Zum Selbstverständnis von Eltern im Bezug auf Kontrolle und Kontrollverlust in schwierigen Erziehungssituationen

Narrative Interviews mit Eltern von Kleinkindern


Diplomarbeit, 2012

243 Seiten, Note: 1,25


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 THEORETISCHER HINTERGRUND
1.1 . Vorliegende Theorien zum Untersuchungsgegenstand
1.1.1 Definition des Begriffs „Kontrollverlust“
1.1.2 Gegenwärtiger Stand der Forschung
1.1.2.1 Häufigkeit elterlicher Kontrollverluste (der schweren Art)
1.1.2.2 Ursachen von Kindesmisshandlung
1.2 Begründung des Forschungsvorhabens

2 METHODIK
2.1 Qualitative Forschung
2.2 Methode des narrativen Interviews als Forschungsinstrument
2.2.1 Die narrative Identität
2.2.2 Ablauf des narrativen Interviews
2.2.3 Erstellung des Datenmaterials
2.2.4 Textanalyse
2.2.4.1 Grundlagen
2.2.4.2 Strukturelle Textanalyse
2.2.4.3 Feinanalyse
2.2.5 Gütekriterien der angewandten Methode
2.2.6 Theoretische Überlegungen zum Datenschutz
2.3 Dokumentation des eigenen Forschungsvorgehens
2.3.1 Gewinnung der Probanden
2.3.2 Vorgespräch
2.3.3 Das Interview
2.3.3.1 Der Interviewleitfaden
2.3.3.2 Durchführung der Interviews
2.3.4 Auswertung des Datenmaterials und Auswahl der Probanden
2.3.5 Textanalyse
2.3.6 Zur Darstellung der Analyseergebnisse
2.3.7 Datenschutz

3 DARSTELLUNG DER ERGEBNISSE
3.1 . Florian
3.1.1 Biografischer Hintergrund
3.1.2 Inhaltlicher und struktureller Aufbau des Interviews
3.1.3 Erzähl- und Darstellungsstil
3.1.4 Analyse des Interviews
3.1.4.1 Enttäuschte Erwartungen
3.1.4.2 „Ich habe die Kontrolle verloren“
3.1.4.3 Die Angst vor dem Verlust von Einfluss und erzieherischer Kontrolle
3.1.4.4 Es ist tief in uns angelegt
3.1.4.5 Je heftiger die Auseinandersetzung, desto besser ging es nachher
3.2 Cecilia
3.2.1 Biografischer Hintergrund
3.2.2 Inhaltlicher und struktureller Aufbau des Interviews
3.2.3 Erzähl- und Darstellungsstil
3.2.4 Analyse des Interviews
3.2.4.1 Wie aus mir geworden ist, was ich heute bin
3.2.4.2 Mein Kind kann mich nicht verletzen
3.2.4.3 Bei uns ist alles ein bisschen anders
3.2.2.4 Frauen sind gefühlsbetonter als Männer: Folgen für Partnerschaften
3.2.2.5 Das Kind ist von Natur aus kooperativ, gut
3.3 Vergleich der Probanden Florian und Cecilia
3.3.1 Beschreibung der Auseinandersetzung mit den Kindern
3.3.2 Darstellung des eigentlichen Kontrollverlustes
3.3.3 Angegebene Gründe für den Kontrollverlust
3.3.4 Eigene Evaluation des Kontrollverlustes
3.3.5 Umgang mit Strafe und Konsequenz
3.3.6 Beispielthema: der Umgang mit Essen
3.3.7 Sichtweise auf das Kind
3.3.8 Umgang mit Widerstand/Frechheit/Übergriffe der Kinder
3.3.9 Bewältigungsstrategien
3.3.10 Erfahrungen aus der eigenen Kindheit
3.3.11 Erworbene, überdauernde Theorien und Glaubenssätze
3.4 Zusammenfassung und Vergleich der anderen Interviews
3.4.1 Wie wird der Kontrollverlust dargestellt?
3.4.2 Was verursacht Kontrollverlust aus der Sicht der Probandinnen?
3.4.3 Welche Bewältigungsstrategien werden angewandt?
3.4.4 Wie werden die Kinder gesehen?
3.4.5 Wie wird das eigene Erziehungsverhalten beurteilt?
3.5.6 Erfahrungen aus der eigenen Kindheit

4 DISKUSSION
1.1 Diskussion der Ergebnisse zur eigenen Fragestellung
4.1.1 Die zwei feinanalysierten Interviews
4.1.2 Überblick über alle sieben Interviews
1.2 Diskussion der Ergebnisse im Forschungskontext
1.3 Bewertung der Methodik
4.3.1 Stichprobe
4.3.2 Narratives Interview als Methode
4.3.3. Die Person der Interviewerin
1.4 Ausblick und Implikation für die Praxis/Praktische Relevanz
1.5 Überlegungen zur weiteren Forschung

5 LITERATUR

6 ANHANG
6.1 Informationsblatt für das Interview
6.2 Einverständniserklärung
6.3 Erzählaufforderung und Nachfrageteil
6.4 Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem GAT (Seltin et al. 1998)

Danksagung

Viele Personen haben dazu beigetragen, dass diese Diplomarbeit zustande gekommen ist:

Vor allem die ProbandInnen, die sich mutig entweder auf meine Anzeige gemeldet haben oder sich über Bekannte von mir dazu bereit erklärt haben, obwohl es sich ja um ein etwas schwieriges Thema handelt, durch ihre große Offenheit und ihre Zeit; allen voran „Florian“, der mir im Lauf der Untersuchung sehr ans Herz gewachsen ist.

Meine Professorin Gabriele Lucius-Hoene, die mich als eine ihrer letzten DiplomandInnen in ihre Gruppe aufgenommen hat, obwohl sie eigentlich keine zeitlichen Reserven mehr hatte. Sie hat mich immer fachlich kompetent, geistreich und vor allem ermutigend unterstützt, auch bei diesem ihr etwas ferneren Thema.

Rainer Stegie, ohne dessen konstante Nachfragen und ermutigende Gespräche ich vermutlich den Einstieg nach der dritten Babypause nicht gewagt hätte.

Meine KollegInnen aus der Textanalysegruppe mit ihren guten Ideen und zahlreichen Hinweisen, besonders Katharina, Claudia und Carmen.

Meine Freundinnen Petra und Silvia und mein guter Freund Denis sowie meine Mutter durch ihre Ermutigung in Krisenzeiten, durchs Korrekturlesen und ihre zeitliche Unterstützung bei der Kinderbetreuung, hier auch vielen Dank an meine Schwägerin Elisabeth.

Mein Schwager Michael, der sich durch ungeheuer sorgfältiges Korrekturlesen auszeichnete.

Der Vater meiner großen Kinder Martin, ohne dessen Wissen sowie Hard- und Software im IT-Bereich ich aufgeschmissen gewesen wäre. Auch ihm vielen Dank fürs Korrekturlesen und die Notfallbereitschaft!

Die Inhaberin des Bio-Ladens in Freiburg-Kappel Ulrike mit ihren interessierten Nachfragen, die mich immer wieder daran erinnerten, dass dies nicht nur harte Arbeit, sondern einfach ein tolles Thema ist.

Meine Kinder Raffael, Aaron und Matilda, die eine große Geduld mit der vielbeschäftigten Mama bewiesen und sie mannigfaltig entlastet haben (Pfannkuchen und Lasagne zum Abendessen ...)

und natürlich mein Mann Markus, der bei diesem Projekt immer vorbehaltlos hinter mir stand, obwohl dies für unsere kleine Familie viele zeitliche und finanzielle Einbussen bedeutete, und der mich mehr als jeder andere unterstützte, an mich glaubte und mich ermutigte.

Euch allen vielen vielen Dank!

„Ich wüsste keinen anderen Lebensbereich zu nennen, in dem die Gelegenheiten
zur Eskalation von ,negativen’ Gefühlen bis zu ihrer Unbeherrschbarkeit so
üppig gestreut sind wie im Zusammenleben mit Kindern in ihren ersten
Lebensjahren.“

(Benno Hafeneger 2011)

Zusammenfassung

Noch immer ist die elterliche Wut auf Kinder, die sich in verbalen oder körperlichen Tätlichkeiten äußert, ein Thema, das die Gesellschaft beschäftigt. Obwohl im Jahr 2000 das Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung (§1631 BGB) in Kraft trat, nach dem körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen Schutzbefohlener als unzulässig gelten, sind elterliche Übergriffe noch nicht aus der Erziehung verschwunden. Sie sind jedoch im Rückgang begriffen bzw. haben sich etwas von körperlichen zu verbalen Ausbrüchen gewandelt.

Ziel der Untersuchung war es, das Selbstverständnis oder das subjektive Erleben des Einzelnen in schwierigen Erziehungssituationen genauer zu beleuchten, insbesondere den Umgang mit einem eventuell auftretenden Kontrollverlust im Gegensatz zu ruhigem, überlegtem Erziehungsverhalten. Hier wurde der Fokus besonders darauf gelegt, wie sich die Betroffenen ihren Kontrollverlust selbst erklären - einerseits aus der Situation heraus, andererseits aber auch durch tiefere Ursachen. Weiterhin war es von Interesse, wie Eltern selbst mit dem Kontrollverlust umgehen und ihn in ihre Identität einbauen.

Als Datengrundlage dienten sieben narrative Interviews mit sechs Müttern und einem Vater, Eltern von mindestens zwei Kindern im Alter zwischen 2 und 18 Jahren. Von diesen sieben Interviews wurden zwei zur genaueren Analyse ausgewählt, welche den Forschungskriterien am besten entsprachen und die durch ihre große Varianz besonders gut gegenübergestellt werden konnten. Nach der Feinanalyse der beiden ausgewählten Probanden und der Beschreibung einer speziellen Fallstruktur wurden die Ergebnisse der beiden in elf verschiedenen für die Forschungsfrage relevanten Gesichtspunkten miteinander verglichen. Danach folgte eine Zusammenfassung der Ergebnisse der anderen fünf Interviews.

Die Analyse der Ergebnisse ergab ein homogenes Bild sowohl in Bezug auf die Bewältigungsformen der alltäglichen Herausforderung, Kinder großzuziehen als auch in Bezug auf die Annahme einer Determiniertheit elterlicher Reaktionen in Stresssituationen aus der eigenen Prägung/Kindheitsgeschichte heraus. Heterogen stellten sich allerdings die eigentlichen Prägungen dar, gerade bei den beiden ausgewählten Hauptprobanden: hier gab es vor allem unterschiedliche Sichtweisen aufs Kind, Ursachenattribuierung, Evaluation des Kontrollverlustes, Umgang mit Widerstand des Kindes oder auch divergierende Handhabung von Strafe und Konsequenz.

Die Analysen haben ergeben, dass die Akzeptanz körperlicher und seelischer Übergriffe innerhalb der Untersuchung verschwindend gering ist: die allermeisten Kontrollverluste stellen die Probanden als nicht gewollt, sondern einer Belastungssituation geschuldet dar und sind somit also nicht mehr Teil der angestrebten Erziehung. Die Probanden bemühen sich darum, eine gewaltfreie Erziehung zu verwirklichen, scheitern im Alltag aber noch manchmal an verschiedenen Ursachen.

In den Fallstrukturen kristallisierten sich spezielle Umgangsweisen und Relevanzsetzungen heraus:

Die erste Fallanalyse zeigte, dass vor allem Gefühle der Angst, Bedrohung, Hilflosigkeit oder Verzweiflung einem Kontrollverlust vorausgingen. Hier stand vor allem ein als bedrohlich empfundenes Verhalten des Kindes, aber auch die Angst, den Einfluss oder die Kontrolle über das Kind zu verlieren, im Vordergrund. Durch die Adoption seiner zwei ältesten Kinder in einem nicht mehr so frühen Alter litt dieser Vater unter erschwerten Bedingungen und Startschwierigkeiten, die große Teile seines Lebens und seiner Identität als Vater bestimmten. Er hat für sich festgestellt, dass die den Familienmitgliedern eigenen Prägungen und Dispositionen einen großen Einfluss auf die Entstehung und Form der Auseinandersetzungen haben.

In der zweiten Fallanalyse wurde herausgearbeitet, dass völlig unterschiedliche Sichtweisen auf Strafe, Konsequenz, aber auch Kontrollverluste existieren, in diesem Fall eine grundsätzliche Ablehnung der ersteren beiden und ein sehr entspannter Umgang mit - leichteren - Kontrollverlusten. Ihre außergewöhnlichen Erziehungspraktiken und Einstellungen führt die Mutter von drei Kindern auf die eigenen guten Kindheitserfahrungen mit ihrem praktisch alleinerziehenden Vater zurück. Sie verfügt über eine Sichtweise auf Kinder, nach der das Wesen des Kindes von Kooperationsbereitschaft, Verständigkeit und Kompetenz geprägt ist. In ihrem Weltbild ist das Kind per Definition nicht in der Lage, sie zu verletzen; ja hat auch gar kein Bedürfnis danach, sondern ist hauptsächlich bestrebt, die Liebe oder Aufmerksamkeit der Eltern zu erringen, manchmal mit unverständlichem oder fehlgeleitetem Verhalten.

Beide Elternteile beschäftigen sich schon lange gedanklich mit dem Thema Erziehung. Beide stellen sich als kompetente, verantwortungsvolle und liebende Eltern dar. Sie haben im Laufe der Zeit eine Art und Weise der Erziehung gefunden, die mit ihrem Selbstverständnis übereinstimmt, der eine jedoch mit mehr Schwierigkeiten und größeren Frustrationen als die andere.

Bei der Auswertung aller Interviews wurden unter anderem folgende bedeutsame Faktoren im Umgang mit Kontrollverlusten ermittelt: die wichtige Rolle des Partners für die Gelassenheit eines Elternteils, die deeskalierende Funktion des Versuchs, sich in die kindliche Perspektive einzufühlen und die positive Auswirkung mehrerer Kinder auf das Nervenkostüm der Eltern.

Bei der vorliegenden Diplomarbeit handelt es sich um Einzelfallbetrachtungen. Die daraus gewonnenen Ergebnisse und gezogenen Schlüsse lassen sich nicht auf alle Eltern übertragen. Ziel der Arbeit war nicht, generalisierbare Aussagen bezüglich der Verhaltensweise gestresster Eltern treffen zu können, vielmehr sollten individuelle Sichtweisen und subjektive Ursachenattribution sowie Bewältigungsstrategien herausgearbeitet werden, mit dem Ziel, einen Einblick in die Situation und den Alltag von Eltern zu bekommen und dadurch Verständnis für ein manchmal unerklärliches Phänomen zu gewinnen.

Einleitung

„Wenn es uns gelingt, die Begleiterscheinungen des Ärgers und seine Absichten zu erkennen, können wir viel ruhiger entscheiden, welcher Ausdruck unseres Ärgers tatsächlich angemessen ist. (...) Wenn es uns gelingt, in einer ärgerlichen Situation die Aufmerksamkeit von unserem Gegenüber wegzunehmen und auf uns selbst zu lenken, können wir konstruktiver damit umgehen. Wir können nun den eigenen Schmerz fühlen und die Notwendigkeit erkennen, Mitgefühl für uns selbst und in ähnlichen Situationen für andere zu empfinden. (...)

Wenn wir genauer hinschauen, stellen wir fest, dass hinter unserem Ärger meist das Gefühl steckt, nicht liebenswert, unbedeutend, nicht anerkannt zu sein. Wenn wir uns fragen: ,Was kränkt in dieser ärgerlichen Situation mein Selbstwertgefühl?’, verändert sie sich bereits in Richtung Neugier und Offenheit.“

(Marie Mannschatz: Buddhas Anleitung zum Glücklichsein)

Zwei verschiedene Eindrücke führten zu meiner Wahl dieses Themas:

Erstens die eigene, manchmal leidvolle Erfahrung mit den „schwierigen Erziehungssituationen“ mit meinem ersten, ältesten Sohn in seinen ersten ungefähr drei Lebensjahren, als ich oft an meine Grenzen stieß und vor lauter Wut nicht mehr weiter wusste. Es geschah immer wieder, dass ich meinen kleinen Sohn im Kinderzimmer (oder beim Essen in der Küche) ließ, die Tür schloss, oder eher zuknallte, über den Flur in ein anderes Zimmer ging, auch diese Tür zuschmiss und dann voller Wut auf unseren stabilen Eichentisch eindrosch, um diese furchtbare und - wie man dann im Nachhinein meistens zugeben musste - unangemessen große Wut loszuwerden. Dies führte tatsächlich zu schmerzenden, wunden Händen, verhinderte aber erfolgreich, dass ich meinen Sohn schlug. Nicht verhindern und zwar bis heute ließ sich, dass ich aus Wut lautstark schimpfe, etwas, mit dem sich meine Kinder zwar ganz gut arrangiert haben, mir selbst danach aber immer noch unangemessen erscheint - und auch nur bei speziellen, immer wiederkehrenden Themen vorkommt, nämlich, wie sich im Lauf der Jahre herausstellte, bei denen, die mir persönlich etwas ausmachten; bei denen ich mich persönlich angegriffen fühlte: die eben einen alten Schmerz in mir berührten oder aufwühlten. Themen, bei denen ich auch im Kontakt zu anderen Menschen empfindlich war und die ich schon seit meiner Kindheit mit mir herumtrage bzw. die vermutlich auch dort ihren Ursprung haben.

Während ich aber weder bei meinen Eltern noch bei erwachsenen Bekannten oder Freunden bzw. bei Beziehungspartnern (hier gibt es wohl die sonst heftigsten Gefühle) dieser Wut freien Lauf lassen konnte - man muss sich ja ein bisschen benehmen bzw. kann gar nichts machen, wenn der Kommunikationspartner einfach geht o.ä. - gab es jetzt bei meinen eigenen Kindern eine völlig neue Situation: erstens waren sie klein und von mir abhängig und ich konnte sie dazu bringen, dass zu tun, was ich wollte: zum Beispiel nicht weggehen. Kurz: ich hatte, wie alle Eltern, die Macht. Und hier nun zeigte sich die Wut, die einem sonst zu zeigen viel zu peinlich und kindisch wäre, ungebremst und in einer Wucht, die einen selbst erschrecken ließ - wie viele meiner Interviewpartner auch erstaunt feststellen mussten.

Nur wenige Eltern kennen dieses Erlebnis überhaupt nicht und diese scheinen, wie ihre Erzählungen zeigen, selbst weniger persönliche wunde Punkte zu haben als diejenigen, die manchmal mit dieser großen Wut zu kämpfen haben. Alle Eltern in meiner Untersuchung jedoch wissen sehr genau den Unterschied zwischen einer Zurechtweisung des Kindes aus vernünftigen, erzieherischen Gründen und dem unangemessenen Aus-der-Haut fahren, dass mit Erziehung gar nichts zu tun zu haben scheint. Hier hat sich gesellschaftlich sehr viel verändert: noch vor wenigen Jahrzehnten sagten Eltern viel häufiger, sie würden ihre Kinder „aus erzieherischen Gründen“ schlagen oder strafen, während heute die meisten Eltern zugeben, dass ihnen z.B. „die Hand ausgerutscht sei“, weil sie nicht mehr weiter wussten, und es für die meisten ein falsches Verhalten darstellt, für das man sich nachher auch beim Kind entschuldigt.

Der zweite Punkt, warum ich über dieses Thema forschen wollte, ist das sich immer wiederholende Erstaunen oder mehr das fassungslose Entsetzen aller Menschen beim Lesen oder Hören von Berichten über Eltern, die ihre meistens noch ganz hilflosen, kleinen Kindern die furchtbarsten Dinge antun. Was hier den Weg in die Nachrichten schafft, ist naturgemäß die Spitze des Eisbergs und ihre schrecklichsten Auswüchse: eben wenn ein Kind oder Säugling zu Tode kommt. Hier tut sich ein großes „Warum?“ auf, auf das es keine ausreichende Antwort zu geben scheint und das sich mit enervierender Penetranz zu wiederholen scheint, bei jeder weiteren Pressemitteilung aufs Neue.

In meiner Arbeit nun wollte ich mit Absicht nicht dieses brutale Extrem, sondern die Wurzel dieser Wut und ihre ganz alltäglichen, meist noch relativ harmlosen Varianten, die so gut wie alle Eltern wenigstens ansatzweise kennen, untersuchen, um durch das Erforschen von etwas Bekanntem etwas Licht auf ein Verhalten zu werfen, dass in seiner höchsten Ausprägung den meisten von uns nicht mehr verständlich ist.

Die Arbeit gliedert sich in fünf Kapitel und einen Anhang:

Im ersten Kapitel werden verschiedene Theorien und - ältere und aktuelle - Studienergebnisse zum Thema vorgestellt. Es wird eine Definition zum etwas vagen Begriff „Kontrollverlust“ versucht und die Häufigkeit der - schweren - elterlichen Kontrollverluste aufgezeigt. Ausführlich werden die Ursachen für Kindesmisshandlung behandelt und dort besonderer Fokus auf das psychopathologische Modell gelegt. Abschließend beschäftigt sich das Kapitel mit der Begründung des Forschungsvorhabens.

Im zweiten Kapitel wird die Methode des Qualitativen Forschens vorgestellt. Danach folgt ein Einblick in das Thema „Narrative Identität“. Der Ablauf und die Auswertung eines narrativen Interviews und die anschließende Textanalyse werden erläutert und dann im konkreten Forschungsvorhaben dokumentiert. Außerdem wird auf Fragen des Datenschutzes eingegangen.

Dieser Theorie folgen im dritten Kapitel die konkreten Ergebnisse der Untersuchung; zuerst ausführliche Fallstudien der beiden ausgewählten Probanden. Hierbei werden durch Grob- und Feinanalyse bestimmter Aspekte der transkribierten Interviews die Fallstrukturen der zwei Hauptprobanden erarbeitet. Daran schließt sich ein detaillierter Vergleich der zwei Probanden in verschiedenen Punkten an sowie ein grober Überblick über die Ergebnisse der anderen Interviews.

Im vierten Kapitel werden die Ergebnisse der Untersuchung diskutiert, einmal zur eigenen Fragestellung, dann aber auch im aktuellen Forschungskontext. Darüber hinaus wird die Arbeit im Hinblick auf methodische und inhaltliche Aspekte kritisch betrachtet. In einem Ausblick wird die praktische Relevanz diskutiert und Überlegungen zu weiterer Forschung angestellt.

Das Literaturverzeichnis in Kapitel 5, der anschließende Anhang sowie die Sammlung der Transkripte der zwei Hauptprobanden auf der CD bieten dem interessierten Leser weitere Information.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Theoretischer Hintergrund

In der vorliegenden Diplomarbeit soll der Umgang von jungen Eltern mit schwierigen Erziehungssituationen und ihre eigenen Reflexionen über ihr Verhalten untersucht werden. Ziel ist es, zu verstehen, warum Eltern in diese Situation geraten, wie sie sich es selbst erklären und was ihre Strategie ist, mit überwältigenden Gefühlen, hauptsächlich Wut, umzugehen.

Die Auswirkungen elterlicher Kontrollverluste (der massiven Art) im Erziehungsalltag auf die Entwicklung der Kinder bis ins Erwachsenenalter hinein und damit auch auf die ganze Gesellschaft sind vielfältig und wissenschaftlich belegt (Lamont, 2010): Kinder, die Opfer körperlicher oder seelischer Misshandlungen geworden sind, entwickeln zu einem hohen Prozentsatz sowohl psychische wie körperliche Krankheiten: Bei ca. 40 - 50 % der als Kinder misshandelten jungen Erwachsenen wurden mindestens zwei psychische Störungen festgestellt (Silverman et al., 1996, Springer et al., 2007). Auch das Risiko körperlicher Erkrankungen ist durch körperliche Misshandlung im Kindesalter erheblich erhöht; bei Krebs stellten Forscherinnen z.B. eine Erhöhung des Erkrankungsrisikos von 45 % fest (Fuller- Thomson & Brennenstuhl, 2009). Im Kindesalter Misshandelte neigen vermehrt zu Kriminalität, selbstschädigendem und/oder suizidalem Verhalten (Felitti et al., 1998, Gilbert et al., 2009) und dazu, selbst Schwierigkeiten mit der Kindererziehung zu haben, d.h. die Gewalt intergenerational weiterzugeben (Kwong et al., 2003, Pears & Capaldi, 2001, Covitz, 1986).

Als Gründe für Misshandlung werden in der Literatur eine Mischung. aus verschiedenen gut erforschten Ursachen wie z.B. niedrigem sozio-ökonomischen Status, Partnerschaftskonflikten oder Broken-Home-Situationen (Engfer, 1986, Mertens & Pankofer, 2011, Baier/Pfeiffer, 2007) und der damit verbundenen seelischen und/oder körperlichen Überforderung diskutiert. Diese Ursachen allein scheinen aber das Vorkommen des Kontrolle-Verlierens noch nicht ausreichend zu erklären: Ein in der Literatur immer wieder erwähnter Punkt ist die negative Reaktivität der Mütter und Väter, die - nicht nur bei ihrem Kind, sondern eben auch sonst, in anderen zwischenmenschlichen Situationen - eine zweideutige Situation negativ interpretieren, sich dann persönlich in Frage gestellt oder gar angegriffen fühlen (Forward, 1989) und sich dann folgerichtig auch wehren: gegen ,eigene Geister’, sehr oft die ihrer eigenen Eltern (Fraiberg, Adelson & Shapiro, 1975), gegen die man sich damals, als Kind, eben nicht zur Wehr setzen konnte (Bauer, 2011, Forward, 1989), aber jetzt, da sie in der Gestalt ihrer - relativ machtlosen - Kinder wieder auftauchen, umso besser.

Ziel der Untersuchung ist es, herauszufinden, ob alle Menschen in Momenten eines Kontrollverlustes an einer emotionalen Not leiden, die sie dazu bringt, so extrem zu reagieren. Dies wäre natürlich auch bei anderen zwischenmenschlichen Situationen interessant, z.B. auch während eines Beziehungsstreites oder bei Interaktionen am Arbeitsplatz oder wo immer menschliche Interessen aufeinander treffen - wobei sich diese Studie auf den Erziehungsalltag beschränken muss.

In dieser Untersuchung möchte ich mich allerdings eher mit den kleineren, alltäglichen Kontrollverlusten beschäftigen (andere Probanden werden sich wohl auch nicht melden), um durch sie Einblicke auch in die schwerere Problematik zu bekommen.

Darüber hinaus hoffe ich auch, im Lauf der Studie Einblick in die verschiedenen Coping-Stile und Lösungsmöglichkeiten der Eltern zu bekommen, aber auch Wünsche und Bedürfnisse von den Eltern an Gesellschaft oder ärztliche Versorgungsinstitutionen registrieren zu können.

1.1. Vorliegende Theorien zum Untersuchungsgegenstand

1.1.1 Definition des Begriffs „Kontrollverlust“

Unter „Kontrollverlust“ wird in der Psychologie allgemein ein Zustand des Fehlens von subjektiver Kontrolle verstanden, z.B. durch äußere Umstände begründet (Lexikon Psychologie.de) oder bei verschiedenen Süchten der Zustand, wenn das „Creeping“ nach dem ersehnten Gegenstand oder der Handlung so groß geworden ist, dass man ihm nachgibt, z.B. bei der Selbstbeschädigung (Eckhard-Henn, 2000) oder Missbrauch psychotroper Substanzen (Krausz, Lucht & Freyberger, 2000).

Im ICD-10 wird unter 60.3 die „emotional instabile Persönlichkeitsstörung“ beschrieben, bei der die „mangelnde Impulskontrolle“, d.h. „häufige Ausbrüche von gewalttätigem und bedrohlichen Verhalten, (...).“ als Symptom genannt wird. Sonst werden Probleme mit der Impulskontrolle im Bezug auf pathologisches Spielen, Brandstiftung, Stehlen und selbstschädigendem Verhalten erwähnt. Im DSM-IV wird dagegen direkt von „Störungen der Impulskontrolle“ gesprochen. Diese werden folgendermaßen definiert:

„Unfähigkeit, einem Impuls, einem Trieb oder einer Versuchung zu widerstehen, irgendeine Handlung durchzuführen, die für die Person oder für eine andere schädlich ist. Bewusster Widerstand gegen den Impuls kann vorkommen oder nicht. Die Handlung kann vorher überlegt oder geplant sein oder nicht. Zunehmendes Gefühl von Spannung oder Erregung vor Durchführung der Handlung. Empfinden von Vergnügen, Befriedigung oder Erleichterung während der Durchführung der Handlung. Die Handlung ist insofern ich-synton, als sie dem aktuellen, bewussten Wunsch des Betroffenen entspricht. Unmittelbar nach der Handlung können echte Reue, Selbstvorwürfe oder Schuldgefühle auftreten oder nicht.“ (DSM-IV 2000) Auch im Zusammenhang mit Gewalt gegenüber Kindern spricht man von Problemen mit der Impulskontrolle (Friedrich & Wheeler, 1982).

Ich möchte in meiner Arbeit den Begriff „Kontrollverlust“ verwendet wissen als - ebenfalls - einem Zustand des Fehlens subjektiver Kontrolle, und zwar im Bezug auf das Erziehungsverhalten, wie man es als Eltern normalerweise vernünftig plant und im Normalfall auch durchführt. In der Literatur wird über diesen Zustand gewöhnlich im Zusammenhang mit - hauptsächlich - körperlicher Misshandlung bzw. Gewalt berichtet: also ein massiver Fall von Kontrollverlust.

Nur sehr vereinzelt wird von einer „erzieherischen Krise“ (Kalff, 1974) gesprochen, in der Einstellungen und Verhaltensweisen bei Kindern auftreten, von denen die Erzieher glauben, dass man sie nicht hinnehmen kann und die auch mit den gewohnten Erziehungsmaßnahmen nicht zu ändern sind.

In der Aggressionsforschung wird zwischen zwei verschiedenen Arten von Gewalt unterschieden: der „affective“ und der „predatory“ („raubtierhafte“) violence, also quasi zwischen „heißer“, spontaner, durch zu große Emotionen hervorgerufene und der eher „kalten“, geplanten, emotionslosen Gewalt (Meloy, 2006). Nach diesem Ansatz hätten die zwei Arten der Gewalt ihren Ursprung in der älteren Vergangenheit der Menschheit und hätten dort zwei ganz verschiedenen Zielen gedient: die affektive Variante zur Selbst- und Familienverteidigung, die raubtierhafte zum geplanten Jagen von - vermutlichen eher großen - Tieren. So was wie ein Kontrollverlust geschieht also eher durch die affektive Variante, weshalb wir auch immer wieder auf das Thema Selbstverteidigung (gegen gefühlte Angriffe) stoßen.

1.1.2 Gegenwärtiger Stand der Forschung

1.1.2.1 Häufigkeit elterlicher Kontrollverluste (der schweren Art)

Leichte bis mittelschwere körperliche Misshandlung nimmt in Deutschland sukzessive ab, besonders seit dem „Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung“ vom 6. Juli 2000; die wirklich schweren Misshandlungen halten sich aber ungefähr auf dem selben Level (Wetzels, 1997, Bussmann, 2005), d.h. in der Gruppe der Eltern mit gewaltbelastetem Erziehungsstil bleibt die hohe Zahl der körperlichen Züchtigungen nahezu identisch (BMJ 2005), was für einen Bodensatz an elterlicher Aggression spricht, dem man mit Gesetzen, gesellschaftlicher Moral, Unterstützungsangeboten etc. nicht beikommen kann.

Die einzige „Misshandlung“, die zugenommen hat und weiter zunimmt, ist das sog. „Niederschreien“. „Nicht mehr Reden mit dem Kind“/ „Ignorieren“ nahm zwischen 1992 und 2002 erst kräftig zu, ging bis 2005 aber wieder leicht zurück (Bussmann, 2005; BMJ, 2005). Es kann angenommen werden, dass die psychische Gewalt zunimmt, weil Eltern versuchen, sich körperlich immer mehr zurückzuhalten: das eigentliche „Aus-der-Haut-Fahren“ scheint also nicht aus der Welt zu sein, sondern sich vielleicht eher in dieser „leichteren“ Gewalt zu äußern.

Die psychische Misshandlung ist viel weiter verbreitet als die körperliche: sie sei die zentralste, häufigste und schädlichste Form der Gewalt (Garbarino & Vondra, 1987). Seelische Gewalt und leichte körperliche Gewalt ist vermehrt mit schwererer Gewalt verbunden: Eltern, die oft schreien, schlagen auch am häufigsten (Hemenway, Solnick & Carter, 1994). Häufiges Tadeln, Schimpfen und Herabsetzen des Kindes führt offensichtlich auch vermehrt zu körperlichen Strafen (Korbanka & McKay, 1995).

1.1.2.2 Ursachen von Kindesmisshandlung

Für die seelische und körperliche Gewalt in der Kindererziehung sind verschiedenste Ursachen ausgemacht worden:

Bis in die 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurde Gewalt durch Erzieher als völlig legitimes (Erziehungs-) Verhalten von Eltern und Lehrern gesellschaftlich akzeptiert, ja auch gefordert (Aries, 1975, Miller, 1980, de Mause, 1977). In vielen Ländern und bis fast in unsere Zeit hinein wurde auch affektive Gewalt von Eltern - und Gesellschaft - durch die Notwendigkeit der Erziehung gerechtfertigt (Wetzels, 1997, Bussmann, 2005). Nach der Einführung eines Gesetzes zur Ächtung von Gewalt als Erziehungsmittel berichteten in den entsprechenden Ländern Eltern dann vermehrt, in einer Stresssituation die Kontrolle verloren zu haben - anstatt wie früher den Gewaltausbruch häufig durch Erziehungsprobleme und - verpflichtungen zu erklären.

Viele Quellen machen soziologische Erklärungsansätze für das Auftreten von Gewalt gegen Kinder verantwortlich (Sariola et al., 1992, Wetzels,1997), darunter z.B. die gesellschaftliche Billigung von Gewalt in der Erziehung, unterschiedlichste Lebensbelastungen wie Armut, Arbeitslosigkeit, soziale Isolation, Ein-Eltern-Familien oder den Mangel an sozialen Unterstützungssystemen (Engfer, 1997).

Weiterhin wird häufig ein „schwieriges kindliches Temperament“ und sein Einfluss auf die Interaktion zwischen Bezugsperson und Kind erwähnt und ist Ziel vieler Studien (Thomas & Chess, 1977, Laucht, 1990, Mash et al., 1983, Whipple & Webster-Stratton, 1991). Im Gegensatz dazu ist in verschiedenen Studien (Engfer, 1991, Esser, 1997, Esser & Weinel, 1990, Chrittenden & Ainsworth, 1989, Pianta et al., 1989) die Bedeutung des kindlichen Temperaments relativiert worden. Diese Studien kommen zu dem Schluss, dass kindliche Verhaltensprobleme mehr mit mütterlichen Persönlichkeitsproblemen und wenig optimalem Betreuungsverhalten verbunden sind. Unmittelbar nach der Geburt bis zu vier Wochen danach unterschieden sich später misshandelte von nichtmisshandelten Kinder im Sozialverhalten nicht; sehr wohl dann aber mit neun Monaten bzw. sechs Jahren: dann wurden die Kinder auch von Außenstehenden als nervig oder schwierig beurteilt. Die Mütter verhielten sich in diesen Studien ihren - misshandelten - Kindern gegenüber negativer, ärgerlicher und repressiver. Dies kann durch die unterschiedliche, negative Wahrnehmung der Kinder durch ihre Mütter begründet werden (Bradley & Peters, 1991, Pianta et.al., 1983, Wood-Shumann & Cone, 1986, Sidebotham, 2001, Lesnik-Oberstein et al., 1995)

Mehrere Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Würde des Kindes oft grundsätzlich anders behandelt wird als die eines Erwachsenen, d.h. dass man leichter Gewalt gegen Schwächere (z.B. eigene Kinder, aber auch Kranke, Behinderte [Behinderte Kinder werden statistisch viel öfter misshandelt als Gesunde] etc.) ausüben kann als gegen denjenigen, auf den man eigentlich wütend ist, der aber in der Hierarchie höher steht (z.B. Vorgesetzte, Partner, eigene Eltern) (Bauer, 2011, Miller, 1980, de Mause, 1977, Nack, 1998).

Cornelia Nack macht in ihrem sehr praxisnahen Buch „Wenn Eltern aus der Haut fahren“ (Nack, 1998) weitere Gründe für das Reißen des elterlichen Nervenkostüms verantwortlich, wie z.B. die erschwerenden kulturellen Voraussetzungen: Eher kleine Zwei-Generationen­Familien mit tendenziell immer weniger Kindern/oft getrennten Eltern/wenig verfügbaren Großeltern und anderen Verwandten (BMFS, 1995, .Nack, 1998) oder das Nicht-Verstehen kindlichen Verhaltens bzw. eine Unkenntnis der kindlichen Entwicklungsbedürfnisse (was ebenfalls mit der Verkleinerung der Familien und der fehlenden Übung von Menschen mit Säuglingen und kleinen Kindern zusammenhinge). Dies alles führe zu Überforderung des Kindes und zu übersteigerten Erwartungen an das Kind. Eltern würden auch eher den Ratschlägen anderer vertrauen als ihrer eigenen Erfahrung (Nack, 1998, Schütze, 1981). Nack spricht sogar von einer zu hohen Erwartung an das Kind (gerade wenn es sich, wie es immer häufiger vorkommt, um ein Einzelkind handelt), dem Leben der Erwachsenen einen Sinn zu verleihen, wenn z.B. wegen des Kindes auf eine Berufstätigkeit verzichtet wird. Auf diesem einen Kind laste dann eine gewaltige Verantwortung, die Träume des Elternteils zu erfüllen: deswegen sei der Erwachsene dann eher persönlich getroffen, wenn das Kind nicht so werde oder funktioniere’, wie er das gerne hätte (Seehausen, 1986).

All diese Faktoren können aber die Existenz der Gewalt gegen Kinder nicht gänzlich aufklären: z.B. eine niedriger sozioökonomischer Status allein erhöht noch nicht die Wahrscheinlichkeit der Kindesmisshandlung (Pianta et al., 1989). Auch in Ländern wie Schweden, das schon lange ein Gesetz gegen körperliche Gewalt gegen Kinder hat, existiert Kindesmisshandlung immer noch.

„Wenn Eltern die Hand ausrutscht, geschieht es oft aus Hilflosigkeit“ (Bielefelder Studie/ Lösel & Bender 1994). Im Falle dessen, was ich als „Kontrollverlust“ bezeichnen möchte, stehen also eigentlich keine rein erzieherischen Erwägungen im Vordergrund (Nack, 1998), sondern psychologische Gründe.

Psychopathologisches Erklärungsmodell

Eltern, die ihre Kinder misshandeln, sind vermehrt betroffen von psychischen Krankheiten wie Depressionen, Angststörungen, Substanzabhängigkeiten (Wetzels, 1997, Engfer, 1991, Belsky & Vondra, 1989).

In Zusammenhang damit steht der Punkt, der selten erforscht, sondern immer nur in der Literatur erwähnt wird (Miller, 1980, Forward, 1989), ist eben die eigene emotionale Not , die Eltern dazu bringt, aus der Haut zu fahren.

„Viele körperlich misshandelnde Eltern beginnen ihr Erwachsenenleben mit einem ungeheuren emotionalen Defizit und unerfüllten Bedürfnissen. Emotional sind sie immer noch Kinder. Sie betrachten ihre eigenen Kinder oft als Ersatzeltern, die ihre emotionalen Bedürfnisse erfüllen sollen, die ihre eigenen Eltern nie erfüllten“ (Forward, 1989, S.121).

Diese emotionale Bedürftigkeit kann sich zeigen:

(1) in Form des sog. Rollentauschs: vom Kind wird erwartet, ein bisher nicht befriedigtes Bedürfnis des Elternteils aus seiner eigenen Kindheit zu erfüllen (Fraiberg, 1980, de Mause, 1977, Miller, 1980/81)
(2) oder als Projektion, wenn das Kind ein Verhalten zeigt, das in der eigenen Kindheit verboten war bzw. bestraft wurde und das zu beobachten und zuzulassen dem Elternteil kaum möglich ist. (Miller, 1980, de Mause, 1977)
(3) weil Eltern sich im tiefsten Innern als nicht liebenswert oder kompetent erachten, haben sie natürlich viel größere Probleme mit (normaler) Widersetzlichkeit und Ungehorsam des Kindes (,auch mein Kind liebt mich nicht’) (Steele & Pollock, 1968, Miller, 1980/81)

Lloyd de Mause (1977) beschreibt drei verschiedene Möglichkeiten, die eine Bezugsperson hat, um auf kindliche Bedürfnisse zu reagieren:

1. Er kann das Kind als Vehikel für die Projektion von Inhalten seines eigenen Unterbewussten benutzen („ Projektive Reaktion “)
2. Er kann das Kind als Substitut für eine Erwachsenenfigur benutzen, die in seiner eigenen Kindheit wichtig war. („ Umkehr-Reaktion “ = sog. Rollentausch)
3. Er kann sich einfühlen und die Bedürfnisse des Kindes zu befriedigen suchen. (Empathische Reaktion)

Psychoanalytisch wird Punkt 2, der Rollentausch, folgendermaßen erklärt: eine narzisstische Mutter (oder Vater) habe das Bedürfnis, selbst durch ihr Kind geliebt zu werden. Schon der Kinderwunsch selbst könne aus dieser unzureichenden Selbstliebe und Selbstachtung resultieren. Sind Kinder ,Liebesprothesen’ ihrer Eltern, erleben diese emotionale Enttäuschungen, die dann durch die Identifizierung der eigenen Person mit dem geborenen Kind reaktiviert werden. Die Aggressionen, die sich eigentlich gegen die eigene Mutter richten, richten sich nun gegen das Kind. Da die Aggression nicht neutralisiert werden kann, bricht sie sich in Belastungssituationen ungehemmt Bahn (Nahlah Saimeh, 2005, zit. nach Steffes-Enn & Hoffmann, 2010)

Bindungsstile und Aggressionsbereitschaft

Menschen mit unsicherem Bindungsstil (die meist mit in der eigenen Kindheit erlittenen Verletzungen, wenig optimalem Erziehungsstil oder fehlender Feinfühligkeit der Bezugsperson zusammenhängen) (Bolwby, 1969, 1980, Ainsworth, 1978, Grossmann & Grossmann, 2009) haben als Erwachsene bei schwierigen Alltagssituationen schneller als andere das Gefühl, abgelehnt oder verachtet zu werden (Bauer, 2011).

Aggressions-verschiebung: Aggressionen am „falschen“ Ort und zur „falschen“ Zeit

Aggressive Impulse richten sich nicht immer an denjenigen Menschen, der den Provokationsreiz verursacht hatte, sondern können auf andere Personen gerichtet bzw. verschoben sein. (Dollard et al., 1939, Leary et al., 2003, Leary, Twenge & Quinvilan, 2006). Das macht manchmal Aggression oder eine so heftige Reaktion, die für Außenstehende unangemessen wirkt, auch so unverständlich (Bauer, 2011).

Dieser Verschiebungsprozess wird meistens von dem betroffenen aggressiven Subjekt nicht bewusst bemerkt (Leary, Twenge & Quinvilan, 2006): dies ist natürlich ein Problem für meine Untersuchung, die ja genau darauf abzielt, dass sich die Betroffenen darüber reflektieren, warum sie in diesem Zusammenhang „immer so aus der Haut fahren“. Deswegen wurden für diese Untersuchung auch aus allen möglichen Situationen gerade Eltern (am besten mit Kindern um die drei oder vier Jahre, da der Gipfel der Gewalt gegen Kinder in dieser Zeit ist (BMJ, 2003, Child Maltreatment Report, 2004)) ausgesucht, da diese immer und immer wieder, manchmal täglich mit derartigen Situationen konfrontiert werden und deshalb gezwungen sind, sich sehr oft darüber Gedanken zu machen, was in der Interaktion schiefgelaufen ist (Nack, 1998):

Zwei Drittel der Eltern in der Studie von McKay et al. (1995) sagten, dass sie durchschnittlich fünfmal in der Woche wütend werden und ihre Kinder anschreien. Mehr als die Hälfte der Eltern einer Studie von Frude & Goss (1979) zu diesem Thema gaben an, die Beherrschung verloren und ihr Kind „ziemlich hart“ geschlagen zu haben.

1.2 Begründung des Forschungsvorhabens

Es existiert mannigfaltige Forschung über eine bestimmte Form des Kontrollverlustes von Eltern, nämlich der körperlichen, und, bedeutend weniger, der seelischen Misshandlung. Viele, hauptsächlich quantitative Untersuchungen beschäftigen sich mit Vorkommen und Häufigkeit der extremeren Variante, der körperlichern Kindesmisshandlung und versuchen, Rückschlüsse auf Ursachen, Zusammenhänge und Bewältigungsstrategien aus Zahlen und Fakten zu ziehen, (Wetzels, 1997, Bussmann, 2005) oder auch ausführlicher mit dem Verlauf eines Lebens mit schwierigen Startbedingungen über mehr als 30 Jahre (Werner & Smith, 1989). Manchmal werden die Eltern, etwas seltener die Kinder nach Häufigkeit oder Schwere der Misshandlung befragt, in wenigen interessanten Studien diese Ergebnisse gar miteinander verglichen (Bussmann, 2005), doch es existiert wenig qualitative Forschung dieses Phänomens (vgl. Punkt 2.1 Methodik), erst recht auf dieser - meist noch relativ harmlosen - Stufe der alltäglichen Wut. Selten kommen die Eltern selbst zu Wort, wie sie sich ihre unangemessene und meist selbst unangenehme Erregung oder Aggression erklären, ihre Gefühle und Wahrnehmungen dazu; was sie über deren Ursprung denken und vor allem auch, welche Bewältigungsstrategien sie einsetzen.

In meiner Untersuchung und mit dieser Methodik möchte ich deshalb den gewissermaßen "alltäglichen" Kontrollverlust erforschen, wie in vermutlich sehr viel mehr Eltern kennen und sich damit auseinandersetzen müssen - und der möglicherweise auch nur im Kopf des Elternteils stattfindet; der sich in jüngerer Zeit am ehesten im Schimpfen oder "Niederschreien" äußert, nur begrenzt in körperlichen Strafen (Bussmann, 2005).

Darüber hinaus ist es sehr schwierig, wenn nicht der Natur der Sache nach unmöglich, das Phänomen des Kontrollverlustes in einer quantitativen, kontrollierten Studie im Labor (aber auch im Feld) zu untersuchen, da sich Eltern eher selten in der Öffentlichkeit die Blöße geben, so unbeherrscht zu reagieren (wie auch Probandin Beate im Interview berichtet). Die authentischten, für das Thema interessantesten Schilderungen bekommt man deshalb vermutlich aus persönlichen Erzählungen. Aus diesem Grund erscheint mir das narrative Interview als eine sehr gute Methode, diesen Sachverhalt zu untersuchen, vor allem, da hier die "Aggressoren"selbst von Situationen berichten, die zeitlich noch nicht so lange zurückliegen und damit relativ aktuell sind.

Auf der anderen Seite gibt es eine Menge eher populärwissenschaftliche’ Literatur, z.B. von praktizierenden Psychiatern und Psychologen (Miller, 1980/1981, McKay et al., 1996, Covitz, 1992 oder Forward, 1989), die sehr praxisnah und anschaulich die Ursprünge der Wut und den Umgang mit ihr schildern, aber leider nicht die Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens erfüllen.

Ich möchte versuchen, mit meiner Arbeit hier eine Lücke zu schließen; einen kleinen Beitrag zum besseren Verständnis des Phänomens der unangemessenen Wut bei der Kindererziehung zu leisten: für betroffene Eltern und alle, die sich mit diesem Thema beruflich beschäftigen. Es geht in diesem Fall nicht darum, eine Handlung zu erfassen, die dem Kind möglicherweise schadet, sondern um den Moment, in dem der Elternteil nicht mehr versucht, rational motiviert das Kind zu erziehen, sondern wegen eigener innerer Not in Spannung und Bedrängnis - und in Folge davon in Wut gerät. Wie das einzelne Individuum mit dieser Situation umgeht, ist Teil der Untersuchung. Meine Hoffnung ist, dass dabei das Verständnis der Ursprünge dieser Aggression genauso hilfreich ist wie die Sammlung von Bewältigungsstrategien. Ohne Zweifel werden auch noch Jahre nach dem Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Kindererziehung Information und Forschung zu diesem Thema benötigt.

2 Methodik

Für meine Forschungsarbeit, die sich ja für das Selbsterleben und Selbstverständnis gestresster Eltern interessiert, habe ich den qualitativen Zugang gewählt. Dieser zeichnet sich durch besondere Grundlagen, Charakteristika und Methoden aus, die im folgenden genauer beleuchtet werden sollen. (Abschnitt 2.1).

Danach soll die Vorgehensweise bei narrativen Interviews erläutert werden und eine Begriffserklärung zur „Narrativen Identität“ folgen. (Abschnitt 2.2)

Innerhalb dieses Abschnitts wird auch das Verfahren der Textanalyse genauer vorgestellt, die Güte der angewandten Methode kurz diskutiert und auf Fragen des Datenschutzes eingegangen.

Abschnitt 2.3 dokumentiert das eigentliche Forschungsvorgehen in seinen einzelnen Schritten.

2.1 Qualitative Forschung

Qualitative Forschung ist inzwischen bedingungslos anerkannt - selbst in der hauptsächlich quantitativ ausgerichteten Grundlagenforschung - zur Exploration, als Ergänzung quantitativer Studien oder - als eine der fruchtbarsten Verbindungen von qualitativer und quantitativer Forschung - zum vertiefenden Verständnis der ,nackten Zahlen’, die die subjektiven Sichtweisen, erlebten Hintergründe, Gefühle und Reflexionen zu Geschehenem sichtbar machen können.

In der Gegenüberstellung von quantitativer und qualitativer Forschung ist letztere eher „hermeneutisch zirkulär“, „horizontal“, „plural und spezifisch“, „fragmentarisch, vielfältig verzweigt und vernetzt“, und insgesamt damit offener für alternative Sichtweisen als die quantitative Kollegin (von Kardoff, 2000, S.618,619).

„Menschen erschaffen die Erfahrungswelt, in der sie leben“ ist eine Grundannahme, auf dem der symbolische Interaktionismus beruht (Blumer 1981, zit. nach Denzin 2000, S.139). Mit qualitativer Forschung ist es möglich, „Lebenswelten von innen heraus aus der Sicht der handelnden Menschen zu beschreiben“ (Flick, von Kardorff & Steinke, 2000, S.22). Durch diese gewollte Subjektivität kann und will qualitative Forschung nicht die Wirklichkeit abbilden oder Anspruch auf die objektive, wahrheitsgemäße Wiedergabe von Ereignissen erheben. Was sie im Gegensatz dazu auszeichnet, ist die Offenheit und das ,Näher-Dransein‘ am Menschen. Sie ist in der Lage, ein „wesentlich konkreteres und plastischeres Bild“ der Situation oder Perspektive einer Person zu zeichnen, als es andere Forschung kann. Ein Charakteristikum ist die genaue und „dichte Beschreibung“ (Geertz 1983, zit. nach Flick, von Kardorff & Steinke, 2000), mit deren Hilfe die speziellen Konstruktionen der Probanden in der Analyse erst sichtbar werden.

Während in der quantitativen Forschung meist schon bekannte Phänomene untersucht werden, kann qualitative Forschung durch ihre Offenheit völlig neue Themenbereiche erschließen. Für Bruckner & Finkielkraut (1981, zit. nach Flick, von Kardorff & Steinke, 2000, S.17), beginnt hier das „Abenteuer gleich um die Ecke“, wenn sich neue, interessante

Aspekt in eigentlich Alltäglichem zeigen. Interaktionisten z.B. halten in diesem Zusammenhang nichts von „Theorien, die Biographien und gelebte Erfahrungen der handelnden Menschen übergehen“ (Denzin, 2000, S.141).

Qualitative Forschung geht davon aus, dass soziale Wirklichkeit interaktiv hergestellt und konstruiert wird (Flick, von Kardoff & Steinke, 2000), und zwar in einem kontinuierlichen Prozess. Diesen Prozess zu entschlüsseln, also zu re-konstruieren, ist ein wichtiger Baustein qualitativer Forschung. Der nächste ist dann folgerichtig die Analyse der Kommunikations­und Interaktionssequenzen durch Beobachtung und Textanalysen. Erst die subjektive Bedeutung ihrer Lebensumstände, - haltungen und -weisen verleihen Menschen Sinn, und diesen Sinn zu entschlüsseln und zu interpretieren, um individuelle und damit auch kollektive Einstellungen erklärbar zu machen, ist ein weiterer Baustein. Als vierter Punkt spielt die Kommunikation selbst eine große Rolle, und hier bei narrativen Interviews die schon erwähnte „dichte Beschreibung“, mit Hilfe derer der Forscher Informationen über „subjektiv bedeutsame Verknüpfungen von Erleben und Handeln, über Auffassungen (...), über Lebensentwürfe, inneres Erleben und Gefühle“ (Flick, von Kardorff & Steinke 2000, S.22) erhalten kann.

Unter den Kennzeichen qualitativer Forschungspraxis ist die Unterschiedlichkeit der Perspektiven der Beteiligten besonders zu erwähnen. Die eigene Sicht, die subjektive Auswahl zum Beispiel der Textstellen und die Interpretation der und durch die Interviewerin stellen hier kein methodisches Problem dar, sondern sind im Gegenteil zur Re-Konstruktion der Fallstrukturen unabdingbar, ja die subjektive Wahrnehmung des Forschers dient explizit der Erkenntnisgewinnung - soweit sie methodisch kontrolliert wird (ebd).

Qualitative Sozialforschung studiert zwar individuelle Einzelfälle, es geht ihr aber weniger um die bloße Einzigartigkeit von Individuen und Ereignissen, sondern vielmehr um eine Erfassung dessen, was an diesen Fällen „gleichzeitig allgemein und besonders ist“ (Bude, 2000, S.577).

Probleme bei der Verwendung qualitativer Forschung bestehen zum einen darin, dass sie zu wenig ernst genommen wird, „weil sie den Laienvorstellungen von Wissenschaft und ihren gewohnten Darstellungsformen in Tabellen und Zahlenkolonnen widersprechen“ (von Kardoff, 2000, S.619), zum anderen in der Tatsache, dass die oft sehr umfangreichen Forschungsarbeiten nur sehr selten gelesen werden (sic!), was die Autoren dann manchmal zu einem verkürzten Bericht nötigt, der wiederum dann den eben langwierigen Prozess sozialer Konstruktionsprozesse nicht mehr adäquat darstellen kann (ebd.).

Knoblauch (2000) sagt voraus, dass die Bedeutung qualitativer Forschung in naher Zukunft noch immens zunehmen wird und will einen Zusammenhang erkennen zwischen dem momentanen Aufschwung qualitativer Forschung und der zunehmenden Auflösung der „traditionellen gemeinschaftlichen Strukturen“, also der „zunehmenden Individualisierung in den westlichen Gesellschaften“, die seiner Meinung nach kaum mehr mit standadisierten

Methoden erfasst werden kann. Genau hier könne die qualitative Forschung eine durch die gesellschaftliche Veränderung entstehende Lücke füllen (Knoblauch, 2000, S.624)

Für diese Studie und ihre spezielle Fragestellung ist die qualitative Herangehensweise die Methode der Wahl, da die Autorin ja gerade an der subjektiven Betrachtungsweise der Eltern, ihren ureigensten Erklärungsversuchen und Deutungsmustern und ihrer ganz persönlichen Bewältigung interessiert ist.

2.2 Methode des narrativen Interviews als Forschungsinstrument

2.2.1 Die narrative Identität

Das Begriff des „narrativen Interviews“ wurde von Schütze (1987) geprägt. Es wird bevorzugt eingesetzt, um einen Einblick in die subjektive Erfahrungswelt der Probanden zu bekommen. Für die Forscherin ist die Datenerhebung relativ leicht, ohne ausgeprägte Vorkenntnisse zu bewerkstelligen, da sie mit ihrem Interviewpartner während des Gesprächs eine doch alltagsnahe Situation herstellt. Komplizierter und einige Übung erfordernd ist dann jedoch die Datenauswertung und Textanalyse.

Im narrativen Interview wird - im Gegensatz zur quantitativen Forschung - nicht nach der „absoluten“ Wahrheit im Leben der Probanden gesucht, sondern versucht, ihre subjektiven Erlebniswelten zu erfassen. Wichtiger als die tatsächlichen Abläufe und deren genaue Wiedergabe ist vielmehr die Frage, wie ein Mensch durch seine Selbstdarstellung im Gespräch zu seiner Identität, zu Selbstvergewisserung, Selbstwerterhalt und Bewältigung findet. Die Probanden sollen hier möglichst frei sein, die Schwerpunkte in ihrer Erzählung selbst zu setzen und das Erlebte auch selbst zu deuten, das sie zu dem gemacht hat, was sie sind.

Man spricht von einer qualitativen Identität, die durch die Eigenschaften, Handlungsdispostionen, Gruppenzugehörigkeiten und Rollen einer Person gekennzeichnet ist. Darüber hinaus lässt sich eine strukturelle Identität herausarbeiten, die über die Kontinuität und die Kohärenz der Erzählung einen Einblick in die Einheit der Person erlaubt. Kontinuität in dem Bild, dass sich jemand von der eigenen Geschichte macht und die damit verbundene Biographiearbeit ist die Voraussetzung für das Begreifen des gegenwärtigen Seins und das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit in der Zukunft. Kohärenz wiederum ist wichtig, um die verschiedenen Rollen stimmig miteinander zu verbinden und in ein Gesamtbild der eigenen Person zu integrieren. Fehlende Kohärenz im Selbstverständnis eines Menschen birgt die Gefahr von Identitätsdiffusion oder - spaltung in sich und hat damit schädliche Auswirkungen auf die Psyche, die Beziehungen und das ganze Leben der Person. (Keupp et al., 1999, zit. nach Lucius-Hoene & Deppermann, 2004).

Narrative Identität bildet sich grundsätzlich in der Interaktion mit Anderen, in der „Wechselwirkung zwischen sozialen Erwartungen, Widerspiegelungen und sozialisatorischen Erfahrungen“ (Lucius-Hoene & Deppermann, 2004, S.49). So ist ganz folgerichtig auch die Sprache das wichtigste Instrument zur Bildung einer Identität; mit ihrer Hilfe stellt sich jeder einzelne in der Begegnung mit anderen Menschen dar, wird korrigiert, zurückgewiesen oder bestätigt - unter anderem sind aus diesem Grund auch die Interaktionen zwischen Erzählerin und Interviewerin von großer Bedeutung.

„Ihre Identität kann eine Person nicht nur für sich selbst konstruieren; als Grundlage ihrer Handlungs- und Kommunikationsfähigkeit wie auch ihres Selbstwertgefühls bedarf sie der Anerkennung durch die Anderen“ (Lucius-Hoene & Deppermann, 2004, S.49)

Narrative Identität kann man in drei Dimensionen beschreiben:

Die temporale Dimension, die die biographischen Erfahrung und die Veränderung eines Menschen in sinnvolle Zusammenhänge bringt, sodass sie kausal oder final aufeinander bezogen und Entwicklungen und Ereignisse durch vorangegangene Ursachen, Gründe und Bedingungen verständlich gemacht werden können (Schütz & Luckmann, 1979, zit. nach Lucius-Hoene & Deppermann, 2004). Genauso werden so die Zukunft betreffende Handlungsabsichten und Ziele begründet.

Durch die Wahl eines von verschiedenen Modellen der Zeiterfahrung (z.B. linear, zyklisch, statisch oder gar fragmentarisch) stellt der Erzähler innerhalb seiner besonderen Lebensgeschichte und -erfahrung dar, wie er mit kleinen und großen, positiven oder negativen Ereignissen zurecht kam. Aus diesem Rahmen herauszufallen, kann auf traumatische Erlebnisse oder unverarbeitete Erfahrungen hinweisen.

Auch wie ein Erzähler die ,agency’, also die Handlungsmöglichkeiten oder Verantwortlichkeiten für eine Handlung in seiner Erzählung linguistisch konstruiert, gibt Aufschluss über wichtige Aspekte seiner narrativen Identität. Weiterhin ist es interessant zu untersuchen, aus welcher Perspektive - dem erzählten Ich von damals oder dem erzählenden Ich der Jetztzeit - die Person ihre Geschichte erzählt (Lucius-Hoene & Deppermann, 2004).

In der sozialen Dimension versucht der Erzähler seinem Gegenüber durch Selbst- und Fremdpositionierung deutlich zu machen, wie er gesehen werden möchte; es geht hier um „Akzeptanz und Selbstbehauptung“ (Lucius-Hoene & Deppermann, 2004, S.61) und darum, sich durch das Erzählen in einem sozialen Raum zu verorten. Auch die Schilderungen des Erzählers der Orte, Lebensumstände und seines ganzen Kontextes, seine ganz spezielle Wahrnehmung geben der Interviewerin wichtige Informationen darüber, wie der Mensch seine Welt erlebt und sich selbst darin sieht bzw. zu sehen im Stande ist. Kulturelle Muster können sich z.B. im in der Erzähldynamik oder dem Stil niederschlagen.

Die selbstbezügliche Dimension schließlich, die sich in selbstbezüglichen Aussagen und Selbstpostionierugen äußert, lässt sich Text gut nachweisen. Dies kann direkt, explizit oder implizit über den Umweg der Fremdpositionierung der Person des Erzählers durch eine andere geschehen. Autoepistemische Prozesse, in denen es während des Erzählens zu neuen Erkenntnissen über die eigene Person und die Bedeutung der Erfahrungen kommen kann, kommen vor allem bei längeren Stegreiferzählungen vor und entstehen häufig durch sogenannte Zugzwänge: den Kondensierungszwang (Trennung von Wichtigem und Unwichtigem), den Detaillierungszwang (Aufarbeitung von Erzählungslücken und Unklarheiten) und den Gestaltschließungszwang (Sortieren von Ursachen, Folgen, Zusammenhängen). Hier spielt auch die Zuhörerin eine große Rolle, die die Erinnerungsarbeit des Erzählers empathisch unterstützt und damit dessen selbstbezogenen Blick dahingehend verändert, dass seine Darstellung den Ansprüchen „sozialer Akzeptabilität und Plausibilität“ genügen muss. (Lucius-Hoene & Deppermann, 2004, S.71).

2.2.2 Ablauf des narrativen Interviews

Es ist ratsam, den Probanden schon vorab einige Informationen zum Beispiel in einem Vorgespräch oder mit Hilfe eines Informationsblattes zum Ablauf des Interviews zu geben. So können sich die Probanden auf die Rollenverteilung zwischen Interviewerin und Erzähler einstellen, bei der die Interviewerin ausschließlich Zuhörer ist und der Erzähler alleiniges Rederecht genießt (Glinka, 1998). Gerade bei einem Thema, bei der der Interviewer auch Erfahrungen hat, ist es für beide eine ungewohnte, für den Probanden oft eine sehr angenehme Erfahrung, in seiner Erzählung einmal nicht durch die Reaktion des Gesprächspartners unterbrochen zu werden. Auch soll den Probanden vermittelt werden, dass sie innerhalb des Interviews nichts falsch machen oder sagen können, sondern dass es ausschließlich um ihre eigene Sicht der Dinge geht und sie das Gespräch nach eigenem Gutdünken gestalten können. In diesem Gespräch oder Informationsblatt wird auch noch mal das genaue Thema und die professionelle Betreuung geklärt und klargestellt, dass die Probanden jederzeit aus dem Projekt aussteigen können.

Das Interview gliedert sich in folgende drei Phasen (Lucius-Hoene & Deppermann 2004)

1.) Die erzählgenerierende Eröffungsfrage

Die Offenheit der Frage (z.B. „Beginnen Sie doch bitte mit Ihrer Erzählung an Zeitpunkt X und erzählen Sie, wie dann alles kam...“) soll dem Erzähler größtmögliche Freiheit geben, zu erzählen, was und wie er es will. Geschlossene Fragen („Warum“ etc.) bergen die Gefahr, dass der Interviewte nicht erzählt, sondern mehr zum Argumentieren oder Beschreiben neigt. Eine möglichst offene und auch jedes Mal ähnliche Eröffnungsfrage führt im besten Fall zu einer möglichst ausführlichen

2.) Stegreiferzählung

In diesem Teil des Gesprächs ist die Aufgabe des Interviewers lediglich, gut zuzuhören und den Erzähler durch nonverbale (Lachen, zustimmend Nicken, empathische Mimik) und - seltener - verbale („Das kann ich mir vorstellen“) Zeichen zu unterstützen (Glinka, 1989). Im günstigsten Fall erzählt die interviewte Person erst mal relativ lange, ohne dass das Gespräch durch Nachfragen am Leben gehalten werden muss. Hierbei muss der Interviewer auch kleine Pausen aushalten können und auf eine Fortsetzung der Spontanerzählung warten. Trotz der vorbereitenden Informationen kann es aber sein, dass der Proband nach relativ kurzer Zeit einer weiteren Nachfrage bedarf, um das Gespräch fortzusetzen. Dies macht er normalerweise mit einer entsprechenden Coda klar („tja, das wars wohl“) bzw. mit der eindeutigen Aufforderung an den Interviewer „Jetzt müssen sie noch was fragen!“

Manche Probanden machen schon von vornherein klar, dass sie nicht eine Stunde oder länger frei und allein reden möchten und bitten um baldige Nachfragen.

3.) Nachfrageteil

Im letzten Teil des Gesprächs können jetzt Fragen gestellt oder Themen angesprochen werden, die bisher noch nicht zur Sprache kamen oder noch nicht erschöpfend behandelt worden sind. Auch Dinge, die dem Interviewer bislang noch unverständlich gewesen waren, können jetzt noch mal nachgefragt werden. Diese Fragen sollten natürlich auch möglichst offen und weiterhin erzählgenerierend gestellt sein, um den Interviewten zu weiterem Erzählen anzuregen, was aber nicht immer leicht ist, da sich diese Fragen meist auf ein ganz spezielles Interesse konzentrieren.

Sehr wichtig, ja geradezu gesprächsentscheidend ist für die Interviewerin, gleich und gerade schon am Anfang eine entspannte und offene Atmosphäre zu schaffen, in der sich die Probanden „einem Fremden gegenüber frei ihre Gefühle und Erfahrungen“ preisgeben können (Kvale 1996, zit. nach Hermanns, 2000, S.363). Außerdem müsse er genügend „Raum schaffen, damit die Interviewpartnerin unterschiedliche Aspekte ihrer Person darstellen kann“ Hermanns, 2000, S.363), also nicht nur diejenigen, die im Vorfeld schon bekannt und wegen der die Person vielleicht für das Interview ausgewählt wurde. Es gilt, eine manchmal schwierige Balance zwischen aufmerksamer Empathie und einer „Haltung absichtlicher Naivität“ zu halten (Kvale 1996, zit. nach Hermanns, 2000, S.364), bei der der Interviewerin klar bleiben muss, dass ihr das Erzählte trotz der selbstverständlichen Darstellung des Probanden in erster Linie fremd ist und die Begriffe einen anderen Bedeutungshorizont besitzen. Gerade die ,Zufälligkeit’ und Begrenzheit der Interview-Begegnung scheint eine besonders gute Bedingung für eine „besondere Wahrheitsfähigkeit dieser Beziehung“ zu sein (Bude, 2000, S.573), bei dem einer eigentlich fremden Person manchmal äußerst intime Geständnisse gemacht werden, „die man einer nahen Person möglicherweise niemals sagen würde“ (ebd., S.573)

2.2.3 Erstellung des Datenmaterials

Die Interviews werden auf Tonband aufgezeichnet, danach zur Speicherung und Bearbeitung auf PC durch eine Transkriptionssoftware (F4) auf den PC übertragen.

Als erstes wird ein grobes Protokoll des Interviews angefertigt sowie wichtige Informationen zu diesem speziellen Probanden vor und während des Gesprächs festgehalten. Anschließend werden Teile, oder wie bei den beiden für die Diplomarbeit ausgewählten Interviews das ganze Interview nach den festgelegten Notationsregeln GAT („Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem“ von Selting, nach Lucius-Hoene & Deppermann, 2004) transkribiert und in überschaubare Textstellen eingeteilt.

Durch das Transkribieren sollen möglichst alle Äußerungen des Erzählers festgehalten werden wie Pausen unterschiedlicher Länge, Akzentuierungen, Gesprächsgeschwindigkeiten und Lautstärken, Intonationen und besondere Dinge wie Lachen, Seufzen, Zögern oder Versprecher etc.

Das fertige Transkript ist die Voraussetzung für die nun folgende Textanalyse und Interpretation.

2.2.4 Textanalyse

2.2.4.1 Grundlagen

Die Auswertung hat zum Ziel, die spezifische Identitäts-Konstruktion des Erzählers zu rekonstruiren, und zwar spiegelbildlich, d.h. nach dem gleichen Prinzip wie die Prozesse der Konstruktion im Interview erfolgt auch die Re-Konstruktion von Sinn bei der Auswertung. Dadurch wird ein Verstehen der Sinnkonstruktionen der Interviewpartner erst möglich gemacht.

Zu den Grundprinzipien der Textanalyse gehört, dass die Äußerungen des Erzählers nicht fixen Kategorien zugeordnet werden, die vom Forscher vorab aufgrund einer Theorie festgelegt wurden. Vielmehr geht es darum, die Kategorien, Prozesse und Zusammenhänge zu erforschen, mit dem die Interaktionsteilnehmer selbst narrative Identität konstruieren, sie explizit zu machen und wissenschaftlich zu systematisieren.

Hierbei gibt es zwei Leitlinien: das Kontextsensitive Sinnverstehen (was ein Verzicht auf vorgegebene inhaltliche Hypothesen und feste Kategorien beinhaltet) und die gegenstandsfundierte Methodologie, die eine Auswertung des möglichst abbildgetreuen Protokolls durch formale Prinzipien zur Herstellung von Sinn in verbalen Interaktionen vorgibt.

Die Leitlinien sind abgeleitet aus der Hermeneutik, der Konversationsanalyse und der Erzähltheorie. Daraus ergeben sich wiederum folgende Prinzipien der Textverarbeitung (Lucius-Hoene & Deppermann 2004):

1) Datenzentrierung (Interpretation soll sich ausschließlich am Text orientieren)
2) Rekonstruktionshaltung (Grundsätzliche Offenheit gegenüber einer Vielzahl an Interpreationsmöglichkeiten, Gewinnung einer suspensiven Haltung, Hinterfragung des Selbstverständlichen)
3) Sinnhaftigkeitsunterstellung (Es wird davon ausgegangen, dass jedes Detail des Interviews sinnhaft motiviert ist)
4) Mehrebenenbetrachtung (Gleichzeitige Betrachtung der temporalen, sozialen und selbstbezüglichen Dimension)
5) Sequenzanalyse und Kontextualität (Berücksichtigung der zeitlichen Abfolge und des Kontextes der Äußerungen im Interview zur Analyse der Prozesshaftigkeit bei der Entstehung narrativer Identität.)
6) Zirkularität und Kohärenzbildung (Ständige Erweiterung, Korrektur und Vertiefung der gewonnenen Erkentnisse durch einen Wechsel von (Vor-)Verständnis und Auswertungs-ergebnissen; Beachtung von Brüchen, Abgrenzungen, Widersprüchen u.ä. in der Darstellung des Erzählers)
7) Explikativität und Argumentativität (Ausführliche, genaue und nachvollziehbare Darstellung der Interpretationsergebnisse und deren Begründungen)

Außerdem benötigt der Interviewer ein gewisses Hintergrundwissen zum "Aufschließen" der Erzählung wie Alltagswissen, ethnografisch-historisches Wissen, Wissen über sprachlich- kommunikative Phänomene und Verfahren der Herstellung narrativer Identität sowie theoretisches Wissen, z.B. eben der Psychologie.

2.2.4.2 Strukturelle Textanalyse

In einem ersten Schritt wird der Text in die einzelnen Segmente zerlegt, in der der Erzähler seine Erzählung gegliedert hat. Dies kann nach Themen, Zeitabschnitten oder durch Wechsel der Textsorte (Erzählung - szenisch-episodisch, berichtend oder als Chronik - , Beschreibung, Argumentation) geschehen. Oft sind diese Einheiten durch spezielle Gliederungsmarkierer klar ersichtlich, zum Beispiel am Beginn durch bestimmte Rahmenschaltelemente, Präambeln, sogenannte Abstracts (Ankündigungen) oder andere Orientierungsmarker, am Ende durch sinkende Intonation oder bestimmte Schlusskommentare (Schütze, 1987; Glinka, 1998; aus Lucius-Hoene & Deppermann 2004).

In der strukturellen Analyse wird auch ausgearbeitet, aus welcher Zeit heraus der Erzähler spricht, aus der Retrospektive oder aus der Erlebnissituation heraus, und ob bestimmte Lebensbereiche gerafft oder sehr ausführlich dargestellt werden. Weiterhin ist interessant, welche Themen der Interviewte für erzählwürdig hält, auf welche Darstellungsmuster er zurückgreift, um darin seine Erzählung einzubetten und aus welcher Perspektive heraus er seine Geschichte erzählt (von außen/innen, mit oder ohne innere Beteiligung, wechselnd).

Diese Analyse gibt schon mannigfaltige Hinweise beispielsweise auf Ursachen für biografische Sprünge oder Zäsuren, die Bedeutung von Haupt- und Nebenerzähllinien oder Gesprächsabbrüchen oder der Wichtigkeit der erzählten Lebensabschnitte oder Themen an der ganzen Darstellung (Lucius-Hoene & Deppermann 2004).

2.2.4.3 Feinanalyse

Für die Fragestellung wichtige und „besonders fruchtbar“ (Lucius-Hoene & Deppermann 2004) erscheinenden Textstellen werden nun für die Feinanalyse ausgewählt. Dafür wird nun sehr eng am Text gearbeitet, d.h. strikt Wort für Wort durchgegangen und jedes einzelne genau beleuchtet. Dabei sind für den Forscher folgende Fragen besonders wichtig: Was wird dargestellt? Wie wird es dargestellt? Wozu wird das jetzt so dargestellt? (und nicht etwas anderes? Oder zu einem anderen Zeitpunkt? Und warum nicht in einer anderen Weise?) Hierbei helfen verschiedene Heuristiken wie die Variations- oder Kontextanalyse.

Mehr Aufschluss über die narrative Identität des Erzählers gibt außerdem die Analyse der Positionierungen, die der Erzähler vornimmt. Explizite oder implizite Positionierungsakte des erzählten Ich und der anderen Interaktanten in der Geschichte sowie in der Jetztzeit gegenüber der Interviewerin weisen auf die Art und Weise hin, wie sich eine Person selbst sieht oder gesehen werden möchte.

Bei der eigentlichen Interpretation wechselt die Forscherin zwischen Grob- und Feinanalyse, d.h. auch während der Feinanalyse werden die strukturellen Aspekte des Textes immer mit berücksichtigt, in einer Art hermeneutischem Zirkel. Dieses Vorgehen ermöglicht schließlich das Herausbilden der eigentlichen Fallstruktur (Lucius-Hoene & Deppermann 2004).

2.2.5 Gütekriterien der angewandten Methode

In der Diskussion über Gütekriterien in der qualitativen Forschung sind drei verschiedene Ansätze: Entweder sollten quantitative Kriterien wie Validität, Reliabilität etc. auch für qualitative Forschung gelten oder es sollten neue, eigene Gütekriterien entwickelt werden. Eine dritte Position spricht sich gegen jegliche Qualitätskriterien aus, zum Beispiel weil konstruierte Weltsichten (also auch Konstrukte wie Narrative Identität) nicht durch Standards oder Messinstrumente für die Bewertung von Erkenntnisansprüchen gemessen werden könnten (Shotter, 1990, zit. nach Steinke, 2000). Diese dritte Variante berge aber große Gefahren der „Beliebigkeit und Willkürlichkeit“ (Steinke, 2000) qualitativer Forschung und würde ihrer sowieso schon manchmal erschwerten Anerkennung weiter schaden. Steinke plädiert deswegen ausdrücklich für Qualitätskriterien, und zwar der „geringen Formalisierbarkeit und Standardisierbarkeit qualitativer Forschung“ und ihrer Daten wegen nicht für eine Übernahme der in quantitativen Studien geforderten Kriterien, sondern für die Entwicklung neuer, eigener, zum Profil der qualitativen Forschung passenden.

„Validität“ ist zum Beispiel zwar sowohl in der quantitativen wie auch in der qualitativen Forschung ein Begriff, meint jedoch etwas anderes, sodass es nach Steinke sinnvoller wäre, ganz neue Begriffe zu etablieren, um Verwirrung zu verhindern.

Eine dieser vorgeschlagenen Kriterien ist die sogenannte „intersubjektive Nachvollziehbarkeit“ im Gegensatz zur intersubjektiven „Überprüfbarkeit“ der quantitativen Forschung, bei der die Möglichkeit der Replikation der Untersuchung angestrebt wird. Da dies in der qualitativen Forschung unmöglich ist, könne und müsse man sich dann auf die Nachvollziehbarkeit stützen. Diese kann durch mehrere Schritte gewährleistet werden (Steinke 2000):

1. Durch Dokumentation möglichst vieler Voraussetzungen für die Arbeit, zum Beispiel

a) Des Vorverständnisses der Interviewerin
b) Der Erhebungsmethoden und des Erhebungskontextes
c) Der Transkriptionsregeln
d) Der Auswertungsmethoden
e) Der Informationsquellen
f) Der Entscheidung und Problemen
g) Der Kriterien, denen die Arbeit genügen soll etc.

2. Durch Interpretationen in Gruppen

3. Durch Anwendung kodifizierter Verfahren (wie sie zum Beispiel auch für narrative Interviews vorliegen)

Um Punkt 1 zu genügen, wird in dieser Arbeit versucht, möglichst viele Voraussetzungen, Kontextbedingungen und besondere Vorfälle zu beschreiben,

Um Intersubjektivität und Nachvollziehbarkeit in diskursiver Form herzustellen, werden die Interpretationen regelmäßig in der am Psychologischen Institut der Universität Freiburg stattfindenden Textanalysegruppen unter der Leitung von Dr. Gabriele Lucius-Hoene diskutiert, an denen mindestens vier, meist wesentlich mehr Personen beteiligt sind. Darüber hinaus treffen sich die Diplomanden an weiteren Terminen zu Interpretationssitzungen.

2.2.6 Theoretische Überlegungen zum Datenschutz

Datenschutz spielt bei einer Studie mit Interviews selbstverständlich eine überragende Rolle, da dabei häufig sehr intime Details aus dem Leben der Probanden preisgegeben und bearbeitet werden. In Punkt 2.3.7. werden die konkreten Maßnahmen zum Datenschutz, die bei dieser Arbeit angewandt wurden, genau beschrieben und decken damit auch die üblichen Anforderungen ab.

Dennoch ist es mir ein Anliegen, Probleme mit dem Umgang mit den empfindlichen Daten und Datenschutz bei diesen speziellen qualitativen Forschungsarbeiten zu thematisieren. Ungeklärt ist bislang die Frage, wie Interviewer mit Aufzeichnungen, in denen zum Beispiel von strafbaren Handlungen berichtet wird, umzugehen haben: Soziologen oder Psychologen haben hier keine Schweigepflicht oder Zeugnisverweigerungsrecht. Dem gegenüber steht aber der begründete Anspruch der untersuchten Personen, durch die Studienteilnahme nicht geschädigt zu werden. Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie nimmt dazu in ihrem „Ethik­Kodex“ einen eindeutigen Standpunkt an, die Anonymität der Probanden zu wahren und Nachteile oder Gefahren für sie auszuschließen (Hopf, 2000). Von den Verfassern des Ethik­Kodex wird angedacht, eine Schweigepflicht und ein Zeugnisverweigerungsrecht für Soziologen einzufordern, um diese rechtliche Grauzone zu klären.

Laut Hopf können Schädigungen für die befragten Personen aber auch immer noch durch unsachgemäße Lagerung und Sicherung der Daten entstehen.

Hier seien zwar in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte zu verzeichnen, aber immer noch keine zufriedenstellende Sicherheit erreicht. Eine gewisse Laxheit qualitativer Forscher wird hier angeprangert, die sich zum Beispiel in unzureichender Sicherung der Tonkassetten oder unverschlüsselten Feldnotizen zeige.

Auch Lüders (2000) ist der Meinung, das die Methodik qualitativer Forschung noch grobe Mängel aufweist, „deren Praxis in vielen Projekten eigentlich sofort die Datenschutzbeauftragten auf den Plan rufen müsste.“ Er sieht das Problem unter anderem in mangelnden Zugangssicherungen auf PCs, Laptops oder gar leicht zu transportierende USB­Sticks, die in der Öffentlichkeit liegen gelassen oder verloren werden können. Den „abschließbaren Stahlschrank“, den er zur Lagerung der Daten einfordert, können in der Tat wohl die wenigsten Studenten, die vorwiegend zu Hause an ihrem Projekt arbeiten, aufweisen. Dies sind methodische Fragen, die in Zukunft noch genauer diskutiert und gelöst werden müssen. Hier muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass qualitative Forscher mit wesentlich persönlicheren und intimeren Daten zu tun haben als in der quantitativen Forschung üblich.

2.3 Dokumentation des eigenen Forschungsvorgehens

In diesem Teil der Arbeit wird sehr detailliert die Suche nach Probanden, der Verlauf der Vorgespräche, Telefonate und des Interviewkontextes geschildert, um dem Anspruch an die intersubjektive Nachvollziehbarkeit (siehe 2.25) Genüge zu tun.

2.3.1 Gewinnung der Probanden

Da ich in meiner Untersuchung großen Wert darauf gelegt habe, die ganz alltäglichen Probleme mit dem Kontrollverlust in schwierigen Erziehungssituationen zu dokumentieren, habe ich davon Abstand genommen, meine Probanden in Erziehungsberatungsstellen oder gar in der Aufnahme von Kinderkrankenhäusern zu rekrutieren. Statt dessen habe ich einfach eine Anzeige im Anzeigenmarkt der örtlichen Tageszeitung unter der Rubrik „Kinder Gesuche“ aufgegeben, mit folgendem Wortlaut: „Ich könnte aus der Haut fahren! Wer kennt das nicht? Mütter und Väter von kl.Kindern (zw. 2 und 5 J.) gesucht für wissenschaftl. Studie über schwierige Erziehungssituationen (Interviews), ...“ und ein paar Wochen später eine zweite, in der ich noch das Psychologische Institut und die Universität erwähnte, um die Seriosität der Studie zu unterstreichen. In dieser zweiten Annonce legte ich mich nicht mehr auf ein Alter zwischen zwei und fünf Jahren fest, um eine möglichst große Anzahl von ProbandInnen anzusprechen.

Auf die erste Anzeige meldeten sich spontan drei Probandinnen, teilweise auch aus recht entfernten Wohnorten, von denen mit zweien ein Interview möglich wurde. Auch auf die zweite Anzeige antworteten drei Frauen, mit denen allen ein Interview zu Stande kam. Inzwischen hatte es sich in meinem Bekanntenkreis herumgesprochen, an was für einem Projekt ich arbeitete und so kam es zu einem Kontakt zu einer „Bekannten einer Bekannten“, die sich für das Thema interessierte und gerne zu einem Gespräch bereit war (Probandin 5 Eveline). Des weiteren hatte die Mutter eines Freundes meines Sohnes vom Thema meiner Diplomarbeit gehört, unter anderem auch von meinem dringenden Wunsch, doch auch noch einen Mann interviewen zu können. Spontan überlegte sie, ob ihr Mann vielleicht ein Interview geben würde, der mir bis dahin nur vom Sehen bekannt war, und empfahl mir, ihn direkt zu kontaktieren. Er wurde einer von meinen beiden Haupt-Probanden (Florian). Meine leichten Bedenken im Vorfeld, gerade er könne wegen leicht „geteilter sozialer Räume“ vielleicht zu befangen sein (Lucius-Hoene & Deppermann 2004, S.298), stellten sich als unbegründet heraus: gerade er war besonders offen.

Leider konnte ich nicht mehr Väter für meine Untersuchung gewinnen, um auch die männliche Sichtweise besser zu untersuchen.

Die Zielgruppe meiner Arbeit waren relativ junge (also frische) Eltern mit eher kleineren Kindern, eben vorzugsweise zwischen zwei und fünf Jahren, da der erste und größere Gipfel der elterlichen Wut, gemessen an der Häufigkeit elterlicher Misshandlung, beim Alter von zwei, drei Jahren liegt (Bussmann 2005, McKay et.al. 1996, S. 13), eben in der sogenannten „Trotzphase“, in der zum ersten Mal die Persönlichkeit eines Kindes richtig zu Tage tritt. Dies ist bei sechs der sieben Probanden auch der Fall: sie alle sind ungefähr in den 30ern und haben Kinder im Alter zwischen zwei und zwölf Jahren (ältere Geschwister). Nur Florian ist ungefähr eine Dekade älter als die anderen Probandinnen; sein jüngster Sohn ist acht Jahre, seine älteste Tochter achtzehn Jahre alt. Seine Haupterzählung bezieht sich auf eine Zeit, in der seine Tochter sieben Jahre alt war, sie aber ganz neu in der Familie war - durch eine Adoption.

Wichtig war mir darüber hinaus, dass es Eltern mehrerer Kinder sind, erstens, damit sie sich schon mehrere Jahre mit dem Thema auseinandersetzen und darüber reflektieren konnten, gerade, weil die meisten Menschen im 21.Jahrhundert mit ihrem ersten Kind auch die ersten richtigen Erfahrungen mit Babys und Kindern überhaupt machen (Nack 1998) und erst mit der Existenz eines zweiten Kindes sich langsam einen gewissen Erfahrungsschatz zulegen konnten, mit Hilfe dessen sie auch die Zeit mit ihrem ersten Kind ganz neu zu evaluieren in der Lage sind. Zweitens ist normalerweise auch der Stresspegel mit mehreren Kindern automatisch erhöht, was ein wichtiger Aspekt beim Thema elterlicher Wut ist (Nack 1998, Engfer 1991, Whipple & Webster-Stratton,1991).

Dieses Kriterium trifft für alle Probanden zu: sie haben entweder zwei und drei Kinder. Mit Ausnahme von Florian, der zwei Adoptivkinder und ein leibliches hat, haben alle leibliche Kinder, die meisten vom selben Vater in langjähriger Beziehung oder Ehe. Nur Cecilia, meine zweite Hauptprobandin, hat ihre zwei ältesten Kinder von einem anderen Partner, während sie nun mit dem Vater des Jüngsten zusammenlebt.

Die Partner oder Ehegatten der Probanden waren jeweils informiert und hielten uns auch in mehreren Fällen den Rücken während des Interviews frei.

2.3.2 Vorgespräch

Nachdem die Probanden oder - wie bei Florian und Elena - ich telefonisch Kontakt aufgenommen hatten, vereinbarte ich mit drei von ihnen ein Vorgespräch bei ihnen zu Hause (Anna und Cecilia) oder in einem Cafe (Daniela). Mit zweien (Beate und Gana) führte ich das Vorgespräch an einem anderen Tag ausführlich am Telefon, da sie beide ziemlich weit von meinem Heimatort entfernt wohnten. Bei Elena und Florian klärten wir alle offenen Fragen schon direkt bei diesem - ebenfalls ausführlichen - ersten Telefonat. Alle Probanden außer Florian bekamen das Informationsblatt schon Wochen vor dem Interview entweder direkt oder per Post. Bei Florian musste aus Zeitgründen alles relativ schnell gehen; er las sich das Schriftliche erst direkt vor dem Interview durch.

Cecilia lud mich sowohl zum Vorgespräch als auch zum Interview am Vormittag, als ihre drei Kinder in Kindergarten und Schule waren, zu sich nach Hause ein.

Mein erster Eindruck nach mehreren Telefonaten ist der einer sehr gut organisierten Mutter, die ihre Rasselbande gut im Griff hat, aber auch einen Sinn fürs Genießen hat (unser erster Vorgesprächstermin musste verschoben werden, weil das Wetter so schön war, dass es die Familie zum Skifahren ausnutzen wollte). Obwohl sie sehr entschlossen ist, das Interview bald anzugehen, müssen wir schon das Vorgespräch mehrere Male verschieben, auch einmal wegen mir, aber ihr Interesse ist ungebrochen; sie selbst wirkt voller Energie.

Als es dann endlich klappt, werde ich in einem sehr gemütlichen, warmen Haus empfangen und ins Wohnzimmer geführt, in der Kinderspielzeug und Haustierkäfige von viel Leben

zeugen. Cecilia zeigt sich auch kein bisschen irritiert von der Anwesenheit meiner kleinen Tochter, die ich zu diesem Termin mit dabei habe, sie begegnet ihr herzlich und zeigt ihr sowohl ihre Haustiere als auch das Spielzeug ihres Jüngsten. Während des Vorgesprächs müssen wir uns mehrere Male bremsen, um nicht schon mit dem eigentlichen Thema loszulegen, schon hier herrscht eine lockere Gesprächsatmosphäre. Alles erweckt einen gemütlichen, leicht chaotischen, aber gut durchorganisierten Eindruck.

Das Vorgespräch mit Florian am Telefon gestaltet sich eher funktional, er stellt klare Fragen und ist mit allen Informationen, die ich ihm gebe, einverstanden. Wichtig ist ihm vor allem, dass er die Diplomarbeit nach ihrer Fertigstellung lesen kann, was ich ihm gern verspreche. Gerade bei ihm ist der Datenschutz besonders wichtig, da wir soziale Räume teilen; deshalb versichere ich ihm besondere Anonymität und Verschwiegenheit.

2.3.3 Das Interview

2.3.3.1 Der Interviewleitfaden

Für das Interview wird eine möglichst offene, erzählgenerierende Eröffnungsfrage, verschiedene Frageformate für den sogenannten tangentialen Teil und Nachfragen für den Bilanzierungsteil gebildet (Lucius-Hoene & Deppermann 2004).

Meine Eröffnungsfrage ist zwar sehr offen („Erzählen sie, wie es dazu kam“), fragt allerdings nicht nach der ganzen Lebensgeschichte, sondern setzt bewusst an dem Zeitpunkt an, an dem die Probanden zum ersten Mal den Gedanken oder den Wunsch nach einem Kind hatten - oder wussten, dass sie ein Kind bekommen würden, wenn dies überraschend passiert wäre.

Über die tangentialen Frageformate mache ich mir zwar im Vorfeld Gedanken, muss aber in der Praxis feststellen, dass es mir nicht immer gelingt, Verständnis- oder direkte Nachfragen so offen zu stellen, wie ich mir das vorgenommmen hatte. Hier stelle ich im konkreten Gespräch das „emotionale Mitschwingen“ (Lucius-Hoene & Deppermann 2004, S.301) leider über die immer korrekte Fragestellung.

Auch bei den sorgfältig notierten Nachfragen, die zu stellen bei allen Probanden gelingt, achte ich ganz besonders darauf, dass sie eben nicht abgelesen oder einstudiert klingen, sondern natürlich im Gesprächsverlauf integriert sind. Es stellt sich heraus, dass die korrekte Fragestellung und die „freischwebende Aufmerksamkeit“, bei der die Zuhörerin in „reflektierender Distanz“ den Lauf der Erzählung verfolgen sollte (Lucius-Hoene & Deppermann 2004), nicht einfach zu leisten ist und sich erst mit wachsender Routine zu einem verlässlichen Handwerkszeug entwickelt.

Die Nachfragen stecken den zeitlichen Rahmen der Fragestellung ab, in chronologischer Reihenfolge von den Erwartungen vor der Geburt eines Kindes über die Zeit nach der Geburt und den eventuellen Veränderungen, die sich im Kleinkindalter ergaben. Um der speziellen Fragestellung gerecht zu werden, ist die Frage, wie sich die Eltern aufkommende Schwierigkeiten selbst erklären, von großer Bedeutung; außerdem die Frage nach besonderen Reizthemen in der Kindererziehung und ob diese auch in anderen Beziehungen oder Situationen eine Rolle spielen - um beurteilen zu können, ob dieses Thema seine Bedeutung durch das Kind oder den Erwachsenen bekommt.

Eine Frage bezieht sich auf die intergenerationale Weitergabe von Erziehungsstrategien und in diesem speziellen Fall eben vom Umgang mit schwierigen Erziehungssituationen.

Abschließend wurde sowohl eine Frage zum Thema Bewältigungsstrategien aufgenommen als auch eine, in der ich danach frage, welche Art der Hilfestellung - auch zum Beispiel von öffentlicher Stelle - die Probanden bekamen bzw. sich noch gewünscht hätten und inwieweit diese dann tatsächlich hilfreich war. Von der Beantwortung dieser Frage erhoffe ich mir auch einen gewissen konstruktiven Beitrag zur praktischen Relevanz dieser Untersuchung.

Bei der Formulierung der Fragen versuche ich, bei den Erinnerungen der Probanden an damalige Erlebnisse anzuknüpfen und nicht ihre heutige Bewertung einzuholen, außer bei Fragen nach momentanen, immer noch alltäglichen Schwierigkeiten und deren Bewältigung.

2.3.3.2 Durchführung der Interviews

Zu Beginn jedes Interviews gehe ich mit den Probanden noch einmal kurz auf das Informationsblatt durch, vergewissere mich, dass alles Notwendige zum Thema Datenschutz, Schweigepflicht oder Widerrufsrecht geklärt ist und gebe noch Raum für Fragen.

Danach unterschreiben die Probanden die Einwilligungserklärung. Nach einer kurzen Einstimmung auf das Thema schalte ich in gegenseitigem Einverständnis das Tondbandgerät ein und stelle die schon erwähnte Eröffnungsfrage.

Je nach Länge der Spontanerzählung und Redefreudigkeit beginne ich irgendwann mit dem tangentialen Frageteil, manchmal erst nach 45, selten auch schon nach 5 Minuten, an den sich irgendwann der eigentliche Nachfrageteil anschließt.

Nach den ersten zwei Interviews stelle ich fest, dass es wichtig ist, auch nach scheinbarer Erschöpftheit des Themas und trotz abschließender Erzählersignalen noch kurz abzuwarten - auch über einige unangenehm stille Minuten hinweg - da genau dann noch interessante Aspekte zur Sprache kommen.

Das Interview endet mit der Frage, ob der Proband selbst noch etwas Wichtiges erzählen möchte oder etwas Bedeutendes vergessen wurde.

Nach dem Ausstellen des Tonbandgeräts folgt bei fast allen Probanden noch ein ausklingendes Gespräch oft im Stil einer lebhaften Plauderei, da die Interviewerin ja selbst „Experte“ auf diesem Gebiet ist. Vereinzelt haben die Probanden danach auch noch fachliche Fragen nach neuesten Forschungen oder Entwicklungen auf dem Gebiet der Kindererziehung und Pädagogischen Psychologie. Die meisten Probanden zeigen Interesse, die fertige Diplomarbeit zu lesen.

Nachfolgend werden die Interviews mit den zwei ausgewählten Haupt-Probanden genauer dokumentiert.

Cecilia

Das Interview mit Cecilia wird gleich für die folgende Woche nach dem Vorgespräch geplant. Es muss noch einmal verschoben werden, weil ihre Schwester, die in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft wohnt und ihr sehr nahe stand, plötzlich gestorben ist. Hier stockt unsere Verbindung für ungefähr drei Wochen, aber sie verspricht trotz dieses für sie sehr schweren Schlages sich selbst zu melden, wenn sie wieder den Kopf dafür frei hat. Obwohl ich bezweifle, dass das in absehbarer Zeit sein wird, meldet sie sich tatsächlich zuverlässig wieder. Diesmal klappt es und wir machen das Interview, wieder morgens um 10 Uhr bei ihr zu Hause. Ich komme ein bisschen zu spät und sie ist emotional noch ein bisschen aufgewühlt wegen des Todes der Schwester: wir reden noch ein bisschen darüber, beginnen dann aber zügig mit unserem Interview, da sie ca. zwei Stunden später spätestens ihren kleinen Sohn abholen muss. Wir sitzen uns beim Tee am langen Esstisch schräg gegenüber. Sie sagt schon vorher, dass ich eher öfter mal nachfragen soll, weil sie die Aussicht, so lange am Stück reden zu sollen, erschreckt. In der Tat ist das Interview sowohl von ihren auffordernden Blicken als auch konkreten verbalen Bitten, mir eine neue Frage zu stellen geprägt.

Das Interview ist mit 1 Stunde und 2 Minuten etwas kürzer als fast alle anderen. Durch ihre energische nonverbale Aufforderung fühle ich mich schon nach knapp 5 Minuten zu meiner ersten Nachfrage verpflichtet. Trotzdem ist das Interview sehr lebhaft und flüssig; immer wieder legt Cecilia schon mit einer Antwort oder Erzählung los, noch bevor ich meine Frage überhaupt zu Ende ausgesprochen habe. Dies macht das Interview aber nicht schwieriger oder anstrengend, sondern lässt eher die Atmosphäre einer gemütlichen Plauderei mit einer guten Freundin entstehen (vermutlich, da die Interviewerin einen ähnlich chaotischen Stil in ihren privaten Unterhaltungen pflegt)

Nach Beendigung des Interviews führt Cecilia noch aus, warum sie gerne an diesem Forschungsprojekt teilgenommen hat: von Haus aus Philosophin gehe sie selbst gern Dingen auf den Grund und unterstütze deshalb gerne gerade junge WissenschaftlerInnen. Über dieses Thema zu sprechen sei für sie schon deshalb interessant, weil ihr bewusst sei, dass in ihrer Familie vieles anders sei und sie deshalb hoffentlich eine andere Sichtweise mit einbringen konnte.

Abschließend plaudern wir Alltägliches über unsere Kinder, die alle im ähnlichen Alter sind. Die Verabschiedung ist herzlich.

Florian

Bei Florian gibt es keine Verzögerung: schon eine Woche nach dem Telefonat folgt das Interview. Auch das Interview mit Florian findet morgens statt, als seine Frau bei der Arbeit und seine zwei Jungen in der Schule sind. Er empfängt mich in einem gemütlichen, großen Familien-Haus und führt mich zum Interview ins Esszimmer, wo wir, wie bei Cecilia, über Eck am gewaltigen Esstisch sitzen. Vor dem Gespräch ist er eher noch schweigsam, was sich aber schnell ändert, als ich - mit Anlaufschwierigkeiten - meine Eröffnungsfrage stelle.

Man hat den Eindruck - was er auch mehrmals im Interview erwähnt - , dass er sich in den wenigen vergangenen Tagen zwischen Telefonat und Gespräch viele Gedanken über die teilweise schon lange zurückliegenden Vorkommnisse, die er mir erzählt, gemacht hat und sich mehr als sonst mit dem Thema schwierige Erziehungssituationen auseinandergesetzt hat. Von drei kurzen Verständigungsnachfragen abgesehen, dauert Florians Spontanerzählung knapp 20 Minuten, aber auch während des Nachfrageteils erzählt Florian immer wieder ausführlich und flüssig. Dabei ist seine Rede eher bedacht und auch mit vielen kleinen Pausen durchsetzt, während der er sich überlegt, wie er etwas sagen möchte. Auf der anderen Seite erzählt er sehr offen und für sich selbst manchmal schonungslos von für ihn schwer auszuhaltenden Situationen.

Nach 1 Stunde und 16 Minuten ist das Interview beendet. Nach Ausschalten des Mikrofons reden wir noch weiter über das Thema, und zwar dergestalt, dass ich nach kürzester Zeit bedauere, das Mikrofon ausgeschaltet zu haben (das Gespräch wurde im gegenseitigen Einverständnis, dass es nun nichts mehr Wichtiges zu erzählen gäbe, beendet). Nicht wenige interessante Aspekte, die ich gerne in meine Arbeit aufgenommen hätte, kommen leider jetzt erst zur Sprache.

Bevor ich gehe, da seine Kinder im Begriff sind, nach Hause zu kommen, betont er nochmals, dass es ihm sehr wichtig sei, die fertige Diplomarbeit zu lesen und so ein Feedback zu bekommen. Aus diesem Interesse an einer erneuten Auseinandersetzung mit dem Thema scheint sich auch teilweise seine Teilnahmemotivation an meiner Studie zu speisen. Auch hier trennt man sich freundschaftlich.

2.3.4 Auswertung des Datenmaterials und Auswahl der Probanden

Am selben bzw. darauffolgenden Tag wurden Protokollbögen erstellt, um den Ablauf des Interviews, persönliche Eindrücke und nonverbale Äußerungen der Probanden festzuhalten, die nicht durch die Tonbandaufnahme erfassbar sind. Dazu gehören auch die besonderen Umstände zum Beispiel der Vorgespräche und Interviews, Beschreibung der Atmosphäre, Unterbrechungen des Interviews oder eben auch, dass wichtige Dinge erst nach Ausschalten des Mikrofons zur Sprache kamen.

Die Übertragung der Interviews auf den PC und ihre Bearbeitung d.h. Niederschrift der Aufnahmen erfolgten bei allen Probanden ohne Probleme. Im Laufe der Fertigstellung aller Interviews kristallisierte sich heraus, dass es für die Arbeit am geeignetsten ist, zwei Probanden auszuwählen und diese später sich auch im Vergleich gegenüberzustellen (Flick, 2000). Für eine Fallkonstrastierung ist es wichtig, zur Theorie maximal oder im Gegenteil minimal verschiedene Fälle zu wählen und zu analysieren (Steinke, 2000). Der Vergleich gerade dieser Fallstrukturen „ermöglicht die Identifikation von Elementen, Ursachen, Bedingungen etc., die gleichartige Fälle miteinander teilen und die für das theoretische Phänomen wesentlich sind“.

Bei Cecilia war schon wenige Tage nach dem Interview klar, dass das Gespräch mit ihr eines der beiden ausgewählten sein wird, da sie eher ungewöhnliche, von allen anderen Interviewteilnehmern verschiedene, teilweise konträre Ansichten vertritt; meinem gesuchten Konstrukt „Kontrollverlust“ verleiht sie teilweise eine ganz andere Bedeutung.

Das Interview mit Florian war das zweitletzte, und auch bei ihm war fiel die Entscheidung sehr schnell, dass es das gesuchte zweite für das Projekt ist: Florian erzählt flüssig, offen, sehr reflektiert und vor allem mutig und scheint von allen Probanden die meiste Erfahrung mit sehr schwierigen Erziehungssituationen zu haben: die Tatsache, dass seine beiden ältesten Kinder - später als im Säuglingsalter - adoptiert sind, scheint für ihn wie ein Katalysator gewirkt zu haben und ihn „mehr zu seiner eigenen Wut“ (Zitat Cecilia) gebracht zu haben, als es leibliche Kinder vermocht hätten. Abgesehen davon ist er der einzige männliche Proband, was an sich schon eine kleine Sensation ist und vielleicht Licht auf die männliche Sicht des Problems werfen kann.

Außerdem handelt es sich bei Cecilia und Florian um Probanden, die Wutanfälle auf ihre Kinder sehr gut kennen und auch im Alltag „praktizieren“, also in einer häufigeren Frequenz als z.B. Anna, Beate oder Isabel in der Erziehung kurzfristig die Nerven verlieren.

Zur besseren Übersicht wurden für alle Interviews Zeitleisten erstellt und inventarisiert, d.h. die wichtigsten Inhalte in der erzählten Reihenfolge aufgelistet. Dazu gehört auch, sie den speziellen Textsorten Erzählung, Beschreibung und Argumentation zuzuordnen. Dieses Inventar dient zur Orientierung und besseren Übersicht für die spätere Textanalyse.

Die beiden ausgewählten Interviews wurden in sinnvolle Einzelsegmente (Textstellen) zerlegt und fast vollständig nach dem Transkriptionssystem GAT (siehe Anhang) transkribiert. Bestimmte, für die Fragestellung wichtige und für die Falldarstellung notwendige Segmente wurden für die Feinanalyse ausgewählt.

2.3.5 Textanalyse

Die Interpretation vieler zur Feinanalyse ausgewählten Textstellen findet im Rahmen einer Textanalysegruppe unter der Leitung von Prof. Dr. Gabriele Lucius-Hoene im Psychologischen Institut der Universität Freiburg sowie außerdem in einer studentischen Kleingruppe von Diplomandinnen statt. Die gemeinschaftliche Bearbeitung und Diskussion der Textstellen in Gemeinschaft verhilft zu anderen Sichtweisen, gibt neue Anregungen und kann eine Fixierung auf persönliche, einseitige Interpretationsvorlieben verhindern (Lucius- Hoene & Deppermann, 2004).

2.3.6 Zur Darstellung der Analyseergebnisse

Im Kapitel 3 werden nach einem Überblick über das Interview zunächst die Ergebnisse aus den Interviews mit Florian (3.1) und Cecilia (3.2) feinanalysiert und interpretiert. Dazu wurden Textstellen von Thematiken ausgewählt, die sich während des Interviews als für die Probanden relevant herausstellten und diese gewissermaßen - zum Forschungsthema - am besten charakterisieren. Die meist längeren Textstellen sind vollständig transkribiert.

Im Kapitel 3.3 folgt eine vergleichende Analyse der beiden ausgewählten Probanden in für die Forschungsfrage wichtigen Teilaspekten. In dieser Gegenüberstellung werden mehr oder weniger große Teile von Textstellen zitiert, die sich vom Fließtext absetzen und in denen die im Fließtext erwähnten Zitate dann fett erscheinen.

Schließlich werden im Kapitel 3.4 die Ergebnisse der anderen fünf Interviews vergleichend dargestellt. In diesem Teil sind nur einzelne Zitate enthalten.

Alle wortwörtlichen Zitate sind durch die doppelten Anführungsstriche („“) und durch die „Courir-New-Schrift“ erkennbar; andere von der Verfasserin hervorgehobene Aussagen durch den einzelnen Apostroph (,’). Innerhalb der einzelnen Zitatei im Fließtext wurde der besseren Verständlichkeit halber auf die Transkriptionsregeln verzichtet. Ergänzungen der Zitate, die dem besseren Verständlichkeit dienen sollen und Auslassungen innerhalb der Zitate sind durch runde Klammern und drei Punkte (...) gekennzeichnet.

2.3.7 Datenschutz

Da in narrativen Interviews im allgemeinen sehr persönliche und intime Details zur Sprache kommen, auch insbesondere bei dem etwas heiklen Thema meiner Arbeit, steht der Datenschutz selbstverständlich im Vordergrund. Ab dem Zeitpunkt der Datenspeicherung auf dem PC oder in schriftlicher Form werden alle relevanten Daten anonymisiert, das heißt im einzelnen: die Eigennamen wurden durch andere, frei erfundene Pseudonyme ersetzt, und alle genannten Wohnorte, Arbeitsplätze unkenntlich gemacht, um Rückschlüsse auf die Probanden unmöglich zu machen. Die Tonbandaufnahmen sowie alle persönlichen Daten wie Name, Adresse, Telefonnummer, E-Mail-Adresse werden nach Abschluss der Arbeit gelöscht; nur die anonymisierten Transkripte bleiben - in Teilen - in der Arbeit erhalten.

Die Probanden wurden im voraus informiert, dass sie ihre Einwilligung an diesem Projekt jederzeit und ohne Annahme von Gründen zurückziehen hätte können und in diesem Fall alle Daten unverzüglich gelöscht worden wären. Sie gaben freiwillig ihr schriftliches Einverständnis zu der beschriebenen Vorgehensweise. (Einverständniserklärung siehe Anhang)

Aus der Gründen der Dankbarkeit und Fairness und um der Bitte mehrerer Probanden entsprechen zu können, die fertige Diplomarbeit lesen zu dürfen, war es mir ein großes Anliegen, die Interviews in einer respektvollen und empathischen Art und Weise darzustellen und zu interpretieren.

[...]

Ende der Leseprobe aus 243 Seiten

Details

Titel
Zum Selbstverständnis von Eltern im Bezug auf Kontrolle und Kontrollverlust in schwierigen Erziehungssituationen
Untertitel
Narrative Interviews mit Eltern von Kleinkindern
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Institut für Psychologie, Engelbergerstr. 41, 79085 Freiburg)
Note
1,25
Autor
Jahr
2012
Seiten
243
Katalognummer
V1159969
ISBN (eBook)
9783346556134
ISBN (Buch)
9783346556141
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Psychologie Pädagogik Erziehung Emotionskontrolle Eltern Kinder
Arbeit zitieren
Sonja Groß (Autor:in), 2012, Zum Selbstverständnis von Eltern im Bezug auf Kontrolle und Kontrollverlust in schwierigen Erziehungssituationen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1159969

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