Kultur und Identität in Kate Chopins "The Awakening"


Examensarbeit, 2001

78 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Der verdrängte Text
1.1 Kanon als Ausschlussdiskurs
1.2 Theoretische Kontexte

2. Die frankoamerikanische Kultur der Kreolen
2.1 Moral, Ästhetik und Illusion
2.2 Liebessemantik vs. Ehecode
2.3 Die Ökonomisierung der Intimsphäre
2.4 Semantisierte Räume
2.5 Das kulturelle Andere: black women

3. Auf der Suche nach weiblicher Identität
3.1 Feminismus, gender und Emanzipation
3.2 Die Macht der omnipräsenten Sprache
3.3 Psychische und semiotische Funktionen des Körpers
3.4 Eros, Thanatos und Regression
3.5 Lustprinzip, ozeanisches Gefühl und Tod

4. Das kulturelle Projekt des Romans
4.1 Genre als soziokulturelles Konstrukt
4.2 Symbolische Exploration und Transgression

5. Literaturverzeichnis

1. Der verdrängte Text

Ich werfe mich herum wie ein Tier im Käfig, dessen

Wände alle offen sind. Ich brauche doch nur immer in

eine Richtung zu gehen, um aus dieser Wüste heraus-

zukommen und auf einen Weg zu stoßen, der mich -

oh!, mit Sicherheit - zur menschlichen Herde zurück-

führt. So gehe ich also nicht los, ich bleibe hier; denn

ich habe mich selbst gefunden, ganz mich selbst.

Aleksander Swietochowski: “Ganz in sich allein"

Fünfzig Jahre lang, von der Publikation 1899 bis 1956, ist von The Awakening in Literaturwissenschaft, Literaturgeschichte[1] und Literaturkritik kaum Notiz genommen worden. Eine irrationale Protagonistin, die bis in den Tod auf ihrer Identität insistiert, dabei scheinbar nicht auf die "menschliche Herde" angewiesen ist und darüber dennoch nicht hysterisch oder psychotisch wird, stand ebenso im Widerspruch zum naturalisierenden viktorianischen Diskurs über Weiblichkeit, wie die fiktionale Erkundung des Komplexes Kultur, Sexualität und Tod Illusionen zu demontieren drohte, die als gesellschaftliches Fundament fungierten und bis heute fungieren. Dass diese konterdiskursive Infragestellung kulturerhaltender Ordnungsphantasmen zu einer massiven Verdrängung des Textes - nicht zuletzt unter dem Signum der Kulturversagung - geführt hat, überrascht kaum. Der Tenor zeitgenössischer Rezensionen bezeugt eine signifikante Ablehnung:"[...] it leaves one sick of human nature" (Awakening: 163), "its disagreeable glimpses of sensuality are repellent" (Awakening: 166), "gilded dirt" (Awakening: 167), "an essentially vulgar story" (Awakening: 168), "unhealthily introspective and morbid in feeling" (Awakening: 170), "unwholesome in its influence" (Awakening: 172).

Es handelt sich dabei um viel mehr als nur um "vestiges of Victorian prudery" (Walker 1993: 141). Eine derart vehemente, mehr moralisch als ästhetisch begründete Ablehnung lässt ver-muten, dass der Roman an neuralgische Punkte der Kultur wie auch der menschlichen Identität rührt. Es geht um Fragen, die nicht gestellt werden dürfen.[2] Dass Nietzsche und Freud sich mit ähnlichen Reaktionen konfrontiert sahen, ist ebenso wenig ein Zufall wie die Tatsache, dass ihre Gedanken sehr produktiv für die Interpretation des Textes genutzt werden können. Welche diskursiven Praktiken im Blick auf Kanonbildung und Zensur wurden aktiviert, um das subversive énoncé des Textes zu verdrängen?

1.1 Kanon als Ausschlussdiskurs

Die thematische Konzeption und die Rezeptionsgeschichte von The Awakening korrelieren, insofern die erste die zweite zwar nicht monokausal determiniert, aber doch präjudiziert hat. Der Roman schlug tychisch in die kulturelle episteme seiner Epoche ein und wurde sofort durch Verrisse in Zeitungen und Magazinen sowie durch Attacken sowohl auf Edna Pontellier wie auch auf die Autorin als morbide, unmoralisch und pervers ausgeschlossen. Resümierend kann man sagen, dass Chopins literarische Karriere dadurch schlagartig beendet wurde:"It was the male critics, editors and gatekeepers in St. Louis and around the nation who condemned

The Awakening and cut short Kate Chopin's writing career" (Toth 1988: 65).

Besonders zwei Ausschlussprozeduren wurden in Gang gesetzt: Der Gegenstand (hier der Roman) wurde mit einem Tabu belegt,[3] und dem Subjekt (Kate Chopin) wurde das Recht, sich literarisch zu artikulieren, abgesprochen. Dass beides implizit geschah, liegt in der Qualität diskursiver Gewalt. Auf die hochgradig affektive, moralisch figurierende Verwerfung folgte eine institutionelle Indifferenz. Selbst Ebles Artikel, der 1956 eine Renaissance des Textes einleitete, weist in seiner trivialisierenden Einordnung des Romans eine Komplizität mit diskursiven Ausschlusspraktiken auf:"Quite frankly, the book is about sex" (Eble 1994: 189). Hinter der ethischen Fassade diverser Äußerungen verbirgt sich jedoch das Problem ästheti-scher Wahrheit, die wie die apophantische Wahrheit diskursiv reguliert wird:"Each society has its regime of truth, its 'general politics' of truth: that is, the types of discourse which it accepts and makes function as true [...]" (Foucault 1984: 73). Pollards Ungläubigkeit angesichts des Plots, abzulesen schon am Titel seines Artikels - "The Unlikely Awakening of a Married Woman" (Pollard 1994: 179-181) -, ist eine symptomatische Antwort auf Chopins Analyse der condition féminine in ihrem Roman, denn "its sexual realism assaulted American sexual-caste mythology" (Elfenbein 1994: 292). Darüber hinaus thematisiert der Text das zweite, vielleicht noch brisantere Zentraltabu abendländischer Kultur: den Tod. Beide Tabus haben brillante Analysen durch zwei Exponenten im Kampf gegen den "Willen zur Wahrheit - jene gewaltige Ausschließungsmaschinerie" (Foucault 1991: 17) - erfahren, nämlich Nietzsche und Freud.

Eine speziellere, dem Kanon geläufige Taktik, diente ebenfalls dem Ausschluss des Textes, nämlich die Etikettierung mit einem pejorativen Gattungsbegriff, die eine Negativbewertung dahingehend impliziert, dass das Werk nicht lesenswert sei:"Chopin's reputation as a writer has benefited immeasurably from the relaxation of the prescriptive canon which would exclude her from consideration as a serious artist because of the classification of the majority of her work as local colour" (Beer 1997: 12). Die Dichotomie von gehoben-anspruchsvoller gegenüber klischeehaft-trivialer Literatur spielt in literaturwissenschaftlichen Debatten wie auch in der institutionalisierten Literaturkritik nach wie vor eine eminente Rolle.

Um so frappierender nimmt sich die Leistung feministischer Literaturwissenschaftlerinnen aus, die "an honored place for The Awakening in an overwhelmingly patriarchal canon" (Thomas 1992: 57) gesichert haben. Dabei galt es auch inadäquate Interpretationen zu kritisieren, die ebenfalls opportune Ausschlussinstrumente sein können:"Such distorted and inaccurate interpretations have succeeded in denying a proper place in American fiction to what may be [...] one of her [Chopin's - M.H.] finest stories" (Blythe 1992: 208).[4] Reduziert man Chopins Text wahlweise auf eine amerikanische Madame Bovary, einen Roman über das skandalös promiskuöse Leben einer unmoralischen southern belle, einen feministischen Traktat oder eine impressionistische Hommage an Louisiana und die Kreolen, domestiziert man ihn zwar, unterwirft ihn logozentrischer Kontrolle, verdrängt das Unbehagen (in Freuds kulturtheoretischem Sinne) und schützt man sich vor gefährlichen Einsichten, doch wird dies weder dem Text noch seiner Repräsentation von Sexualität und Tod gerecht. Es ist vielmehr ein Indiz dafür, dass "die Interpretation eines literarischen Werkes immer auch einen Akt der Selbstdefinition darstellt" (Fluck 1997: 336), wobei für einige Rezensenten und Kritiker viel auf dem Spiel stand.[5]

Infolgedessen funktioniert der Kanon nicht bloß als nützliches Selektionsmedium, sondern auch als kultureller Filter, der alles Subversive oder einfach radikal Andere, das sich nicht so-

gleich klassifizieren und schematisieren lässt, abzuwehren sucht. Faktisch ist er damit im Falle von The Awakening zwar gescheitert, hat allerdings den Blick derart verstellt, dass erst in den letzten drei Dekaden ein Perspektivenwechsel hin zu den heiklen und beunruhigenden Aspek-ten zu verzeichnen ist. Sie lassen sich fast sämtlich auf die komplexe Interaktion von Kultur

und individueller Identität zurückführen, die viele Disziplinen, von Soziologie und Ethnologie über Psychoanalyse und Psychologie zu Philosophie, beschäftigt.

1.2 Theoretische Kontexte

The Awakening aus der Perspektive von Nietzsches Kultur- und Moralkritik einerseits und Freuds Psychoanalyse andererseits zu lesen, ist angesichts der Thematik und Struktur wie auch der Rezeptionsgeschichte und der Aktualität des Textes geradezu ein Imperativ. Nietzsches Reflexionen über den Wert von Wahrheit und Illusion, seine Kritik der Moral als Boll-

werk gegen gefährliche Fragen, seine Ideen zu Willensfreiheit und besonders über Leben und Tod sind nur einige Punkte, die untersucht werden müssen. Fundamental ist zunächst die le-

benserhaltende Funktion von Lüge und Schein, wie sie sich in Ideologie und Sittenkodex einer

Kultur manifestieren:"Die Falschheit eines Urteils ist noch kein Einwand gegen ein Urteil [...] Die Frage ist, wie weit es lebensfördernd, lebenerhaltend, Art-erhaltend, vielleicht gar Art-züchtend ist [...]" (Nietzsche 1886: 14).[6] In diesem Sinne sind moralische Vorstellungen ebenso wie Religionen und teleologische Metaerzählungen (z.B. Aufklärung) nur mehr oder weniger nützliche Fiktionen, die dann verlogen werden, wenn sie sich für Wahrheiten ausgeben. Jedoch ist die Moral prinzipiell Mittel zum Zweck, denn "nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt" (Nietzsche 1872: 53f.). Realisiert wird diese Vorstellung mit Hilfe der Lebenskunst, die es versteht, das Leben schön und angenehm erscheinen zu lassen, was jedoch im Sinne eines celere artem verschleiert werden muss, weil sonst die illusionierende Wirkung verschwände.

Der Versuch, ohne diesen schönen Schein auszukommen, bedarf immenser Charakterstärke; sonst führt er zu Nihilismus und Tod. Das awakening besteht auch in Ednas progressiver Des-illusionierung, in deren Verlauf sie nicht nur gegen patriarchalische Machtstrukturen, sondern auch gegen den "Kultus der Oberfläche" (Nietzsche 1886: 67) aufbegehrt, dem etwa ihr Mann, Adèle Ratignolle und Robert Lebrun frönen:"Wer tief in die Welt gesehn hat, errät wohl, welche Weisheit darin liegt, dass die Menschen oberflächlich sind. Es ist ihr erhaltender Instinkt, der sie lehrt, flüchtig, leicht und falsch zu sein" (ebda.). Es ist Furcht vor den andern, vor dem Tod, vor dem unmotivierten Bösen und vor der absurden Nichtigkeit menschlichen Daseins - "ein Augenblick, ein Zwischenfall, eine Ausnahme ohne Folge, etwas, das für den Gesamt-Charakter der Erde belanglos bleibt" (Nietzsche 1911: 836) -, die zu Moral und Kultur führt. Die damit einhergehende Setzung von Werten und Gesetzen suggeriert Ordnung und Sinn, wodurch das Leben in der Gemeinschaft eine besondere Dignität bekommt. Die Crux besteht darin, dass "der Mensch [...] mit Hilfe der Sittlichkeit der Sitte und der sozialen Zwangsjacke wirklich berechenbar gemacht" (Nietzsche 1887: 256) und bereits durch die (originär christliche) Evozierung eines schlechten Gewissens als Zeichen der Schuld entmündigt wird.

Der Preis für die Sicherheit ist also eine radikale Einschränkung der individuellen Entfaltungsmöglichkeiten, gegen die Edna die Handlung hindurch opponiert. Diese totalitäre, nivellierende und repressive Tendenz beschreibt Nietzsche so:"Moral ist heute in Europa Herdentier-Moral" (Nietzsche 1886: 105). Die Kultur als Trägerin dieser Moral ist es, die der individuellen Willensfreiheit ein Ende setzt, indem sie bestimmt, was gut und böse ist und welche Tabus und Rituale unbedingt einzuhalten sind. Dass diese Regelungen kontingent und labil sind und bestimmten Gruppen Vorteile verschaffen, wird durch ideologische Stützen kaschiert.[7] Edna versucht allerdings keine Umwertung der Werte, sondern wählt den Freitod.

Der Tod bietet einen Weg, sich der Kultur rigoros zu entziehen, ohne das Leben per se zu verneinen, denn der Suizid artikuliert den Wunsch nach einem besseren Leben. Umgekehrt ist der Tod immer präsent:"Hüten wir uns, zu sagen, dass Tod dem Leben entgegengesetzt sei. Das Lebende ist nur eine Art des Toten [...]" (Nietzsche 1882: 116).[8] Sichtbar wird das etwa an der Paralyse der "mother-women", deren automatisierte Bewegungen und stereotype Lebensführung eine gleichsam tödliche Stasis dokumentieren.

Besonders prekär ist der Schluss des Romans deshalb, weil die negativen Konnotationen des Todes hin zu seiner Ästhetisierung transzendiert werden. Das sinnlich verführerische Meer ist das dionysische Symbol für die Synthese von Leben und Tod; Edna findet nicht bloß ihren Tod, sondern sie agiert zugleich ihre mythische Wiedergeburt aus. Wie der Tod ist auch das Meer ein Numinosum:"Diese ungeheure Stummheit, die uns plötzlich überfällt, ist schön und grausenhaft, das Herz schwillt dabei" (Nietzsche 1881: 1219). Es ist die dionysisch-rausch-hafte Sphäre außerhalb der apollinischen Kultur, die einerseits archaische Triebe zu befriedi-gen verspricht - etwa in Form einer symbolischen Rückkehr in den Mutterleib als Negation des Trennungstraumas der Geburt - und andererseits als bedrohliche und selbst mit modernster Technologie nicht zu disziplinierende Naturgewalt erscheint, die den einzelnen zu verschlingen strebt und sich der Despotie von Logik und Ratio entzieht.[9]

Genau diese Aufhebung des principium individuationis ist nach Freud einer der innigsten Wünsche des Menschen, der sich unbewusst nach dem ozeanischen Gefühl der Ich-Entgren-zung und Verschmelzung mit dem All sehnt.[10] Zugleich steht der Todestrieb unter der Ägide des Lustprinzips, denn jenes ist

eine Tendenz, welche im Dienste einer Funktion steht, der es zufällt, den seelischen Apparat überhaupt erregungslos zu machen oder den Betrag der Erregung in ihm konstant oder möglichst niedrig zu erhalten [...] wir merken, dass die so bestimmte Funktion Anteil hätte an dem allgemeinsten Streben alles Lebenden, zur Ruhe der anorganischen Welt zurückzukehren. (Freud 1920: 247)

Überhaupt ist für die Protagonistin eine Dominanz des Lustprinzips zu konstatieren, der ein fast völliges Fehlen eines Realitätsprinzips korrespondiert. Die Ironie des Romantitels liegt darin, dass Edna überproportional viel schläft[11] und daneben gehäuft Ess-Szenen beschrieben werden. Dass Essen und Schlafen als regressiv-lustvolle Akte ein von Eros und Thanatos strukturiertes metaphorisches Erwachen keineswegs negieren müssen, wird zu zeigen sein. Nicht nur die Figurenebene ist von diesen Trieben betroffen; der Text selbst weist ins seinem impressionistisch-sinnlichen Präsentationsstil ein libidinöses Begehren auf, insofern Körper- und Raumwahrnehmung als zentrales Moment auffallen. Über die Interdependenz von Körper

und Psyche wird ebenso wie über die semantische Aufladung verschiedener Räume zu spre-

chen sein, zumal Chopin hier Lust und Unlust fiktionalisiert und damit eine implizite Analyse kreolischer Kultur vorlegt, die gerade nicht als lustfeindlich, sondern im Gegenteil als empha-tisch körperbejahend und permissiv dargestellt wird.[12] Dennoch existiert auch ein Über-Ich im

individuellen wie im weiteren Sinne eines kulturellen Gedächtnisses oder einer Tradition, dass dem Es enge Grenzen setzt. Es manifestiert sich z.B. im Ehecode, der die vermeintliche Libe-

ralität kreolischer Kultur als Verhüllungsstrategie dekouvriert und eine androzentrische Trieb-regulierung institutionalisiert, zu der sich die "Unwiderstehlichkeit perverser Impulse, viel-leicht der Anreiz des Verbotenen überhaupt" (Freud 1930: 45), etwa in Form von Ehebruch[13] und homoerotischen Neigungen, die zu erörtern sein werden, antagonistisch verhält.

Die solchen Affekten und Trieben restriktiv entgegentretende bürgerliche Kultur hingegen ba-

siert auf einem konstitutiven Triebverzicht und fordert "Schönheit, Reinlichkeit und Ordnung"

(Freud 1930: 59) von jedem einzelnen, womit zwei Ziele anvisiert werden: der "Schutz des Menschen gegen die Natur" und die "Regelung der Beziehungen der Menschen untereinan-der" (Freud 1930: 56). Damit überfordert sie viele Menschen und führt in bestimmten Fällen zur Neurose oder gar Psychose,[14] deren Symptome in ihrer Bedeutung als Wiederkehr des Verdrängten dechiffriert werden müssen. Indem die Kultur Leid vom Individuum abzuwenden scheint, schafft sie neue Traumatisierungen und suggeriert:"[...] wir wären viel glücklicher, wenn wir sie aufgeben und in primitive Verhältnisse zurückfinden würden" (Freud 1930: 52). Das ist eine prägnante Charakterisierung dessen, was Edna über weite Strecken des Textes probiert. Der Schluss kann als Indiz dafür gewertet werden, dass "die ganze Anstrengung [...] nicht der Mühe wert" sei, denn ihr Ergebnis "könne nur ein Zustand sein, den der einzelne unerträglich finden muss" (Freud 1930: 107). Obgleich Freud diesen Auffassungen nicht explizit zustimmt, nimmt er sie in seiner Kulturanalyse ernst und demonstriert, dass sie als verständliche Gedanken in der Konfrontation mit einer als überflüssig und schädlich empfun-

denen Kultur auftreten.

Wie lässt sich nun der Roman anhand dieses Gedanken- und Theoriekonglomerates, das durch Luhmanns systemtheoretische Überlegungen zur Liebessemantik (besonders 2.2) sowie durch Kristevas semiotisch-psychoanalytische Theorie (v.a. 3.2) ergänzt werden soll, kontextuali-sierend deuten? Die Forschung hat Nietzsches Gedanken so gut wie nicht auf den Text appliziert, während psychoanalytische Interpretationen Edna allzuoft als Fallstudie betrachten und infantile Regression oder Narzissmus diagnostizieren, was lediglich den normativ-psy-chiatrischen Diskurs reproduziert. Statt dessen gilt es, die Prozessualität von Kultur und Iden-tität phänomenologisch zu beschreiben und ihre Modellierung im Text zu untersuchen.

2. Die frankoamerikanische Kultur der Kreolen

Die im Text porträtierte kreolische Gesellschaft im südlichen Louisiana (insbesondere in New Orleans) der 1890er Jahre ist mit zwei wesentlichen Attributen versehen: sie ist dominant französisch[15] und katholisch. Infolgedessen kann sie als kulturelle Enklave in den USA des ausgehenden 19. Jahrhunderts gesehen werden und kontrastiert mit der Kultur der Presbyterianer in Kentucky, der Edna entstammt,[16] so dass ein "clash between the dominant southern culture in which Edna was raised and the New Orleans Creole subculture in which she finds herself after her marriage" (Walker 1988: 67) zu konstatieren ist. Herrscht in der ersten ein strikt puritanischer Kodex, erscheint die zweite als progressiv sinnenfreundlich und liberal,[17] was stereotypen zeitgenössischen Vorstellungen von der französischen Gesellschaft entspricht,[18] aber auch mit einer konfessionellen Spezifik zusammenhängt:"The Catholic church [...] was largely unaffected by the wave of southern conservatism in the middle years of the nineteenth century [...]" (Walker 1988: 69).[19]

Indessen gibt es nicht nur Differenzen, sondern auch signifikante Parallelen, die für die bürgerliche Kultur insgesamt charakteristisch sind und vor allem die soziale Position der Frau betreffen:

To be sure, southern society placed as high a premium on female chastity [...] as did northern society - and for social and racial reasons. The sexuality of upper-class white women - like its reverse, their chastity - constituted the visible and sacred prize of upper-class white men, who were honour-bound to

defend it. But this very claim also reveals the defense of white female sexuality to have been a class and racial, rather than an individual, matter. (Fox-Genovese 1988: 37f.)

Der genuin religiöse, jedoch gleichermaßen sozial und ökonomisch valide Ehevertrag erhält hier seine Funktion, die bürgerliche Gesellschaft zu organisieren und zu stabilisieren; die Kreolenkultur illustriert dieses Prinzip. Der viktorianisch-sentimentale Code definiert auch die Geschlechterrollen ganz klar in Form einer "necessary and valuable separation between the wife's role as the guardian of American culture [...] and the man's role as the economic provider" (Weir 1990: 201), idealisiert in den Figuren des angel in the house und des self-made man, die ihre ideologische Fixierung und Selbstvergewisserung in der domestic novel"mit ihrer Ethik des Selbstverzichts, ihrem Postulat psychischer Selbstregulierung und einer damit verbundenen neuen emotionalen Ökonomie auf der Wirkungsebene des Textes" (Fluck 1997: 323) erfahren. In diesem Sinne ist Tanners Postulat von "relationships between a specific kind of sexual act, a specific kind of society, and a specific kind of narrative" (1979: 12) zuzustimmen. Ednas Ehebruch ist nicht einfach private Untreue, sondern eine soziale Transgression, die die Fundamente ihrer Gesellschaft tangiert.

Für sich ist diese Analyse jedoch zu undifferenziert, weil der Text zu jenen Romanen gehört, "die in Zonen der Vermischung angesiedelt sind (zwischen Klassen, Rassen, ethnischen Kulturen, zwischen Hochkultur und Populärkultur) [...]" und fasziniert von "den Formen und Bedingungen 'barbarisch'-triebhafter Existenz, vom ausgeklammerten 'Anderen'" (Ickstadt 1998: 25) sind. Über den Nexus von bürgerlicher Gesellschaft, deren Moral und kapitalistischem Wirtschaftssystem hinaus ist eine Interpretation aus postkolonialer Sicht zu leisten, um die Vernetzung sowie den modus operandi von class, gender und race explizieren zu können (s. 2.5).

2.1 Moral, Ästhetik und Illusion

Es sind nicht zuletzt gesellschaftliche Konventionen und moralische Normen, die die Protago-

nistin dazu animieren, dem diametral entgegengesetzte romantische Illusionen[20] zu kultivie-ren:"Because of the social conventions that prescribe behavior in her world, Edna has no-where to go, succumbing to the promises of romanticism while living in a society that will not tolerate the terms she sets for her own freedom" (Thornton 1996: 86). Allerdings machen gerade diese Phantasmen sie heteronom, weil sie patriarchalisch instrumentalisiert sind, inso-fern sie den Status quo beschönigen und ideologisch legitimieren. Doctor Mandelet formuliert das im Gespräch mit Edna:"The trouble is [...] that youth is given up to illusions. It seems to be a provision of Nature; a decoy to secure mothers for the race. And Nature takes no account of moral consequences, of arbitrary conditions which we create, and which we feel obliged to maintain at any cost" (Awakening: 105). Was er jedoch allegorisierend und camouflierend der Natur zuschreibt, ist eine Machination patriarchalischer Kultur.

Als Subjekt spaltet sich Edna in zwei personae und führt faktisch ein Doppelleben, nämlich "that outward existence which conforms" und "the inward life which questions" (Awakening: 14). Es ist primär dieser Konflikt zwischen gesellschaftlicher Inszenierung und psychischer 'Realität', den Edna austragen muss. Prekär ist daran, dass beide Sphären von bestimmten Illusionen geleitet sind, wobei die äußere Hegemonie der ersten in ihrer Wirkung auf das Leben jedes einzelnen unübersehbar ist.[21]

Auf soziokultureller Seite führt die Einhaltung der Etikette dazu, dass in speziellen Situationen

Lügen zur Pflicht wird:"Why do you force me to idiotic subterfuges?" (Awakening: 100) fragt Robert Edna, als sie wissen möchte, warum er sich von ihr ferngehalten hat. Die Situation wird derart absurd, dass er ihr einen Katalog von Ausreden offeriert, von denen sie sich eine beliebige aussuchen soll. Überdies wird der individuelle Wille dem Protokoll untergeordnet:

"[...] we've got to observe les convenances if we ever expect to get on and keep up with the

procession" (Awakening 49) mahnt Ednas Mann, als er erfährt, dass sie an ihrem reception day ausgegangen ist, anstatt respektable Gäste zu empfangen, die den Pontelliers dabei helfen könnten, sozial und ökonomisch zu avancieren. Welches persönliche Opfer gerade die kapita-

listische Arbeitswelt verlangt, zeigt Roberts Fazit seines Mexikoaufenthaltes:"I've been working like a machine, and feeling like a lost soul" (Awakening: 95). Dehumanisierung und Isolation erlebt auch Edna, jedoch mit dem Unterschied, dass sie mit fluktuierender Energie,allerdings ohne sozialkritische oder gar revolutionäre Ambitionen,[22] gegen ihren Objektstatus aufbegehrt:"Edna rejects society's stultified Victorian will (as exemplified by her husband)" (J. Jacobs 1988: 113).

Entpuppen sich Lüge und Schein als gesellschaftliches Fundament, impliziert dies in Nietz-sches emphatisch nichtmoralischer Exegese noch keine ethische Beurteilung der kreolischen Kultur. Zunächst geht es um Stabilisierungsstrategien, die jeder Gesellschaft zur Verfügung stehen müssen, wenn sie sich perpetuieren will. Kritisch wird es dann, wenn ein derartiges Sinnvakuum entsteht, dass jedwede Veränderung besser als der gegenwärtige Zustand er-scheint:"She wanted something to happen - something, anything; she did not know what" (Awakening: 72). Die kulturellen Ordnungsphantasmen versagen hier nämlich an ihrer Funk-

tion, das Leben - "life, that monster made up of beauty and brutality"[23] (Awakening: 80) – zu

ästhetisieren und lebenswert erscheinen zu lassen;[24] statt dessen machen sie es so unerträglich, daß sich eine radikal nihilistische Haltung formiert:"There were days when she was unhappy, she did not know why, - when it did not seem worth while to be glad or sorry, to be alive or dead; when life appeared to her like a grotesque pandemonium and humanity like worms struggling blindly toward inevitable annihilation" (Awakening: 56). Dabei kristallisiert sich auch die Bedeutungslosigkeit anderer heraus:"She did not deem it worth while to go in search of any of the fashionable acquaintances from whom she had withdrawn herself (Awakening: 72). Je mehr diese comme il faut sind, umso stereotyper, langweiliger und entbehrlicher erscheinen sie Edna.

Der Kulturprozess erweist sich letztlich als kontraproduktiv, weil er eine Lebensmüdigkeit im wahrsten Sinne des Wortes provoziert, die dann eintritt,

wenn wir einen 'Sinn' in allem Geschehen gesucht haben, der nicht darin ist: so dass der Sucher endlich den Mut verliert. Nihilismus ist dann das Bewusstwerden der langen Vergeudung von Kraft, die Qual des 'Umsonst', die Unsicherheit, der Mangel an Gelegenheit, sich irgendwie zu erholen, irgendworüber noch zu beruhigen - die Scham vor sich selbst, als habe man sich allzulange betrogen". (Nietzsche 1911: 676).

Das ist das Resultat der Erkenntnis, dass der Kulturprozess weder teleologisch verläuft noch irgendeinem anderen rational sinnstiftenden Prinzip folgt und dass als Surrogate eingeführte mentale Welten, bei Edna etwa ihre romantische Imagination, lediglich existentielle seelische

Bedürfnisse befriedigen sollen, ohne im technischen Sinne "wahr" zu sein. Diesen eskapisti-schen Bereich des schönen Scheins (in beiden Bedeutungen, d.h. als luminöses Scheinen und als "falsche" Oberfläche) repräsentieren der Kavallerieoffizier, der junge Mann und der Tragöde, mit denen Edna ideale Liebesbeziehungen imaginiert, die nie aktualisiert werden und es wohl auch nicht sollen, weil das dann in Aktion tretende Realitätsprinzip das Ideal so weit korrigieren müsste, dass die Illusion demontiert würde. Das Dilemma von lebenserhaltender Illusionierung und schmerzhafter Desillusionierung problematisiert die Protagonistin selbst gegenüber Mandelet:"The years that are gone seem like dreams - if one might go on sleeping and dreaming - but to wake up and find - oh! well! perhaps it is better to wake up after all, even to suffer, rather than to remain a dupe to illusions all one's life" (Awakening: 105). Para-

doxerweise führt jedoch die Desillusionierung, das Erwachen zur Realität, zu einem Verlust

des Lebensgefühls, ja, zur Erkenntnis eines ungelebten Lebens:"[...] it seemed to her as if life were passing by, leaving its promises broken and unfulfilled" (Awakening: 70).

Insgesamt manifestiert sich an der kreolischen Kultur weniger ein rigider Moralkodex als viel-mehr ein als selbstverständlich erachteter Verhaltenscode. Verstöße gegen ihn werden nicht direkt gesellschaftlich sanktioniert, sondern zunächst mit Erstaunen darüber quittiert, dass sie ohne weiteres möglich sind, wie Edna mehrfach aufzeigt. Oft regelt dieser Code auf den ersten Blick Trivialitäten, die eben dadurch ihre Bedeutung erlangen:"The quadroon nurse was looked upon as a huge encumbrance, only good to button up waists and panties and to brush and part hair; since it seemed to be a law of society that hair must be parted and brushed" (Awakening: 9). Der auktoriale Erzählerkommentar am Ende dieser Stelle lenkt den Blick darauf, wie arbiträr, lästig und möglicherweise überflüssig solche selten verbalisierten und doch omnipräsenten Regeln sein können. Nichtsdestoweniger sind gerade sie es, die dem kul-

turellen Mikrokosmos als regulative Prinzipien (im Gegensatz zu den kulturkonstitutiven Territorialisierungen und Gesetzen, etwa gegen Diebstahl und Mord) seine Kohärenz verlei-

hen. Besondere Relevanz kommt ihnen außerdem zu, weil sie geeignet sind, den Menschen vom Tier zu unterscheiden, was eine grundlegende Funktion von Kultur überhaupt ist.

Das Brisante an Nietzsches Kulturkonzept wie an Freuds Anthropologie liegt nun darin, dass beide diese Unterscheidung drastisch relativieren und dem Menschen als 'animalisch' stigmati-sierte Instinkte und Affekte nicht bloß zuschreiben, sondern auch auf deren Rehabilitierung abzielen. Nietzsche bezeichnet den Menschen als "liebliche Bestie" (1882: 189), "Raubtier[e]" (1887: 241) und als "soziales Tier" (1882: 221). Die Gretchenfrage der Kultur lautet bei ihm:"Wie kam der Instinkt des Tieres Mensch auf den Kopf zu stehn?..." (1911: 828).[25]

Vollends aporetisch wird es dort, wo klar wird, dass die Schaffung von Kultur ein affektiven Impulsen entspringender Gewaltakt ist und dass eine kontinuierliche Gewalt - sowohl gegen die Natur als auch gegen die Individuen - operieren muss, um den Fortbestand dieser Kultur zu sichern. Das wesentliche Element in der Mikrostruktur jeder bourgeoisen Gesellschaft, für das latente Gewalt- und Machtstrukturen entscheidend sind, ist in diesem Zusammenhang die Ehe (und, darauf aufbauend, die Familie).

2.2 Liebessemantik vs. Ehecode

Luhmann geht davon aus, dass sich im Übergang von der stratifikatorisch-traditionellen zur funktional in Subsysteme ausdifferenzierten modernen Gesellschaftsform auch das Ideengut der Semantik elementar verändert. Er bedient sich zu ihrer Analyse einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, die es ermöglichen, an sich unwahrscheinlichen Kommunikationen Erfolg zu verschaffen und insofern die Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen steigern. Dieser Ansatz legt einen spezifischen Liebesbegriff zugrunde:"In diesem Sinne ist das Medium Liebe selbst kein Gefühl, sondern ein Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen und sich mit all dem auf die Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn entsprechende Kommunikation realisiert wird" (Luhmann 1994: 23).

Ist das hier relevante semantische Feld das der Freundschaft und Liebe, so stellt die Sexualität als eine Form sprachloser Kommunikation einen wesentlichen Referenzraum dar, während die Passion als Leitsymbol fungiert, das die Themenstruktur des Mediums organisiert. Voraussetzung für das Entstehen einer Liebessemantik ist die Individualität der Beteiligten, weil es um persönlich-intime Beziehungen zwischen Individuen mit Selbstreferenz geht.[26] Historisch sieht Luhmann eine Evolution dieser Semantik als Folge einer kontinuierlichen Suche der Sinngebung, die immer neue Akzentverschiebungen bewirkt. Konkret verläuft dies von einer Idealisierung (höfische Liebe des Mittelalters) über eine Paradoxierung (Rechtfertigung von Liebe durch Imagination) hin zu einer Reflexion von Autonomie bzw. Selbstreferenz, die die Autonomie von Intimbeziehungen einschließt.

Im Laufe dieser Evolution werden verschiedene Leitdifferenzen durchgespielt: aufrichtig-un-aufrichtig (bzw. wahr-falsch), frivol-sentimental, platonisch-sexuell. Je nachdem, ob es sich um den Code der Galanterie, der Passion oder der romantischen Liebe handelt, werden andere Kategorien aktualisiert. Institutionell bedeutsam ist in jedem Fall der Übergang von dynastisch oder ökonomisch funktionalisierten und arrangierten Heiraten zu Liebesheiraten, womit ideologisch die Einheit von Liebe und Ehe postuliert wird. Eine abgeschwächte Variante zwischen diesem Konzept und der (ironischerweise ursprünglich puritanischen!) Vorstellung von companionship motiviert Edna, Léonce zu heiraten:"She fancied there was a sympathy of thought and taste between them, in which fancy she was mistaken" (Awakening: 18).[27] Welch ein riskantes Experiment damit angestellt wird, verdeutlicht Luhmanns Bestimmung der Liebe:"Die Liebe [...] ist ideal und paradox, sofern sie die Einheit einer Zweiheit zu sein beansprucht" (Luhmann 1994: 172).[28]

Léonce Pontellier hingegen betrachtet seine Ehe weniger als auf gegenseitiger Liebe oder gar Leidenschaft begründet; für ihn ist sie ein Geschäftsvertrag, der Edna unter seine materiellen Besitztümer einreiht. Es besteht ein Antagonismus zwischen der von Edna repräsentierten ro-

mantischen Liebessemantik und dem in ihrem Ehemann hypostasierten bürgerlichen-kapitali-

stischen Ehecode, der vom ökonomischen Subsystem gelenkt wird. Aus einer zeitgenössi-schen Optik erscheint Ednas Wunschvorstellung als "ideologische Fehlsteuerung durch 'romantische Liebe'" (Luhmann 1994: 192), weil sie über die Konventionen hinausgehende Erwartungen an ihre Ehe heranträgt:"Gerade Hoffnungen und Erwartungen, die etwas Vermisstes zu finden, etwas Unerfülltes zu erfüllen suchen, können auch Maßstäbe aufbauen, die sich nicht oder nur schwer erfüllen lassen" (Luhmann 1994: 196). Dialogisch umgesetzt wird die Antinomie von Liebe und Ehe im Gespräch zwischen Robert und Mariequita:

"Are those two married over there - leaning on each other?"

"Of course not," laughed Robert.

"Of course not," echoed Mariequita, with a serious, confirmatory bob of the head. (Awakening: 33)

Bemerkenswerterweise ist Léonce Pontellier keineswegs ein tyrannischer Ehemann,[29] der auf seinem "Besitzrecht" insistieren würde; er konsultiert sogar Doctor Mandelet,[30] als er Ednas Verhalten nicht mehr verstehen kann, anstatt sie mit Gewalt zum Gehorsam zu zwingen, wie

es ihr Vater empfiehlt: "'You are too lenient, too lenient by far, Léonce,' asserted the Colonel.

'Authority, coercion are what is needed. Put your foot down good and hard; the only way to

manage a wife. Take my word for it'" (Awakening: 68). Der Kontrakt zwischen Edna und Léonce basiert auf Ungleichheit und vor allem auf einem Missverständnis, weil beide disparate Ehekonzepte haben, ohne das vorher herauszufinden. Es ist eine Opposition von romanti-scher Passion einerseits und gesellschaftlich-ökonomischer Übereinkunft andererseits. Paradoxerweise veranlasst diese dissonante Ehe - ursprünglich auch ein Protest gegen ihre presbyterianische Herkunft - die Protagonistin, nun gegen sie selbst zu rebellieren. Das gravierendste Problem für Edna ist der Konnex von Ehefrau und Mutter innerhalb der Ehe:"in short, Mrs. Pontellier was not a mother-woman" (Awakening:9). Im Gegenteil empfindet sie ihre Kinder zeitweise als Belastung und fühlt sich von ihnen massiv eingeengt. Es ist die Realität gesellschaftlicher und familiärer Verpflichtungen (gegenüber ihrem Mann und den Kindern), der sie zu entkommen versucht.[31]

Die sukzessive fortschreitende Entfremdung von ihrem Ehemann äußert sich in gescheiterter Kommunikation, die unter anderem anzeigt, dass Liebe als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium hier nicht mehr funktioniert:"What should I do if he stayed home? We wouldn't have anything to say to each other" (Awakening: 66). Sie kulminiert in Ednas Ehebruch, der selbst in ihrem vergleichsweise permissiven kulturellen Milieu tabu ist:"A certain light was beginning to dawn dimly within her, - the light which, showing the way, forbids it" (Awakening: 14). Hier kommt auch der Reiz des Verbotenen ins Spiel, der als kulturelles Phänomen vielfach dergestalt in Erscheinung tritt, dass bestimmte Delikte dazu führen, dass Gesetze gegen sie erlassen werden, die dann ihrerseits dazu provozieren, gegen sie zu verstoßen.

Der Akt des Ehebruchs per se ist im Text eher marginal, insofern er Ednas Entwicklung und

Widerstand signalisiert, jedoch keinen integralen Bestandteil des Plots bildet. Überraschend begeht die Protagonistin ihn nicht mit Robert, sondern mit Alcée Arobin. Küßt er sie bereits am Ende von Kapitel XXVII, so findet sich die entscheidende Textpartie am Ende von Kapitel

XXXI:"He did not answer, except to continue to caress her. He did not say good night until

she had become supple to his gentle, seductive entreaties" (Awakening: 88). Aus der Perspek-

tive eines modernen Lesers mutet diese Beschreibung eher implizit und harmlos an, doch sei-

nen brisanten Aspekt erhält das Geschehen im nachhinein, denn Edna entdeckt zwar wider-sprüchliche Emotionen in sich, aber "there was neither shame nor remorse" (Awakening: 80).

Ihre Depressionen stammen vom Mangel an Liebe in ihrer Affäre mit Arobin, anstatt sich auf ein Schuldgefühl ihrem Mann und ihren Kindern gegenüber zu gründen. Sie beurteilt ihr Ver-

halten nicht als unmoralisch[32] und wird darin insofern bestätigt, als die in diesem Punkt re-striktive Gesellschaft von New Orleans zu keinerlei Sanktionen greift.

Ungleich wichtiger als der faktisch vollzogene Ehebruch ist die folgende, viel früher stattfin-

dende und symbolisch aufgeladene Szene:"Once she stopped, and taking off her wedding ring,

flung it upon the carpet. When she saw it lying there, she stamped her heel upon it, striving to crush it. But her small boot did not make an indenture, not a mark upon the little glittering circlet" (Awakening: 50-51). Es ist Ednas Versuch, den mit Léonce geschlossenen Ehevertrag zu annullieren und ihren Status als quasi-materielles Eigentum ihres Mannes und ihrer Kinder

abzulegen. Als sie erkennt, dass auch der Ehebruch nicht zu ihrem Ziel führt, resigniert sie: "Today it is Arobin; to-morrow it will be some one else. It makes no difference to me" (Awakening: 108).

Robert wird primär dadurch zur Kontrastfigur in bezug auf Arobin, dass er vor der Transgres-

sion gegen den kreolischen Ehecode flüchtet, indem er eine überstürzte Geschäftsreise nach Mexiko antritt. Selbst nach seiner Rückkehr und der zufälligen Begegnung mit Edna in Mademoiselle Reisz' Wohnung entscheidet er sich schließlich dafür, mit diesem Code konform zu gehen und verlässt Edna endgültig, weil sie verheiratet und infolgedessen unerreichbar ist. Die doppelte Ironie daran ist, dass er in seiner schematisch-konventionellen Handlungsweise Léonce ähnelt und außerdem sein anfängliches Benehmen ihr gegenüber desavouiert:

He had lived in her shadow during the past month. No one thought anything of it. Many had predicted that Robert would devote himself to Mrs. Pontellier when he arrived. Since the age of fifteen, which was eleven years before, Robert each summer at Grand Isle had constituted himself the devoted attendant of some fair dame or damsel. Sometimes it was a young girl, again a widow; but as often as not it was some interesting married woman. (Awakening: 11)

Es ist ein gesellschaftlich sanktioniertes Spiel, das Robert mit Edna spielt. Er hofiert und kom-

plimentiert sie bei jeder Gelegenheit, ohne - dies das Frappierende - Anstoß zu erregen. Das liegt daran, dass er sich permanent auf elaborat codiertem Terrain befindet, das eine idiosyn-kratische Komponente im Umgang der kreolischen Kultur mit Liebe und Ehe ausmacht: Er in-

szeniert eine imaginäre Liebesbeziehung mit Edna und mimt den Galan so dramatisch outriert,

dass für jeden außer Edna ein frivol-spielerisches Moment klar wird,[33] das Wade psychologisch deutet:"Robert is to be seen as an adolescent, comfortable in a romantic intrigue, but uneasy in a sexually demanding affair. Chopin hints at Robert's internalization of social norms [...] as the motivation for his cowardice and reluctance to consummate his relationship with Edna physically" (1999: 100). Das mag trotz der moralisierenden Aussage stimmen, erklärt allerdings nicht die kulturelle Funktionsweise in diesem Verhalten.

Als Kulturstrategie interpretiert, dient Roberts Spiel dazu, das Tabufeld Untreue/Ehebruch unter diskursive Kontrolle zu bringen, die umso effektiver ist, wenn sie ohne Verdrängung auskommt, die immer die Gefahr einer Wiederkehr des Verdrängten birgt. Mit dieser Strategie konvergiert die Position, die der Ehemann unter diesem Gesichtspunkt seiner Frau gegenüber einnimmt:"The right hand jealous of the left! The heart jealous of the soul! But for that matter, the Creole husband is never jealous; with him the gangrene passion is one which has become dwarfed by disuse" (Awakening: 12). Interessant ist die Charakterisierung als "gangrene", das nicht nur Korrumpierung, sondern auch Tod und Verfall bedeutet. Eifersucht wird demzufolge als kulturschädigender Faktor gewertet, was eher psychologisch-beziehungsdynamisch als orthodox patriarchalisch gedacht ist. Innerhalb des hier geltenden Codes besteht zu keinem Zeitpunkt ein Zweifel an der Fingiertheit der “Liaison” zwischen Robert und Edna:”The relationship [...] is, of course, expected to have limits” (Walker 1994: 254). Daß das galante Spiel zugelassen wird, verdeutlicht, wie sicher man sich hinsichtlich dieser Grenzen ist:”The leniency of Creole society, especially its tolerance for the attendant gallantry of a bachelor, actually indicates the confidence of its patriarchs” (D. Jacobs 1992: 86).

[...]


[1] "Despite the popularity of her short stories [...], Chopin was not included in many of the literary histories and other reference works during the first half of the century" (Walker 1993:143).

[2] "Because her [Edna's-M.H.] cast-off delusions were among the myths by which Kate Chopin's Victorian contemporaries lived, The Awakening waited nearly two generations for an adequate critical response" (Wheeler 1975: 128). Vgl. auch Bauer/Lakritz 1988: 47.

[3] Gleichwohl ist es eine Legende der Sekundärliteratur, daß der Text verboten wurde (vgl. Toth 1999: 46 und Toth 1988: 65). Die hier genannten Mechanismen waren zugleich subtiler und effektiver.

[4] Gemeint ist "Charlie", doch das Prinzip läßt sich cum grano salis auf The Awakening übertragen.

[5] Vgl. Fußnote 2.

[6] Wissenschaft ist dem natürlich diametral entgegengesetzt, insofern ihr Objektivitäts- und Wahrheitsideal (ungeachtet aller Problematisierungen) auf das "Leben" keine Rücksicht zu neh-men scheint. Trotzdem besteht ein Zusammenhang, insofern auch Wissenschaft Resultat einer Triebsublimierung sein und damit vitalen Affekten entspringen kann.

[7] Dieser Mechanismus ist nicht nur repressiv, sondern auch verlogen, wodurch die kon-krete herrschende Moral unmoralisch wird:"Aber habt ihr euch selber je genug gefragt, wie teuer sich auf Erden die Aufrichtung jedes Ideals bezahlt gemacht hat? Wieviel Wirklichkeit immer da-zu verleumdet und verkannt, wieviel Lüge geheiligt [...] werden mußte?" (Nietzsche 1887: 294).

[8] "Leben - das heißt: fortwährend etwas von sich abstoßen, das sterben will [...]" (Nietzsche 1882: 59).

[9] Man denke an die Funktionen des Mythos Meer in Melvilles Moby Dick. Zivilisationsflucht, reiheitsdrang und intensiviertes Lebensgefühl, aber auch entfesselte Naturgewalten und Tod sind mit ihm assoziiert.

[10] "Dies Eins-Sein mit dem All [...] spricht uns ja an wie ein erster Versuch einer religiösen Tröstung, wie ein anderer Weg zur Ableugnung der Gefahr, die das Ich als von der Außenwelt drohend erkennt" (Freud 1930: 39). Letztlich zielt dieses Phantasma auf dieselbe metaphysische Gewißheit ab, die philosophische Gottesbeweise liefern sollten. Obwohl sie nicht erreicht werden kann, versucht das Ich, genauer das Es, paradoxerweise permanent, sie zu erlangen.

[11] Damit verbunden sind Träume, die eine - metaphorisch verdichtete oder metonymisch verschobene - imaginäre Wunscherfüllung leisten.

[12] Als methodische Kautel sei hier betont, daß es selbstverständlich nicht um die authentische Kreolenkultur, sondern um deren fiktionalisierte Version im Text geht.

[13] Auch in der kreolischen Kultur ist dieser den Männern mit nicht weißen (!) Frauen gestattet und wird in dieser Form nicht als Ehebruch angeprangert. Freud konstatiert:" [...] die für den Mann in unserer Gesellschaft geltende 'doppelte' Sexualmoral ist das beste Eingeständnis, daß die Gesellschaft selbst, welche die Vorschriften erlassen hat, nicht an deren Durchführbarkeit glaubt" (Freud 1908: 123f.).

[14] In Nietzsches Deutung hingegen führt das Versagen und Verzweifeln an den Kulturgeboten zu Nihilismus und amor fati als Symptomen einer lebensmüden Seele. Aus anthropologischer Sicht konstatiert er eine "krankhafte Verzärtlichung und Vermoralisierung, vermöge deren das Getier 'Mensch' sich schließlich aller seiner Instinkte schämen lernt" (Nietzsche 1887: 264).

[15] "The community about which she [Chopin-M.H.] wrote [...] was, in short, far more French than American" (Ziff 1994: 196).

[16] Daß sie nicht voll integriert ist, betont folgende Passage:"Mrs. Pontellier, though she had married a Creole, was not thoroughly at home in the society of Creoles" (Awakening: 10).

[17] Walker (1988: 70) benennt dies als "atmosphere of social freedom". Im Text ist die Rede von "entire absence of prudery" und "freedom of expression" (Awakening: 10).

[18] Die Chopin in ihrem Werk verarbeitet:"Throughout Chopin's work, France and Frenchness are used as signifiers of desire, the illicit, and sexual pleasure" (Taylor 1999: 26).

[19] Daß Chopin über intime Kenntnisse dieser Art verfügte, macht ihre Biographie plausibel:"Although Kate Chopin lived exclusively in St. Louis at the time of her literary production, she made frequent trips to Louisiana to visit her husband's relatives [...] This French Creole family played a key role in Kate Chopin's life, and echoes of her Louisiana in-laws pervade her work [...]" (Bardot 1992: 35).

[20] Diese sind zwar ontologisch bzw. epistemologisch betrachtet irreal bzw. falsch, erlan-gen aber andererseits einen intensiven Realitätsgrad für das betreffende Subjekt und rekurrieren darüber hinaus auf die als solche erlebte soziokulturelle Wirklichkeit, deren - wenn auch nur for-maler - Bestandteil sie zugleich sind.

[21] Die sprachlichen Reflexe dieser Dichotomie untersucht Ringe (1994).

[22] Cf. Ringe:"It is not the morality of Edna's life that most deeply concerns her [Chopin-M.H.], nor even the feminist concept so obviously present in the book" (1994: 227).

[23] Diese prägnante Charakterisierung ist ein verbales Echo von Nietzsches Auffassung vom Leben als Kunst wie als Kampf.

[24] Ein solches Versagen wird im Text an der Religion sichtbar:"[...] her [Edna's-M.H.] one thought was to quit the stifling atmosphere of the church and reach the open air" (Awakening: 34). Pointiert wird das durch die geradezu physiologische Bedrohung, die sich in der Beklemmung Ednas äußert.

[25] Der Instinkt, worunter in Nietzsches Philosophie in der Regel aggressive Triebe und insbesondere der Wille zur Macht zu verstehen sind, ist also aller zivilisatorischen Deformation zum Trotz nach wie vor da, ebenso wie Freud von einer Sublimierung der Triebe und einer Kanalisierung psychischer Energie ausgeht. Es geht folglich nicht um Substitution oder gar Eliminierung, sondern um eine zweckrationale Transformation, die jedoch nie ganz gelingen kann.

[26] "Selbstreferentiell" ist ein System in Luhmanns Terminologie dann, wenn es die Elemente, aus denen es besteht, selbst reproduzieren kann.

[27] Zweifellos ist ihre Entscheidung aber auch ein Akt der Rebellion gegen ihre Familie, insbesondere gegen den Rigorismus ihres Vaters. Subliminal mag ein Fluchtmotiv durchaus vorliegen.

[28] Die Erzählerstimme unterstreicht die Kontingenz und Unsicherheit dieser Ehe:"Her [Edna's-M.H.] marriage to Léonce Pontellier was purely an accident, in this respect resembling many other marriages which masquerade as the decrees of Fate" (Awakening: 18). Diese Maskerade wird wesentlich von einer besonderen Liebessemantik geleistet, die suggeriert, daß die Partner füreinander prädestiniert seien und daß ihr Aufeinandertreffen höhere (göttliche oder quasi-göttliche) Fügung sei.

[29] Vgl. Franklin:"Though one assumes this society is patriarchal because marriage and motherhood bestow on the women their sole power, Pontellier and Ratignolle are unassertive" (1984: 513). Das ändert jedoch nichts an den Machtstrukturen; daß sie ohne direkte Gewalteinwirkung auskommen, zeigt lediglich, mit welcher Raffinesse sie operieren.

[30] Bei ihm beschwert er sich über Ednas Diktum über Ehen:"She says a wedding is one of the most lamentable spectacles on earth. Nice thing for a woman to say to her husband!"(Awakening: 63). Sozial inakzeptablel ist wohlgemerkt nicht die Enttäuschung der Protagonistin, sondern die Tatsache, daß sie sie so prononciert ausspricht.

[31] So erklärt sich ihre Konsternation angesichts des Lebens, das die Ratignolles führen:"It was not a condition of life which fitted her, and she could see in it but an appalling and hopelessennui" (Awakening: 54).

[32] Ihr Verdikt in bezug auf sich selbst formuliert die Situation und stellt heraus, daß sie die Grenzen des kulturellen Codes testen will:"By all the codes which I am acqainted with, I am a devilishly wicked specimen of the sex" (Awakening: 79). Daß sie dies ausgerechnet zu Arobin sagt, deutet ferner auf Koketterie und Provokation, zwei sehr prominente und traditionelle Momente in der Evolution der Liebessemantik (insbesondere im höfisch-aristokratischen Kontext).

[33] In Luhmanns Worten:"[...] alsbald beginnen die rhetorischen Tiraden, die copierten [sic] Gefühle, das periodische Seufzen und Niederknien lächerlich zu wirken" (Luhmann 1994: 99). Was hier allerdings als unbeabsichtigte Folge des inflationären Gebrauchs einer solchen Semantik erklärt wird, ist bei Robert intendiert.

Ende der Leseprobe aus 78 Seiten

Details

Titel
Kultur und Identität in Kate Chopins "The Awakening"
Hochschule
Universität zu Köln
Note
1,0
Autor
Jahr
2001
Seiten
78
Katalognummer
V114378
ISBN (eBook)
9783640152575
ISBN (Buch)
9783640154715
Dateigröße
694 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kultur, Identität, Kate, Chopins, Awakening
Arbeit zitieren
Dr. Martin Holz (Autor:in), 2001, Kultur und Identität in Kate Chopins "The Awakening", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/114378

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