In der vorliegenden Unterrichtsreihe wird die Relevanz des Dramas für die Schüler besonders
durch die Anlage eines Experiments zu Beginn der Sequenz in den Vordergrund gerückt.
Ich habe den Schülern noch vor der Lektüre des Dramas das Angebot unterbreitet, allen auf dem
Zeugnis eine Eins zu geben, mit der Bedingung, dass ein Schüler ihrer Wahl eine Sechs
bekommen müsse.
In einer Hausaufgabe sollten mir alle Schüler ihre Meinung zu diesem Angebot darlegen.
Es hat sich gezeigt, dass diese Konzeption geeignet war, das Interesse der Schüler zu wecken und
in der Folge auf das Drama und sogar darüber hinaus auf die grundsätzliche Brisanz eines solchen
Angebots zu lenken (Arman, direkt nach der Bekanntgabe des Angebots: „Das ist eine philosophische
Frage, oder?“), obwohl schnell deutlich wurde, dass mein Angebot keinesfalls ernst gemeint war.
Im ersten Lernschritt der Reihe wurden die Gemeinsamkeiten meines Angebots und der
Konstellation im Drama thematisiert und zum Ausgangspunkt der Fragstellung „Wie verführbar
sind Menschen“? gemacht.
So folgt die gesamte Unterrichtsreihe der Konzeption, sowohl die Konstellation im Drama als
auch mein Angebot als Experiment mit den Menschen zu verstehen.11
Diese Sicht ist für die Schüler von Anfang an dadurch transparent, dass sie parallel zur
Erarbeitung von Aspekten des Dramas das Experiment in der Klasse verfolgen und sukzessiv
protokollieren (letzteres nur auf hypothetischer Ebene, siehe dazu weitere Kommentare und
Überlegungen).
Somit werden alle erarbeiteten Erkenntnisse permanent sowohl auf die die Fragestellung der
gesamten Reihe als auch auf das zu Beginn durchgeführte Experiment bezogen.
Dabei ergeben sich weiterführende Anschlussmöglichkeiten an die Lebenswirklichkeit der
Schüler, die vor allem nach dem vorliegenden Lernschritt fokussiert werden sollen.
Inhalt
Tragende Erwägungen meiner Unterrichtsplanung
1. Inhaltsbereich
2. Kompetenzbezug
2.1 Kompetenzbereich Lesen
2.2 Kompetenzbereich Schreiben
2.3 Kompetenzbereich: Sprechen und Zuhören
3. Thema des Lernschrittes
4. Stellung des Lernschrittes in der Unterrichtsreihe: Der Besuch als Experiment mit der Menschlichkeit
5. Inhaltlicher Schwerpunkt und Relevanz
5.1 Relevanz
6. Vernetzungsmöglichkeiten
6.1 Innerhalb der Unterrichtsreihe
6.2 Zu anderen Unterrichtsreihen
6.3 Fächerübergreifend
7. Lerngruppendiagnose
7.1 Methodenkompetenz
7.2 Sozialkompetenz
7.3 Sachkompetenz
8. Möglicher Beitrag zur Entwicklung übergreifender Kompetenzen:
8.1 Selbstkompetenz
8.2 Sozialkompetenz
8.3 Methodenkompetenz
9. Hauptlernaktionen
10. Operationsobjekte
11. Weitere Kommentare und Überlegungen
12. Literatur
13. Geplante Strukturierung des Lernprozesses
14. Anhang
Tragende Erwägungen meiner Unterrichtsplanung
1. Inhaltsbereich
Es handelt sich um den 5. Lernschritt in der Unterrichtsreihe:
Der Besuch der alten Dame als Experiment[1]: Wie verführbar sind Menschen?
2. Kompetenzbezug
Der vorliegende Lernschritt leistet einen Beitrag zur Entwicklung folgender Kompetenzen (Schwerpunkte):
2.1 Kompetenzbereich Lesen:
Die[2] Schüler[3] erschließen szenische Texte unter Berücksichtigung der Charaktere der Figuren und ihrer Beziehungen zueinander, der Gestaltung von Konflikten und Lösungsangeboten und der Spielräume szenischer Interpretation.
2.2 Kompetenzbereich Schreiben:
Sie gehen mit literarischen[4] und pragmatischen Texten – auch experimentierend - um, indem sie sie umschreiben, Leerstellen füllen, Figuren einführen und dabei Gestaltungsmittel planvoll und differenziert einsetzen.
Sie nutzen dabei zuvor selbst erarbeitete Kriterienraster zur Textproduktion[5]
2.3 Kompetenzbereich: Sprechen und Zuhören
Die Schüler suchen mithilfe[6] szenischer Verfahren Zugänge zu Texten und Interpretationen
Sie hören anderen auch bei längeren Beiträgen zu, nehmen auf, was gesagt wird, geben
Hauptthemen wieder und nehmen kritisch Stellung dazu.
3. Thema des Lernschrittes: Was passiert mit den Güllenern?
4. Stellung des Lernschrittes in der Unterrichtsreihe: Der Besuch als Experiment mit der Menschlichkeit
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[7]
5. Inhaltlicher Schwerpunkt und Relevanz
Während die erste Reaktion der Güllener Bürger auf das Angebot der alten Dame von Entrüstung und Solidaritätsbekundungen für Alfred Ill geprägt ist („Lieber bleiben wir arm denn blutbefleckt.“), vollzieht sich in der folgenden „Wartezeit“ der alten Dame eine Veränderung, an deren Ende die Bürger Güllens vorgeblich im Namen der Gerechtigkeit und unter tosendem Beifall einstimmig – bis auf die Stimme Alfred Ills - die Annahme des Angebots der alten Dame beschließen. Deutlich wird die Geschlossenheit der Gemeinschaft der Güllener, die ohne erkennbaren Zweifel ihre Abscheu gegenüber dem geduldeten Verbrechen demonstrieren.
Es ist in erster Linie ausgerechnet der Lehrer, der ein flammendes Plädoyer zur Annahme des Angebots hält und damit einen sich steigernden Beifall der Güllener erntet.
Das ist insofern bemerkenswert, als dass sich gerade der Lehrer zuletzt in der Szene in der Peterschen Scheune noch des Gegensatzes zwischen dem Angebot und dem, „was das Gewissen vorschreibt“, bewusst war.
Auch für die Güllener lässt sich feststellen, dass sie sich beispielsweise in den Szenen im Laden von Ill nicht bösartig und arglistig, sondern eher schwach, leichtfertig und gedankenlos verhalten, sich aber letztlich noch bewusst sind, das Falsche zu tun.[8]
So stellt sich die Frage, welche Veränderung mit den Güllenern eingetreten ist.[9]
Folgende Interpretationen sind an dieser Stelle denkbar:
Zum einen lässt die Einstimmigkeit der Abstimmung, das Fehlen jedes sichtbaren Zweifels zusammen mit dem offensichtlichen Enthusiasmus der Güllener, die immer wieder empört bzw. begeistert in das Plädoyer des Lehrers einfallen, den Schluss zu, dass sie tatsächlich an ihr Rechtfertigungsstrategem glauben, dass sie in diesem Moment wirklich davon überzeugt sind, Gerechtigkeit zu üben. Dazu mag auch beitragen, dass sich in der Versammlung der gesamten Gemeinschaft eine kollektive Dynamik entfaltet, der die Güllener vollständig erliegen.
Möglich ist auch die Interpretation, dass sich die Güllener im vollen Bewusstsein der Unrechtmäßigkeit ihrer Handlungen aus Geldgier heraus rein strategisch verhalten. Diese Sichtweise ließe sich jedoch mit dem Hinweis auf die oben angeführten Szenen als unwahrscheinlich herausstellen.
So kommt eine dritte Möglichkeit in den Blickpunkt, nach der die Güllener oder wenigstens einzelne Bürger Zweifel haben, sich allerdings angesichts der enormen Gruppendynamik nicht trauen, sie zu äußern.[10]
[...]
[1] Ich verwende den Begriff „Experiment“ in diesem Zusammenhang abweichend von der Bedeutung als wissenschaftliche Methode:
In Bezug auf das Drama verstehe ich unter „Experiment“ im Einklang mit Kommentaren von Dürrenmatt zum „Besuch der alten Dame“ und Analysen von Profitlich und Mayer (vgl.: Weitere Kommentare und Überlegungen) die bewusst angelegte Konstellation zwischen Güllen und der Milliardärin als Versuchsanordnung, die als eine Art von Bewährungsprobe dient. Die Aufmerksamkeit wird auf die Reaktion derer lenkt, die sich in dieser Prüfung bewähren.
In Bezug auf den Unterricht verstehe ich unter „Experiment“ die Anlage einer Unterrichtssituation, in der die Schüler spielerisch ebenfalls einer Bewährungsprobe ausgesetzt werden. Das Ziel ist, Verhaltensdispositionen zu erproben und zu reflektieren.
[2] Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe I, 1.Auflage 2006, S. 37
[3] Im Folgenden bezieht sich der Begriff „Schüler“ sowohl auf das männliche als auch das weibliche Geschlecht
[4] Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe I, 1.Auflage 2006, S. 45
[5] Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe I, 1.Auflage 2006, S. 39
[6] Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe I, 1.Auflage 2006, S. 50
[7] vgl.: Spinner, K. (2006): „Literarisches Lernen“. In: Praxis Deutsch, Heft 200.
[8] Da es keinerlei explizite Belege für diese Aussage gibt, handelt es sich bei dieser Aussage um eine Interpretation, die jedoch mit Blick auf die Fachliteratur bestätigt werden kann, vgl. Profitlich (1977:334f): „Ihre Schuld beginnt mit Leichtsinn, mit einem willentlichen Nichtdarandenken, das später zu immer bedenklicheren Verdrehungen führt, auf deren Höhepunkt die Güllener in der Tat nicht mehr wissen, was sie tun“.
[9] In der Literatur ist dominant die Auffassung vertreten, dass an dieser Stelle die kollektive Fähigkeit zur Selbstrechtfertigung und zum Selbstbetrug zum Ausdruck kommt, die sogar das scheinbar unfehlbare persönliche Gewissen infrage stellt.(vgl. Darstellung von Mayer (1998:48; 52)
[10] Die Anwesenheit der Journalisten, die die Hemmschwelle für Äußerungen von Zweifeln erhöht, ist den Schülern bekannt und kann ggf. aufgegriffen werden, sie spielen in dem gewählten Textauszug aber keine explizite Rolle. Diese Auswahl geschah mit dem Ziel der Reduktion der komplexen Situation.
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