstand durch Wachstum, Zins- und Börsengeschäfte, private Altersvorsorge, all diese Themen werden meist ohne eine grundlegend kritische Einordnung in den Kanon der täglichen Berichterstattung aufgenommen. Neoliberale Lobbygruppen wie etwa die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, stellen Material für den Schulunterricht zur Verfügung, um schon die jüngsten Mitglieder der Gesellschaft in eine bestimmte Richtung zu drängen. Auch der Einfluss neoliberaler Interessensgruppen auf die Bundespolitik ist, bei einem genaueren Blick, deutlich erkennbar.

Der Neoliberalismus ist also ein Teil unserer Gesellschaft und somit ein Untersuchungsgegenstand der Sozialwissenschaften. Außerdem muss es die Aufgabe der Soziologie sein, gesellschaftliche Prozesse kritisch zu hinterfragen. Ich möchte zugespitzt sagen, dass Soziologie in ihrem eigentlichen Sinne nicht ohne die Kritik denkbar ist. Aufgrund dessen fühle ich mich nahezu verpflichtet, mich mit dem Neoliberalismus kritisch auseinanderzusetzen. Erstens, da Teile der Gesellschaft es scheinbar aufgegeben haben, sich mit der Struktur und der Ideologie des Neoliberalismus in seinen Grundfesten zu beschäftigen und diese zu hinterfragen und zweitens, da meine Geburts- und Heimatstadt zugleich das Zentrum der Kritischen Theorie, der Frankfurter Schule, sowie mit seinen Bankentürmen und der ortsansässigen Börse das Zentrum des Neoliberalismus in Deutschland ist. Diese Ambivalenz begreife ich als einen Auftrag, beide Seiten zu verbinden und den Neoliberalismus aus der Perspektive einer kritischen Reflexion zu betrachten.

Mir ist bewusst, dass dieser Anspruch hoch gegriffen ist, dass es mir in einer Ausarbeitung wie dieser nicht gelingen wird, ja nicht gelingen kann, das vorliegende Thema vollumfassend aufzuarbeiten. Mir scheint es daher am sinnvollsten, diese Ausarbeitung als eine Skizze zu betrachten, eine Art mentale Vorbereitung auf den Einstieg in ein solch komplexes und spannendes Thema. Nicht mehr aber auch nicht weniger kann der Anspruch dieses Textes sein. Dabei möchte ich zum Einstieg den Anspruch auf Neutralität bewusst aufgeben und es mir stattdessen zum Ziel setzen, die - meiner Ansicht nach oft zu wenig beleuchteten - kritikwürdigen Aspekte des Neoliberalismus in das Zentrum meiner Ausarbeitung rücken. Im Sinne des Autors ist diese Ausarbeitung also als eine skizzenhafte, vorbereitende Auseinandersetzung mit dem Thema Neoliberalismus aus einer grundlegend skeptischen Haltung zu betrachten.

Der klassische- und der Neo-Liberalismus

Zunächst möchte ich an dieser Stelle die Texte Neoliberalismus zur Einführung von Thomas Biebricher sowie Globalisten von Quinn Slobodian aufgreifen, um zunächst die historische Dimension und das Entstehen der Idee zu beleuchten. Schließlich können wir das Aktuelle nicht verstehen, wenn wir den Blick in die Vergangenheit nicht wagen.

Biebricher eröffnet seine Argumentation mit einem Dreiklang. Seine Herleitung des neoliberalen Denkens beruht auf der Annahme, dass es erstens einen klassischen Liberalismus gegeben habe, zweitens dieser in eine manifeste Krise geraten sei woraufhin drittens der Neoliberalismus entstanden sei. Noch heute beriefen sich die Neoliberalen auf die Tradition des klassischen Liberalismus, obgleich Intension und Grundkonzeption sich deutlich unterschieden (Biebricher, 2018). Gleich zu Beginn stellt sich also die erste Frage, die als Forschungsproblem einer tiefergehenden Betrachtung bedarf: Inwiefern kann sich der heutige Neoliberalismus auf die Tradition des klassischen Liberalismus beziehen? Wo sind Gemeinsamkeiten und Zusammenhänge, wo Unterschiede auszumachen?

Der klassische, politische Liberalismus sei für die Rechtsstaatlichkeit und gegen staatliche Autorität eingetreten, somit also auch gegen staatliche Beschränkungen des Marktes. Es habe durch die Liberalen der damaligen Zeit, wir befinden uns historisch im 19. Jahrhundert, erstmals eine Verknüpfung von individueller Freiheit mit dem persönlichen Gewinnstreben gegeben. Sicherlich können wir festhalten, dass die damalige Gesellschaft, unabhängig davon, welche der heutigen Industrienationen wir uns betrachten, weniger frei war, als die heutige. Die Macht von Politiker*innen, die oft genug noch absolute und nicht demokratisch gewählte Herrscher waren, war wesentlich größer und auf weniger einzelne Personen konzentriert als zur heutigen Zeit.

Somit erschließt sich die Forderung nach politischer und ökonomischer Freiheit in der damaligen Zeit. Auffällig ist an dieser Stelle, dass schon damals die Politik und die Wirtschaft unmittelbar miteinander verknüpft waren. Es ginge niemals ausschließlich um Wirtschaft, so Biebricher, schon damals waren also Machtinteressen mit der Idee des Marktliberalismus verknüpft. Ohne zu polemisieren können wir heute klar und deutlich einen Machtanspruch des Neoliberalismus in unserer Gesellschaft feststellen.

In den Anfängen des klassischen Liberalismus sei es den Kaufleuten hauptsächlich um den Zugang zu den neu erschlossenen Kolonien gegangen, so Biebricher, nicht umsonst seien erste Modelle eines Marktliberalismus in Großbritannien zu einer Hochzeit des Empire entstanden. Auch heute können wir in der neoliberalen Ideologie ein ähnlich gelagertes Machtinteresse erkennen, auch heute noch geht es oftmals um die Erschlie­ßung neuer Märkte durch große Konzerne. Durch die zunehmende Globalisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte sich die neoliberale Ideologie auf der Welt ausbreiten, was früher in Form von Landnahme geschah, passiert heute in Form wirtschaftlicher Ausbeutung ärmerer Staaten der sogenannten Dritten Welt.

Eine These für eine mögliche detailliertere Ausarbeitung könnte sein, dass bereits im klassischen Liberalismus eine klare Tendenz zur Ausbeutung und zur Nutzung bestimmter Machtgefälle vorhanden war. Auch wenn Biebricher in seinem Text hier durchaus Machtinteressen der klassischen Liberalisten andeutet, wird diese Frage im Text nicht explizit gestellt, was einen ersten Kritikpunkt an seiner Ausführung darstellt. War der klassische Liberalismus in Bezug auf die Ausbeutung und Ausnutzung der Machtstrukturen besser als der heutige Neoliberalismus?

Für Slobodian ist das Ende des Imperialismus der historische Beginn des Neoliberalismus. Er sieht hinter der Idee einer liberalen Wirtschaftsweise einen internationalistischen Ansatz gegeben, erstmals verschiebe sich das Denken weg von nationalen Interessen (wie in etwa Ausbeutung der Kolonien) hin zu einem globalen Kontext. Erstmals sei in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts zum Beispiel von einer Weltwirtschaft die Rede (Slobodian, Eine Welt der Mauern, 2019).

Zu dieser Zeit sei eine erste Welle des Neoliberalismus feststellbar. Diese sei jedoch durch den Ersten Weltkrieg ins Wanken geraten. Dieser habe zu einer Verstärkung des Nationalismus geführt, welcher der internationalistischen Idee der damaligen Neoliberalen entgegengestanden habe. Zudem sei im anschließenden Prozess des Wiederaufbaus das Vertrauen in den Staat gewachsen. Ist die Staatsfeindlichkeit also im Neoliberalismus angelegt? Und wie glaubhaft ist die internationalistische Ausrichtung der neoliberalen Ideologie tatsächlich? An dieser Stelle hätte ich mir als Leser eine bessere Einordnung Slobodians gewünscht. Klassischerweise verbinden wir Internationalismus doch heute eher mit linkem Gedankengut, es wäre fraglich, ob die Vision einer globalen Welt tatsächlich etwas mit der Verständigung und dem (vielleicht sogar gleichberechtig- ten) Austausch der Völker untereinander zu tun hat, oder ob es von Anfang an um eine Expansion der eigenen Ideologie zum eigenen Vorteil geht.

Ein weiterer Aspekt, der in Biebrichers Text vorkommt, ist die Konzeption des klassischen Liberalismus im Verhältnis zum Gemeinwohl. Eine klassische Annahme der frü­hen Liberalisten wie, zum Beispiel dem englischen Ökonom David Ricardo, besagt, dass das Eigeninteresse, der Egoismus der Unternehmer*innen indirekt seinen Teil zum Gemeinwohl beitrage. Immerhin sei es im eigenen Interesse der Unternehmer*innen qualitativ hochwertige Produkte zu einem bezahlbaren Preis anzubieten, um möglichst viele Kund*innen zu gewinnen. Es bedürfe also keines staatlichen Eingriffs in die Marktwirtschaft, da diese sich selbst organisieren und dabei Fortschritt und Wohlstand generieren könne. Dazu passt das noch heute berühmte Konzept der unsichtbaren Hand des Marktes des liberalen schottischen Nationalökonomen Adam Smith. Der Staat müsse zurückgedrängt werden, wo immer er Freiheiten des Marktes beschneide, so Smith. Er meine damit vor allen Dingen die staatliche Förderung von Kartellen oder Vergabe von Privilegien (Biebricher, 2018).

Für mich ergibt sich daraus eine interessante Frage: War es damals tatsächlich so, dass eher der Staat die Freiheit beschneidet, wohingegen es heute der Markt ist, der zu einem zunehmenden Maß an Unfreiheit führt? Privilegienwirtschaft oder Kartellbildung sind heute gemeinhin mit einem freien, unregulierten Markt assoziiert und nicht etwa mit Überregulation. Auch der Markt selbst hat absolutistische Tendenzen, Macht konzentriert sich dort, wo das Kapital ist, kleinere Marktteilnehmer*innen werden vom Markt gedrängt, notfalls durch Preisdumping. Auch die Annahme, die Unternehmen hätte ein eigenes Interesse, gut, sauber und kundenfreundlich zu wirtschaften erweist sich als Fehlschluss der klassischen Liberalisten. Wie ließen sich sonst diverse Verbraucherskandale erklären, bei denen Unternehmen nachweislich versucht haben, Verbrau- cher*innen zu täuschen, um höhere Profite zu erzielen? Die These, dass der Egoismus einzelner Unternehmer*innen dem Wohl aller zu Gute käme, ist wiederlegt, ebenso die Annahme, dass lediglich der Staat zur Unfreiheit einer Gesellschaft beitrage, auch der Markt ist in der Lage, die Freiheit bestimmter sozialer Gruppen zu beschneiden.

Das Argument, wonach der (Neo-)Liberalismus also der Gesellschaft nütze, ist aus heutiger Sicht nicht aufrecht zu erhalten.

Die Krisenhaftigkeit des Liberalismus

Wir erleben den Neoliberalismus heute als eine enorm krisenanfällige Idee. Die Finanzkrise, die Euroschuldenkrise und zuletzt auf eine völlig andere Art und Weise auch die Corona-Krise haben gezeigt, dass der Neoliberalismus den Erschütterungen des bestehenden Systems nicht gewachsen ist. Schon der klassische Liberalismus war allerdings von Krisen geprägt.

Die erste große Welle des Kapitalismus im Zuge der Industrialisierung führte zu katastrophalen Zuständen, was die Lebensumstände der Arbeiter*innen betraf. Oft ist von Verelendung oder auch von Pauperismus die Rede. Die Zustände der damaligen Zeit werden an anderer Stelle besser und vor allem ausführlicher beschrieben, als ich es an dieser Stelle zu beschreiben vermag. Der Staat jedenfalls mischte sich damals kaum in die wirtschaftliche Ordnung ein, der Arbeiterführer Ferdinand Lassalle prägt den Begriff vom „Nachtwächterstaat“ (Biebricher, 2018).

Beeindruckt von dieser ersten offensichtlich gewordenen Krise des Kapitalismus, veränderte sich auch der Liberalismus. Er wird nämlich deutlich sozialer und befürwortet den Aufbau eines Sozialstaats in Deutschland und selbst in den USA wird ein Gesetz erlassen, welches die Bildung von Kartellen verhindern soll und zu diesem Zweck in die Wirtschaft eingreift. Die Idee des Liberalismus war damit allerdings noch nicht gebrochen.

Vielmehr versuchte man, die Idee weiter auszubauen und wissenschaftlich und empirisch zu belegen. Noch heute schwingt bei Wirtschaftswissenschaftler*innen gelegentlich ein gewisser Grundton in ihren Ausführungen und Erklärungen mit, der die Gesetze der Wirtschaft wie Naturgesetze beschreiben. Die Wirtschaftswissenschaft ist allerdings keine Natur- sondern eine Sozialwissenschaft und wie wir wissen, arbeitet die Sozialwissenschaft keinesfalls mit konstanten Größen, mit unabänderlichen Gesetzen wie der Schwerkraft oder mit einwandfrei messbaren Größen wie Kraft oder Geschwindigkeit. Vielmehr ändern sich die Prämissen der Sozialwissenschaft ständig und die Aufgabe derer, die sie betreiben ist es, diese Veränderungen zu beobachten und einzuordnen und damit das, bildlich gesprochen, sich bewegende Ziel anzuvisieren.

Eine weitere Krise des klassischen Liberalismus ließ allerdings nicht lange auf sich warten. Durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde auf der einen Seite der Nationa- lismus gestärkt, der ja, wie wir bereits bei der Betrachtung internationalistischer Tendenzen des klassischen Liberalismus festgestellt haben, der liberalen Idee diametral gegenübersteht, auf der anderen Seite bedeutet Kriegswirtschaft in den meisten Fällen Planwirtschaft. In Kriegszeiten kann es sich der Staat schlicht nicht leisten, dem Markt freie Hand zu lassen, er muss die Produktion von Waren, die zum Krieg führen notwendig sind, aktiv anordnen und auf der anderen Seite die Produktion von Luxusartikeln herunterfahren, um Kapazitäten zu schaffen.

Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg folgte die Wirtschaftskrise der 1920er-Jahre. Es schien, als habe spätestens diese Krise dem klassischen Liberalismus den Todesstoß versetzt. Die Ideen de Ökonomen John Maynard Keynes nach einer interventionistischen Geldpolitik machte, wie es im Volksmund heißt, Schule und löste liberale Ideen in der Wirtschaftspolitik weitestgehend ab. Zudem bildeten sich politische Strömungen wie der Nationalsozialismus oder der Stalinismus heraus, die allesamt als illiberal zu bezeichnen waren, sowohl im politischen, als auch im wirtschaftlichen Sinne (Biebricher, 2018).

Was können wir aus dieser historischen Betrachtung lernen? Offenbar war den klassischen Liberalisten durchaus bewusst, dass sie auf einem sozialwissenschaftlichen Feld agierten, das ihnen eine gewisse Flexibilität abverlangte, um auf gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren. Nachdem offensichtlich wurde, dass der ausbeuterische Kapitalismus der ersten industriellen Revolution nicht ungebremst weiter wüten dürfe, wurde der Liberalismus sozialdemokratischer. Heute scheinen die Vertreter des Neoliberalismus von dieser Lernfähigkeit ein Stück weit abgerückt zu sein. Nicht nur der eben bereits beschriebene Habitus der Naturwissenschaftler*innen, sondern auch der zunehmende Machteinfluss neoliberaler Interessensgruppen hat in meinen Augen dazu geführt, dass viele Neoliberale ihre Überzeugungen als absolut ansehen, als Tatsachen, die es nicht mehr zu überdenken oder zu reflektieren gilt.

Auch große Krisen, wie zum Beispiel die Finanzkrise 2008/2009 hat nicht zu einem Umdenken in der Wirtschaftspolitik der Industrienationen geführt. Rückschlüsse, die aus der Krise, also letzten Endes dem radikalen Versagen des neoliberalen Konzeptes, hätten gezogen werden können, wurden ignoriert. Lasst Ideen sterben, nicht Menschen“, lautet ein berühmter Satz Karl Poppers. Aktuell scheinen die Neoliberalen jedoch keinesfalls gewillt zu sein, ihre Idee sterben zu lassen, das heißt sie gegebenenfalls zu modifi- zieren und veränderten gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen. Der aktuelle Neoliberalismus hat offensichtlich ein gewisses Maß an der Lernfähigkeit des klassischen Liberalismus eingebüßt. Es wäre eine interessante Forschungsfrage, welche Ursachen dieses Phänomen haben könnte. Ist es der zunehmende Einfluss, der die Neoliberalen in Sicherheit wiegt oder das Fehlen eines ernstzunehmenden Gegenpols in Form einer politischen oder wirtschaftlichen Alternative? Sicherlich wäre eine solche Frage nur schwer zu beantworten, doch der Versuch einer Annäherung an das Thema wäre sicherlich von soziologischem Gehalt. Schließlich lässt die Frage nach Stabilität und Wandel eines Systems, sei es politischer oder wirtschaftlicher Natur, immer auch Rückschlüsse auf die jeweils untersuchte Gesellschaft zu.

[...]

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Die Soziologie des Neoliberalismus. Ein Forschungstagebuch
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Note
1,0
Jahr
2020
Seiten
24
Katalognummer
V1137397
ISBN (eBook)
9783346513991
ISBN (Buch)
9783346514004
Sprache
Deutsch
Schlagworte
soziologie, neoliberalismus, forschungstagebuch
Arbeit zitieren
Anonym, 2020, Die Soziologie des Neoliberalismus. Ein Forschungstagebuch, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1137397

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