Erinnern und Erzählen

Zeitgeschichte als literarisches Ereignis im Krebsgang von Günther Grass


Term Paper, 2006

20 Pages, Grade: 1,7


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Hauptteil
2.1 Zur Darstellung des geschichtlichen Ereignisses
2.1.1 Die Medialität der Geschichtserzählung
2.1.2 Geschichtskonzeptionen als narrative Prinzipien
2.2 Erzählte Geschichte und erlebte Gegenwart
2.2.1 Geschichtsbild und politisches Weltbild
2.2.2 Theorie und Politik des fatalistischen Geschichtsverständnisses
2.2.3 Der Erzähler. Die Kontingenz der Geschichte
2.3 Fakten der Zeitgeschichte und ihre Auswahl
2.4 Der unbekannte Anleiter

3. Fazit
3.1 Zusammenfassung
3.2 Ausblick

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Literatur, die von zeitgeschichtlichen Ereignissen handelt, thematisiert implizit auch immer das Verhältnis von Fiktion und Zeitgeschichte, Literatur und Geschichtsschreibung. Zweifelsohne werden in jedem literarischen Text Orte, Handlungen und Personen (neu) erfunden. Daher sprechen wir von der Fiktionalität des Textes als einem entscheidenden Kriterium seiner Literarizität. Diese ist indessen keine absolute Eigenschaft sondern relativ zu eindeutig nicht fiktionalen Texten graduierbar. Texte, deren Handlungen vor dem Hintergrund zeitgeschichtlicher Ereignisse stattfinden, nehmen in diesem Schema eine Sonderstellung ein. Denn anders als z.B. im Falle einer phantastischen Geschichte, deren Fiktionalität jedem Leser schnell offensichtlich wird, kann bei einer Novelle, die den Untergang der Willhelm Gustloff thematisiert, nicht sofort entschieden werden, ob die Erinnerung einer Figur an das besagte zeitgeschichtliche Ereignis eine literarische oder eine außerliterarische Angelegenheit ist. Während in der literaturwissenschaftlichen Methodendebatte zu Recht vehement die Trennung zwischen der werkimmanenten Fiktion des Textes und der realen Ebene der Autorenproduktion und Textrezeption gefordert wird, kann bezogen auf das zeitgeschichtlich relevante Ereignis diese Trennung nur mit Mühe aufrecht erhalten werden. Denn eine literarische Figur, die sich an außerliterarische Ereignisse erinnert, gefährdet die für die Literarizität von Texten konstitutive Fiktion anders als die Literarisierung textextern existierender Entitäten der Gegenwart. Während letztere sozusagen neben den Text gehalten und nach bestimmten Kriterien mit ihrer Darstellung verglichen werden können, macht die literarische Verarbeitung zeitgeschichtlicher Ereignisse die Narrativität von Geschichte[1] überhaupt erst sichtbar. Daher ist es nicht verwunderlich, dass insbesondere diejenigen literarischen Texte den Zusammenhang zwischen Fiktion und Zeitgeschichte thematisieren, deren Handlung von zeitgeschichtlichen Ereignissen dominiert wird. Besondere Aufmerksamkeit gilt daher den Stellen, an denen die Erinnerung an außerliterarische Ereignisse der Zeitgeschichte als Erinnerung reflektiert und in dem Spannungsfeld zwischen Fiktion und Realität erzählter Geschichte verortet wird. In diesem Zusammenhang ist insbesondere darauf zu achten, mit welchen literarischen Strategien Zeitgeschichte von erdachten Figuren in die fiktionale Handlung integriert wird. Die Gegenwartsliteratur wird sich dabei nämlich immer wieder gegen die Behauptung zu verteidigen haben, dass eine literarisch vermittelte Thematisierung der Zeitgeschichte der unmittelbaren Beschäftigung mit der historischen Vergangenheit vorzuziehen sei. Eine mögliche Strategie, diesem Einwand zuvorzukommen, bestünde in dem Nachweis, dass Zeitgeschichte selber immer narrativ vermittelt ist. Literatur ist damit nicht nur zur Darstellung von Zeitgeschichte geeignet sondern markiert darüber hinaus ein bedeutsames Merkmal derselben.

Deswegen ist das, was in der Erzählung über Geschichte gesagt wird, von derselben Bedeutung wie das, was durch die Erzählung über die Geschichte gesagt wird. Ein gleich großer Teil der Arbeit widmet sich folglich den Figuren und deren Geschichtsbildern. Dabei soll auch herausgefunden werden, warum aus bestimmten Überzeugungen und Ansichten über die Geschichte bestimmte Handlungen oder – im Falle des Ich-Erzählers – FErzählhaltungen resultieren.

2. Hauptteil

2.1 Zur Darstellung des geschichtlichen Ereignisses

2.1.1 Die Medialität der Geschichtserzählung

Geschichte stellt sich uns nie unmittelbar, als direkt erlebtes Ereignis, sondern in der Form ihrer medialen Vermittlung dar. Selbst in Momenten, in denen wir das Gefühl haben, einem besonders bedeutsamen, geschichtsträchtigen Ereignis beizuwohnen, unterscheiden sich die retrospektiv angefertigten Chronologien und Geschichtserzählungen von den Eindrücken, die wir im gegenwärtigen Moment des Geschehens hatten. Neue Quellen werden erschlossen, interpretiert und sorgen für die stete Reformulierung des geschichtlichen Ereignisses und seiner Kontexte. Die so zustande gekommene Geschichte erscheint immer in der Gestalt ihrer medialen Vermittlung: als Bild, Text, Graphik, im Dialog, in Film und Fernsehen oder im mündlichen Vortrag

Im Krebsgang erzählt sieben solcher Geschichten von Menschen, deren Biographien durch den Untergang des Flüchtlingsschiffes Wilhelm Gustloff miteinander in Beziehung gestellt werden. Die Geschichte von Wilhelm Gustloff, die des nach ihm benannten Schiffes, die von Marinesko und die von David Frankfurter werden uns aber nicht von einem allwissenden Erzähler, im Präsens, mit wechselnden Erzählern der ersten Person und in erlebter Rede oder einer anderen Form der Unmittelbarkeit, sondern, bedingt durch die zeitliche Distanz des Ich-Erzählers zum historischen Gegenstand dieser Novelle, immer als mediale Vermittlungen von Geschichte präsentiert. Die entscheidenden Ereignisse der Handlungen um den Untergang der Wilhelm Gustloff sind somit nur thematisierbar über den Umweg ihrer Darstellung im Film (S.113, S.115, S.136)[2], im Internet (z.B. S.35, S.134), in der Zeitung, in einem Vortrag (S.97), auf Fotos (S.109, S.125, S.207), in einem Buch (S.129) oder in der mündlichen Erzählung – meistens der Mutter des Protagonisten. Dass medial vermittelte Geschichte hierbei nicht etwa als Alternative zur eigentlichen Geschichte begriffen wird sondern durch die Form ihrer Darstellung im Krebsgang sichtbar gemacht wird, dass sie qua medialer Vermittlung existiert, macht die häufige Bezeichnung der Novelle als Bericht und die eingeschobene Reflexion auf ihre Entstehung als Text bewusst (hierzu s.h. 2.4). Häufiger als diese ist jedoch die direkte Kennzeichnung des Mediums, durch das der Erzähler an die Ereignisse erinnert bzw. erinnert wird. Die beispielhafte Betrachtung des sechsten Kapitels soll dies verdeutlichen.

Das sechste Kapitel z.B. beginnt mit einer gattungspoetologischen Überlegung. „Er sagt, mein Bericht habe das Zeug zur Novelle. Eine literarische Einschätzung, die mich nicht kümmern kann. Ich berichte nur“ (S.123). Nach einer dementsprechend kurzen, protokollartigen Skizze der gesamthistorischen Situation im umkämpften Europa, wendet sich der Erzähler den Passagieren der Gustloff zu, die er auf Fotographien sieht oder aufgrund seiner Quellenkenntnis auf diesen Fotos vermisst. „Fotos liegen vor, die der überlebende Zahlmeisterassistent des Schiffes während Jahrzehnten gesammelt hat“ (S.125) Was hingegen auf dem U Boot Marineskos geschah, kennzeichnet der Erzähler explizit als Mutmaßung (S. 128), beruft sich im Weiteren aber auf die englischen Buchautoren Dobson, Miller und Payne. Die dichte Folge verschiedener Medienzitate, die ausdrückliche Kennzeichnung übernommenen Wissens (er soll, man berichtet) sowie die seiner Vermutungen erzeugen Distanz und stören die Fiktion, indem sie auf die Konstruiertheit des Textes hindeuten. Auch der vorläufige Höhepunkt der Novelle, der Untergang der Wilhelm Gustloff, wird medial vermittelt als Handlung eines Filmes und Widergabe eines Zeitzeugenberichtes dargestellt. „Das [dem Ausmaß der Katastrophe gerecht zu werden] hat der Schwarzweißstreifen mit Bildern versucht, die in Filmstudios vor Kulissen entstanden“ (S.136) beginnt der Erzähler den Abschnitt über das Geschehen an Bord des sinkenden Schiffes. Doch kann diese Darstellung den Ansprüchen, die damaligen Ereignisse angemessen zu repräsentieren, nicht genügen. Denn „die viertausend Säuglinge, Kinder und Jugendlichen, für die es kein Überleben gab, waren, allein aus Kostengründen, nicht zu verfilmen.“ (S.136). Der Hilflosigkeit gegenüber der Forderung „Einzelschicksale zu reihen, mit episch ausladender Gelassenheit und angestrengtem Einfühlungsvermögen den großen Bogen zu schlagen und so“ (S.136) zu einer adäquaten Form der Darstellung des Geschehens zu gelangen, entkommt der Erzähler auch durch die Schilderung von Zeitzeugenberichten nicht. „Ich kann nur berichten, was von Überlebenden an anderer Stelle als Aussage zitiert worden ist“ (S.137 H. v. M.D.), denn in das eigentliche Ereignis vorzudringen bleibt ihm verwehrt.

Und dies umso mehr, je weiter das erzählte Ereignis in der Vergangenheit liegt.

2.1.2 Geschichtskonzeptionen als narrative Prinzipien

Sofern Geschichte nur durch die Form ihrer medialen Vermittlung erfahrbar ist, geschieht sie nicht einfach nur, sondern wird narrativ gestaltet. Zwar wird Geschichte im Krebsgang mitunter zu einer handelnden Akteurin im Geschehen personifiziert. „Anfangs glaubte ich nicht, dass ein von der Geschichte abgehaktes Provinznest irgendwen, außer Touristen anlocken könnte; […] (S.8, H. v. M.D.). Außerdem verselbstständigt sich die erzählte Geschichte mitunter gegen den Erzähler – etwa er wenn warten muss „bis nach gegenwärtigen Sekundenschwund wieder die Erzählzeit abgespult werden kann.“(S.54).

Aber Einfluss auf die Zeit zu nehmen, ihr „in die Quere zu kommen“, gelingt dem Erzähler durch die Bewegung des Erzählens, die nicht dem Muster der chronologisch verlaufenden Biographie folgt sondern „der Zeit eher schrägläufig in die Quere kommen muß, etwa nach Art der Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich schnell vorankommen.“ (S.8). Diese Krebsgangmetapher taucht regelmäßig an Stellen auf, an denen Paul Pokriefke über das Verhältnis seines Erzählens zu dem Verlauf der Geschichte nachdenkt.

[...]


[1] Das Wort Geschichte kann also in seiner Doppeldeutigkeit gelesen werden. Es bezeichnet sowohl die Geschichte im Sinne einer Zeitgeschichte als auch die Geschichte im Sinne einer literarischen Erzählung.

[2] Alle Zitate ohne nähere Angaben aus Grass, 2004

Excerpt out of 20 pages

Details

Title
Erinnern und Erzählen
Subtitle
Zeitgeschichte als literarisches Ereignis im Krebsgang von Günther Grass
College
University of Marburg
Course
Literatur des 21. Jh
Grade
1,7
Author
Year
2006
Pages
20
Catalog Number
V115443
ISBN (eBook)
9783640169733
ISBN (Book)
9783640172344
File size
424 KB
Language
German
Keywords
Erinnern, Erzählen, Literatur
Quote paper
Malte Dreyer (Author), 2006, Erinnern und Erzählen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/115443

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