Leseprobe
2. Neues Zuhause in der Fremde
3. Die Vertreibung der Creek und Cherokee
3.2 Die Diaspora der Cherokee
3.3 Die Natchez: eine Diaspora-Gesellschaft?
4. Die Diaspora der Natchez
4.1 Der Weg in die Diaspora
4.2 Stabilität der Traditionen
4.3 Die Natchez heute
5. Perspektiven
6. Hinweise auf Websites
7. Literatur
Impressum
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Inhaltsverzeichnis
2. Neues Zuhause in der Fremde
3. Die Vertreibung der Creek und Cherokee
3.3 Die Natchez: eine Diaspora-Gesellschaft?
1. Vorwort
In der einschlägigen Literatur kann man häufig von der Vernichtung oder dem Ende der Natchez lesen. Beschäftigt man sich längere Zeit mit dieser ethnischen Gruppe, die ursprünglich am Unterlauf des Mississippi lebte, dann fragt man sich bald, wie diese Aussagen mit dem Selbstverständnis von Menschen in Einklang zu bringen ist, die sich immer noch oder auch wieder auf ihre Natchez-Herkunft berufen. Es mag stimmen, dass die Natchez viele Jahre lang nicht als in sich geschlossene soziale Einheit erkennbar waren. Die schlichte Existenz von Menschen, die sich während der langen Zeit, seit der Vertreibung vom Mississippi immer wieder als Natchez zu erkennen gaben und auch heute noch geben, kann jedoch keinen Augenblick geleugnet werden. Diese Gegensätze machen neugierig und lassen Arbeiten wie die vorliegende entstehen. Es sei jedoch gleich davor gewarnt, diese Arbeit könne schlüssige Antworten geben. Zunächst geht es erst einmal darum, Wege aufzuzeigen, die zu einem besseren Verständnis des Schicksals der Natchez führen können, nachdem sie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus ihrer Heimatregion fliehen mussten. Auf diesen Wegen wird man auch Erkenntnisse darüber gewinnen, wie es den Natchez gelang, über nahezu drei Jahrhunderten konsequent an vielen Teilen ihrer kulturellen Traditionen festzuhalten. Über die Migration der Natchez und die Kontinuität ihrer Traditionen ist bisher noch wenig veröffentlicht worden, nicht in den USA und noch weniger in Europa, wo bei diesem Thema so gut wie ausschließlich Neuland zu betreten ist. Vielleicht können die folgenden Ausführungen einen kleinen Anstoß liefern, das zu ändern.
Die vorliegende Arbeit geht auf eine viele Jahre zurückliegende Anregung des verstorbenen Prof. em. Wolfgang Lindig von der Goethe-Universität Frankfurt/M. zurück, der damals vorschlug, die differenzierte Gesellschaft der Natchez aus vorkolonialer Zeit einmal genauer zu untersuchen. Die Beschäftigung mit diesem Thema führte schließlich dazu, Vertreibung und Diaspora der Natchez etwas intensiver zu betrachten.
2. Neues Zuhause in der Fremde
2.1 Diaspora und Identität
Lakomäki (2014: 5 ff.) wertet die zahlreichen Wanderungen der am Ohio beheimateten Shawnee quer durch den gesamten Osten der heutigen USA als eine Form der Anpassung an die durch das Eindringen der Europäer geschaffenen Bedrohungen. Die immerwährenden Bekenntnisse der Shawnee, sich in Zukunft wieder zu vereinigen, sind für Lakomäki keine reinen Lippenbekenntnisse, sondern durchaus ernst gemeint, wie Bestrebungen zu mehr Kooperation nach dem Abzug Frankreichs zeigen. Dennoch blieben Zentralisierung und Fragmentierung in an verschiedenen Orten lebende lokale Gruppen als unterschiedliche Wege, das Überleben zu sichern, erhalten. Zwischen den einzelnen Gruppen sorgte Lakomäki (2014: 26 f., 31) zufolge ein Netzwerk aus gemeinsamen sozialen Beziehungen und religiöser Verbundenheit für die Aufrechterhaltung einer übergeordneten Identität. Selbst direkt Kontakte zwischen weit voneinander entfernt lebenden Gruppen waren möglich (Lakomäki, 2014: 33). Lakomäkis Beschreibung der Shawnee als einer Gesellschaft ohne einheitlichen Wohnort aber mit gemeinsamer Identität kann man durchaus als Skizzierung eines eigenen Gesellschaftstypus, den der Diaspora-Gesellschaft, verstehen.
Der Begriff „Diaspora“, aus dem Griechischen für „Verstreutheit“, bezog sich ursprünglich auf die Vertreibung der Jüdinnen und Juden aus dem Jerusalem der Antike. In neuerer Zeit wurden auch andere Zwangsmigrationen etwa von Afrikanern, Armeniern oder Palästinensern in diesen Begriff mit eingeschlossen (Niewand, 2018: 3 f.). Nordamerikanische und australische Sozialanthropologen (Cipolla, Lakomäki, Lilley, Smithers u.a.) haben in den letzten Jahren die Bedeutung von Vertreibung und Diaspora für die ethnologische Forschung in den Vordergrund gerückt. Am Beispiel nordamerikanischer Indigener konnte nachgewiesen werden, dass die Geschichte dieser Gruppen mit einer Integration oder Assimilation in die europäisch-amerikanische Mehrheitsgesellschaft keineswegs abgeschlossen oder beendet wurde. Die Geschichte der indigenen Bevölkerung ist kein Relikt aus der Vergangenheit, sondern dauerte bis zum heutigen Tag und dauert noch weiterhin an. Tradition und Vertreibungserfahrungen prägen die indigenen Gesellschaften weiterhin und unterscheiden sie von der Mehrheitsgesellschaft. Die übliche Definition von Diaspora, bezogen auf eine Bevölkerungsminderheit mit deutlichen Herkunftslandbezügen (Niewand, 2018: 3), wird damit auch auf Gruppen ausgedehnt, deren Rückkehr in ihr ursprüngliches Heimatland aus vielerlei Gründen ausgeschlossen ist und meist weder Wunsch noch Hoffnung hierauf besteht. Kritiker werfen diesem Diaspora-Begriff vor, zu sehr zu vereinheitlichen und interne Widersprüche innerhalb von Diaspora-Gruppen außer acht zu lassen (Niewand, 2018: 4). Für andere Forscher reicht es dagegen aus, wenn eine Diaspora-Gruppe als solche auftritt und ihre Erwartungen formuliert, um dem Begriff Diaspora gerecht zu werden (Niewand, 2018: 5).
Menschen, die sich kaum oder gar nicht kennen oder sich selten sehen, können nur dann ein Bewusstsein von einer Zusammengehörigkeit entwickeln, wenn sie sich ihrer eigenen Identität sehr sicher sind und mit ihr über einen starken Rückhalt verfügen. Der Begriff der Identität wurde ursprünglich von Erik Erikson in die modernen Sozialwissenschaften eingeführt (Smithers, 2015: 18). Für Erikson stellt die eigene Identität eine Abfolge sozialer Fähigkeiten dar, die in Wechselbeziehung stehen mit der Gruppenidentität (Noack in Jörissen und Zirfas, 2010: 38). Fogelson (in Thornton, 1998: 42) interpretiert Eriksons Konzept der Identitätsbildung als einen Prozess, in dem sich die Persönlichkeit eines Menschen durch die Art des Umgangs mit grundlegenden Lebenskonflikten formt. Hinzukommen müssen, um eine indigene Identität entstehen zu lassen, für Fogelson (in Thornton, 1998: 54) das Territorium, auf dem die Gruppenmitglieder leben, die Gemeinschaft, der sie angehören und die biologische Abstammung.
In letzter Zeit hat vor allem Smithers (2014, 2015) sich mit Fragen der Diaspora und der Identitätsbildung am Beispiel der ursprünglich in den südlichen Appalachen lebenden Cherokee auseinandergesetzt. Er schlägt einen großen Bogen, indem er auch die außerhalb Nordamerikas lebenden Cherokee in seine Untersuchung mit einbezieht und selbst bei einer solchen extrem weiten räumlichen Trennung noch ein gemeinsames Gruppenbewusstsein feststellen kann. Er warnt davor, indigene Gruppen voreilig als nicht mehr existent zu bewerten (Smithers, 2014: 6). Man versperre sich damit den Blick auf Aktivitäten, mit denen sich Indigene in die kolonialen Prozesse einbrachten. Um zu verstehen, wie Indigene unter dem Druck der kolonialen Ereignisse ein Bewusstsein von der Identität der eigenen Gruppe aufrechterhalten konnten, müsse untersucht werden, welche Traditionen aus ihrem Herkunftsland sie dorthin mitnahmen, wohin sie die kolonialen Machtverhältnisse verschlagen hatten (Smithers, 2014: 4 f.). Der Begriff der Diaspora versuche, beide Aspekte, den der indigenen Anpassungsleistungen und den der Beibehaltung traditioneller Werte, miteinander zu verbinden. Er stehe in der Tradition der „new social history“, die sich gegen eine Sichtweise wendet, die einen Gegensatz zwischen den „zivilisierten“ Europäern und den Indigenen konstruiert (Smithers, 2014: 8). Zudem sehe der Begriff Diaspora die Indigenen nicht nur als Opfer einer Entwicklung, die sie nicht beeinflussen können.
Das Bewusstsein von der eigenen Identität hängt sowohl von der eigenen Wahrnehmung als auch davon ab, wie andere einen wahrnehmen. Identität ist somit eine Folge der sozialen Interaktion eines Menschen und der sozialen Strukturen, innerhalb denen er lebt. Hieraus kann sich für Menschen in der Diaspora eine Wahrnehmung von zwei Heimatländern ergeben, das, in dem sie tatsächlich leben und das, das nur in ihrer Vorstellung besteht (Smithers, 2015: 20). Die Vorstellung von einem fernen Heimatland, in dem einst die Ahnen lebten, wird überall mit hingenommen, wo diese Menschen hinreisen oder wo sie sich niederlassen.
Als einen wichtigen Faktor, der das Bewusstsein von der eigenen Identität entscheidend prägt, erwähnt Smithers (2014: 11 f.) die Hybridisierung. Gemeint ist damit eine Vermischung europäischstämmiger und indigener Bevölkerungsteile sowohl in gesellschaftlicher als auch biologischer Hinsicht. Bei den Cherokee zum Beispiel waren es die Männer, die die Verteidigung der Siedlungen übernahmen, während die Frauen auf diplomatische Weise versuchten, einen Ausgleich zwischen streitenden Parteien herbeizuführen (Smithers, 2015: 31). Es liegt auf der Hand, dass die Untersuchung indigener Identitäten deutlich erschwert wird, wenn es zu einer Heirat eines Europäers mit einer indigenen Frau kommt. Hierdurch kann sich deren Geschlechterrolle und damit ihre eigene Wahrnehmung von ihrer Identität verändern (Smithers, 2014: 13). In matrilinearen Gesellschaften kann sie durch eine solche Verbindung ihre soziale Stellung verlieren. Ist sie nicht mehr in die traditionellen Strukturen eingebunden, dann kann sie auch nicht mehr ihre Rolle als Moderatorin ausüben. Einige Missionare bei den Cherokee befürworteten solche Mischehen, weil sie sich dadurch Unterstützung bei dem Prozess dessen, was sie unter Zivilisierung verstanden, versprachen (Smithers, 2015: 68 f.). Es gab aber durchaus Vorbehalte sowohl bei den Indigenen als auch bei den Weißen. Die einen befürchteten, dass ihre Traditionen völlig verlorengingen, und die anderen, dass ihre Vorstellungen von Zivilisierung nicht wirklich umgesetzt würden (Smithers, 2015: 71 f., 75 f.).
Eng verbunden mit der Bedeutung der Mischehen für die Gruppenidentität ist die Frage, welchen Einfluss die Abstammung auf das Bewusstsein von Menschen ausübt, die weit verstreut voneinander leben. Reicht es, um das Bewusstsein von der eigenen Herkunft zu fördern, wenn die betroffenen Personen aus Erzählungen ihrer Vorfahren von ihrer Abstammung erfahren haben? Ist es für das eigene Bewusstsein von Bedeutung, wenn man weiß, welchen Anteil die Vorfahren des jeweiligen Elternteils zur eigenen Abstammung beigetragen haben? Die Beantwortung dieser Fragen ist nicht nur von der eigenen, sondern auch von der Einschätzung anderer Menschen abhängig. Da man in jener Zeit glaubte, die Abstammung sei eine feste naturwissenschaftliche Größe und damit nicht veränderbar und auch nicht von den eigenen sozialen Beziehungen abhängig, spielte sie schon bald nach den ersten Kontakten von Indigenen mit europäischstämmigen Menschen eine Rolle. Nach der staatlichen Anerkennung indigener Nationen hoffte man, mit ihr einen verlässlichen Maßstab zu haben, um die Berechtigung eines Antrags auf Bürgerschaft beurteilen zu können. Nach den Wirren des 19. Jahrhunderts musste sich die Nation der Cherokee vermehrt mit solchen Anträgen auseinandersetzen (Smithers, 2015: 189 – 193, 198 f.). Eine Kommission, die die Richtigkeit der zahlreichen Bewerbungen um eine Bürgerschaft in der Cherokee-Nation prüfen sollte, ging diese Problematik mit deutlich bürokratischen Maßstäben an, die sich neben einer nachweisbaren Abstammung auch noch auf den Wohnort der Antragsteller vor ihrer Vertreibung fokussierten. Die Kommission verließ sich allerdings nicht nur auf Abstammung und Geografie, sondern verlangte auch kulturelle Beweise wie die Sprache oder die Praktizierung des traditionellen Glaubens (Smithers, 2015: 203). Die Notwendigkeit, die vermutete Identität und damit die Zugehörigkeit zu einer indigenen Nation zu überprüfen, besteht auch heute noch. Sie ist vor allem in jenen indigenen Nationen der USA von großer Wichtigkeit, die noch nicht über eine staatliche oder bundesstaatliche Anerkennung verfügen wie die Nation der Natchez in Oklahoma. Hier kann die Anzahl der legitimen Bürger einer solchen Nation über die Anerkennung oder Ablehnung ihres Status als eigenständige Nation entscheiden. Die moderne Genetik mag vielleicht in absehbarer Zeit einen leichteren Nachweis der Abstammung möglich machen. Wie die Kriterien der Kommission zeigen, darf man aber nicht vergessen, dass die Abstammung nur ein Faktor ist neben einer ganzen Reihe weiterer Faktoren wie etwa denen, die das Bewusstsein auf Grund sozialer Beziehungen beeinflussen.
Die in den Jahren nach dem Bürgerkrieg zunehmende Bedeutung des Territoriums zur Klärung der Cherokee-Identität weist auf die Schwierigkeiten bei der Feststellung der Abstammung hin. Mit dem Territorium war sowohl die Heimat der Ahnen in den südlichen Appalachen als auch das den Cherokee im Westen zugewiesene Land gemeint. Allerdings konkurrierten die Cherokee im Westen mit den in zunehmende Bedrängnis geratenen Plains-Indianern um Zugang zu einem Territorium, das eine relative Sicherheit für das eigene Überleben bot. Zu dieser Zeit stellten auch die Natchez einen Antrag auf Anerkennung als Bürger de Cherokee Nation (Smithers, 2015: 182). Mit dem stärker werdenden Andrang handhabte der Cherokee National Council die Zuweisung von Bürgerrechten immer restriktiver, da man ein Einsickern von Indigenen wie auch Weißen ohne wirkliche Cherokee-Identität befürchtete (Smithers, 2015: 183 f.). Mit der Verteilungspolitik, wie sie die US-amerikanische Regierung bis zur Administration Franklin Roosevelts betrieb, wurde die territoriale Integrität der Cherokee Nation ernsthaft bedroht (Smithers, 2015: 229 f.). Der Gemeinschaftsbesitz der Nation wurde zu großem Teil in indigenen Individualbesitz umgewandelt. Die Grundlage der politischen Einheit der Cherokee wurde dadurch dezimiert.
Die Identität wird Smithers (2015: 16) zufolge außerdem durch die überlieferten mythologischen Erzählungen geprägt. Bei den Cherokee tauchen in diesen Erzählungen häufig Reisen, Ortswechsel und die Deutung geografischer Begrifflichkeiten auf. Auch diese Prägungen unterliegen Veränderungen. War ursprünglich die Rückkehr in das alte Heimatland fester Bestandteil der Cherokee-Mythologie, so kamen später Erzählungen über die Ansiedlung im Westen hinzu, die jetzt im Denken der Cherokee einen breiteren Raum einnahmen.
Die sozialen und politischen Strukturen einer Gesellschaft beschreibt Smithers (2015: 17 f., 32 f.) ebenfalls als auf die Wahrnehmung der eigenen Identität Einfluss nehmende Faktoren. Die Bauwerke und Städte der Cherokee beispielsweise verbanden die sozialen Strukturen mit dem Land, auf dem sie errichtet waren. Innerhalb der Städte wurden die beiden sozialen Einheiten, die rote und die weiße Hälfte, von denen die eine für Krieg und die andere für Frieden zuständig war, organisiert. Die Südosten typischen Tempelhügel, um ein weiteres Beispiel zu nennen, erfüllten wichtige religiöse Funktionen und wirkten gemeinsam mit der Landschaft, in der sie standen, identitätsbildend. Entfernte man sich für längere Zeit von diesem Ort, so kehrte man doch immer wieder zurück. Die Bewertung der sozialen Strukturen im Denken der Menschen hängt wesentlich davon ab, welche Strukturen als geeignet für das eigene Überleben angesehen werden. Die Verfassung etwa, die sich die Cherokee nach der amerikanischen Revolution gaben, nahm deutliche Anleihen bei der US-amerikanischen. Man kann sie auch als Reaktion auf den Druck ansehen, dem die Cherokee durch den Einfall der europäischen Siedler in ihr Land ausgesetzt waren. Es war der Versuch, sich der Lebensweise der Euro-Amerikaner anzupassen, um auf diese Weise als gleichberechtigt angenommen zu werden.
Ein weiterer Identitäten formender und Identitäten am Leben haltender Faktor, den Smithers (2015: 21, 34 f.) erwähnt, sind die geschriebenen wie auch die mündlich weitergegebenen Erinnerungen. Sie haben für ihn mehrere Funktionen. Zum einen berichten sie von der Herkunft ihres Volkes, dann sollten sie auch in der Fremde die eigenen Angehörigen immer daran erinnern zurückzukehren und schließlich unterstrichen sie die spirituelle Bedeutung der Heimat. Auch die Erlebnisse während einer Vertreibung und bei der Ansiedlung in einer neuen Region beeinflussen die Erinnerungen. Man darf davon ausgehen, dass dieser Einfluss umso nachhaltiger ist, je traumatischer die Erlebnisse waren. Smithers (2015: 112 f.) spricht davon, dass die Cherokee während ihrer Migration nicht nur schreckliche physische Leiden ertragen mussten, sondern wegen der Trennung von ihrem Herkunftsland mit seiner immerwährenden Bedeutung als das Land der Ahnen auch noch psychischem Stress ausgesetzt waren. Eine Besonderheit im Südosten ist die Silbenschrift der Cherokee, mit deren Hilfe es möglich wurde, Erinnerungen unabhängig von Zeit und Raum festzuhalten. Smithers (2015: 82) sieht in ihr ein Medium, mit dessen Hilfe dem Cherokee-Verständnis von Politik und Geschichte Ausdruck verliehen werden konnte.
Außerdem war es durch sie möglich, die Verfassung sowie aktuelle politische Ereignisse über Grenzen hinweg bekannt zu machen. Sie trug auf diese Weise zur Stärkung des eigenen Gruppenbewusstseins bei. Erinnerungen können täuschen und bei jeder Weitergabe verändert werden. Schriftliche Zeugnisse unterliegen dagegen in geringerem Maße unbewussten Veränderungen, und, werden sie bewusst vorgenommen, sind sie meist erkennbar und nachvollziehbar. Vor allem nach dem Bürgerkrieg setzten die Cherokee das Schreiben von Erzählungen und Erinnerungen als Mittel ein, die Identität der Nation zu stärken (Smithers, 2015: 177).
Abbildung 1: Schrift der Cherokee (Copyright: Sweet Rocket Sky Studio)
Eine der nachhaltigsten kollektiven Erinnerungen und vielleicht die bedeutendste Erzählung im gesamten Erzählgut der Cherokee ist die vom „Pfad der Tränen“ („Trail of Tears“). Hervorgegangen aus mündlich weitergegebenen Berichten wurde sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum ersten mal unter dem Namen, unter dem sie bald landesweit bekannt wurde, schriftlich festgehalten (Smithers, 2015: 247 f.). In sie gingen zahlreiche Aspekte ein, die das kollektive Gedächtnis der Cherokee von ihrer Geschichte in Zukunft prägen sollten (Smithers, 2015: 251 – 254). Neben der Darstellung der Leiden während des Marsches nach Westen sind die Vorstellung der Alten vom Untergang des eigenen Volkes nach dem endgültigen Verlassen der traditionellen Heimat und der Wunsch der Jüngeren, Halt in einer Stärkung der verwandtschaftlichen Bindungen zu suchen, die wichtigsten Bestandteile dieser Erzählung. Enthalten sind in ihr somit traditionelle Mythen, die während der Migration erlebten Entbehrungen und Erwartungen an die Zukunft. Da diese Erinnerungen erst Jahrzehnte nach der Vertreibung aufgeschrieben wurden, darf angenommen werden, dass Ereignisse auf der Flucht nicht im Detail von allen Beteiligten in der beschriebenen Weise geteilt werden, Not und Elend auf dem Weg nach Westen jedoch von allen erlebt wurden. Die Hoffnung auf und Ängste vor der Zukunft sind wahrscheinlich jener Teil der Erzählung, der am ehesten von aktuellen Ereignissen, etwa der Landverteilungspolitik, beeinflusst ist. Von den über Jahrhunderte entstanden Mythen kann man dagegen vermuten, dass sie der stabilste Teil der Erzählung sind und ohne große Veränderungen durch die Erzählenden weitergegeben wurden.
Bedeutsam für das Bewusstsein von der eigenen Identität ist das Glaubenssystem (Smithers, 2015: 63 f.). Unter den Bedingungen des Kolonialismus konnte es zu Vermischungen traditioneller Glaubenselementen mit den Lehren christlicher Missionare kommen. Auf diese Weise wurde die Religion zu einem Vermittler und Bewahrer vorchristlichen religiösen Denkens unter einem christlichen Deckmantel. Probleme entstanden, wenn patriarchalisch orientierte Religionen auf matrilineare Strukturen trafen wie etwa im Falle des Christentums bei den indigenen Gesellschaften des Südostens. Bei den Cherokee wurde dieser Konflikt ähnlich wie bei nahezu allen Gesellschaften, die den christlichen Glauben übernahmen, zu Ungunsten der Matrilinearität aufgelöst (Smithers, 2015: 66).
Auch soziale Identitäten können sich verändern. Eine Veränderung der sozialen Identität zeigt das Beispiel der Seminolen, bei denen befreite afrikanische Sklaven, die in eigenen Gemeinden lebten, sich selbstbewusst als „die“ Seminolen bezeichneten (Smithers, 2014: 14), obwohl es noch zahlreiche weitere Menschen gab, die sich mit Recht den Seminolen zurechnen duften. Ein ähnlicher Vorgang konnte im Zusammenhang mit dem Begriff „rot“ beobachtet werden, indem Indigene sich ganz selbstbewusst von den Weißen als rot oder roter Mann abgrenzten. Im Kapitel über die Beständigkeit der Natchez-Traditionen wird hierauf näher eingegangen.
Die Faktoren, die das Bewusstsein und die Identität prägen, wirken in unterschiedlichem Maße und auf unterschiedliche Weise. Die traditionellen Verhaltensweisen und die alten Mythen sind wahrscheinlich die Faktoren, die am nachhaltigsten eine Diaspora-Gesellschaft beeinflussen und auch bei allen Menschen, die sich derselben Gesellschaft zurechnen, in gleicher Weise wirken. Die Art der Erinnerungen an die Vertreibung und an die Leiden während der Vertreibung dürften in allen Teilen einer Diaspora-Gesellschaft die gleiche sein. Jedoch werden die Personen und Familien, die die Migration nicht als gewaltsam erlebt haben oder in ihrem ursprünglichen Heimatland geblieben sind, eine andere Erinnerung haben als die, die schlimm leiden mussten. Erinnerungen, die nicht einer solchen traumatischen Prägung wie die an die Vertreibung unterlagen, sind wahrscheinlich stärker verblasst, sofern sie nicht durch schriftliche Aufzeichnungen oder durch ein bewusstes Weitererzählen von Generation zu Generation festgehalten wurden. Eine lange anhaltende Wirkung können auch die Glaubensvorstellungen entfalten. Ihre Wirksamkeit hängt maßgeblich davon ab, ob sie auch praktiziert werden. Bei der Abstammung muss man in Betracht ziehen, welchen Einflüssen eine über viele Generationen reichende Ahnenreihe ausgesetzt war. Einflüsse von außerhalb der jeweiligen Diaspora-Gesellschaft relativieren die Bedeutung der Abstammung. Hinzu kommt, dass in indigenen Gesellschaften, in denen sich europäische Einflüsse noch nicht manifestiert haben, die verwandtschaftlichen Beziehungen nicht nach biologischen Regeln geordnet werden. Inwieweit die traditionellen Verwandtschaftsbeziehungen in nicht an die Verwandtschaft gebundenen Gesellschaften noch von Belang sind, muss im Einzelfall geklärt werden. Außerdem ist deren Bedeutung sehr von der Einschätzung der nicht in Diaspora lebenden sozialen Umwelt abhängig. Politische und soziale Strukturen müssen gelebt werden, um Einfluss auf die Identität einer Gruppe ausüben zu können. Am ehesten darf man das bei an die Verwandtschaft gebundenen Strukturen erwarten. Traditionelle politische Strukturen sind in der Diaspora nicht oder nur mit großen Mühen aufrechtzuerhalten. Die deutlichsten Unterschiede in einer über viele Regionen verbreiteten Gesellschaft entstehen durch Einwirkungen seitens der Gesellschaft des gastgebenden Landes. Eine soziale Umgebung, die autoritär organisiert ist, wird bei Migranten eine andere Wirkung hinterlassen als eine, die demokratisch legitimiert ist. Eine sozial durchlässige Hierarchie bietet andere Zukunftschancen als ein wenig durchlässiger Gesellschaftsaufbau. Die politischen Absichten der jeweiligen Regierungen hinterlassen ebenfalls Spuren. So macht es einen Unterschied, ob versucht wird, die Migrantinnen und Migranten in die Mehrheitsgesellschaft zu assimilieren oder ob ihnen weitgehende Autonomie gewährt wird. Diese Einflüsse wirken ihrerseits zurück auf die traditionellen Prägungen des Identitätsbewusstseins. Die genannten Einschätzungen zeigen, dass es grundlegende Einflüsse auf die Identität einer Diaspora-Gesellschaft gibt, die unabhängig vom jeweiligen Wohnort gleichartig wirken, und, dass es Divergenzen gibt, die sich aus der räumlichen und auch der langen zeitlichen Trennung herleiten lassen.
2.2 Ethnogenese
Cipolla (2017: 1 ff.) weist darauf hin, dass die Begriffe Diaspora und Ethnogenese gemeinsam helfen können, indigene Gemeinschaften besser zu verstehen. Diese Begriffe könnten insbesondere der Archäologie Nordamerikas eine große Hilfe sein. Während Diaspora den Schwerpunkt auf den Verlust der ursprünglichen Heimat lege, werde mit Ethnogenese meist die Veränderung einer ethnischen Gemeinschaft beschrieben. Cipolla nutzt dieses Begriffspaar, um sich gegen die Auffassung zu wehren, indigene Gruppen müssten fest an einem Ort verwurzelt sein, um ihre Identität zu bewahren, und sie müssten überall dieselben kulturellen und sozialen Züge zeigen, um Indigene zu bleiben. Auch gehe es nicht nur darum, Ereignisse zu beschreiben, die irgendwann in der Vergangenheit abliefen und nach einer gewissen Zeit beendet waren. Es gelte auch, das Augenmerk darauf zu richten, dass in der Fremde aus gemeinsamen Erfahrungen etwas Neues entstehen kann. Cipollas Konzept verlässt eine rein statische Betrachtungsweise indigener Gruppen zugunsten einer dynamischen. Indigen ist demnach nicht nur der Zustand, den Europäer beim ersten Kontakt mit Indigenen beobachten konnten, sondern sind auch die Veränderungen, die die Indigenen im Laufe der Zeit selbst vorgenommen haben. Der Gegensatz zwischen europäischstämmigen und indigenen Menschen oder Kolonisten und Kolonisierten oder Kontinuität und Wandel ist in dieser Konzeption hinfällig (Cipolla, 2017: 13).
Barbara Voss (2015: 657) definiert Ethnogenese als einen aktiven Prozess, der sowohl Praktiken unterschiedlicher Vorläufer und Quellen als auch neue Praktiken, die aus unterschiedlichen Gründen entstanden sein können, einbezieht. Ethnogenese überwindet in diesem Verständnis die Gegensätzlichkeit von Kontinuität und Wandel, indem sie die Entstehungsgeschichte einer neuen Identität mit in die Betrachtung einbezieht. Indigene Identitäten gründen sich aus dieser Sichtweise nicht nur auf das, was einmal war, sondern auch auf das, was und wie es aus dem, was einmal war, geworden ist. Indigenität bezieht ihre Authentizität somit nicht allein aus dem, was überliefert worden ist. Smithers (2015: 12 f., 255) weist darauf hin, dass die Cherokee in ihrem Selbstverständnis traditionelle Sichtweisen mit neuen Aspekten vermengten. Das Bewusstsein von der eigenen Identität kann sich somit ändern und unterliegt einem ständigen Wandel. In Nordamerika gibt es zahlreiche Beispiele hierfür. Da die eigene Identität sowohl das Bewusstsein von der eigenen Person als auch das von der Gruppe, der man angehört, mitbestimmt, ist das Selbst- wie auch das Gruppenbewusstsein nicht nur von der Vergangenheit, sondern auch von der Gegenwart abhängig. Indigene dürfen also nicht nur dann als Indigene angesehen werden, wenn sie möglichst viele ethnische Überlieferungen in ihr aktuelles Leben mit einbeziehen. Im Verlauf der Ethnogenese wird die ethnische Identität durch unterschiedliche Faktoren beeinflusst. Voss (2015: 658) nennt die eigene Sichtweise, die Zuordnung von außen, das Auftreten neuer Machtverhältnisse, Wanderungsbewegungen, gemeinsame Unterdrückungserfahrungen und die Prozesse der im Südosten Nordamerikas häufig beobachteten Fission und Fusion, d. h. das Auseinanderbrechen und neu zusammenfügen von sozialen Strukturelementen. Viele dieser Faktoren lassen sich als Bedrohungen für ethnische Gruppen ansehen, gegen die sich diese mit Mitteln der Ethnogenese, also mit Anpassungsvorgängen an die neue Situation, zur Wehr setzen (Voss, 2015: 664). Allerdings sind diese Mittel auch geeignet Ungleichheiten zu rechtfertigen. Geschieht das, dann ist davon auszugehen, dass die Profiteure dieser Ungleichheit einen deutlichen Einfluss auf die Identität der ganzen Gruppe ausüben.
Der Vorgang der Fusion wurde als Zusammenfügung von Gesellschaften oder Gesellschaftsteilen (coalescent societies) zum ersten Mal von Ethridge und Hudson (Kowalewski in Pluckhahn und Ethridge, 2006: 95) beschrieben. Diese zusammengefügten Gesellschaften entstanden meist durch unter einem starken Bevölkerungsdruck stehende Flüchtlingsgruppen. Dieser Bevölkerungsdruck konnte durch Kriege, Wanderungsbewegungen oder Bevölkerungsverlust auf Grund von Epidemien entstehen. Die diesem Druck ausgesetzten Gruppen konnten, wie dies in präkolonialer Zeit auch schon häufig der Fall war, in bestehende Häuptlingstümer aufgenommen werden (Kowalewski in Pluckhahn und Ethridge, 2006: 118). Kowalewski (in Pluckhahn und Ethridge, 2006: 95) erwähnt aber auch, dass an die Stelle erblicher Häuptlingstümer neue Institutionen mit föderalem Charakter treten konnten. Diese neuen gesellschaftlichen Gruppierungen entstünden häufig an anderen Orten als ihre Vorläufer und ihre Mitglieder müssten auch nicht unbedingt dieselbe Sprache sprechen. Diese neuen Gruppen konnten, so Kowalewski (in Pluckhahn und Ethridge, 2006: 118 f.), durch gemeinsame Entscheidungen nach dem Prinzip von Übereinstimmung wie in den traditionellen Clansystemen oder nach Gesichtspunkten, die von außen, etwa durch die Kolonialmächte, an die Gruppe herangetragen wurden und dem Konsensprinzip widersprachen, geleitet werden. Kowalewski (in Pluckhahn und Ethridge, 2006: 96 – 117) beschreibt außer den nordamerikanischen Südost-Gesellschaften noch eine Reihe weiterer Gesellschaften aus unterschiedlichen Kontinenten,die unter einem solchen äußeren Druck standen, dass sie zum Mittel der Zusammenfügung griffen, um diesem Druck standzuhalten, vergleichbar mit der Vorgehensweise im Südosten, einer Methode, die offenbar weit verbreitet war. Beck (2013) hat diese Vorgänge als Zusammenbruch (collapse) und Zusammenfügung (coalescence) beschrieben. Er sieht diese Vorgänge weniger als gesellschaftliche Typisierung denn als historische Ereignisse an (Beck, 2013: 7). Sein Buch endet leider bereits mit den Anfangsjahren des 18. Jahrhunderts, sodass die Diaspora jener Gruppe, die in der vorliegenden Abhandlung eine besondere Rolle spielen, die Natchez, von diesem Zeitraum nicht erfasst wird.
Auf den ersten Eindruck könnte man annehmen, mit Ethnogenese sei eine Art sozialer Wandel gemeint. In Wirklichkeit passt der Begriff jedoch in keine Raster sozialwissenschaftlicher Theorien. Soziologische Theorien des sozialen Wandels sind entweder geschichtsphilosophisch ausgerichtet oder beschäftigen sich mit Einzelaspekten wie etwa dem Wandel von Institutionen oder dem Strukturwandel. Die konflikttheoretischen Ansätze könnten der Ethnogenese vielleicht nahekommen, erhoben aber nie den Anspruch, sich mit jenen Gesellschaften zu beschäftigen, die das Thema der Ethnologie sind. In der Geschichte ist der Begriff Ethnogenese zwar vorhanden, bezieht sich meist aber auf die Entstehung neuer Gesellschaften im Altertum. Die einstmals und vielleicht auch heute noch bedeutendste ethnologische Denkrichtung, der Funktionalismus, streift Wandlungsvorgänge eher am Rande. Die Entwicklungstheorien können mit ihren Stufenmodellen, die von einer Stufe zur nächsten zielgerichteten Fortschritt suggerieren, ethnogenetischen Vorgängen nicht gerecht werden. Am ehesten gehört Ethnogenese zu jenen Denkansätzen, die die indigenen Gesellschaften als einen selbstverständlichen Bestandteil der globalisierten Welt verstehen. In diesen Ansätzen sind nicht mehr nur europäische oder europäisch-amerikanische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Forschenden, sondern auch indigene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Umgekehrt sind Indigene nicht mehr nur Objekte der Untersuchungen, sondern bringen sich auch aktiv in diese ein.
2.3 Zusammenfassung
In Schaubild 1 werden die Kräfte, die auf Menschen einwirken, die in einer Diaspora leben müssen, vereinfacht zusammengefasst. Dabei geht es ausdrücklich nur um Menschen, die aus einer indigenen Gesellschaft stammen oder einer solchen angehören. An oberster Stelle steht das Begriffspaar Diaspora/Ethnogenese. Darunter findet man die Faktoren, die das Leben in der Diaspora prägen und beeinflussen. Hauptfaktor ist das Bewusstsein von der eigenen Identität und von der Identität der Gruppe, der man angehört. Auf die Bildung dieser Identitäten wirken wiederum eine ganze Reihe von Kräften ein, von denen die wichtigsten in das Schema aufgenommen worden sind. Wesentliche Kräfte sind die Traditionen, die wiederum abhängig sind von den Herrschaftsformen in der jeweiligen indigenen Gesellschaft, um die es geht, der Religion, den Mythen und den überlieferten Erzählungen sowie der Abstammung. Die Herrschaftsformen sind in den Gesellschaften, von denen hier die Rede ist, meist dezentrale, entweder Familiengruppen, Stämme oder Häuptlingsgesellschaften. Die Formen der Abstammung, die in diesen Gesellschaften vorherrschen, sind klassifikatorische Verwandtschaftsbeziehungen, also Verwandtschaftsformen, mit denen die Gesellschaft in Gruppen eingeteilt wird, denen die einzelnen Personen angehören. Die biologische Abstammung hat dagegen in Nordamerika erst nach dem Kontakt mit den Europäern eine Rolle gespielt. Hierzu kommen neben den Traditionen die Sprache, die Bewertung der in Diaspora lebenden Personen wie auch die der ganzen Gruppe durch Menschen, die nicht dieser Gruppe angehören, und die
Erwartungen und Zwänge durch die Mehrheitsgesellschaft, in der sich Menschen in der Diaspora zurechtfinden müssen. Die Mehrheitsgesellschaften, in die sich die indigenen Gruppen des nordamerikanischen Südostens zurückziehen mussten, waren in der Regel zentral organisiert. Rückbezüge sind auch möglich. So hat das Identitätsbewusstsein etwa Rückwirkungen auf die Sicht der Menschen der aufnehmenden Gesellschaft. Diese sind aus Gründen der Übersichtlichkeit und auch deshalb an dieser Stelle nicht berücksichtigt, da bewusst die auf die Identitäten einwirkenden Kräfte dargestellt werde sollen und nicht die, die in umgekehrte Richtung wirken.
Schaubild 1
3. Die Vertreibung der Creek und Cherokee
Die Natchez mussten gleich zweimal innerhalb von etwa 100 Jahren Vertreibungen über sich ergehen lassen. Zunächst wurden sie aus ihrer ursprünglichen Heimat am Mississippi vertrieben und dann schließlich gemeinsam mit jenen Gruppen, die sie aufgenommen hatten, aus Gegenden im Grenzgebiet zwischen den heutigen Staaten Tennessee, North- und South-Carolina und Georgia und aus Alabama, in denen sie noch kaum Gelegenheit hatten, richtig heimisch zu werden. Die größten Gemeinschaften, mit denen sie die erzwungene Migration zu teilen hatten, waren die Creek und die Cherokee. Das Vertreibungsschicksal dieser beiden Gruppen kann zudem helfen, die Begriffe Diaspora und Ethnogenese zu veranschaulichen. Die Wege von Creek und Cherokee in die Diaspora werden im folgenden Abschnitt nachgezeichnet. Danach wird näher auf das Schicksal der Natchez eingegangen.
3.1 Das Schicksal der Creek
Die Creek waren einer jener Gesellschaften des Südostens, wie auch die Cherokee, Chickasaw und Choctaw, die sich aus Teilen der zusammengebrochenen Mississippi-Gesellschaften und neu hinzugekommenen Flüchtlingsgruppen zusammensetzten. Robbie Ethridge (2003: 26 f.) beschreibt die Creek als eine Konföderation, die aus drei prähistorischen Provinzen bestand. Die Abihka- und Tallapoosa-Provinzen im heutigen Alabama bildeten wahrscheinlich die späteren Upper Creek und die Apalachicola-Provinz im heutigen Georgia die späteren Lower Creek. Zur Abihka-Provinz gehörten Teile des den Mississippi-Kulturen zugerechneten Coosa und aus ihrer Heimat geflohene Natchez und Shawnee. Auch in den beiden anderen Provinzen wurden Emigranten aus anderen Regionen aufgenommen. Die am weitesten verbreitete Sprache war das Muskogee, zu dem einige weitere Sprachen wie die der Natchez, Shawnee oder Yuchi hinzukamen (Ethridge, 2003: 30).
Ethridge (2003: 11 ff.) benennt mit dem Beginn der Baumwollwirtschaft und deren Effektivierung gegen Ende des 18. Jahrhunderts einen wesentlichen Faktor, der die Verfügung über große Landflächen zur Voraussetzung hatte. Bis zur Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten war der Handel mit Fellen und Häuten die Haupteinnahmequelle der Briten. Er basierte auf dem Tausch dieser Produkte, die die einheimischen Bewohner lieferten, gegen europäische Waren wie Eisenwaren, Gewehren und Munition. Als die Absatzmärkte in Europa mit dem Abzug der britischen Kolonialmacht zusammenbrachen, war das Ende dieses Handels gekommen. Die Mithilfe der indigenen Bevölkerung wurde überflüssig. Als eine treibende Kraft, um an die indianischen Jagdgründe zu gelangen, erwähnt Ethridge (2003: 13 ff.) die Zivilisierung der Ureinwohner auf dem Gebiet des neuen Staates oder besser das, was die europäischen Amerikaner darunter verstanden. Die Indigenen sollten zu Ackerbauern und Viehzüchtern oder zu Handwerkern gemacht werden. Die Hoffnung war, dass sie ihr Land zur Jagd nicht mehr benötigten und deshalb zum Verkauf bereit wären. Letztlich sollten sie zu amerikanischen Staatsbürgern gemacht und in die amerikanische Gesellschaft eingegliedert werden. Diese Erwartung entsprach der aufgeklärten Sichtweise, wonach die Menschen jener Welten, in denen nicht nach den europäischen Werten gelebt wurde, angeleitet werden müssten, um den Europäern ebenbürtig zu sein. Daneben gab es damals auch in den USA die Auffassung, die Indigenen seien unzivilisierte Wilde, die ausgerottet oder vertrieben werden müssten.
Um an ihr erklärtes Ziel, der Inbesitznahme des Gemeinschaftslandes der indigenen Gruppen, zu gelangen, schlossen nach erfolgreicher amerikanischer Revolution die neuen Administrationen in Washington und in den Einzelstaaten Verträge mit den bisherigen Nutzern dieses Landes. Da den Siedlern nahezu alle Mittel recht waren, die geeignet erschienen, den indigenen Gemeinschaften ihr Land abzunehmen, waren diese Verträge in der Regel nicht freiwillig zustande gekommen.
So wurde der Vertrag von Indian Springs von 1825, der den Kauf eines großen Teils des Creek-Territoriums rechtfertigen sollte, mit dem Häuptling McIntosh geschlossen, der sich nach Einschätzung von Haveman (2009: 26 – 29, 36) gerade mal auf 400 Creek von über 20000 stützen konnte. Die Mehrheit war keineswegs bereit, das Land ihrer Vorfahren zu verlassen. Der Creek National Council beschloss, den Vertrag anzufechten und die Unterzeichner zu bestrafen. McIntosh wurde exekutiert und ein Jahr später nach einer Vorsprache des obersten Creek Häuptlings in Washington der alte durch einen neuen Vertrag ersetzt, der den Verkauf des Creek-Landes in Georgia und den Rückzug aller Creek nach Alabama und die Zusicherung, dort mit Land entschädigt zu werden, vorsah. Die Siedler waren jedoch keineswegs bereit, geduldig auf das Inkrafttreten des neuen Vertrages zu warten, sondern taten ihrerseits mit Überfällen, Viehdiebstählen und Zerstörung erntereifer Felder alles, um die Creek mit Gewalt aus Georgia zu vertreiben. Gleichzeitig wurde in Alabama den Creek per Gesetz die Jagd und der Fischfang verboten und die Jurisdiktion auf das ganze Land und damit auch auf das, das den Creek zugesagt worden war, ausgedehnt (Haveman, 2009: 38). Außerdem sollte die Entschädigung des enteigneten Landes mit Geld erfolgen, was dazu führte, dass die Käufer allerlei Tricks anwandten, um den Wert des Landes zu mindern (Haveman, 2009: 40). Der ideelle Wert konnte ohnehin nicht ersetzt werden. Das Land, das den Creek als Ersatz zur Verfügung stand, war in der Regel weniger hochwertig als das, das sie verlassen mussten, und war wegen der angewachsenen Bevölkerung durch die hinzugekommenen zu den bereits ansässigen Creek außerdem sehr knapp (Haveman, 2009: 43 f.). Die Folge war eine Hungersnot insbesondere unter den Lower Creek, die bislang in Georgia lebten (Haveman, 2009: 42 f.). Berichte von Reisenden legen nahe, dass bei den schon seit langer Zeit in Alabama lebenden Upper Creek eine vergleichbare Hungersnot nicht vorhanden war (Haveman, 2009: 48).
- Arbeit zitieren
- Karl-Hermann Hörner (Autor:in), 2022, Vertreibung und Diaspora im nordamerikanischen Südosten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1165804
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