Leseförderung und Computerspiele

Förderung der (basalen) Lesekompetenzen mit narrativen Computerspielen


Masterarbeit, 2021

131 Seiten, Note: 6 (Schweiz) 1 (Deutschland)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung / Vorwort

2 Grundsätze des Lesens
2.1 Zwei-Wege-Modell

3 Lesekompetenzen und literarisches Lernen
3.1 Mehrebenenmodell des Lesens
3.2 Hierarchieniedrige und -hohe Leseprozesse
3.2.1 Hierarchieniedrige Prozesse
3.2.2 Hierarchiehohe Prozesse
3.2.3 Leseflüssigkeit
3.3 Literarische Texte lesen und verstehen
3.4 Spinners elf Aspekte des literarischen Lernens

4 Lesesozialisation
4.1 Einfluss des familiären Umfelds
4.2 Einfluss der Schule und der Lehrkräfte
4.3 Einfluss der Peers

5 Diagnostik der Lesekompetenz
5.1.1 Salzburger Lesescreening 5-8 (SLS)
5.1.2 Einführung / Durchführung
5.1.3 Auswertung

6 Förderung der Lesekompetenzen
6.1 Vielleseverfahren
6.1.1 Leseolympiade
6.1.2 Wirksamkeit
6.2 Lautleseverfahren
6.2.1 Lautlesetandem
6.2.1.1 Sportlicher Rahmen
6.2.1.2 Ablauf der Methode
6.2.1.3 Aufgaben der Lehrkraft
6.2.2 Wirksamkeit

7 Computerspiele und die Förderung von Lesekompetenz
7.1 Narrative Computerspiele
7.1.1 Genres
7.1.1.1 Abenteuerspiele
7.1.2 Erzählweise in Computerspielen
7.1.2.1 Interaktivität in Computerspielen
7.2 Lesefördermöglichkeiten in narrativen Computerspielen
7.2.1 Mehrebenenmodell
7.2.2 Spinners elf Aspekte des literarischen Lernens
7.2.3 Didaktisierung von Computerspielen
7.2.4 Förderung basaler Lesekompetenzen mit narrativen Computerspielen

8 The Inner World
8.1 Spielmechaniken
8.2 Struktur

9 Empirische Untersuchung
9.1 Erprobung mit The Inner World
9.1.1 Einleitung / Vorbereitung
9.1.1.1 Lesedossiers
9.1.1.2 Einteilung der Tandems
9.1.2 Methodisches Vorgehen
9.1.2.1 Intervention
9.1.2.2 Untersuchungsobjekt
9.1.2.3 Erhebungs- und Auswertungsmethode
9.1.2.4 Stichprobenauswahl
9.2 Stichprobe
9.3 Durchführung der Intervention
9.4 Auswertung
9.4.1 Gesamtgruppe
9.4.2 Kontrollgruppe vs. Probandengruppe
9.4.3 Fragebogen
9.5 Diskussion
9.5.1 Beantwortung der Hypothese

10 Schlusswort
10.1 Folgen für die Forschung
10.2 Folgen für die Praxis
10.3 Reflexion
10.4 Ausblick / Zukunftsgedanken

11 Literaturverzeichnis
11.1 Spielverzeichnis

12 Anhang

Abstract

Computerspiele haben grösstenteils noch nicht den Einzug in die Klassenzimmer ge­schafft, obwohl sie teilweise kulturell, historisch oder literarisch wertvolle Inhalte wieder­geben und man sie für die schulische Förderung verwenden könnte. Die vorliegende Ar­beit verfolgt das Ziel verschiedene Fördermöglichkeiten durch Computerspiele im Deutschunterricht aufzuzeigen und überprüft die Hypothese, dass durch den Einsatz von narrativen Computerspielen eine gleichwertige oder bessere Förderung der Leseflüssig­keit stattfinden kann als mit rein herkömmlichen Methoden.

Dazu wird als erstes theoriebasiert dem Lesen und den Lesekompetenzen in all ihren Aspekten nachgegangen, sowie Computerspiele untersucht, kategorisiert und in Verbin­dung mit den Lesekompetenzen und deren Modellen beziehungsweise Bereichen ge­bracht. Um der Hypothese nachzugehen, wurde eine quantitative Untersuchung durch­geführt, bei welcher die Leseflüssigkeit von Schülerinnen und Schülern vor und nach ei­ner Intervention durch eine Leseflüssigkeitsförderung untersucht wurde. Um die Leseflüs­sigkeit der Probandinnen und Probanden zu bestimmen, wurde das Salzburger Lese­screening verwendet. Untersucht wurden 32 Schülerinnen und Schüler der 7. Klasse auf dem Niveau A des Kantons Baselland. Die Probandinnen und Probanden wiesen ein mitt­leres oder schwaches Leseniveau auf. Zur Untersuchung wurden die Teilnehmenden in zwei Gruppen aufgeteilt, eine Probandengruppe und eine Kontrollgruppe.

Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen signifikante Effekte und eine starke Effektstärke in der Probandengruppe, welche mit einem narrativen Computerspiel arbeitete, sowie partiell insignifikante Effekte und eine mittlere Effektstärke in der Kontrollgruppe ohne Computerspiel.

Eine weiterführende Forschung könnte die Förderung der Leseflüssigkeit durch narrative Computerspiele tiefergehend und breiter angelegt untersuchen, um die Ergebnisse die­ser Arbeit weiter zu verfolgen.

1 Einleitung / Vorwort

Kurz gesagt: Der heutige Leseunterricht in den Schulen ist veraltet und nicht mehr genügend auf moderne digitale Leseangebote und die aktuellen Lebenswelten von Kindern- und Jugendlichen abgestimmt. Textsorten in digitalen Medien erhalten eine stetig zunehmend bedeutsame Rolle in der gesellschaftlichen Kommunikation und in der modernen Lebenswelt im Allgemeinen. Diese Textsorten sollten ebenso im Unterricht behandelt werden, wie analoge, herkömmliche Textsorten - so beginnt Uwe Mattusch (2000) mit seinen Ausführungen. Er sieht es als problematisch an, dass den digitalen Medien und den darin enthaltenen Textsorten, sowie Inhalten so wenig Aufmerksamkeit geschenkt werde. Die Kinder und Jugendlichen würden aus­serhalb der Schule bereits mit deren Textsorten und Inhalten konfrontiert und müss­ten in der Schule die Fähigkeit erlernen, mit ihnen ebenso umzugehen, wie mit an­deren Texten. Dass der Umgang damit nicht in der Schule oder genauer gesagt im Deutschunterricht angekommen sei, benennt er als prekären Umstand (vgl. Mattusch, 2000: 320f.) Andreas Schöffmann (2018) nimmt dieselbe Idee auf und unterstützt die gleiche Meinung, indem er die Möglichkeit sieht, wichtige Themen der Entwicklung von Kinder- und Jugendlichen durch digitale Angebote beziehungs­weise digitale Spiele zu behandeln. Warum dies nicht geschieht, liegt unter anderem daran, dass das Computerspielen als eine Art Krankheit oder Sucht angesehen wird. Dass gewisse Menschen in gewissen Situationen von Videospielen abhängig wer­den können, ist zwar nicht falsch, jedoch darf aus dieser Aussage nicht ein verein­fachtes «Alle Computerspiele machen süchtig» (Schöffmann, 2018: 278) werden, was nur zu einfach und schnell geschieht (ebd. 2018: 277f.). Computerspiele und deren Nicht-Behandlung im Deutschunterricht stellen die grösste Lücke im Curricu­lum des Deutschunterrichts dar, so Boelmann (2015: 13). Filme, sowie Comics, Fernsehsendungen, Fotos oder Gemälde haben sich neben den Büchern im Deutschunterricht bereits etabliert und werden in diversen Lehrmitteln behandelt. Computerspiele wiederum werden nur in Ausnahmefällen im Unterricht verwendet. Nicht nur im Deutschunterricht ist eine gewisse Scheu vor neuen, digitalen Medien und deren Einbettung in den Unterricht zu beobachten (Boelmann, 2015: 13f.). In der Schweiz gewinnen sie in einigen Kantonen durch die Einführung von iPads als Arbeitsgeräten an Bedeutung. Im Kanton Basel-Landschaft werden seit dem Schul­jahr 2020/21 alle neuen Sekundarschülerinnen und -schüler mit einem eigenen iPad ausgestattet. Auch deren Lehrpersonen erhalten ein persönliches Gerät. Laut Re­gierungsrat und Bildungsdirektorin Monica Gschwind soll damit ein Zeichen für mo­derne Bildung gesetzt werden (Medienmitteilung vom 26.06.2019). Unter anderem auch der Kanton Solothurn rüstet seine Schülerinnen und Schüler und Lehrperso­nen ab 2020/21 mit iPads aus - auch auf der Primarstufe. Der Kanton testete den Einsatz der Geräte 2015 im Rahmen des Projekts «myPad» der Beratungsstelle Di­gitale Medien in Schule und Unterricht - imedias, der Fachhochschule Nordwest­schweiz. Ein Wandel von analogen zu mehr digitalen Medien im Schulalltag scheint stattzufinden, welcher auch vor dem Deutschunterricht und den darin bearbeiteten Medien nicht Halt macht. Um diesen neuen Medien gerecht zu werden, sollte man den Begriff der Lesekompetenz und des literarischen Lernens näher analysieren und erweitert betrachten. Eine genauere Betrachtung der möglichen Rolle von Com­puterspielen als literarische Gegenstände findet sich in der folgenden Arbeit in den Kapiteln 7 und aufwärts. Kurz erwähnt seien hier aber bereits einige Aspekte, die dazu beigetragen haben, die Fragestellung und Idee dieser Masterarbeit entstehen zu lassen.

Boelmann (2015) veröffentlichte Untersuchungen zum Einsatz von narrativen Com­puterspielen im Deutschunterricht. Seine Untersuchung umfasste den Einsatz des narrativen Computerspiels Warcraft III in Verbindung mit einem Ausschnitt des Ju­gendbuchs Kariuki und der weisse Junge. Er konnte durch Interviews, Fragebögen standardisierte und selbstentwickelte Tests den Gebrauch und die Förderung von literarischen Kompetenzen bei Schülerinnen und Schülern einer 8. Jahrgangsklasse des Bergstadt-Gymnasiums Lüdenscheid beim Verstehen eines Computerspiels nachweisen. Als Grundlage wurde das Bochumer Modells literarischen Verstehens genutzt, welches sechs Teilkompetenzen beschreibt. Besonders beim Verstehen von Handlungslogik, der Perspektivenübernahme bzw. Verstehen der Perspektiven von Figuren und deren Handlungsmotivationen, aber auch beim Verstehen von sym­bolischen oder metaphorischen Ausdrucksweisen und der sprachlichen Gestaltung zeigten sich signifikante Korrelationen zwischen Computerspiel und Printmedium (vgl. Boelmann 2015: 195-226 & 270f.).

Wie bereits Boelmann (2015: 19f.) erwähnt, erachte auch ich es an dieser Stelle wichtig zu bemerken, dass Computerspiele nicht die Texte der Zukunft sind und analoge Texte ersetzen werden. Vielmehr sind die Lernmöglichkeiten mit und um Computerspiele nicht nur im Bereich der Lesekompetenz oder der literarischen Fä­higkeiten, sondern über verschiedene Fächer hinweg meiner Meinung nach nicht ausgeschöpft. Die folgende Arbeit soll die Möglichkeiten des Lernens mit Compu­tersielen aufzeigen, sowie ein Computerspiel und eine herkömmliche Fördermetho­den verbinden, um den Schülerinnen und Schülern so durch ein Medium, welches ihrer Lebenswelt näher ist, ein motivierendes Umfeld zu bieten. Unter dem Begriff «Gamification» wird dazu seit längerem (vgl. Boelmann 2015: 21) geforscht und ge­fordert, dass Computerspiele den Einzug in die Lernräume schaffen.

Die Diskussion darüber, welche Computerspiele geeignet sind und welche weniger, welche Bereiche gefördert werden können und sollen etc. wird in dieser Arbeit zu gegebener Zeit auftauchen. Konkret folgt diese Arbeit der folgenden Zielsetzung und Hypothese.

- Zielsetzung: Ich erforsche den Einsatz von narrativen Computerspielen im Deutschunterricht, um zu zeigen, wie dieses als spezifisches Tool im Deutschunterricht in Kombination oder als Alternative zu und mit herkömmli­chen Materialien genutzt werden können, um die Leseflüssigkeit (und die li­terarischen Kompetenzen) von Schülerinnen und Schülern mit geringen bis mittleren Lesestärken zu fördern.
- Hypothese: Ein narratives Computerspiel, wie das «Point & Click» Abenteu­erspiel The Inner World1, fördert die Leseflüssigkeit von schwachen und mitt­leren Leserinnen und Lesern in den 7. Klasse auf dem Niveau A in Kombina­tion mit einer bewährten Lesefördermethode vergleichbar oder besser als der herkömmliche Einsatz dieser Methode.

2 Grundsätze des Lesens

Was bedeutet Lesen eigentlich? Ohne ins Detail zu gehen, soll bevor genauer auf die verschiedenen Komponenten des Lesens eigegangen wird, als erstes kurz ge­klärt werden, was Lesen grundsätzlich bedeutet.

Lesen beginnt mit den Augen. Über die Augen werden visuelle Reize an das Gehirn weitergeleitet, woraufhin eine erste Wahrnehmungsaufgabe darin besteht, Muster zu erkennen und diese dann in einem zweiten Schritt als Buchstaben zu klassifizie­ren. Die dritte Wahrnehmungsaufgabe besteht darin, aus den Buchstaben sinnhafte Wörter zu bilden. Dies kann über zwei unterschiedliche Wege geschehen, welche zwar beide zum Ziel führen, wobei einer davon jedoch deutlich schneller und auto­matisierter abläuft als der andere. Der automatisierte Weg der Worterkennung er­fordert es, dass ein gelesenen Wort bereits im Hirn abgespeichert ist und so schon zum hirneigenen Lexikon gehört. Die vierte Leistung ist die Zuordnung von Bedeu­tungen zu den verschiedenen gebildeten oder gespeicherten Wörtern (vgl. Gold 2018: 17f.).

2.1 Zwei-Wege-Modell

Die beiden oben genannten Arten der Worterkennung werden hier kurz erläutert.

1. Über einen ersten Weg werden Wörter direkt erkannt, da sie bereits im hirn­eigenen Lexikon abgelegt sind. Die Bedeutung der Wörter muss dabei ebenfalls im genannten Lexikon vorhanden sein, damit ein Wort direkt verstanden wird. Die abgespeicherten Wörter werden auch als Sichtwortschatz bezeichnet. Dieser Vorgang der direkten Worterkennung wird als Dekodieren bezeichnet.
2. Über den zweiten Weg werden Wörter indirekt erkannt. Dazu werden die Buchstaben bzw. Laute einzeln gelesen und schlussendlich zu einer sinnvollen Einheit zusammengesetzt, welche dann mit dem Sichtwortschatz abgeglichen wird. Nur so können beispielsweise auch Kunstwörter gelesen werden, die keinen Sinn ergeben. Dieser indirekte Weg wird auch als Rekodieren bezeichnet. Der indirekte Weg ist vor allem zu Beginn des Lesenlernens dominant.

Ein Wechsel zwischen den beiden Wegen ist bei einer guten Leserin oder einem guten Leser normal (vgl. Gold 2018: 19f.). Es soll hier aber auch deutlich gemacht werden, dass Lesen mehr bedeutet als nur Worterkennung, denn diese be­schreibt nur einen kleinen Teil der Lesekompetenz, wie sie in den nächsten Ka­piteln beschrieben wird.

3 Lesekompetenzen und literarisches Lernen

Um im weiteren Verlauf darüber berichten zu können, wie verschiedene Förderme­thoden Teile der Lesekompetenz von Schülerinnen und Schüler beeinflussen kön­nen und wo Computerspiele einen Beitrag leisten können, gilt es klarzustellen was Lesekompetenz bedeutet und welche verschiedenen Teilkompetenzen sie beinhält. In der Fachliteratur (u.a. Lenhard 2019, Rosebrock/Nix 2015, Rosebrock et al. 2011) wird die Lesekompetenz in verschiedene Unterkategorien geteilt, damit der kom­plexe Prozess des Lesens und des Lesenlernens in allen Aspekten befriedigend be­schrieben werden kann. Im folgenden Kapitel wird ein Übersichtsmodell des Lesens vorgestellt. Die Prozesse, die während des tatsächlichen Lesens ablaufen, werden im Anschluss noch genauer betrachtet und in eine hierarchische Abfolge gebracht.

3.1 Mehrebenenmodell des Lesens

Rosebrock und Nix (2015: 15) bezeichnen in ihrem didaktischen Mehrebenenmodell des Lesens (siehe Abb. 1) drei verschiedene Teilebenen des Lesens und gehen dabei darüber hinaus, nur den tatsächlichen Moment des Lesens zu betrachten, welcher sich im Zentrum des gedachten Kreises befindet, sondern integrieren so­wohl die Leserin oder den Leser wie auch das soziale Umfeld in ihre Beschreibung. Sie bieten ein kompaktes und übersichtliches Modell an, welches folgend beschrie­ben werden soll:

1. Prozessebene: Hier finden die kognitiven Tätigkeiten des Leseakts statt, das Ent­ziffern von Buchstaben und Wörtern bildet im Zentrum die Grundlage des Lesens. Das Dekodieren, sowie die Bildung von lokaler Kohärenz auf Wort- und Satz­ebene, also das sinnhafte Verknüpfen von Wörtern und Sätzen zu Verbindungen von Sätzen, geschieht bei erfahrenen Leserinnen und Lesern automatisiert und scheinbar beiläufig. Als globale Kohärenz werden Verknüpfungen angesehen, welche über die Sätze hinaus zur Entwicklung einer Gesamtvorstellung vom wei­teren Verlauf und Inhalt eines Textes führen. Wer beim Lesen Superstrukturen erkennen will, muss über das nötige Textsortenwissen verfügen, um dazu in der

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Mehrebenenmodell des Lesens (Rosebrock/Nix, 2015: 15)

Lage zu sein. Superstrukturen benennen textsortenspezifisches Wissen über den Aufbau von Texten, welches danndem Verständnis des weiteren Verlaufs, sowie des Aufbaus eines Textes dient. Man weiss dann als Leserin oder Leser z.B., dass ein Sachtext über ein Organ in einem Biologiebuch die verschiedenen Funktio­nen und Bestandteile des Organs beschreiben wird, sowie das Zusammenspiel mit anderen Organen im Körper und dass der Text nicht interpretierbar ist, son­dern auf Fakten aufbaut. Der Umgang mit Ironie, bildlicher Sprache, Metaphorik und weiterer Darstellungsmittel zählt ebenfalls zur Erkennung bzw. Einordnung von Superstrukturen.Als Leserin oder Leser bildet man sich durch das Schaffen von Verbindungen und den Einbezug von Vor- sowie Textwissen ein mentales Modell eines Texts, welches während des Leseakts dynamisch verändert wird. Wenn dieses mentale Modell einer Leserin oder einem Leser Einblicke in den gedachten Backstagebereich eines Textes liefert, also wenn erkannt werden kann, was der Autor oder die Autorin mit einem Text aussagen möchte und wel­che Mittel er oder sie dazu anwendet, dann spricht man von Darstellungsstrate­gien, welche identifiziert werden. Sie stellen auf der Prozessebene den an­spruchsvollsten Part des Lesens dar, da der Text auf Metaebene analysiert wer­den muss (vgl. Rosebrock/Nix 2015: 17-20).

2. Subjektebene: Auf dem mittleren Bereich des Kreises befindet sich die Leserin oder der Leser selbst, mit allen persönlichen Überzeugungen, allem Wissen und aller Motivation, den Einstellungen und Vorstellungen zum Lesen und zu sich selbst - kurzgesagt: Das Selbstkonzept als (Nicht-) Leserin oder Leser. Lesen erfordert ganzheitliches Engagement, intrinsische oder extrinsische Motivation und persönliches ‘Commitment', um anzufangen und bei schwierigeren Texten durchzuhalten. Wie sehr ein Text als motivierend oder attraktiv angesehen wird, ist vom persönlichen Wissen über die Welt, von Wünschen und Interessen ab­hängig. Das Gelesene wird stetig mit der eigenen Lebenswelt verglichen - Unter­schiede und Gemeinsamkeiten können dabei besonders spannend erscheinen, wenn sie sich in die eigene Lebenswelt übertragen lassen. Ob jemand als Leserin oder Leser das Lesen grundsätzlich als positiven Prozess ansehen kann, hängt von der persönlichen Geschichte des (Nicht-)Lesens zusammen, mit Selbstüber­zeugungen, Vorbildern und Erfahrungen, mit Erfolgen und Misserfolgen. Diese Teile bilden gemeinsam das bereits erwähnte Selbstkonzept (vgl. Rosebrock/Nix 2015: 20-23 & Rosebrock et al. 2011: 9). Auch die individuelle Lesesozialisation spielt dabei eine wichtige Rolle, denn das Selbstkonzept der Lesenden verändert und verfestigt sich im Laufe des Aufwachsens mit und um Literatur - oder abseits davon (vgl. Rosebrock et al. 2011: 9). Lesesozialisation bedeutet auch das Erler­nen des Umgangs mit konzeptioneller Schriftlich- und Mündlichkeit2 in unter­schiedlichen Modalitäten (Printmedien und digitale Medien). Durch eine gelun­gene Lesesozialisation entwickelt jemand eine Verbundenheit zum Lesen, zur Li­teratur und entwickelt eine förderliche, motivierende und stabile Lesehaltung.

Zur Lesesozialisation folgt anschliessend ein Kapitel, welches die Inhalte und Ein­flüsse der mitspielenden Prozesse und Bereiche näher beschreibt (siehe Kapitel 4). Sie erstreckt sich vom Vorschulalter bis ins frühe Erwachsenenalter, so dass auch die Schule einen prägenden Einfluss auf sie hat.

3. Soziale Ebene: Der äusserste Bereich des Modells enthält die sozialen Kompo­nenten des Lesens, denn Lesen findet, wahrscheinlich im Gegensatz zu manchen Vorstellungen, nicht nur für und mit sich selbst als Lesenden statt, sondern hat wesentliche soziale Komponenten. Lesen hat erstens stets einen Kontext, in wel­chen es eingebettet ist, sowie einen Grund. Die Art, wie man einen Text rezipiert, wird wesentlich davon beeinflusst. Lese ich als Leserin oder Leser damit ich in der Schule einen Text verstehe, lese ich den Busfahrplan, oder lese ich meinem Freund eine WhatsApp Nachricht vor, hat dies individuelle Konsequenzen darauf, wie ich lese (vgl. Rosebrock 2012: 6). Zweitens stellen Rosebrock und Nix (2015: 23-26) die Anschlusskommunikation in den Fokus. Über Texte zu sprechen und Bescheid zu wissen, ist in der Schule, wie auch bei der Freizeitlektüre einer der dominantesten Weiterverarbeitungsmethoden. Das (Nicht-) Wissen und Mitspre­chen können über Texte, vor allem belletristische (z.B. die Harry Potter Reihe3 ), kann Zugang zu sozialen Gruppen gewähren oder verwehren. Die Kenntnis über globales und lokales Geschehen auf der Welt durch das Lesen von Zeitungsarti­keln ist eine wichtige Informationsquelle. Auf der anderen Seite stellen über die gesamte Bandbreite der Schulfächer hinweg Texte die dominante Form der In­formationsvermittlung dar. Die Anschlusskommunikation über diese Texte ist die dominante Form der Weiterverarbeitung, wobei sie gerade im schulischen Kon­text eng geführt und zielgerichtet stattfindet. Eine freiere Anschlusskommunika­tion kann in der Freizeit, mit Peers und der Familie geschehen. Die gemeinsame Konstruktion und die Verarbeitung von Texten im sogenannten «Vorlesedialog» (Rosebrock/Nix 2015: 23) zwischen Eltern und Kindern während der frühen Le­sesozialisation ist eine intensive und intime erste Situation, in der Anschlusskom­munikation geschieht und trainiert wird (zur Lesesesozialisation siehe Kapitel 4).

Kurz zusammengefasst: Lesen besteht aus drei Ebenen, einer Textebene (Buchstaben, Wörter, Sätze, Kohärenz, Struktur) einer persönlichen Ebene (Selbstbild, Motivation, Engagement, Lesehaltung) und einer sozialen Ebene (Anschlusskommunikation).

Alle drei Bereiche beeinflussen die gesamte Lesekompetenz einer Leserin oder eines Lesers, da sie miteinander verwoben sind und sich wechselseitig beein­flussen. Das Lesen und Verstehen von Texten bedeutet Sinnkonstruktion. Die (mehr oder minder) erfolgreiche Konstruktion wird geprägt, gefördert oder gehemmt vom sozialen Kontext und der (Lern-) Situation, sowie dem Vorwis­sen, der Beteiligung und Motivation, sprich vom Selbstkonzept einer (Nicht-) Leserin oder eines Lesers. Dieses wiederum wird während der Lesesozialisa­tion ausgearbeitet und gefestigt.

3.2 Hierarchieniedrige und -hohe Leseprozesse

Im vorgestellten Mehrebenenmodell des Lesens lässt sich folgender Schnitt zwi­schen hierarchieniedrigen und hierarchiehohen Prozessen des Lesens machen (siehe Abb 2.):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Bezeichnung niedrig oder hoch soll nicht zum Verständnis verleiten, dass die Prozesse nacheinander ablaufen oder unterschiedlich wichtig sind, im Gegenteil. Die gesamten Prozesse des Lesens verlaufen viel mehr gleichzeitig und in gegen­seitiger Abhängigkeit. Auch sind die hierarchiehöheren Prozesse nicht verarbei­tungsintensiver oder höherwertig als die hierarchieniedrigen Prozesse. Komplexer sind die hierarchiehohen Prozesse darum, weil sie längeres, komplexeres Material bearbeiten und grössere Textstellen miteinander verknüpfen (vgl. Lenhard, 2019: 21).

3.2.1 Hierarchieniedrige Prozesse

Wie bereits erwähnt stehen im Zentrum des Leseprozesses direkt textbezogene Ab­läufe, wie das Erkennen von Buchstaben und deren Zusammenfügen zu sinnhaften Wörtern und Sätzen. Lenhard (2019: 14ff.) beschreibt die hierarchieniederen Pro­zesse als ein Zusammenspiel von mehr oder minder komplexen Aufgaben: Es müs­sen Schriftzeichen erkannt, Ausnahmen beherrscht, Wörter aus Graphemen (Schriftzeichen) gebildet und deren Laute richtig zugeordnet und im Arbeitsge­dächtnis abgelegt werden. Die so gebildeten Wörter müssen mit den bereits vor­handenen im Arbeitsgedächtnis abgeglichen werden, wobei im gesamten Prozess auch die anderen Wörter und Teile eines Satzes nicht vergessen werden dürfen. Auch mit diesen muss das neu gelesene Wort abgeglichen werden und in das Satz­gefüge passen (vgl. Lenhard, 2019: 16). Was beim Modell von Rosebrock & Nix (2015: 15) lokale Kohärenz genannt wird, beinhält genau diese Fähigkeiten und den Beginn der Bildung des mentalen Modells des Textes. Dieses wird bei der weiteren Verarbeitung eines Textes dynamisch angepasst, ausgearbeitet und korrigiert (vgl. Rosebrock/Nix, 2015: 18f.). Vor dem Hintergrund des Zwei-Wege-Modells (siehe 2.1) verläuft die Wort- und Satzidentifikation während den hierarchieniedrigen Pro­zesse je nach Automatisierungsgrad als Dekodierung oder Rekodierung.

3.2.2 Hierarchiehohe Prozesse

In den hierarchiehöheren Prozessen werden die bereits gebildeten Verbindungen und sinnhaften Teile eines Textes weiterverarbeitet. Es werden Zusammenhänge zwischen Textstellen erkannt, Inhalte ausgearbeitet und weiterverarbeitet. Es wer­den Vermutungen angestellt und die Ziele von Texten hinterfragt. Auf diese Weise entsteht ein Netz, das den Inhalt eines Textes zugänglich macht. Dabei wird das bereichsspezifische Vorwissen genutzt - je grösser dieses Vorwissen ist, desto dich­ter sind die semantischen Netze4, die gewoben und weiterverarbeitet werden. Der Inhalt eines Textes wird durch Schlussfolgerungen und Assoziationen erweitert und in das mentale Modell übertragen. Wer Texte auf einer hierarchiehohen Ebene ver­steht, lernt die Texte nicht auswendig, sondern versteht den Sinn dahinter und be­trachtet sie auf Metaebene (vgl. Lenhard 2019: 21f.).Im Mehrebenenmodell (Rose- brock/Nix 2015: 15) werden als hierarchiehohe Prozesse die Bildung globaler Kohä­renz, die Superstrukturen und Darstellungsstrategien genannt.

Als Übersicht über die Aufteilung in hierarchieniedrige- und hohe Prozesse dient die folgende Darstellung (Abb.3), welche die Prozessebene des Lesens darstellt. Zu se­hen sind die einzelnen Teilprozesse, die währenddes Lesens stattfinden.Im Gegen­satz zum Mehrebenenmodell beginnt diese Darstellung am unteren Ende mit den Worterkennungsprozessen, und je weiter hinauf sie steigt, desto komplexer werden auch die genannten Prozesse. Aufgrund der Textbasis und des Vorwissens wird ein mentales Modell des Textes gebildet (hier «Situationsmodell» genannt). In beiden Bereichen (hierarchiehohe und -niedrige Leseprozesse) können Fehlerquellen für das Textverstehen entstehen, die wechselseitig aufeinander einwirken (vgl. Rose­brock et al. 2011: 13-15).Bereits währendden niedrigen Prozessen werden Bedeu­tungsvolle Repräsentationen von Teilen des Textes in das mentale Modell überführt (hier «Propositionen» genannt).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Hierachiehohe- und niedrige Leseprozesse (Rosebrock et al. 2011: 13)

3.2.3 Leseflüssigkeit

Als Teil der hierarchieniedrigen Prozesse wird der Begriff der Leseflüssigkeit im wei­teren Verlauf dieser Arbeit häufig verwendet, daher ist es wichtig, den Begriff zu klären. Ausgehend vom Mehrebenenmodell ist die Leseflüssigkeit in die Prozess­ebene des Lesens zu verordnen. Sie reiht sich in die hierarchieniederen Lesepro­zesse mit ein und beschreibt diese sogar, denn die Leseflüssigkeit umfasst genau jene Prozesse. Sie setzt sich aus vier verschiedenen Prozessen zusammen, die auf Wortebene und Satzebene stattfinden (vgl. Rosebrock et al. 2011: 16-19 & Rose- brock/Gold 2018: 10-12). Flüssiges Lesen geschieht aber nicht nur von unten (bot­tom up), also von den einzelnen Buchstaben und Wörtern aus, sondern auch von oben (top down), wenn Wortbedeutungen und Teile von Sätzen und Zusammen­hänge während dem Lesen in die individuellen Wissensbestände eingeordnet wer­den, um einen Text schneller zu verstehen oder um den weiteren Verlauf zu erahnen (vgl. Gold 2018: 67-70 & Rosebrock/Gold 2018: 9f.).

1. Genaues Dekodieren bedeutet Wörter schnell und korrekt zu erkennen, die Bedeutungen zu erfassen sowie die eigenen Fehler dabei zu korrigieren. Durch falsch oder stockend dekodierte/gelesene Wörter wird das Textverste­hen und der eigene ‘Lese-Flow' negativ beeinflusst. Wer nicht mindestens 95% der Wörter in einem Text fehlerfrei lesen kann, hat Probleme mit der lokalen Kohärenzbildung und an globales Verständnis auf höherer Ebene ist schwerlich zu denken.
2. Automatisches Dekodieren bedeutet, dass das soeben genannte Dekodieren automatisch und unterbewusst abläuft. Flüssige Leserinnen und Leser kön­nen dabei beispielhaft mit geübten Autofahrern verglichen werden, die wäh­rend dem Fahren nicht mehr ans Schalten oder Blinken denken müssen - sie müssen ihre Aufmerksamkeit nicht (mehr) auf das Entziffern und Einordnen von Wörtern legen, sondern haben Kapazitäten frei für hierarchiehöhere Pro­zesse. Eine direkte Erkennung und Zuordnung von Wörtern und Wortgrup­pen ohne den Umweg über einen lautsprachlichen Zugang ist charakteris­tisch für einen hohen Automatisierungsgrad (Dekodieren im Zwei-Wege-Mo- dell).
3. Die Lesegeschwindigkeit zeigt an, wie schnellund automatisiertdie Dekodie­rung vonstattengeht. Wer zu langsam liest, hat am Ende eines langen Satzes bereits wieder vergessen, was am Anfang stand. Schneller ist aber nicht im­mer besser - wer zu schnell liest beeinträchtigt ebenfalls das Verstehen. Eine vernünftige Geschwindigkeit beträgt je nach Zielsetzung 100 (Einprägen) bis 600 (Überfliegen) Wörter pro Minute. Eine Grundgeschwindigkeit von etwa 150 Wörtern pro Minute bei etwas herausfordernden Texten wird bei Rose­brock & Nix (2015: 39) empfohlen. Gold (2018: 68) benennt 100 Wörter pro Minute als Mindestgeschwindigkeit.
4. Betontes und sinngestaltendes Vorlesen / Prosodie (Intonationsfähigkeit) ist bezüglich der Leseflüssigkeit wichtig, da dabei bedeutungsvolle und satzbau­technisch sinnvolle Teile gebildet und Pausen gesetzt werden müssen. Dazu muss lokale Kohärenz gebildet werden. Beim Vorlesen gilt eine empfohlene Grundgeschwindigkeit von etwa 100 korrekt vorgelesenen Wörtern pro Mi­nute (vgl. Rosebrock/Gold 2018: 12).

Rosebrock und Gold (2018: 8f.) stellen beeindruckend dar, wie eine fehlende Auto­matisierung der basalen Fähigkeiten den Lesefluss und das Leseverstehen behin­dern. Durch zwei Beispieltexte wird dies klar (siehe Tabelle 1):

Tabelle 1: Spiegeltext und Buchstabensalat (modifiziert, nach Rosebrock/Gold 2018: 8f.)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Der Spiegeltext kann selbst von versierten Leserinnen und Lesern nur schwerlich auf Anhieb flüssig gelesen werden. Man verliert sich in der Worterkennung und muss die Aufmerksamkeit auf eine eigentlich automatisch ablaufende Ebene fokus­sieren. Der zweite Text zeigt auf, wie man als Leserin oder als Leser mit automati­sierter Worterkennung selbst einen Text lesen kann, bei dem die Buchstaben ledig­lich zu Anfang und am Schluss der Wörter an der richtigen Stelle stehen. Dieses Phänomen liegt daran, dass bekannte und mehrmals gelesene Wörter im sogenann­ten Sichtwortschatz, also in einem persönlichen, hirneigenen Wörterbuch abgelegt werden und daraus abgerufen werden können. Dies geschieht, ohne dass man da­bei jedes einzelne Wort genau entziffern muss, daher können Texte, wie der zweite Text in Tabelle 1 ohne grosse Probleme gelesen werden (vgl. Rosebrock/Gold 2018: 8f.).

Kurz zusammengefasst: Die Leseprozesse bestehen aus hierarchieniedrigen- und hohen Prozessen, welche sich wechselseitig beeinflussen. Ist einer der Bereiche eingeschränkt wirkt sich das negativ auf den anderen Bereich und das Textverstehen aus. Beim Lesen wird durch das Zusammenspiel der Pro­zesse ein mentales Modell des Textes gebildet, welches dessen Bedeutungs­inhalte widerspiegelt.

Die Leseflüssigkeit beschreibt die basalen (niedrigen) Lesekompetenzen (De­kodieren, Bedeutung erfassen/verarbeiten, lokale Kohärenz bilden), deren Au­tomatisierung, die Lesegeschwindigkeit und das gestaltende Vorlesen. Ist sie eingeschränkt, hat das negative Auswirkungen auf das Verstehen und Weiterverarbeiten eines Textes und die Bildung des mentalen Modells.

3.3 Literarische Texte lesen und verstehen

Literarische Texte bieten sich an, um den Link zwischen hierarchieniedrigen und hierarchiehöheren Leseprozessen zu üben, beziehungsweise um einfacher an hö­here Prozesse anzuschliessen, da die Prozessebene bei literarischen Texten im Ver­gleich zu Sachtexten einfacher aufgebaut und zu verarbeiten ist. Die Themen litera­rischer Texte sind meistens näher an der Lebenswelt von Leserinnen und Leser und nicht themenspezifisch, wie es bei Sachtexten der Fall ist. Die Belletristik bietet durch eine einfachere Sprache einerseits eine Entlastung auf Wort- und Satzebene, aber mindert den Genuss des Lesens nicht, da ihre Herausforderungen und Reize auch auf höheren Ebenen des Verstehens zu finden sind. Die einfachere Oberfläche von literarischen Texten kommt somit Leserinnen und Lesern entgegen, welche noch dabei sind, eine angemessene Leseflüssigkeit zu entwickeln. Die Bildung loka­ler und globaler Kohärenz kann bei literarischen Texten einfacher hergestellt wer­den, ihre Herausforderungen liegen in den Superstrukturen und dem Nachvollzie­hen der Darstellungsstrategien. Bei Fachtexten muss auf diesen Ebenen grundsätz­lich nichts weiter erkannt werden, da sie meistens nur eine Absicht verfolgen - zu informieren. Dies bedeutet nicht, dass nicht-literarische Texte auf höheren Ebenen nicht anspruchsvoll wären, jedoch sind sie grundsätzlich schneller durchschaubar. Vergleicht man Sachtexte mit literarischen Texten bezüglich deren Darstellungsab­sichten findet man Unterschiede: Während ein historischer Text über die Römer im 8. Jahrhundert in einem Schulbuch z. B. darauf abzielt, Daten und wichtige Namen, Orte usw. zu vermitteln, ist das Ziel eines literarischen Textes zum selben Thema nicht sofort klar, sondern bedeutungsoffener und interpretierbar. Es kann sich nur um eine leicht abgeänderte Darstellung von Tatsachen und Fakten handeln, um so ein leserfreundlicheres Angebot zu schaffen oder es könnte die fantastische Ge­schichte eines Legionärs, die rein unterhaltende Ziele verfolgt, erzählt werden. Wäh­rend der frühen Lesesozialisation spielen literarische (Kinder-)Bücher, eine tra­gende Rolle, um einen Übergang von konzeptionell mündlichen zu konzeptionell schriftlichen Textwelten zu initiieren bzw. zu vereinfachen (vgl. Rosebrock/Nix, 2015: 137-141).

3.4 Spinners elf Aspekte des literarischen Lernens

Um literarische Texte zu verstehen und zu verarbeiten, werden spezifische Fähig­keiten benötigt. Diese setzen sich nicht nur mit literarischen Texten auseinander, sondern mit allen möglichen medialen Formen (auditiv, visuell, printbasiert, digital, analog, oral), welche zur Weiterentwicklung des literarischen Lernens genutzt wer­den können (vgl. Spinner 2006: 6). Die folgenden elf Aspekte des literarischen Ler­nens schaffen einen Überblick über die verschiedenen Kompetenzen, welche durch literarische Medien entwickelt werden können und sollen. Verbindungen zu den im Mehrebenenmodell des Lesens vorgestellten Lesekompetenzen zeigen sich in den hierarchiehöheren Kompetenzen: Superstrukturen & Darstellungsstrategien, aber auch vor allem in der Subjektebene: Beteiligung, Motivation und Reflexion. Spinners elf Aspekte sind die folgenden (vgl. Spinner 2006: 8-13):

1. Beim Lesen und Hören Vorstellungen entwickeln:

Während den Leseprozessen von literarischen Texten (oder Hörbüchern) sol­len Orte, Gegenstände, Geräusche, Stimmungen und Figuren imaginiert wer­den. Diese ‘Bilder' sind dynamisch und verändern sich während der Lektüre.

2. Subjektive Involviertheit und genaue Wahrnehmung miteinander ins Spiel bringen:

Die subjektive Beteiligung und Identifikation mit literarischen Medien (bzw. deren Themen) kann die genauere Wahrnehmung derer ermöglichen. Die Selbstreflexion soll dadurch angeregt werden, längerfristige Erfahrungen be­wirkt, sowie reflexive Gespräche ermöglicht werden.

3. Sprachliche Gestaltung aufmerksam wahrnehmen:

Eine genaue Wahrnehmung von literarischen Medien schliesst die sprachli­che Gestaltung und deren ästhetische Wirkung mit ein. Der Einsatz und die Wirkungen von verschiedenen Mitteln der Rhetorik soll entdeckt und erprobt werden.

4. Perspektiven literarischer Figuren nachvollziehen:

Das Nachvollziehen von Perspektiven benötigt Imagination (1), subjektive In- volviertheit und genaue Wahrnehmung (2) sowie auch das Verstehen von narrativer und dramaturgischer Handlungslogik (5). Es müssen sowohl die innere Welt, wie auch äussere Einflüsse der Figuren erschlossen werden. Da­bei können sowohl Empathie wie auch Fremdheit gegenüber den Figuren empfunden werden. Spinner unterscheidet drei Ebenen des Nachvollziehens von Perspektiven literarischer Figuren:

i. Verstehen der Perspektive einer Figur
ii. Erkennen unterschiedlicher Perspektiven verschiedener Figuren.
iii. Vergleichen, aufeinander Beziehen von unterschiedlichen Figurenper­spektiven, sowie Miteinbeziehen der verschiedenen Lebenswelten.
iv. Erzählweise (z.B. Ironie) in die Figurendarstellung miteinbeziehen.

5. Narrative und dramaturgische Handlungslogik verstehen:

Die Weltanschauungen und Logik der Geschichte sollen erkannt werden. Dazu gehört es Textverknüpfungen und Bezüge herzustellen, die für die Be­deutung der Texte relevant sind. Verschiedene Objekte und deren Art kön­nen für die Handlungen und deren Verlauf wichtig sein, wobei die Zusam­menhänge nicht immer direkt erwähnt werden, jedoch bedeutungstragend sein können.

6. Mit Fiktionalität bewusst umgehen:

Fiktionalität zu verstehen bedeutet zu erkennen, dass es keine direkte Ver­bindung zur ‘realen' Welt geben muss, sondern dass Texte ihre eigenen Re­geln und ihre eigene Realität haben können. Es ist aber auch wichtig zu ver­stehen, dass in Texten eine Mischung aus realen Fakten und Fiktion entste­hen kann.

7. Metaphorische und symbolische Ausdrucksweise verstehen:

Sprachliche Bilder beziehungsweise Metaphorik und Symbolik zu verstehen ist nicht nur im Literaturunterricht, sondern auch im Alltag vonnöten (z.B. Maus, Schreibtisch/Desktop oder Fenster in der Computersprache). Literari­sche Medien sollen als erstes über ein natürliches Verständnis (dunkler Wald = Gefahr), dann über textuelle Bezüge, nicht nur basierend auf Annahmen (Was bedeutet der Wald in dieser Geschichte? Wo kann man dies im heraus­lesen?) und schlussendlich auch mit Hilfe von klassischen symbolischen Be­deutungen interpretiert und verstanden werden können. Es ist aber auch eine gewisse Vorsicht bei den Deutungen von Symbolen und Metaphern ange­bracht. Deutungen können nicht immer mit völliger Sicherheit erfolgen.

8. Sich auf die Unabschliessbarkeit des Sinnbildungsprozesses einlassen:

Unabschliessbarkeit von Sinnbildung bedeutet die Mehrdeutigkeit und Offen­heit der Bedeutung von Texten bzw. literarischen Medien. Sie können in ihrer Deutung oftmals nicht abgeschlossen werden, sondern eröffnen unterschied­lichen Leserinnen und Lesern verschiedene Deutungswege. Der Umgang mit dieser Offenheit und Spannung, mit der Unabschliessbarkeit soll erlernt wer­den.

9. Mit dem literarischen Gespräch vertraut werden:

Sinnbildungsprozesse von bedeutungsoffenen bzw. mehrdeutigen literari­schen Werken entwickeln sich am besten in einem offenen Gespräch. Ein solches Gespräch sollte nicht nur als Hilfsmittel gesehen werden, sondern die Fähigkeit an einem solchen Teilzunehmen als wichtige Teilkompetenz. Es soll gelernt werden Texte subjektiv (expressiv) zu interpretieren, behauptend zu interpretieren (mit Wahrheitsanspruch), erklärend (argumentierend und er­läuternd) und erörternd zu interpretieren (verschiedene Ansätze vergleichen, ohne die Mehrdeutigkeit auszuschliessen).

10. Prototypische Vorstellungen von Gattungen/Genres gewinnen:

In der Literaturdidaktik traditionell und auch bei Spinner vertreten ist das Wis­sen über genrespezifische Merkmale von literarischen Texten (Medien). Wo­bei hier auch erlernt werden soll, dass gewisse literarische Medien bewusst von typischen Mustern abweichen. Es soll ein prototypisches Wissen entwi­ckelt werden, dass situationsspezifisch angewendet werden kann.

11. Literaturhistorisches Bewusstsein entwickeln:

Ebenfalls zu den Grundsätzen des literarischen Lernens gehört es, ein Ver­ständnis darüber zu erhalten, dass literarische Medien als Reaktion auf vo­rangegangene Medien geschrieben bzw. aufgenommen werden können. Sie sind auch immer ein Spiegel der Werte und Vorstellungen einer Zeit bzw. kontrastieren diese bewusst. Wichtig ist es hier zuletzt auch, dass intertextu- elle Zusammenhänge gebildet werden können.

Spinner betont, dass er die elf Aspekte in seinen Ausführungen zwar auf tex- tuelle Medien bezogen hat, jedoch diese auch mit anderen Medien erlernt werden können. Er nennt dabei den Film als Beispiel und betont, dass eine strikte Trennung der Medien nicht sinnvoll für das literarische Lernen sei. Wie diese Aspekte auch mit Computerspielen erlernt werden können, folgt in Ka­pitel 7 der vorliegenden Arbeit.

Kurz zusammengefasst: Spinners elf Aspekte umfassen die folgenden As­pekte des literarischen Verstehens. Sie umfassen das Entwickeln von Vorstel­lungen über Texte, die genaue und persönliche Auseinandersetzung mit Tex­ten, deren Logik, Personen und Gegenständen, deren Sprache und Sinn so­wie die Kommunikation über Texte.:

1. Beim Lesen und Hören Vorstellungen entwickeln
2. Subjektive Involviertheit und genaue Wahrnehmung miteinander ins Spiel bringen
3. Sprachliche Gestaltung aufmerksam wahrnehmen
4. Perspektiven literarischer Figuren nachvollziehen
5. Narrative und dramaturgische Handlungslogik verstehen
6. Mit Fiktionalität bewusst umgehen
7. Metaphorische und symbolische Ausdrucksweise verstehen
8. Sich auf die Unabschliessbarkeit des Sinnbildungsprozesses einlassen
9. Mit dem literarischen Gespräch vertraut werden
10. Prototypische Vorstellungen von Gattungen/Genres gewinnen
11. Literaturhistorisches Bewusstsein entwickeln

4 Lesesozialisation

Sozialisation bezeichnet Prozesse, durch welche sich ein Individuum in die Gesell­schaft einpasst, sich mit deren Normen und Werten auseinandersetzt und sich diese aneignet. Sozialisation bedeutet aber nicht die komplette Anpassung, sondern auch das Finden der eigenen Identität und Rolle in der Gesellschaft. (vgl. Abels 2019: 58). In der Lesesozialisationsforschung erscheinen die Begriffe «literare Sozialisation», «Lesesozialisation» und «literarische Sozialisation» (Rosebrock, 2003: 117). Ersterer umfasst das Einleben in die schriftlichen Medien und deren Kultur. Die literare Sozi­alisation wird als Teil der gesamten Sozialisation eines Individuums angesehen. Die Lesesozialisation beschreibt einen engeren Bereich, der die Entwicklung und Auf­rechterhaltung der Fähigkeiten der Rezeption textueller Medien (digitale sowie ana­loge) umfasst. Die literarische Sozialisation wird als Kern der Lesesozialisation an­gesehen, da sich deren Prozesse, vor allem in frühen Phasen, mit und um literari­sche Jugend- und Kinderliteratur herum geschehen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Verlaufsschema der Lesesozialisation (Philipp 2011:20)

Im Jugend- und Erwachsenenalter verschiebt sich die Rezeption von Texten mehr auf Sachtexte statt auf literarische Texte (vgl. Rosebrock 2003: 117-118). Die pro­totypische Lesesozialisation verläuft in 6 verschiedenen Phasen, die sich von der Kindheit über das Schulalter, die Jugend bis hin zum Erwachsenenalter ziehen (siehe Abb. 4). Im Schema werden die besonders prägenden Quellen der Leseso­zialisation oben und unten die verschiedenen Lebensphasen dargestellt. Es wird klar, dass die Familie und vor allem die Mütter einen grossen Einfluss auf den Beginn der Sozialisation haben und ihre Kinder in die Welt der Literatur einführen, noch bevor der Schriftspracherwerb im Schulalter vollzogen wird. Sind diese Prozesse erfolgreich kann eine Phase der eigenständigen lustvollen Lektüre beginnen, die sich bis in die Pubertät hinzieht. Erfolgreiche Leserinnen und Leser lernen während dieser späten Kindheit längere Texte zu lesen, an einem Text dranzubleiben und erleben eine Phase des Viellesens. Während der Pubertät und dem Wechsel von Primar- zu Sekundarstufe müssen die Jugendlichen eine Lesekrise sowie einen Neuanfang der literarischen Sozialisation bewältigen. Es müssen neue spannende, erfüllende literarische Lektüren gefunden werden, die neben der Pflichtlektüre der Schule gelesen werden. Es zeigt sich ein Bruch zwischen schulischer und privater Lektüre: Die private Lektüre wird oft als intime und persönliche Form des Lesens aufgenommen. Im Unterricht werden aber im Gegensatz dazu meist analytische, er­klärende Aufgaben bei der Bearbeitung eines Texts (bzw. Sachtexts) verfolgt (vgl. Rosebrock/Nix 2015: 29). Damit die Anschlusskommunikation über Texte sich nicht nur auf Sachtexte beschränkt auch über literarische Texte geschehen kann, müsste in der Freizeit ein Umfeld gefunden werden, welches sich aus literarisch lesenden Peers zusammenstellt oder in der Schule ein unterstützendes Umfeld bestehen.

Die Lesekrise kann laut Philipp (2011: 20f.) in drei verschiedenen Wegen überwun­den werden, welche sich in Häufigkeit zwischen den Geschlechtern unterscheiden. (1) Erstens tendieren Jungen dazu zu Nicht- oder Weniglesern zu werden - bei ihnen findet kein Weg zum literarischen Lesen zurück statt. Ihr Lesen beschränkt sich vor allen Dingen auf Pflichtlektüre zur Informationsentnahme. (2) Die zweite, ebenfalls eher männliche, Gruppe wird zu Fach- und Sachlesern, deren Lesen interessensba­siert stattfindet und zur Wissensaneignung dient. Im Vergleich mit der ersten Gruppe, liest diese nicht nur aus Pflicht, sondern auch aus eigenem Interesse.

(3) Die weiblichen Leserinnen, also die dritte Gruppe, tendieren dazu, die Krise im Sinne der Lesesozialisation positiver zu überwinden, indem sie den Rückweg zum literarischen Lesen, dem Genuss und der Anschlusskommunikation über literarische Texte finden. Sie behalten das Lesen als genussvolle Aktivität und auch als intime, unterhaltsame Tätigkeit bei (vgl. Philipp 2011: 21f. & Rosebrock/Nix 2015: 28f.).

4.1 Einfluss des familiären Umfelds

Bereits vor dem Eintritt in die Schule beginnt für Kinder im Elternhaus die Lese- und literarische Sozialisation. Kinder erfahren von ihren Eltern, welchen Wert das Lesen hat und imitieren ihre Verhaltensweisen und Werte. Gute Voraussetzungen werden geschaffen, wenn das Lesen ein Teil des Familienlebens ist und in den Alltag einge­baut wird (vgl. Hurrelmann 2006: 164). Der Einfluss der sozialen Schichtzugehörig­keit auf die Lesesozialisation ist unbestritten. Während Familien in niedrigeren Schichten ihren Medienkonsum mehr auf elektronische statt Printmedien fokussie­ren, ändert sich dies bei mittelschichtigen Familien in Richtung von Printmedien. Die Fokussierung auf elektronische Medien bietet schlechte Voraussetzungen für eine gelingende Lesesozialisation (vgl. Hurrelmann 2006: 164 / Rosebrock 2003: 119). Bevor Kinder in die Schule eintreten und somit die Ausbildung der Lesekompeten­zen zu einem grossen Teil abgegeben wird, gehört die Leseförderung in die Hände der Eltern und der Familie. Prägende und fördernde Ereignisse sind dabei das ge­meinsame Lesen, das Vorlesen und Vorsingen, aber auch das gemeinsame, durch Anschlusskommunikation begleitete Ansehen von Geschichten durch eine Vielzahl an möglichen Geräten (Mobiltelefon, Tablet, Computer, Fernseher...). Ist das ge­meinsame Lesen und Lernen geprägt von positiven Erlebnissen, hat dies einen Ein­fluss auf die Lesemotivation bei Kindern im Vor- und Grundschulalter (vgl. Philipp 2011: 90). Das Leseverhalten der Eltern, also das Vorleben des Umgangs mit Lite­ratur beeinflusst Kinder so, dass sie dann mehr lesen, wenn es die Eltern ebenfalls tun und die bereits genannten Vorlesesituationen mit positiven Gefühlen, Wärme und Vertrautheit gelebt werden (vgl. Philipp 2011: 94f.). Auch Wortschatz, sowie Le­severstehen profitieren von gemeinsamen Leseanlässen. Wichtig dabei sind die so­zialen Komponenten, aber auch die Annäherung an konzeptionell schriftliche Textwelten (im Gegensatz zu konzeptionell mündlichen, wie z.B. in Comics), welche im Verlauf der weiteren Lesesozialisation bzw. der Lesetätigkeiten einen stetig wachsenden Teil der (Pflicht-) Lektüre darstellen werden (vgl. Philipp 2011: 97-99).

4.2 Einfluss der Schule und der Lehrkräfte

Die Schule hat als Lesesozialisationsinstanz zwei verschiedene Aufträge: Einerseits soll sie die individuellen Persönlichkeiten der Schülerinnen und Schüler und deren Entwicklung fördern. Dies geschieht durch eine Passung von Literatur und Interes­sen der Schülerinnen und Schülern und dadurch, dass man das Lesen als einen genussvollen Akt demonstriert und indem man auch im Unterricht zu Unterhaltungs­zwecken liest. Diese Orientierung passt nicht in die Leistungsanforderungen von Schule - diese fordern vergleichbare, numerische Ergebnisse und Selektion. Wie stark diese beiden Bereiche im Literaturunterricht gewichtet werden, ist von Lehr­person zu Lehrperson unterschiedlich und hat differenzierte Auswirkungen auf die verschiedenen Persönlichkeiten und die Lesesozialisation der Schülerinnen und Schüler (vgl. Philipp 2011: 102f.). Lernende, die es nicht schaffen eine Balance zwi­schen leistungsbasiertem Lesen und genussvollem Lesen, sowohl in der Schule wie auch in der Freizeit zu finden, stehen in Gefahr die Lesekrise während der Leseso­zialisation in einer negativen Weise bzw. dem literarischen, genussvollen Lesen ab­geneigten Weise zu überwinden.

Die Schule kann bei der Überwindung der Lesekrise positiven Einfluss üben, indem leistungsfokussiertes Lesen weniger stark gewichtet wird als das genussvolle und zwangslose Lesen. Lehrkräften fällt dabei eine tragende Rolle zu, nicht nur bei der Auswahl der Texte, sondern bei Aufgabenstellungen und Sozialformen des Lesens die entweder eine individuelle, produktions- und handlungsorientierte Verarbeitung von Gelesenem fördern, oder nicht. Auch den Lehrpersonen stellt sich also die Her­ausforderung, eine Balance zwischen Leistung und Genuss zu finden (vgl. Philipp 2011: 106). Positiv wirken können Lehrkräfte...:

- die ihre Schülerinnen und Schüler sowie deren Vorlieben kennen.
- welche qualitativ hochwertigen und individuelle Materialien bieten.
- die begeistert sind und dadurch begeistern können.
- welche selbst überzeugte und enthusiastische Leserinnen oder Leser sind.
- die den Schülerinnen und Schülern ein Vorbild sind und ihnen Einblick in die persönliche Lektüre und deren Verarbeitung geben. (vgl. Philipp 2011: 125ff.)

4.3 Einfluss der Peers

Ein ‘Peer' ist Jemand, der auf Augenhöhe mit einer anderen Person agiert. Peers sind untereinander gleichrangig und einander ebenbürtig. Es kann sich dabei bei­spielsweise um Schulklassen, Bekannte, langjährige oder kürzlich kennengelernte Freunde, Liebespaare oder Sportcliquen handeln. Die Angehörigen der Gruppe wir­ken mit ihren Meinungen und Haltungen gegenseitig aufeinander ein.

Im besten Falle ermutigen und motivieren sich lesende Peers gegenseitig und helfen einander, die Lesekrise während der Pubertät und den Neuanfang ihrer Lesesozia­lisation erfolgreich (in einer dem Lesen zugewandten Art) abzuschliessen. Im ge­genteiligen Fall wird das Lesen in der Peergruppe nur im Sinne der Pflichtlektüre in der Schule angesehen. Lesen wird in einem solchen Umfeld nicht mehr zur Unter­haltung oder interessensbasierten Entwicklung genutzt und das Nicht-Lesen wird ein Teil und der (Gruppen-) Identität. In beiden Fällen spielt die Anschlusskommuni­kation im Sinne des Mehrebenenmodells des Lesens eine grosse Rolle - was die Gruppe denkt widerspiegelt sich meistens im Individuum (vgl. Philipp 2011: 129f.).

Kurz zusammengefasst: Die Lesesozialisation verläuft in verschiedenen Pha­sen, die sich vom Vorschulalter bis hin zum frühen Erwachsenenalter ziehen. Während dieser Phasen wirken als erstes die Familie (Mütter), die Schule sowie das soziale Umfeld auf die Lesesozialisation ein. Besondere Aufmerk­samkeit liegt auf der frühen Lesesozialisation in der Familie, welche wegwei­send für den weiteren Verlauf sein kann, und auf der Überwindung der Lese­krise im Übergang von Primar- zu Sekundarstufe in der Pubertät. Die Schule (Lehrkräfte) sowie die Peergruppe / das soziale Umfeld kann positiv (oder negativ) auf den Verlauf der Lesesozialisation und der Lesekrise wirken.

5 Diagnostik der Lesekompetenz

Um die Lesefähigkeiten von Leserinnen und Lesern festzuhalten und zu überprüfen, wurden verschiedene Verfahren entwickelt. Genauso wie sich die Lesekompetenz in verschiedene Teilkompetenzen aufteilt, so sind auch die Diagnoseverfahren meist auf Teilbereiche der Lesekompetenz fokussiert. Solch standardisierte Verfahren sind notwendig, da eine Einschätzung seitens der Lehrpersonen oft nicht genügend genau sein kann (vgl. Lenhard 2019: 67f.). Standardisierte und normierte5 Testver­fahren kommen bei Selektions- oder Förderentscheidungen zum Einsatz und bieten sich an, um zu Beginn eines Schuljahres eine Einschätzung der Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler zu ermitteln. Bei der Interpretation der Ergebnisse kann die Leistung der Probanden mit Normwerten verglichen werden, um Mängel ausfin­dig zu machen oder ausserordentliche Leistungen zu erkennen. Ein Vergleich zwi­schen verschiedenen Testverfahren ist durch ermittelte Mittelwerte und Stan­dardabweichungen ebenfalls möglich (vgl. Lenhard 2019: 71f. & 76f.). Unter ande­rem die Leseflüssigkeit kann bei den Testverfahren in den Fokus gesetzt werden. Die Würzburger Leise Leseprobe und das Salzburger Lesescreening stellen beides solche Verfahren dar. Sie zielen auf zwei einfach festzustellende Aspekte der Le­seflüssigkeit: die Geschwindigkeit und die Genauigkeit (Fehlerzahl). Neben den bei­den Verfahren existiert innerhalb des Leseverständnistests ELFE ebenfalls ein Teil zur Diagnose der Lesegenauigkeit und -flüssigkeit (Gold 2018: 71f.). Folgend soll ein Augenmerk auf das Salzburger Lesescreening gelegt werden, da es sich dank sei­ner Einfachheit und der kurzen Einführungszeit besonders gut für die Anwendung Schulunterricht anbietet und im praktischen Teil dieser Arbeit eingesetzt wurde.

5.1.1 Salzburger Lesescreening 5-8 (SLS)

Beim Salzburger Lesescreening 5-8 handelt es sich um ein standardisiertes und normiertes Verfahren zur Feststellung der Leseflüssigkeit. Der Test greift auf die sogenannte Satzbewertungstechnik zurück: Die Probanden müssen innerhalb von drei Minuten Aussagesätze, die in ihrer Schwierigkeit ansteigen, lesen und beurtei­len (richtig oder falsch). Die Ergebnisse geben Auskunft über die Leseflüssigkeit und beinhalten auch Teile des Leseverständnisses auf lokaler Ebene (Wörter und Sätze). Die Anwendung des Tests ist einfach und ökonomisch, da ganze Klassen gleichzei­tig den Test durchführen können und die Instruktion sich kurzhält. Innerhalb von 10- 15 Minuten kann das Screening vollzogen werden. Da der Test in mehreren Versio­nen vorliegt, sind Folgetest problemlos und ohne Mehraufwand möglich (vgl. Len- hard 2019: 93f. & Suntheim 2011: 99 & 102). Ein Beispiel des Aufbaus ist in folgen­der Darstellung zu sehen:

Tabelle 2: Beispielhafte Darstellung SLS (eigene Darstellung)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Ergebnisse ergeben einen Lesequotienten, der im jeweiligen Handbuch zum Test in Normtabellen abgelesen werden kann. Die Normtabellen liegen in der in die­ser Arbeit vorliegenden Version für die Klassen 5 bis 8 und für verschiedene Schul­niveaus vor (Gesamt- und Haupt- oder Realschule sowie Gymnasium). Beispiels­weise ergibt eine Anzahl von 35 richtig beurteilten Sätzen in der 5. Schulstufe in der Haupt- oder Realschule einen Lesequotienten (LQ) von 109. Die gleiche Anzahl von korrekten Sätzen ergibt im Gymnasium einen LQ von 99 und in der 6. Schulstufe in der Haupt- oder Realschule 104 (vgl. Auer et al. 2005: 18f.). Der so gewonnene Lesequotient kann mit Hilfe von folgender Tabelle (Tab. 3) genutzt werden, um schnell und einfach Aussagen über die Leseflüssigkeit von Schülerinnen und Schü­lern verschiedener Niveaus und Schuljahren zu machen. Auch eignet sich der Test hervorragend, um die Probanden in Gruppen einzuteilen (z.B. für eine Leseförde­rung).

Wichtig zu erwähnen sei an dieser Stelle auch, dass Schülerinnen und Schüler, die eine andere Muttersprache sprechen beim Screening zu Recht als benachteiligt ge­sehen werden. Sie schnitten bei Normierungstests (vgl. Auer 2005: 7) deutlich schlechter ab als muttersprachliche Deutschlernerinnen und -lerner. Von einer ei­genen Normtabelle wurde jedoch abgesehen, da die Ergebnisse dieser Gruppen in genügender Weise in die anderen Normtabellen miteinflossen.

Tabelle 3: Lesequotient- und niveau (modifiziert, nach Auer et al. 2005: 16)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

5.1.2 Einführung / Durchführung

Für die Durchführung des Screenings benötigen die Schülerinnen und Schüler nicht mehr als einen Stift (und einen Ersatzstift). Die Lehrperson teilt vor dem Beginn allen Schülerinnen und Schülern ein Testdossier aus, wobei den Banknachbarn jeweils verschiedene Versionen ausgeteilt werden.

Als erstes wird gemeinsam das Deckblatt ausgefüllt, auf welchem Name, Datum, Klasse und vier Beispielsätze zu finden sind. Die Lehrperson erläutert in der Klasse, wie die Sätze zu bearbeiten sind und kann dies an der Tafel visualisieren. Die Schü­lerinnen und Schüler müssen bei den gelesenen Sätzen jeweils das Häkchen oder das Kreuz umkreisen, um anzuzeigen, ob der Satz wahr oder falsch ist. Auf die Schönheit der Kreise kommt es nicht an (siehe Tab. 4) Nachdem das Vorgehen ge­klärt ist, kann mit dem Test begonnen werden. Nach exakt 3 Minuten müssen die Schülerinnen und Schüler ihre Arbeit beenden (vgl. Auer 2005: 11-14).

Tabelle 4: Beispielhafte Darstellung SLS, ausgefüllt (eigene Darstellung)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

5.1.3 Auswertung

Die Auswertung der Test erfolgt durch eine Zählung der insgesamt beurteilten Sätze, abzüglich der falschen oder nicht beurteilten Sätze. Für die Auswertung lie­gen im Normallfall Auswertungsbögen vor, welche über die ausgefüllten Tests ge­legt werden können, was die Zählung vereinfacht. Die oben genannten Normtabel­len werden zum Ablesen der Lesequotienten eingesetzt. Auf der Vorderseite des Tests werden die Anzahl der bearbeiteten Sätze, die Fehler und Auslassungen so­wie der Lesequotient eingetragen.

Kurz zusammengefasst: Standardisierte und normierte Diagnoseverfahren sind nötig, weil eine genaue Einschätzung sonst schwerlich möglich ist. Die Diagnoseverfahren der Lesekompetenz zielen auf verschiedene Bereiche de­rer. Die Leseflüssigkeit steht zum Beispiel im Mittelpunkt des Salzburger Le­sescreenings - es misst die Lesegeschwindigkeit und die Lesegenauigkeit und ergibt einen Lesequotienten, mit dem sich Aussagen über das Leseniveau machen lassen. Das Lesescreening ist gut im Schulunterricht anwendbar und eignet sich auch zur Gruppenbildung.

[...]


1 Headup Games 2013

2 Comics, Jugend- und Kinderbücher sind beispielsweise eher konzeptionell mündliche Texte - Sach­bücher sind konzeptionell schriftlich veranlagt.

3 J.K. Rowling (1997-2007)

4 Semantische Netze bezeichnen die Art, in welcher Wissen angeordnet bzw. abgespeichert ist: Wer das Wort «Sport» liest, aktiviert dabei automatisch damit zusammenhängende Worte oder Berei­che wie z.B. «Fussball», «Team», «Schwitzen», «Sportkleidung».

5 Standardisierte Verfahren müssen in der Auswertung und Durchführung, sowie Interpretation völlig unabhängig von Person, Zeit und Ort sein. Die Ergebnisse müssen komplett objektiv sein. Bei normierten Verfahren werden die erhobenen Leistungen mit den Leistungen einer repräsentati­ven Vergleichsgruppe verglichen (vgl. Lenhard 2019: 72).

Ende der Leseprobe aus 131 Seiten

Details

Titel
Leseförderung und Computerspiele
Untertitel
Förderung der (basalen) Lesekompetenzen mit narrativen Computerspielen
Hochschule
Fachhochschule Nordwestschweiz  (Sek I und II)
Note
6 (Schweiz) 1 (Deutschland)
Autor
Jahr
2021
Seiten
131
Katalognummer
V1163318
ISBN (eBook)
9783346577429
ISBN (Buch)
9783346577436
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Leseförderung, Lesetraining, Lesetandem, Lautlesetandem, Computerspiele, Computerspiel, Lesen, Lesekompetenz, Lesekompetenzen, narrative Computerspiele, narratives Computerspiel, Lesesozialisation, The Inner World
Arbeit zitieren
Tobias Liedtke (Autor:in), 2021, Leseförderung und Computerspiele, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1163318

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