Der Einfluss einer reflektierten Handynutzung auf digitalen Stress, FoMO und Online-Vigilanz. Eine quantitative Studie


Bachelorarbeit, 2021

54 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretischer Hintergrund
2.1. Digitale Medien und Stress
2.2. Das transaktionale Stressmodell nach Lazarus und Folkman (1984)
2.3. Digital Detox vs. Reflektierte Handynutzung
2.4. Das reflexiv-impulsive Modell nach Strack und Deutsch (2004)
2.5. Online-Vigilanz (OV)
2.5.1. Salienz
2.5.2. Reaktivität
2.5.3. Monitoring
2.6. FoMO („Fear of Missing Out“)
2.7. Forschungsmodell und Hypothesen

3. Methode
3.1. Studienanlage
3.2. Operationalisierung
3.3. Durchführung
3.4. Stichprobe

4. Ergebnisse

5. Diskussion

6. Literaturverzeichnis

7. Anhang

Abstract

Smartphones und andere mobile Kommunikationsgeräte haben die Art der Internetnutzung im Alltag grundlegend verändert, indem sie einen permanenten Zugang zu Informationen und sozialer Interaktion ermöglichen. In diesem Zusammenhang rücken die negativen Auswirkungen einer allgegenwärtigen Mediennutzung, wie z.B. vermehrtes Stressempfinden, zunehmend in den Fokus medienwissenschaftlicher Forschung. Die vorliegende Studie untersucht den Einfluss einer reflektierten Handynutzung auf das Empfinden von digitalem Stress anhand einer Online-Befragung von 160 deutschsprachigen Internetnutzer:innen im Alter zwischen 18 und 76 Jahren. Regressionsanalysen konnten zeigen, dass ein hohes Maß an reflektierter Handynutzung mit einem geringeren Niveau an digitalem Stress einherging. Das Konstrukt der Online-Vigilanz mediierte diesen Effekt signifikant und vollständig. Insbesondere die Sub-Dimension Salienz stellte einen wichtigen Prädiktor für digitalen Stress dar. FoMO, sprich die Angst, relevante Informationen oder lohnende Ereignisse zu verpassen, mediierte den Effekt ebenfalls signifikant, aber nur partiell. Die Ergebnisse liefern Hinweise darauf, dass eine reflektierte Smartphone-Nutzung einen effektiven Bewältigungsmechanismus für digitalen Stress darstellen kann, der durch weitere und umfangreichere Forschung in Zukunft näher untersucht werden sollte.

1. Einleitung

Heutige Mediennutzer [sind] geradezu zerrissen zwischen den scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten der Vernetzung auf der einen Seite und dem Bedürfnis nach Grenzziehung auf der anderen. Permanent online und vernetzt zu sein bedeutet, sich stets zwischen der Erfahrung von digitalem Empowerment und digitalem Overpowerment zu bewegen. Viele Mediennutzer kranken im wahrsten Sinne des Wortes am Fehlen der Stille, der Ruhe, des Rückzugs. Daher ist so oft von suchtartigen Formen der Mediennutzung die Rede, von medienbezogenen Erschöpfungssyndromen und Depressionen, von zahllosen Varianten des Overloads, von der Fear of Missing Out (FoMO) oder von einem wachsenden Aufmerksamkeitsdefizit. Gehetzt, gereizt, gestresst sind also die Mediennutzer von heute. (Zurstiege, 2019, S.27)

Laut der Studie „Zukunft Gesundheit“ aus dem Jahr 2019 fühlen sich 41% der Befragten durch digitale Medien gestresst. Das sind5 Prozentpunkte mehr als noch im Vorjahr. Dieser ansteigende Trend macht die zunehmende gesellschaftliche Relevanz dieser Thematik deutlich. Die zahlreichen Ablenkungsmöglichkeiten mobiler Medien (Chats, Social Media etc.), die ständige Erreichbarkeit für Freunde und Familie, aber auch die allgemeine Informationsflut (E-Mails, Push-Benachrichtigungen etc.) stellen die häufigsten Gründe für digitalen Stress dar. Dieser Stress äußert sich bei 58% der Befragten durch Müdigkeit, bei rund der Hälfte der Befragten zusätzlich durch Gereiztheit und Erschöpfung. Als praktizierte Strategien gegen digitalen Stress geben 51% der Befragten an, sich digitale Auszeiten zu nehmen. 45% der Befragten beschränken ihre Nutzung nur auf das Wesentliche (Schwenninger Krankenkasse, 2019). Dieses Vorhaben, sich bewusst aus der permanenten Vernetzung und Erreichbarkeit zurückzuziehen, gewinnt zunehmend an Popularität. Mit dem Ziel, Stress zu reduzieren und das eigene Wohlbefinden zu steigern, integrieren immer mehr Menschen digitale Pausen und Freiräume in ihren Alltag (Syvertsen & Enli, 2020; Ugur & Koc, 2015).

Obwohl erste Pilotstudien zeigen konnten, dass ein temporärer Verzicht der Handynutzung Stress effektiv verringern kann(z.B. Anrijs et al., 2018), ist zurzeit noch nicht vollständig klar, ob diese Bewältigungsstrategien tatsächlich das Wohlbefinden der Nutzer:innen effektiv steigern können. Denn die Studie von Kohout und Schumann (2020) hat bereits aufzeigen können, dass ein strikter Smartphone-Verzicht aufgrund von Entzugssymptomen und dem Verlust der Verbundenheit mit anderen Menschen sogar mit erhöhtem Stress und geringerem Wohlbefinden einhergehen kann. Ein entscheidender Faktor für eine erfolgreiche Stressreduktion könnte das jeweilige Ausmaß an Einschränkung und Rückzug sein. Denn während die meisten Studien einen vollständigen, temporären Verzicht digitaler Medien untersuchen, wird in dieser Arbeit angenommen, dass allein die bewusste Beobachtung, Verhaltenskontrolle und Einschränkung der eigenen Handynutzung zu geringerem Stress verhelfen kann. Letzteres wird hierbei als eine reflektierte Handynutzung bezeichnet und bildet in Verbindung mit digitalem Stress den Untersuchungsgegenstand dieser Studie.

Aber nicht nur die Art und Weise der Handynutzung nimmt Einfluss auf die Entstehung von digitalem Stress. Insbesondere die kognitiven Prozesse, die unweigerlich mit der Mediennutzung verbunden sind, scheinen dabei eine zentrale Rolle zu spielen (Klimmt, Hefner, Reinecke, Rieger & Vorderer, 2018). So konnte bereits ein Zusammenhang zwischen der permanenten mentalen Verbundenheit der Nutzer:innen mit ihrer Online-Umgebung, die sog. Online-Vigilanz, und dem Auftreten von digitalem Stress aufgezeigt werden (Freytag et al., 2020; Reinecke et al., 2018). Und auch die Angst, wichtige Informationen und soziale Ereignisse aus der eigenen Online-Umwelt zu verpassen, beschrieben durch das Konstrukt FoMO („ Fear of Missing Out “), konnte sowohl mit erhöhtem Stressempfinden der Nutzer:innen (Milyavskaya, Saffran, Hope & Koestner, 2018) als auch mit der Intensität und Häufigkeit der Handynutzung (Hunt, Marx, Lipson & Young, 2018) in Verbindung gebracht werden.

Aus diesem Grund ist es relevant zu untersuchen, inwieweit eine reflektierte Handynutzung das Maß an Online-Vigilanz und FoMO verringern kann und dadurch auch das Ausmaß an digitalem Stress. Demnach soll in dieser Arbeit die Verbindung zwischen der Intensität der Handynutzung, den damit verbundenen kognitiven Prozessen und dem Empfinden von digitalem Stress anhand folgender Forschungsfrage untersucht werden: Inwiefern beeinflusst eine reflektierte Handynutzung das digitale Stressempfinden der Nutzer:innen? Und inwieweit wird dieser Effekt durch die Konstrukte der Online-Vigilanz und FoMO beeinflusst?

Um die gegebene Forschungsfrage zu beantworten, wird eine quantitative Online­Befragung durchgeführt. Dazu werden zunächst der theoretische Hintergrund sowie der aktuelle Forschungsstand bezüglich Handynutzung und digitalem Stress vorgestellt. Auf Basis der daraus entwickelten Hypothesen wird die Methodik der Studie erläutert. Im Anschluss daran erfolgt die Vorstellung und Interpretation der Ergebnisse in Bezug auf das Forschungsinteresse. Abschließend werden die Ergebnisse vor dem theoretischen Hintergrund diskutiert sowie einige Limitationen aufgezeigt.

2. Theoretischer Hintergrund

Im Folgenden werden die zentralen Theorien und Konstrukte vorgestellt und definiert, die dieser Arbeit zu Grunde liegen. Im Zuge dessen wird der aktuelle Forschungsstand zu digitalem Stress und mobiler Mediennutzung anhand einiger Studien dargestellt und zusammengefasst. Aus diesen Erkenntnissen werden zum Ende des Kapitels die einzelnen Hypothesen abgeleitet und das entsprechende Forschungsmodell präsentiert.

2.1. Digitale Medien und Stress

Noch vor wenigen Jahren waren der Zugang zu Internet, die Nutzung von Medienangeboten und die Kommunikation mit anderen Personen bewusste Handlungen, die individuelle Absichten, Planung und bestimmte Voraussetzungen an Hardware und Geräten erforderten. Durch "always on"-Technologien, d.h. in erster Linie internetfähige Smartphones, hat sich diese Situation in den letzten Jahren völlig verändert: permanently online und permanently connected (POPC) zu sein und das vollkommen unabhängig von Raum und Zeit, ist heute für viele Menschen über weite Teile des Tages die Norm und Alltag geworden (Ling, 2018). Im Gegensatz dazu entwickelt sich der Verzicht auf Mediennutzung und Kommunikationszugang heute zu einer recht ungewöhnlichen Entscheidung, die besondere Intentionen und bewusste Planung erfordert und sogar negative Emotionen und Ängste auslösen kann (Cheever, Rosen, Carrier & Chavez, 2014).

Ohne Zweifel bietet diese neue Art der Mediennutzung zahlreiche Chancen und Möglichkeiten, das eigene Leben zu erleichtern oder zu verbessern. So können Lebensmittel online bestellt und geliefert werden, um nicht mehr einkaufen zu müssen, ein kurzer Video-Call im Zug ersetzt das Meeting vor Ort oder spontanes Online­Shopping erübrigt den Besuch überfüllter Fußgängerzonen. Insbesondere die Option, über das Internet jederzeit Informationen abzurufen und fast ununterbrochen mit anderen in Kontakt zu sein und zu kommunizieren, kann vielen Menschen ein Gefühl der Zugehörigkeit, sozialen Verbundenheit und Unterstützung vermitteln (z. B.Oh, Ozkaya & LaRose, 2014; Valkenburg & Peter, 2009).

In a state of POPC, users permanently and vigilantly produce and read content that supports them in their need for interconnectedness; they learn from other peoples‘ lives and stories with the aim of living a fulfilling life; they can stay in touch with others to find answers for questions of virtue and wisdom. (Trepte & Oliver, 2018, S. 107)

Gleichzeitig werden Bedenken über die nachteiligen Auswirkungen von ständiger Verfügbarkeit und Konnektivität immer lauter geäußert (z. B. Turkle, 2017). POPC kann auch zu negativen Erfahrungen auf Seiten der Nutzer:innen führen, wie z. B. das Gefühl der starken sozialen Norm, sofort auf eingehende Informationen und Kommunikation reagieren zu müssen (Halfmann & Rieger, 2019; Klimmt et al., 2018). Die permanente Erreichbarkeit und Verfügbarkeit von Informationen kann in der Tat mit einer "always- on"-Mentalität einhergehen, die wiederum zu (sozialer) Informationsüberlastung und Stress durch ständige Kommunikationsanforderungen führen kann (Hefner & Vorderer, 2017).

Für den Zusammenhang zwischen digitaler Kommunikation und Stressentstehung sind insbesondere drei grundlegende Herausforderungen der POPC-Welt verantwortlich. Erstens, das Internet ist durch Smartphones mobil geworden und somit zu jeder Zeit und nahezu an jedem Ort der Welt verfügbar, was geschützte Offline-Momente zu einer Seltenheit macht. Zweitens, die Anzahl an verfügbaren Informationen und Inhalten ist unüberschaubar geworden und wird mit jeder Minute mehr. Nutzer:innen stehen heutzutage nämlich fast permanent vor der Entscheidung, was sie eigentlich lesen, sehen oder hören wollen - eine enorme Menge an zwischenmenschlichen und massenkommunikativen Informationen. Dieses, für die Nutzer:innen scheinbar endlose, Informationsangebot digitaler Medien kann dabei schnell zur Überforderung werden. Drittens, das Internet von heute ist durch einen schnellen und interaktiven Informationsfluss geprägt, der einen gewissen Erwartungsdruck und neue soziale Normen etabliert hat (Hefner & Vorderer, 2017, S. 238-239). Diese Anforderungen können die kognitiven und zeitlichen Ressourcen der Nutzer:innen schnell übersteigen (Wilmer, Sherman & Chein, 2017). Dies führt in vielen Fällen zu Stressreaktionen, definiert als digitaler Stress oder Technostress (Hefner & Vorderer, 2017; Tarafdar, Tu, Ragu-Nathan & Ragu-Nathan, 2007). Demnach ist digitaler Stress als Folge der starken und permanenten Anforderungen der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) zu verstehen. Diese Anforderungen werden durch den permanenten Zugang zu einer unvorstellbaren Menge und Vielfalt an (sozialen) Inhalten ausgelöst (Hefner & Vorderer, 2017).

Kommunikationslast (communication load), d. h. die Häufigkeit der ein- und ausgehenden Nachrichten und Medien-Multitasking (media multitasking), d. h. die Mediennutzung parallel zu anderen Aktivitäten (z. B. Misra & Stokols, 2012; Reinecke et al., 2017; Vorderer & Kohring, 2013)sind nur zweiBeispiele für IKT-Nutzungsmuster, die im Verdacht stehen, digitalen Stress zu verursachen und zu verstärken. Solche ausgeprägten Mediennutzungsmuster können kognitive Ressourcen belasten, situative Anforderungen erhöhen, Bewältigungskapazitäten reduzieren und somit mit Stresserfahrungen verbunden sein (Thomée, Härenstam & Hagberg, 2012). Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass die neuen Kommunikationsanforderungen, die sich aus IKT ergeben, mit einem hohen Maß an Stress verbunden sind. Dies galt sowohl im Arbeitskontext (Barley, Meyerson & Grodal, 2011; Eppler & Mengis, 2004; Ragu- Nathan, Tarafdar, Ragu-Nathan & Tu, 2008) als auch in der Freizeit (LaRose, Connolly, Lee, Li & Hales, 2014; Lee, Chang, Lin & Cheng, 2014; Misra & Stokols, 2012; Murdock, 2013). Reinecke et al. (2017) konnten aufzeigen, dass Kommunikationslast und Internet Multitasking in einem positiven Zusammenhang mit dem wahrgenommenen täglichen Stress stehen und dieser signifikante indirekte Effekte auf Burnout, Depression und Angst der Nutzer:innen hat. Der wahrgenommene soziale Druck und die Angst, Informationen und soziale Interaktionen zu verpassen, sind wesentliche Treiber der Kommunikationslast und des Internet-Multitaskings.

Darüber hinaus wurde festgestellt, dass die übermäßige Nutzung von Smartphones im Allgemeinen mit schlechterer Schlafqualität (Zheng & Lee, 2016), beruflicher Leistung (Felisoni & Godoi, 2018), persönlicher Beziehungsqualität (McDaniel, Galovan, Cravens & Drouin, 2018) und geringerem Wohlbefinden (Satici & Uysal, 2015) verbunden ist. Zusätzlich ist die Grenze zwischen Arbeit und Privatleben durch die ständig vernetzte Welt nicht mehr eindeutig definiert. Dies spiegelt sich in der Erwartung der Arbeitgeber:innen wider, "immer online" zu sein, E-Mails sofort zu beantworten und mit Online-Unterhaltungen Schritt zu halten (Sonnentag & Pundt, 2017). Zum Phänomen des digitalen Stresses im Arbeitskontext (z. B. Ragu-Nathan et al., 2008) oder zum Work-Life-Konflikt (z. B. Sonnentag & Pundt, 2017) gibt es bereits einige theoretische Ausarbeitungen sowie empirische Untersuchungen. Allerdings ist die Forschung zu den Auswirkungen von digitalem Stress auf das Wohlbefinden in privaten Kontexten sowie eine systematische Analyse der psychologischen Prozesse und der Moderatoren dieser Auswirkungen bisher relativ gering; und dies trotz anekdotischer Belege, die auf eine wachsende Relevanz dieses Phänomens im heutigen Leben der Menschen hindeuten (Hefner & Vorderer, 2017). Angesichts des hohen Risikos, das mit Stress verbunden ist, besteht ein dringender Bedarf, die Rolle einer permanenten Verbundenheit für die Entstehung, Verstärkung und Aufrechterhaltung von Stress zu untersuchen. An dieser Stelle möchte diese Arbeit anknüpfen.

2.2. Das transaktionale Stressmodell nach Lazarus und Folkman (1984)

Die theoretische Grundlage dieser Arbeit bildet das transaktionale Stressmodell nach Lazarus und Folkman (1984), welches zur Erklärung von digitalem Stress und dessen Bewältigungsmöglichkeiten herangezogen werden soll. Laut dem Modell ist Stress als komplexer Wechselwirkungsprozess zwischen den Anforderungen einer Situation und den zur Verfügung stehenden Ressourcen der handelnden Person zu verstehen: „a particular relationship between the person and the environment that is appraised by the person as taxing or exceeding his or her resources and endangering his or her well-being“ (Lazarus & Folkman, 1984, S. 19).

Reize aus der Umwelt werden selektiv wahrgenommen und stellen potenzielle Stressoren dar. Diese haben nicht für jede Person die gleiche Bedeutung, d. h. ein und derselbe Stressor kann individuell unterschiedlich bewertet werden und somit auch individuell unterschiedlich Stress auslösen oder auch nicht. Im Zuge der primären Bewertung („primary appraisal“) findet erstmals eine Erfassung und Bewertung der Situation statt: Der Stressor wird, abhängig von dem subjektiven Empfinden, als positiv, gefährlich (stressend) oder irrelevant interpretiert. Stressende Situationen unterteilen Lazarus und Folkman (1984) weiter in Bedrohung, Schädigung/Verlust und Herausforderung. Bedrohung und Schädigung/Verlust sind dabei eher mit negativen Emotionen wie Angst, Ärger und Besorgnis verbunden. Eine Herausforderung geht wiederum eher mit positiven Empfindungen wie Zuversicht, Interesse und Hoffnung einher, weil mit ihr die Option einer erfolgreichen Bewältigung der Stresssituation verbunden ist. Die sekundäre Bewertung („secondary appraisal“) umfasst im nächsten Schritt die Einschätzung der eigenen Bewältigungsfähigkeiten („coping resources“) und Bewältigungsmöglichkeiten („coping options“). Eine umfassende Analyse der verfügbaren Ressourcen soll bei der Entscheidung helfen, was getan werden kann, um mit den stressenden Anforderungen der Situation umzugehen. Es wird abgewogen, welche Bewältigungsmöglichkeiten verfügbar sind, welche Erfolgswahrscheinlichkeit diese haben und inwieweit die entsprechenden Bewältigungsstrategien beherrscht werden. Wenn die Person zu der Erkenntnis gelangt, nicht ausreichend Ressourcen zur Verfügung zu haben, wird als Folge Stress wahrgenommen. Im Zuge der Neubewertung („reappraisal“) wird nun auf der Grundlage der eigenen Bewertungen und eingeholten Informationen nochmals eingeschätzt, wie bedrohlich die Situation ist und die Möglichkeit geboten, die ursprüngliche Erstbewertung erneut zu verändern. So kann zum Beispiel ausreichende Unterstützung aus dem sozialen Umfeld dazu führen, dass eine anfängliche Bedrohung nach der Neubewertung als Herausforderung eingestuft wird. Entscheidend für die Entstehung von Stress ist demnach, inwiefern eine Person die gegebene Stresssituation, aber insbesondere ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten, mit dieser umzugehen, bewertet.

Angewendet auf das Konzept des digitalen Stresses würde dies demnach Folgendes bedeuten: Verschiedenste mediale Stressoren aus der Umwelt, z. B. neue Push­Benachrichtigungen oder mehrere entgangene Anrufe, werden im Zuge der primären Bewertung von immer mehr Menschen als Bedrohung oder Schädigung/Verlust interpretiert. Die Einschätzung der eigenen Bewältigungsfähigkeiten und -möglichkeiten (sekundäre Bewertung) fällt dabei meist gering aus. Die eigenen Ressourcen können ebenso wie Stressoren aus verschiedenen Quellen stammen: aus der Person selbst (z. B. geringe Medienkompetenz, Selbstkontrolle) oder aber aus der gegebenen Situation (z. B. wenig Zeit, Aufmerksamkeit). Aufgrund mangelnder Ressourcen (beider Art) für eine erfolgreiche Bewältigung entsteht infolgedessen digitaler Stress oder sog. „Technostress“ (Tarafdar et al., 2007). Basierend auf diesem Modell kann digitaler Stress als ein Ungleichgewicht zwischen den Ressourcen eines Individuums und den Anforderungen der Umwelt im Zusammenhang mit der Nutzung von Online-Kommunikation definiert werden (Anrijs et al., 2018).

Ferner stellt das transaktionale Stressmodell Möglichkeiten zur Stressbewältigung (Coping) vor. Lazarus und Folkman (1984) definieren Coping als die kognitiven und verhaltensbezogenen Anstrengungen, die unternommen werden, um die stressige Person­Umwelt-Transaktion zu bewältigen. Das problemorientierte Coping zielt darauf ab, die Situation selbst zu verändern. Das Individuum versucht, durch Informationssuche, direkte Handlungen oder auch durch Unterlassen von Handlungen, Problemsituationen zu überwinden oder sich den Gegebenheiten anzupassen. Diese Bewältigungsstrategie bezieht sich auf die Ebene der Situation bzw. des Reizes. Das emotionsorientierte Coping versucht hingegen den Bezug zur Situation zu verändern und die durch die Situation entstandene emotionale Erregung abzubauen. Diese Strategie bezieht sich mehr auf die persönliche Ebene. Neben emotionsbezogenem und problembezogenem Coping führen Lazarus und Folkman (1984) auch das kognitive Coping auf, eine zweite Form der Neubewertung einer Situation. Dieses kognitive Coping oder „defensive Neubewerten“ besteht darin, etwas Vergangenes positiver zu reinterpretieren bzw. mit Bedrohungen dadurch umzugehen, dass sie zukünftig aus einem anderen Blickwinkel betrachtet oder bewertet werden. Das Hauptziel beim kognitiven Coping liegt darin, eine Belastung eher als Herausforderung zu sehen. Da durch eine positivere Bewertung neue Ressourcen frei werden, kann angemessener auf die Situation reagiert werden. Dies kann allerdings nur gelingen, wenn konkrete Problemlösungsansätze gefunden werden (problemorientiertes Coping). Hier ist demnach in vielen Fällen eine Kombination der verschiedenen Bewältigungsstrategien notwendig.

In diesem Fall wäre die angewandte Coping Strategie zur Bewältigung von digitalem Stress eine reflektierte, eingeschränkte Handynutzung. Diese wird in dieser Arbeit als eine Kombination der verschiedenen Coping Möglichkeiten aufgefasst. Zum einen wird die Situation selbst verändert (problemorientiert) , indem man das Handy nur noch eingeschränkt verwendet, z.B. nicht mehr während den Mahlzeiten oder nur noch vor 22 Uhr. Durch diese digitalen Auszeiten werden wertvolle Ressourcen freigesetzt, die man für andere Aufgaben und Tätigkeiten, aber auch einfach zur Entspannung nutzen kann. Zum anderen werden durch eine bewusste und reflektierte Handynutzung zusätzlich auch die eigenen Emotionen verändert (emotionsorientiert), indem man der eigenen Online-Umgebung mit anderen Gefühlen begegnet, z.B. sich selbst weniger Druck zu machen („Ich muss nicht immer sofort antworten. - Ich nehme es anderen auch nicht übel, wenn sie länger brauchen.“) oder lernen, dass nicht alle Informationen subjektiv relevant sind („Ich muss nicht jeden neuen Post auf Instagram sehen. Dadurch entgeht mir nichts Wichtiges.“). Durch die Kombination von konkreten Handlungen zur Problemlösung und der veränderten emotionalen Einstellung zu mehr kognitiver Distanz verändert sich schließlich auch der Bezug zur Online-Welt und ihren scheinbaren Lastern (kognitiv). Dadurch kann ursprünglich Negatives auch positiv betrachtet werden: Anstelle einer überfordernden Informationslast steht ein unbegrenzter Zugang zu Informationen, den man selbst steuern kann, und anstelle eines permanenten Erwartungsdrucks steht die potenzielle und unkomplizierte Möglichkeit, mit Menschen in Kontakt zu treten und zu bleiben.

Zusammenfassend bietet das transaktionale Stressmodell nach Lazarus und Folkman (1984) sowohl die theoretische Grundlage zur Erklärung von digitalem Stress als auch einen potenziell effektiven Lösungsansatz zur Stressbewältigung in Form einer reflektierten Handynutzung.

2.3. Digital Detox vs. Reflektierte Handynutzung

„Media Fasting“, „Digital Detox“ oder „Media Sabbat“: zahlreiche Schlagworte beschreiben inzwischen den Wunsch vieler Menschen nach digitaler Abstinenz. Diese Begriffe gewinnen in den letzten Jahren zunehmend an Popularität und haben sich insbesondere in den sozialen Netzwerken zu einer Art Trend entwickelt (Sutton, 2017; Ugur & Koc, 2015). Sie beschreiben eine Form des Medienverzichts, bei der bewusst für eine bestimmte Zeitdauer auf digitale Medien wie das Smartphone verzichtet wird und sich stattdessen dem „real life“, dem Hier und Jetzt, dem Alltag und seinen sozialen Kontakten „face to face“ gewidmet wird. Syvertsen und Enli (2020) definieren Digital Detox als „a periodic disconnection from social or online media, or strategies to reduce digital media involvement“ (S. 1). Der Gedankengang ist hierbei folgender: Wenn für längere Zeit auf die Nutzung des Smartphones verzichtet wird, dann entgeht man der ständigen Erreichbarkeit, dem Erwartungsdruck anderer, dem enormen Angebot und der Überforderung an Informationen etc. Diese Abkopplung und die daraus gewonnene Zeit und Freiheit, soll digitalen Stress folglich effektiv verringern und das eigene Wohlbefinden steigern, indem wertvolle Ressourcen freigegeben und gewonnen werden. Diese Idee beruht auf der Annahme, dass temporäre Pausen als Mittel zur Bewusstseinssteigerung und zum Erwerb von Selbstregulation dienen können, um Stress zu reduzieren und die Präsenz im Hier und Jetzt zu erhöhen (Glomb, Duffy, Bono & Yang, 2011).

Insbesondere in sozialen Netzwerken wie Instagram verbreitet sich das Konzept des Digital Detox unter Hashtags wie "socialmediadetox" oder "disconnecttoreconnect" und wird dort ironischerweise zunehmend als Lebensstil etabliert. Nutzer:innen veröffentlichen hier eigene Beiträge, die eine freiwillige Unterbrechung ankündigen, oder sie berichten über die positiven Erfahrungen, die Kontrolle über ihre Zeit, die sozialen Beziehungen und das eigene Wohlbefinden wiederzuerlangen. Diese Diskurse reproduzieren andere öffentliche Diskurse, indem sie die Selbstregulierung der Nutzung sozialer Medien als soziale Norm bekräftigen. Die Nutzer:innen sozialer Medien sind demnach für ihr Wohlbefinden selbst verantwortlich und der temporäre Verzicht wird hierbei als legitimer Weg vermittelt, dieses Ziel zu erreichen (Jorge, 2019).

Kushlev und Dunn (2015) fanden bereits heraus, dass eine eingeschränkte E­Mail-Nutzung zu einer signifikanten Verringerung von täglichem Stress führen kann, was wiederum mit einem erhöhtem Wohlbefinden in verschiedenen Bereichen verbunden war. Sie ließen die Teilnehmer:innen ihres Experiments entweder kontinuierlich über den Tag hinweg ihre E-Mails abrufen oder wiesen sie an, ihre E-Mails nur dreimal am Tag zu überprüfen, während sie die restliche Zeit ihr Postfach geschlossen hielten und die E­Mail-Benachrichtigung ausschalteten. Die Ergebnisse zeigten, dass die eingeschränktere Nutzung von E-Mails den täglichen Stress verringerte und mit weniger Anspannung und Ablenkung von den Arbeitsaufgaben verbunden war. Und auch Anrijs et al. (2018) konnten aufzeigen, dass eine Woche Digital Detox, im Vergleich zu einer Woche normaler Smartphone Nutzung, zu einer Verringerung des Stressniveaus und somit zu einem gesteigerten Wohlbefinden führen kann. Diese Ergebnisse betonen die Vorteile und Bedeutung einer eingeschränkten Nutzung von digitalen Medien und liefern Hinweise darauf, dass Digital Detox für Menschen mit problematischer Smartphone­Nutzung eine wirksame Strategie zur Reduzierung von digitalem Stress sein könnte.

Doch diese strenge Begrenzung muss sich nicht zwangsläufig positiv auf das eigene Wohlbefinden auswirken. Kohout und Schumann (2020) fanden heraus, dass eine starke Nutzungseinschränkung und Verzicht nicht unweigerlich mit weniger digitalem Stress einhergehen müssen. Vielmehr kann auch das Gegenteil der Fall sein: In der Verzichtsphase ihres Experiments (fünf Tage) verschlechterte sich die Zufriedenheit der Proband:innen in Bezug auf soziale Beziehungen insgesamt deutlich. Darüber hinaus hatten die Teilnehmenden aufgrund von Entzugssymptomen und dem Verlust der Verbundenheit mit anderen Menschen Schwierigkeiten, das tägliche Leben zu bewältigen. Insgesamt führte die Nicht-Nutzung zu verstärkter Isolation und zu einem geringeren Wohlbefinden. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass Digital Detox, im Sinne eines klassischen Fastens und somit vollständigen Verzichts, auch kontraproduktiv sein und sogar Stress erhöhen könnte.

Eine reflektierte Handynutzung hingegen bietet viel mehr Chancen auf eine erfolgreiche Stressreduktion. Denn in diesem Fall wird kein indirektes Verbot ausgesprochen oder vollkommener Verzicht gefordert, zu dem man sich selbst „zwingen“ muss. Vielmehr handelt es sich bei einer reflektierten Handynutzung um eine intrinsisch motivierte Handlung und kognitive Umstellung, sein eigenes Handy und dessen Online­Inhalte bewusster zu nutzen. Die Durchführung von Digital Detox ist zudem auf eine konkrete Zeitdauer begrenzt und es liegt nahe, dass die ursprünglichen Nutzungsmuster anschließend nahezu identisch fortgeführt werden. Aus diesem Grund kann man annehmen, dass der Effekt einer Stressreduktion und eines gesteigerten Wohlbefindens auch nur kurzfristig anhält. Eine reflektierte Handynutzung hingegen ist zeitlich unbegrenzt und verändert das Nutzerverhalten durch ein motivationales Umdenken langfristig, weshalb hier deutlich höhere Chancen auf eine langfristige und konstante Stressreduktion zu erwarten sind. Aus diesen Gründen beschäftigt sich diese Arbeit mit einer reflektierten Handynutzung anstelle des populären Detox-Trends.

2.4. Das reflexiv-impulsive Modell nach Strack und Deutsch (2004)

Basierend auf der Logik, dass das Selbst „ein aktiver Akteur ist, der seine eigenen Prozesse misst, entscheidet und in sie eingreift, um sie zu verändern" (Baumeister, 2007), kann argumentiert werden, dass Individuen neben den impulsiven Reizen von Smartphones durchaus auch die Fähigkeit besitzen, sich reflektiv von ihren Smartphones zu distanzieren. Das reflexiv-impulsive Modell (RIM) soll im Folgenden als theoretische Grundlage zur genaueren Definition und Herleitung des Begriffs einer reflektierten Handynutzung dienen. Nach Strack und Deutsch (2004) wird soziales Verhalten durch zwei parallele und interagierende Systeme bestimmt: das reflexive und das impulsive System. Das reflexive System operiert auf der kognitiven Ebene und bezieht sich auf wissensbasierte Entscheidungen und begründete Einstellungen sowie Selbstkontrolle (Strack & Deutsch, 2004). Im Gegensatz dazu umfasst das impulsive System affektive Reaktionen, automatisches Verhalten und Gewohnheiten (Hofmann, Friese & Strack, 2009; Schnauber-Stockmann, Meier & Reinecke, 2018; Strack & Deutsch, 2004). Wenn Individuen mit einem Impuls aus der Umwelt (in diesem Fall: Reize von Smartphones) konfrontiert werden, erleben sie einen inneren Konflikt zwischen den beiden Systemen. In einer solchen Situation werden verschiedene Verhaltensschemata, die unterschiedliche Handlungen vorschlagen, gleichzeitig aktiviert, wobei Handlungen von nur einem der beiden Systeme einflussreicher sein können (Hofmann et al., 2009). Welches System am Ende überwiegt, hängt von der Stärke der Verhaltensschemata, von situativen und/oder dispositionellen Faktoren und insbesondere von selbstregulatorischen Ressourcen ab (Bandura, 1991; Hofmann et al., 2009; Strack & Deutsch, 2004).

Eine reflektierte Handynutzung stellt dementsprechend das Resultat eines dominierenden reflektiven Systems gegenüber dem impulsiven System dar, was durch individuelle Faktoren wie Selbstregulation und -kontrolle bestärkt wird. Das Wissen über den Wert und die Konsequenzen der verschiedenen Handlungsoptionen (z.B. weniger Stress, mehr Zeit für andere Dinge) werden gegeneinander abgewogen und daraufhin wird eine Entscheidung getroffen. Anschließend wird bewusst ein bestimmtes Verhaltensschema aktiviert, in diesem Fall ein reflektiertes „Smartphone-Disengagement“ (RSD). Dieses kann aber nur stattfinden, wenn genügend kognitive Kapazität und Motivation vorhanden ist.

[...]

Ende der Leseprobe aus 54 Seiten

Details

Titel
Der Einfluss einer reflektierten Handynutzung auf digitalen Stress, FoMO und Online-Vigilanz. Eine quantitative Studie
Hochschule
Universität Mannheim  (Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft)
Note
1,7
Autor
Jahr
2021
Seiten
54
Katalognummer
V1151415
ISBN (eBook)
9783346545183
ISBN (Buch)
9783346545190
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Digitaler Stress, Fomo, digital detox, online vigilanz, reflektierte Handynutzung
Arbeit zitieren
Sabrina Brechtel (Autor:in), 2021, Der Einfluss einer reflektierten Handynutzung auf digitalen Stress, FoMO und Online-Vigilanz. Eine quantitative Studie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1151415

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