Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Begründungsfiguren für einen inklusiven Unterricht
2. Seminarbegleitende Reflexionsaufgaben
2.1. Inklusion: Begriffsentstehung, Bedeutung und Forschungsdesiderata
2.2. Das Leistungsprinzip als Selektionscharakter des deutschen Schulsystems
2.3. Inklusive Schulentwicklung
2.4. Inklusive Unterrichtsgestaltung
3. Fazit und Ausblick
4. Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung: Begründungsfiguren für einen inklusiven Unterricht
„Allen das Gleiche und jedem das Seine“ 1
Referiert Zierer (2017, S. 21) in seinem Postulat „Allen das Gleiche und jedem das Seine“ auf die Notwendigkeit einer allumfassenden, subjektzentrierten Bildungsgerechtigkeit sowie auf die gleichzeitige Öffnung institutioneller sozialer Bindungen auf der dynamischen Makroebene des Inklusionskontextes, lässt sich der dem Zitat immanente Kerngedanke eines menschenrechtlichen Universalismus ebenfalls auf die Mikroebene spezifischer Bildungsorte und somit auf den Systemkomplex der inklusiven Schulentwicklung bzw. Unterrichtsdurchführung beziehen.
In Anlehnung an diese Überlegung soll durch die „Synthese beider Grundsätze“ (Saalfrank, Zierer, 2017, ebd.) ein schulisches Inklusionsverständnis konstituiert werden, welches auf der Basis einer egalitären Differenz zwischen allen sozialen Heterogenitätsdimensionen möglichst nachhaltiges Innovationspotential für gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse in Richtung einer allgemeinen Chancengleichheit und Partizipation bereitstellt. Daraus erwachsene Strukturverhältnisse zeigen sich konkret in der Maximierung der aktiven Teilhabe aller Menschen sowie der Minimierung der Diskriminierung und sozialen Exklusion marginalisierter Randgruppen unseres Gesellschaftsgefüges. Sie dienen gleichermaßen als Initiator sowie Indikator für Handlungsmaximen, welche im Kontext des inklusiven Bildungsangebots als Leitbilder fungieren. Dabei konstituiert sich das inklusive gesellschaftliche Leben, sprich die konkrete inklusive Handlungspraxis aller Schulformen, aus der Umwälzung des Bestehenden und der Realisierung theoretischer Inklusionsparadigmen.
So stellt gerade die praktische Umsetzung von Bildung in Deutschland eine zentrale Gelenkstelle im Spiel stigmatisierender und defizitärer Merkmalskategorisierungen im dynamischen Strukturverhältnis der Gesellschaft dar. Die Ratifizierung der UN-BRK durch die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2009 als einer der größten Meilensteine in der Inklusionsdebatte verlieh den Rechten von Menschen mit Behinderungen besonders im Hinblick auf soziale Zugänglichkeit und Teilhabe sowie Gleichberechtigung, Chancengerechtigkeit und Selbstbestimmung performativen und zugleich wegweisenden Charakter. Mit besonderer Bezugnahme auf Artikel 24 wurde das Recht auf Bildung als Menschenrecht und somit als im demokratischen System der BRD einzufordernder Grundsatz der allgemeinen Menschenwürde deklariert. Dies rückt besonders Bildungsinstitutionen wie schulische Einrichtungen in den Fokus der Öffentlichkeit, repräsentieren sie doch potenzielle Ausweitungsmechanismen gesellschaftlicher Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen in allen Fragen sozialer Exklusion und Inklusion und spielen demnach eine tragende Rolle im Kontext biografischer Entscheidungen sowie der (inter-)nationalen Bildungspraxis. Die Reproduktion sozialer Ungleichheiten2 durch die Institution Schule und des dort aktuell (noch) vorherrschenden, hierarchischen Leistungsprinzips soll durch die Akzeptanz eines transnormalistischen Fähigkeitsspektrums aller Lernenden im Sinne einer inklusiven Unterrichtsgestaltung möglichst eingedämmt und sukzessive verringert werden. Bildung als wichtiger Verknüpfungspunkt unterschiedlicher sozialer Strati ist hierbei doppelt konnotiert: So kann sich eine bestehende Gesellschaft nur durch Bildung bzw. Aufklärung über Inklusion und die Weitergabe von Normen und Werten an die nächste Generation verändern und dementsprechend im Sinne der sozialen Nachhaltigkeitskomponente zur Entwicklung von Individualität und Selbstverwirklichung beitragen. Folglich besteht die sozialpolitische Notwendigkeit, allen Menschen ein möglichst differenziertes Bildungsangebot zu machen, um eine aktive, verantwortungsvolle Gesellschaft zu formen, die dem Inklusionsgedanken in grundlegender Weise gerecht wird.
Die forcierte, dichotome Einteilung unseres Sozialgefüges in eine „Zwei-KlassenGesellschaft“, welche sich größtenteils an veralteten Strukturen und Werten menschlicher „Vollkommenheit“ und Konstrukten der „Normalität“ orientiert, kann lediglich durch den Aufbruch struktureller Asymmetrien und Systemmechanismen überwunden werden. Allen Staatsbürger*innen müssen die gleichen (Bildungs-)ressourcen bereitgestellt werden, um eine all gemein zugängliche, gemeinsame und gleiche Basis zu schaffen. Aus dem reziproken Verhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum (vgl. Individuen werden durch die Gesellschaft geformt und die Gesellschaft ihrerseits konstituiert sich durch die einzelnen Individuen) ergibt sich die Neu- bzw. Restrukturierung individueller Räume, basierend auf Differenzierung und der bildungspolitischen Freiheitsoption, persönliche Bedürfnisse nach eigenem Willen und Können autonom ausüben zu dürfen (vgl. „ jedem das Seine “, ebd.). Inklusion (und somit auch Exklusion) wird sowohl im Bildungskontext als auch in anderen Bereichen des Alltags nicht in einzelnen Personen verortet, sondern entsteht erst durch soziale Interaktionen3. Als humanitäres Konstrukt bzw. sozialer Tatbestand hängt die Realisierung einer inklusiven Handlungspraxis somit von der Gesellschaft als Schaffungskomplex bzw. den einzelnen Lehrbeauftragten als exekutiven Kräften des Bildungsauftrages ab. Dies schreibt jenen wiederum ein gewisses Verantwortungsbewusstsein für die Gestaltung inklusiver Momente im Sozial- und Unterrichtsgefüge aller Schulformen zu.
2. Seminarbegleitende Reflexionsaufgaben
Auf der Grundlage von im Seminar gesichteten, wissenschaftlichen Texten zum Themenkomplex der Inklusion folgt nun eine theoriegeleitete Reflexion und empirische Auseinandersetzung mit der Relevanz von Inklusion für Schule und Unterricht.
2.1. Inklusion: Begriffsentstehung, Bedeutung und Forschungsdesiderata
Die Umsetzung einer lebendigen, schulischen Inklusionspraxis und das damit verbundene Verständnis der vollwertigen Akzeptanz und bewussten Einbeziehung von Menschen mit Behinderung in den aktuellen sozialen Systemkomplex erlang durch die Ratifizierung der UN- BRK (2009)4 in Deutschland zunehmende öffentliche und fachliche Präsenz und damit gesamtgesellschaftliche Relevanz (vgl. Wansing, 2015, S. 43). Der Begriff ist in den Artikeln der UN-Konvention auf unterschiedliche Weisen verankert, jedoch herrscht bezüglich einer genauen Definition noch stellenweise Unklarheit (ebd.). Auf der Grundlage eines modernen Gerechtigkeitskonzepts kommt dem Inklusionsbegriff gemäß des Capability Ansatzes 5 ein „deutlich normative[r], das heißt wertebasierte[r] und richtungsweisende[r] Charakter“ (ebd.) zu, der alle Mitglieder unserer Gesellschaft gerade im Bildungskontext und mittels des Instruments der inklusiven Unterrichtsgestaltung zur „selbstbestimmten sozialen Teilhabe“ (Saalfrank, Zierer, 2017, S. 35) befähigen und ihnen Unterstützung in der autonomen Befriedigung individueller (Wissens-)bedürfnisse bieten soll (vgl. Artikel 24 der UN-BRK: „Recht auf Bildung“, vgl. Wansing, 2015, S. 44). Die Übertragung der Begrifflichkeiten inclusion / inclusive aus dem englischen Sprachraum in den deutschen Diskurs stößt bei der offiziellen Übersetzung der UN-BRK auf inhaltliche Verwirrungen. So wird der Begriff der Inklusion 6 nicht explizit genannt, sondern mit dem Adjektiv integrativ übersetzt. Dies skizziert insofern eine semantische Gehaltsminderung der ursprünglichen Begriffssubstanz, als dass fälschlicherweise Assoziationen mit dem Phänomen der Integration 7 hervorgerufen werden, was eine öffentliche Argumentationsdebatte „gegen eine im Alltag [langsam] verwässer[nde] Integrationspraxis“ (Katzenbach, 2013, S. 27) anstößt. Die Markierung eines Paradigmenwechsels zwischen beiden Begriffskonzepten erklärt die grundlegende Problematik und zeigt, dass das Prinzip der Integration dem Ideal des Inklusionsgedankens auf vielfältige Weise nicht gerecht wird. So geht „Integration von einer gegebenen Gesellschaft [aus], in die integriert werden kann und soll“ (Kronauer, 2015, S. 56). Gefordert ist die Wiederherstellung zweier voneinander getrennter Gruppen (vgl. Tervooren, 2017, S. 15). „Dabei werde [jedoch] übersehen, dass auf diese Weise an der Konstruktion dieser Gruppen mitgewirkt und auf der Seite der zu Integrierenden ein Defizit platziert werde“ (ebd.), welches nur durch einseitige „Assimilationsleistung“ (Siller, 2015, S. 29) und sukzessive Anpassung an die bereits bestehende (Kern-)gruppe kompensiert werden kann. „Inklusion aber erfordert, dass gesellschaftliche Verhältnisse, die exkludieren, überwunden werden“ (Kronauer, 2010, S. 56) und „dass das Besondere integraler Bestandteil des Ganzen“ (Tervooren, 2001, S. 209, zit. nach Tervooren 2017, 15, Hervorhebung C.D.) wird. Es geht um eine „gleichberechtigt[e] Einbeziehung aller Menschen in die Gesellschaft, unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten, Einstellungen oder Beeinträchtigungen“ (Störmer, 2021, S. 20, vgl. auch Artikel 3c UN-BRK: „ inclusion in society“, Wansing, 2015, S. 46), wobei eine humanitär geschaffene Vorrangposition des Allgemeinen vor dem Besonderen 8 aufgrund des fundamentalen Abhängigkeitsverhältnisses beider Positionen zueinander zutiefst negiert wird (vgl. Tervooren, 2017, S. 16). Bezogen auf das Bildungssystem in Deutschland bedeutet diese Forderung konkret, dass - basierend auf einer internalisierten Perspektivenverschiebung - zunehmend institutionelle Strukturen mittels Schulreformen hervorgebracht werden, innerhalb derer „Kinder und Jugendlich[e] jenseits etikettierender Zuschreibungen willkommen sind und gemeinsam lernen können, wobei entsprechende Unterstützungssysteme in pädagogischer bzw. personeller sowie technischer Art installiert werden müssen“ (Saalfrank, Zierer, 2017, S. 33). Somit gehen in der deutschen Terminologie substanzielle Basisgedanken des inklusiven Beschulungskonzeptes vermeintlich „verloren“, welche bereits im Zuge der Salamanca- Erklärung (1994) - Ausgangspunkt der international geführten Inklusionsdebatte - programmatisch als Leitprinzipien festgeschrieben wurden („ every child has a fundamental right to education, and must be given the opportunity to achieve and maintain an acceptable level of learning “, ebd., S. 32). Eine bewusste Verwendung des Begriffes der Inklusion würde zudem einen direkten „Anschluss der deutschen Auseinandersetzung an internationale Entwicklungen und Diskussionen gewährleisten“ (Wansing, 2015, S. 45) und der Gefahr der selbstverständlichen Verwendung des Begriffes sowie den damit verbundenen latenten Legitimationsmechanismen von Ungleichheit und Ausschluss im gesellschaftlichen System zuwiderlaufen (vgl. Störmer, 2021, S. 22f.). Im Sinne des (schulischen) Diversity- Managements 9 sollen die unterschiedlichen Heterogenitätsdimensionen der SuS als Chance zur Bereicherung des Unterrichts und der Klassengemeinschaft gesehen werden (vgl. Eisenmann, Grimm, 2014, II). „Eigenheiten von Individuen [.] [werden] gezielt als Ressourcen zur strategischen Steuerung“ (Saalfrank, Zierer, 2017, S. 9) eines inklusiven Unterrichts genutzt. Gemäß dieses Ansatzes repräsentieren menschliche Vielfalt und erlebbare Individualität positiv konnotierte Pluralitätsformen unserer (Schul-)gesellschaft (vgl. Störmer, 2021, S. 20). Erfolgreiche, nachhaltige Inklusion als konstruktiver Prozess (vgl. Wansing, 2015, S. 46) braucht Diversity und somit die Verschiedenheit der SuS, um eine leistungsbasierte Defizitorientierung in schulischen Institutionen vollständig ausschließen zu können (vgl. Saalfrank, Zierer, 2017, S. 33). Somit begründet sich „[d]as Recht auf Inklusion im Sinne gleicher Teilhabemöglichkeiten [.] nicht aus der Unterschiedlichkeit, sondern aus der Annahme der Irrelevanz dieser Unterschiede für den gleichen Zugang“ (Siller, 2015, S. 35). Neben Diversität vervollständigen der „Aspekt der Selbstbestimmung“ (Wansing, 2015, S. 49) sowie der individuelle Autonomieanspruch als sich gegenseitig bedingende Prinzipien die Basis für die Etablierung einer gehaltvollen Inklusionstriade (ebd.). Es geht um die „Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen“ (UN-BRK, Präambel, Buchstabe n.), zit. nach ebd.) sowie um die gleichwertige Option, „gegebene Möglichkeiten (freiwillig) nicht zu nutzen“ (ebd). Der Qualitätsindex der gelebten Inklusionspraxis definiert sich u.a. in Funktion der Gesellschaft, in der wir leben (ebd., S. 51). Die vielschichtige Dynamik Letzterer hebt den zunächst „unbestimmte[n], wertneutrale[n] Prozessbegriff“ (ebd., S. 46) auf eine subjektive, wertbasierte und normorientierte Ebene, welche durch wirtschaftspolitische soziale, und kulturelle Verhältnisse verschiedene Formen annimmt. Aufgrund der „Synchronübertragung“ der sozialdemokratischen Ordnung in der BRD auf die Gestaltung der inklusiven Handlungspraxis bedingt die „Gegenwartsgesellschaft als eine (funktional) ausdifferenzierte Gesellschaft“ (ebd., S. 47) eine parallele Untergliederung des Inklusionsbestandes in Subkategorien. Gefordert ist dementsprechend eine mehrdimensionale Einbeziehung aller Menschen in Form einer „Mehrfach-Inklusion“ (ebd.). Hierbei steht v.a. die Konvergenz zwischen Theorie- und Praxiskonzept der sozialrechtlichen Teilhabe mit dem Ziel einer möglichst fundamentalen Deckungsgleichheit beider Komplexe im Fokus. Formale Forschungsdesiderata sollen konkret in der universellen „Lebenswirklichkeit“ (ebd.) aller Mitglieder der Gesellschaft abgebildet werden, um „faktische „Inklusionsrückstände““ (ebd., S. 50) in Form von „„exklusiven Zonen“ (ebd., S. 51) als Produkt des homo oeconomicus10 zu kompensieren. Inklusion birgt insofern „Innovationspotenzial für gesellschaftliche Veränderungen“ (ebd., S. 52), als dass innerhalb eines politischen Unterstützungsrahmens durch die aktive Partizipation von Menschen mit Beeinträchtigungen ein „erweiterte[s] „Normalitätsspektrum“ (ebd.) geschaffen wird, welches als „universell gültiges menschenrechtliches Prinzip“ (ebd., S. 53) allen Mitgliedern eine umfassende, selbstbestimmte und freiwillige „Teilhabe an allen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens“ (ebd.) ermöglicht. Jeder soll als gleichwertiges und handlungsfähiges Subjekt unserer Gesellschaft angesehen werden.
2.2. Das Leistungsprinzip als Selektionscharakter des deutschen Schulsystems
Das „Konzept individueller, schulischer Leistung[serbringung]“ (Sturm, 2015, S. 25) in Form von Noten, wie es aktuell im deutschen Bildungssystem und dem Habitus der „Regelschule“ (ebd., S. 27) verankert ist, sowie die daraus entstehende Leistungsgesellschaft sind immer wieder Gegenstand öffentlicher Kritik. Sie repräsentieren zentrale gesellschaftlich und schulisch „legitimiert[e und augenscheinlich] gerecht[e]“ (ebd., S. 28) Norm- und Referenzpunkte, welche wiederum ein Allokationssystem der Schule als Bildungseinrichtung etablieren, das an der institutionellen Diskriminierung und systematischen Ausgrenzung von SuS in Deutschland maßgeblich beteiligt ist („Teilhabebarrieren“, Störmer, 2021, S. 260). Die vermeintlich „objektive“ (Sturm, 2015, S.27) hierarchische Konzeption eines restriktiven, besonderen11 Raumes im Kontext der leistungsorientieren Schule entwirft parallel eine „Schattenstrukturierung“ des allgemeinen gesellschaftlichen Raumes. Jener ist ebenfalls durch die soziale, meritokratische12 (vgl. Bernasconi, Böing, 2017, S. 36) und kapitalistische Leistungsordnung organisiert. Gemäß des bourdieuschen Habitusansatzes13 spiegelt der Habitus eines Menschen, d.h. die unbewusste Inkorporierung vorgegebener Strukturen, die sich in den Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsschemata einer Person niederschlagen (vgl. Lenger et al., 2013, S. 14), „die soziale Zugehörigkeit zu einer Klasse bzw. sozialen Schicht wieder, wobei dies auch vom Individuum bewusst angestrebt wird“ (Saalfrank, Zierer, 2017, S. 20). Durch die „natürliche“ Einordnung der individuellen Position im Sozial- und Bildungsraum sowie die systembedingte Reproduktion sozialer Ungleichheit durch das schulische Leistungsprinzip (vgl. Sturm, 2015, S. 27) werden bildungs räumliche Strukturen immer weiter gefestigt. Dies macht eine Überwindung des stark etablierten „Parallelsystem[s] von allgemeinen [...] und Sonder[-S]chulen“ (Störmer, 2021, S. 274) fast unmöglich. Selbst innerhalb eines einzigen Schulsozialkomplexes lassen sich unter dem Deckmantel der Integrationsschule zahlreiche, voneinander separierte Mikro räume erkennen, finden diese doch v.a. durch die bewusste, extern gesteuerte Markierung und psychosoziale Differenzierung von Kindern mit spF fruchtbaren Boden. Das „Etikett“, was jenen besonderen (vgl. Tervooren, 2017, S. 12) SuS im Rahmen von leistungsdifferenzierenden Bildungsstandards im von Grund auf hoch selektiven, dreigliedrigen Schulsystem der BRD (vgl. Störmer, 2021, S. 265f.) aktiv verliehen wird, gibt ihnen zwar physischen Raum auf einer „Inklusions zksc///“ (ebd., Hervorhebung C.D.), hält sie jedoch in ihrer exkludierenden und zugleich mental attestierten Rolle als „„Beistellkinde[r]““ (ebd., S. 28) innerhalb des Gesamtkomplexes fortwährend gefangen. So sind Kinder mit Beeinträchtigungen „[i]m Sinne der Zugehörigkeit zwar drinnen, hinsichtlich der Teilhabe aber draußen“ (ebd.). Sie werden idR. an separate Förderschulen „ausgesondert“ („machtlose Alternativlosigkeit der Eltern“, Hackbarth, 2021) oder unter Auflösung des Klassenverbandes in eingeteilten Gruppen beschult (vgl. Prinzip der „äußeren Differenzierung“, Werning, Arndt, 2015, S. 69; vgl. Hellmich et al., 2018, S. 143) - alles mit der Begründung, „homogene“ Gruppen erhöhen den individuellen Lernerfolg (vgl. Pool Maag, Moser Opitz, 2014, S. 140). Dabei wird immer wieder auf „biologisch determinierte Begabungs[unterschiede] (Werning, Arndt, 2015, S. 256) verwiesen. Fundamental verankerte, institutionelle „top-down“-Strukturen in Form von Vergleichen und Exklusions- und Separationsprozessen gewähren ihnen schlichtweg keinen Raum innerhalb eines einzigen Inklusions ortes. Dabei ist „empirisch belegt [...], dass schulischer Bildungs(miss)erfolg nicht allein auf individuelle Leistung zurückzuführen ist, sondern in Korrelation zu gesellschaftlich relevanten Differenz- und Ungleichheitsdimensionen [...] und schulischen Kontextfaktoren steht“ (Sturm, 2015, S. 27). Es bedarf also der Entwicklung einer problemorientierten, schulischen Praxis, „die von vornherein auf Heterogenität ausgerichtet ist“ (ebd., S. 266) und durch interne Re- und Neustrukturierung den Selbstläufer der aussondernden Schule und die daraus resultierende performative Etikettierung und Stigmatisierung (vgl. Werning, Arndt, 2015, S. 69) von „„Inklusionskind[ern]““ (ebd.) bereits im Keim zu ersticken weiß. Dennoch ist es wichtig, innerhalb eines gemeinsamen Inklusions ortes universell zugängliche, inklusive „„Schonr[ä]um[e]““ (Werning, Arndt, 2015, S. 159) zu errichten, innerhalb derer sich alle Kinder „frei von falschem Konkurrenzdruck entwickeln können“ (ebd.) - ohne sich jedoch in einer fest akkreditierten (und oft marginalisierenden) Rolle wiederfinden zu müssen. Erst „[w]enn dies der Fall ist, besteht auch keine Notwendigkeit mehr, [.] besondere Gruppen von Menschen mit bestimmten Beeinträchtigungen zu markieren und sie mit einem über eine [diagnostische Leistungsmessung] gewonnenen Etikett zu versehen“ (siehe Hinz 2002, 359, zit. nach Störmer 2021, 266), denn: „Individuen sind gleichwertig, aber nicht gleichartig. Deshalb geht es auch nicht um die Individualisierung von Leistungsansprüchen, sondern um die Individualisierung von Förderarrangements, um die individuellen Entwicklungsmöglichkeiten auszuschöpfen“ (Löhrmann, 2015, S. 297). Nach Bourdieu entfaltet sich die Wirksamkeit der skizzierten Transformationsprozesse lediglich in vollem Maße, wenn die genannten Restrukturierungsmaßnahmen der sozialen Realität sowohl „im Menschen [als auch] in der Welt“ (Saalfrank, Zierer, 2017, S. 20) stattfinden. Nur wenn ein gesellschaftliches Umdenken - beginnend beim Individuum mit der Überwindung der eigenen Sozialisation - angestoßen wird, können auch Bildungsinstitutionen aller Schulformen als „Ebenbilder“ humanitärer Habitusausprägungen entsprechend reagieren (ebd., vgl. Aktion - Reaktion). „Nicht darüber hinwegtäuschen kann die Debatte jedoch, dass sich in diesen Widerständlichkeiten [...] auch eine gewisse konservative Reformresistenz der deutschen Lehrerschafft offenbart“ (Störmer, 2021, S. 265), welche in Kombination mit dem Paradoxon des „Etikettierungs-Ressourcen- Dilemma[s] des ,sonderpädagogischen Förderbedarfs‘“14 (Allan, Sturm, 2018, S. 183) eine Hürde für eine funktionierende Inklusionsrevolution darstellen. Problematisch ist eine solche Umsetzung also dann, wenn alte Einstellungen nicht zu neuen Herausforderungen passen15 bzw. eine derartige Passung im aktuellen Bildungssystem lediglich durch personenbezogene, instrumentalisierende Zuschreibung spezifischer „Etikette“ umsetzbar scheint („reduktionistisch[e] Sicht auf das menschliche Subjektvermögen“, Störmer, 2021, S. 261). Dabei ergibt sich doch der Kerngedanke der Inklusion gerade in der gegensätzlichen Praxis, nämlich in der Fokussierung auf die gesamte heterogene Lerngruppe und der förderlichen Anpassung des Systems an die individuellen Potentiale - oder, um es explizit in den Worten der deutschen Soziologin Jutta Allmendinger zu sagen: „,Die Schulen sind für die Schüler da. [...] Und zwar für die, die wir haben, und nicht für die, die wir gern hätten!“‘ (Löhrmann, 2015, S. 293).
2.3. Inklusive Schulentwicklung
Genuine inklusive Vorstellungen im Bildungsbereich erwachsen in erster Linie aus der kritischen Betrachtung der strukturellen Separierungs- und Segregationstendenzen im Begründungszusammenhang (vgl. Störmer, 2021, S. 296) des „zutiefst dysfunktionalen System[s]“ (ebd., S. 257) der Institution Schule. Es besteht eine grundlegende Divergenz zwischen den Bedürfnissen der Lernenden mit spF und den strukturellen Rahmenbedingungen (Hackbarth, 2021). Konkrete Umsetzungsstrategien inklusiver Schulentwicklung ergeben sich aus der internen Organisations-, Unterrichts- und Personalentwicklung sowie der externen sozialen „Vernetzung der Schule mit der familiären und außerschulischen Lebenswelt der [SuS]“16 (Werning, 2012, S. 58). Mithilfe einer ressourcenorientierten Ist-Analyse werden „Berührungspunkte von Inklusion mit den zentralen innerschulischen Themen und dem bestehenden Schulprofil [herausgearbeitet]“ (Erbring, 2018, S. 56) und dementsprechend ein Soll-Konzept für die weitere inklusive Schulentwicklung entworfen (ebd.). Voraussetzung hierfür ist in erster Linie „eine genaue Auseinandersetzung mit der Kategorie „Behinderung“ in de[- und re]konstruktiver Hinsicht (Tervooren, 2017, S. 23), denn es sind die starren „Korsettstrukturen“ des aktuellen Schulsystems selbst, welche Lernende mit spF in ihrer vollen Entfaltung erst be -hindern (ebd, S. 22) und die Schule als Bildungsraum zu einem „Fehler im eigenen Organismus“ erklären. Anhand des relativen Anteils an inkludierenden Elementen an einer schulischen Einrichtung lässt sich die Qualität der jeweiligen Einzelschule bestimmen. Je höher die inklusive Orientierung Letzterer, d.h. je ausgeprägter die qualitative Reduktion von Bildungsbenachteiligung sowie die gleichzeitige Anerkennung und Wertschätzung- und schöpfung der individuellen Dispositionen der SuS, desto „besser“ und „fortschrittlicher“ ist die Schule. Inklusion wird dementsprechend als ein „offizielles“ institutionelles Auszeichnungselement einer bestimmten Güteklasse an schulischer Bildungseinrichtung deklariert und etabliert somit einen positiven Gegenhorizont zu institutionellen Diskriminierungsstrukturen. „[D]ie Kontrolle der Qualitätsentwicklung [der Einzelschule wird] über eine Outcome-Steuerung“ (Werning, 2012, S. 49) gewährleistet, welche sich aufgrund der bewussten Negierung standardisierter Leistungsmessungen (vgl. Hinz, 2015, S. 326) in Form von Noten und konkurrenzfördernden Tests „zugunsten eines sozialwissenschaftlichen Verständnisses [.] von einer essentialistischen Perspektive“ (Sturm, 2015, S. 26) abkehrt. Der sogenannte „Index für Inklusion17 [, Maß für die Eruierung inklusiver Schulentwicklung,] verortet die Qualität von Schule da, wo sie [.] hingehört [, nämlich] in der Schule selbst (Hinz, 2015, S. 326). „Er [der Index für Inklusion] nimmt also nicht nur die Situation eines Kindes in den Blick, sondern bezieht sich systemisch auf die ganze Einrichtung“ (ebd.) (vgl. 2.2. Abwendung von personenbezogener Zuschreibung und Etikettierung). Somit bedient der Index den fundamentalen Wunsch nach einer Perspektivenverschiebung (vgl. 2.1.) in Richtung „des willkommen heißenden Umgangs mit Vielfalt“ (ebd.), d.h. der strukturellen Öffnung der Einzelschule nach außen. Gleichzeitig wird er von der kritischen Reflexion „scheinbar unverrückbare[r] Normalitäten“ (Werning, 2012, S. 54) gespeist und zielt auf eine vollständige Passung aller mitwirkender Strukturen ab. Passung meint hier weniger die notwendige Änderung des Habitus der Akteur*innen (vgl. 2.2.), sondern vielmehr die (An)-passung des zugrunde liegenden, „trägen“ Systems an „individuell[e] Lern-und Entwicklungspläne“ (ebd., S. 50) („Die Voraussetzung für Schulentwicklung [besteht darin], dass [.] [die] Schule als System [gedacht wird] und sich nicht auf Pädagogik bzw. Unterricht reduziert“ (Erbring, 2018, S. 56, Hervorhebung C.D.). Eine „harmonische“ Adaption inklusiver Praktiken kann nur erfolgen, wenn das systemische Grundgerüst auf eben diese Forderungen vorbereitet und entsprechend bedarfsorientiert ausgerichtet ist, gibt es ihnen doch das notwendige Startkapital an Ressourcen und vermeidet eine oft kritisch in Szene gesetzte Überforderung mit neu geforderten Kompetenzen (ebd.).
„Der Inhalt des Index basiert auf einigen Schlüsselkompetenzen [Reflexion über inklusive Schulentwicklung], bietet ein Vorgehen [Rahmen und Materialien für die Analyse] an und schlägt eine inhaltliche Systematik vor“ (Hinz, 2015, S. 326; vgl. Boban, Hinz, 2003, S. 9). Die Umsetzung folgt dabei „eine[m] Katalog [an] prüfbaren Kriterien“ (ebd.) auf den unterschiedlichen Ebenen des Unterrichts sowie der Organisations- und Personalentwicklung (Professionalisierungsaspekt im Sinne einer „,lernenden Organisation“‘, Werning, 2012, S. 53) und fußt auf einem stufenhaften Modellkonzept (vgl. ebd. ff.). Letzteres zeichnet sich besonders durch die Bedeutung einer eigenen Schulkultur, der kompetenten Leitung durch eine starke Schulleitung18, der internen pädagogisch-strukturellen Flexibilität sowie der Unterstützungsleistung durch die Bildungspolitik- und verwaltung aus (ebd., S. 51). Es geht also um eine individuumszentrierte, „bottom-up“-Entwicklung eines konsensuellen Leitbildes für inklusive Schulentwicklung, welches - basierend auf intrinsisch formulierten Zielen und Wertvorstellungen - als Ideal und gleichzeitig als „pädagogische Perspektive für die [Qualität und das Klima] der Institution [formuliert wird]“ (ebd., S. 54). „Es [das Leitbild] soll nach innen allen Beteiligten eine einheitliche Orientierung geben und Identifikation und Motivation ermöglichen [, n]ach außen repräsentiert es das Image der Schule“ (Nachtwey, Rebig, 2018, S. 125). Bezüglich der Applikationsmöglichkeiten des Index ist sich die aktuelle Forschung darüber einig, dass es „nicht den einen ‘richtigen‘ [, standardisierten] Weg“ (Boban, Hinz, 2003, S.9, vgl. Hinz, 2015, S. 326) der Index-Nutzung gibt. So darf und muss „[b]ei der Entwicklung inklusiver Schulen nicht auf optimale Bedingungen [zeitlicher, technischer oder aber ebenenspezifischer Natur] gewartet werden“ (Werning, 2012, S. 58). Vielmehr ergibt sich der Motor eines solchen Planungsprozesses in dem Bewusstsein, sich aktiv an der realen Lebenswelt der SuS zu orientieren und darauf mit „gemeinsame[m] Engagement]in Form von kooperierenden Teams“ (ebd., S. 52, 55f.) reagieren zu wollen. Inklusive Schulentwicklung wird demnach vorwiegend als „Lifestyle“ (Gebhardt, 2015, S. 334) angesehen, dessen „Lebenswirklichkeit“ (Wansing, 2015, S. 49, vgl. 2.1.) problemorientiert und prozesshaft19 (vgl. Inklusion als Prozess, 2.1.) (vgl. Werning, Arndt, 2015, S. 57) Bewegung in die bislang noch starren Strukturen des Bildungs-und Schulsystems bringt („,Thus an inclusive school is one that is on the move, rather than one that has reached a perfect state”', Ainscow et al., 2006, S. 25, zit. nach Werning 2012, 58, Hervorhebung C.D.).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Schulsystem in seiner aktuellen Umsetzung keinen Raum für inklusive Strukturen zulässt20, d.h. inklusive Beschulung (noch) nicht im Modus der Selbstverständlichkeit erfolgt. Das Engagement, solch strukturell verankerte Ungleichheitsverhältnisse zu minimieren, darf sich demnach nicht nur auf Einzelpersonen (z.B. Lehrkräfte) beschränken, sondern sollte gerade im Hinblick auf unterstützende Elternarbeit im Kollektiv erfolgen (vgl. Hackbarth, 2021).
2.4. Inklusive Unterrichtsgestaltung
Inklusive Unterrichtsgestaltung und perspektivgebundene, lerner*innenorientierte Binnendifferenzierung stellen zwei eng miteinander verflochtene pädagogische Konzepte dar (vgl. Prengel, 2013; Textor, 2015, zit. nach Hellmich et al. 2018, 155). Ein inklusiver LehrLernprozess sollte auf die unterschiedlichen Bedürfnisse einer heterogenen Lerngruppe abgestimmt sein. Als Teilaspekt der inklusiven Schulentwicklung21 (vgl. Rolff, 2007, zit. nach Werning, Arndt 2015, 57) wird auch bei der konkreten Umsetzung von Inklusion im Unterricht darauf hingewiesen, „dass es nicht [...] den guten, inklusiven Unterricht“ (Werning, Arndt, 2015, S. 86) in forma gibt. Gerade im Hinblick auf die Vielfalt der Pädagog*innen und Lernenden (vgl. ebd., S. 86) werden eher viele unterschiedliche Wege eingefordert, welche v.a. „Fragen der Umsetzung unterrichtsintegrierter Differenzierung [berühren] (Hellmich et al., 2018, S. 155). Betrachtet man somit [innere Differenzierung] als zentrales Element inklusiven Lernens und als Thema schulischer Entwicklungs- und Evaluationsprozesse“ (ebd.), wird schnell deutlich, dass „sich inklusiver Unterricht nicht grundlegend vo[m] herkömmlichen (guten) [.] Unterricht an Regelschulen [unterscheidet bzw. nicht unterscheiden sollte] (Werning, Arndt, 2015, S. 60, Hervorhebung C.D.). Allerdings ist auch „[d]ie Bewertung und damit das, was als guter Unterricht verstanden wird, [.] perspektivgebunden [...] und [somit] abhängig von unterschiedlichen Maßstäben, Erwartungen und Orientierungen“ (ebd.). Im Sinne des Qualitätsbegriffes (vgl. 2.3.) zählt die „,Anschlussfähigkeit der Lehre an die Lernenden zu einem Schlüsselkriterium für [ein gelungenes Classroom Management22 ]“‘ (ebd., S. 61) („,the importance of teaching the same thing in different ways to different students, and of teaching different things in different ways to the same students“‘, Ainscow, Dyson, Goldrick, West, 2012, S. 203, zit. nach ebd.). Diese konkrete, didaktische Maßnahmenforderung erfährt im Hinblick auf ein inklusives Unterrichtsgeschehen genau dann eine langfristig stabile Passung (vgl. 2.2./2.3.), wenn sie mit „eine[r] erweiterte[n] Betrachtung“ (Werning, Arndt, 2015, S. 61), d.h. einer grundlegenden Perspektiv- und Verständnisausweitung sowohl auf Seiten der Lehrenden als auch auf Seiten der Lernenden einhergeht, denn: „Unterrichtsqualität als Synchronisierungsqualität [stellt einen] Prozess der Ko-Konstruktion“23 (ebd., S. 63) beider Parteien dar. Erziehungswissenschaftliche Postulate, welche bislang nur im Mikro raum der Regelschule Gehör fanden, erfahren demnach auch im inklusiven Unterrichtssetting spezifischen Praxisbezug. So soll mithilfe von pädagogischen „Idealen“ bisheriger Unterrichtsführung ein Makro raum für Bildungsvermittlung geschaffen werden, welcher sich im Hinblick auf exponentielle Individualisierungsstrukturen immer weiter in Richtung Heterogenität und universelle Teilhabemöglichkeiten aller Lernenden im ganzen Klassen raum entfaltet. Eine solch „optimale“ (inklusive) Unterrichtsgestaltung beruft sich auf die Herstellung eines lerner*innenaktivierenden sowie motivierenden, harmonischen und lernförderlichen Klassenklimas (vgl. ebd., S. 64), der „Orientierung [am] Vorwissen, den Interessen [, Kompetenzen] und Bedürfnissen der [SuS]“ (ebd., vgl. auch: „Selbstbestimmungsprinzip“, Bernasconi, 2017, S. 208) sowie auf eine lebens-und handlungsorientierte, kultursensible und strukturierte Unterrichtsführung (ebd). Generell erscheinen die Zerlegung von Aufgaben in Teilschritte, die differenzierte und individualisierte Anpassung des Schwierigkeitsgrades sowie die Kommunikation im bzw. über den Unterricht in Form von konstruktivem Feedback als besonders wichtig (ebd., S. 65). Weiter wird im Zusammenhang mit inklusiver Beschulung auch die Kooperation innerhalb des Kollegiums sowie die „multiprofessionelle Zusammenarbeit“ (ebd., S. 55) zwischen Fachkräften (v.a. Lehrkräfte, Inklusionshelfer*innen etc.) als wichtiger Basisfaktor für die Gestaltung eines auf Inklusion ausgerichteten Unterrichts betont. Inklusionsbezogene „Wertorientierungen werden [...] nicht [nur] durch spezielle Unterrichtsformen gefördert, sondern durch eine lebendige Schulkultur“ (ebd. 61), wobei die Lehrkraft als erste und v.a. wichtigste Vermittlungsinstanz dieser Schlüsselqualifikationen auftritt.
Auf eben diese Zielsetzungen wurde speziell in der Studie von Pool Maag und Moser Opitz (2014)24 zur Umsetzung inklusiven Unterrichts verwiesen. Die Gegenüberstellung zweier Fälle mit unterschiedlicher Wahl des „optimalen“ Förderortes von SuS mit spF macht die Studie für die vorliegende Seminararbeit und besonders für die vorangegangenen Reflexionsansätze zur emotionalen Behaftung von physischen Räumen im Unterrichtskomplex interessant (vgl. u.a. 2.2. ). Während der „ideale“ Differenzierungsansatz der Inklusionspädagogik (vgl. Fall A25 ) - ein mono lokaler Bildungs raum für alle Lernenden - zwar eine universelle Teilhabe sowie eine „ganzheitliche Wahrnehmung der [SuS] in allen Lernsituationen“ (Pool Maag, Moser Opitz, 2014, S. 142) gewährleistet, kann eine solche Arbeitsweise, trotz Binnendifferenzierung von Seiten der Lehrkraft, zu leistungsbezogenen Vergleichen und somit zu autokonstruktiv geschaffener Stigmatisierung im Individuum mit spF selbst führen („geringere[s] leistungsbezogene[s] Selbstkonzept“, ebd. , S. 144). Eine räumliche Separierung der Unterrichtssituation (Fall B26 ) minimiere hingegen einen offenen und direkten „Leistungskampf“ und erhöhe sogar die Chancen auf eine „maximale Adaptivität der Förderung“ (ebd.), läuft jedoch dem Grundkonzept inklusiven Unterrichts zutiefst entgegen. Es wird also deutlich, dass die Prozesse der Raumgebung und Raumkonstruktion besonders für SuS mit spF innerhalb eines auf Inklusion ausgerichteten Schulsozialkomplexes in erster Linie durch die strukturell verankerte, standardisierte Leistungsbewertung legitimiert werden. Dieses bildet den grundlegenden Motor in der Spirale der potenziellen Spannungsfelder inklusiver Unterrichtsgestaltung und gleichermaßen die Bremse für den Startschuss eines gewinnbringenden Inklusionsprozesses („inclusion and the standard agenda are in conflict because they imply different views of whats makes an improved school, different ways of thinking about achievements and different routes for raising them”, Ainscow et al., 2006, S. 12, zit. nach Werning, Arndt, 2015, S. 67). Es kann im aktuellen Leistungssystem de facto keine, das Hauptpostulat der Unterrichtsinklusion zufriedenstellende, Arbeit am „gemeinsame[n Lerng]egenstand“ (Pool Maag, Moser Opitz, 2014, S. 139) geben. „Kompensationsversuche“ durch innere bzw. Binnen-Differenzierung der Lehrpersonen sind zwar eine angemessene didaktische Maßnahme im „Soll-Komplex“ der Inklusion, stellen jedoch im „Ist-Zustand“ (vgl. 2.3. ) des aktuellen Leistungsprinzips lediglich einen Tropfen auf den heißen Stein dar (vgl. fehlende Passung zwischen didaktischen Bausteinen und systemischem Grundgerüst, vgl. 2.2./2.3.). Die unterschiedlichen Spannungsfelder, die im Kontext der Inklusion im Unterricht auftreten, sind als mehrdimensionale Herausforderungen zu verstehen, welche perspektiven- und somit subjektbezogen konstruiert werden. „Während für die [Lehrkräfte beispielsweise] der Umgang mit der leistungsmäßigen Heterogenität eine große Herausforderung [darstellt], ist es für Förderlehrkräfte [...] die Teamarbeit sowie die Aufgabe, bei den [Lehrpersonen] eine Haltungsänderung im Sinne einer positiven Einstellung zur Inklusion erreichen zu können“ (Pool Maag, Moser Opitz, 2014, S. 133), jedoch stehen beide Seiten vor der Herausforderung des Mangels an Ressourcen auf verschiedenen Ebenen (ebd., S. 142).
Kann Schulunterricht überhaupt gleichzeitig effektiv und inklusiv sein (ebd., S. 145)?
Welche Gestalt nimmt „optimale“ inklusive Förderung für alle Heterogenitätsdimensionen speziell an und wie lässt sich diese mit dem perspektivgebundenen Setting des Unterrichtsgeschehens konkret vereinbaren?
[...]
1 zit. nach Saalfrank, Zierer 2017, 21
2 Vgl. 2.2.: Bourdieu: Habitusbedingte Reproduktion sozialer Ungleichheit durch schulische Institutionen
3 Hinweis auf das interdisziplinäre Forschungsfeld der „Disability Studies“, welche Behinderung (und damit einhergehend auch Exklusion und Inklusion) als gesellschaftliche/soziale Konstruktion beschreibt (Biewer, 2017, S. 180ff.)
4 Beschluss der UN-BRK bereits im Jahre 2006 durch die Vereinten Nationen
5 Nach Martha Nussbaum: Ethisch-politischer Ansatz, der „eine normative Gerechtigkeitstheorie auf der Basis der menschlichen Würde darlegen und das gehaltvolle Leben realisierbar machen“ (Nussbaum, 2011, S.48 zit. nach Özdemir 2019, 188) soll; menschliche Entwicklung und Entfaltung als soziale Veränderungen sind nur durch systemgebundene Unterstützung der potenziellen, individuellen Fähigkeiten möglich (auch: „Humak DcvcTopmckt Approach”) (ebd., S.189-190).
6 Von lat. includere: einschließen (vgl. Störmer, 2021, S. 21)
7 Von lat. integrare: wiederherstellen, ergänzen (ebd.)
8 Das Allgemeine als Metapher für die „Regelgesellschaft“/„Regelschule“ für das „nichtbehinderte“ Kind (Tervooren, 2017, S. 12) vs. das Besondere als Überbegriff für marginalisierte Randgruppen, u.a. (körperlich / kognitiv) beeinträchtigte Menschen, sprachliche/kulturelle/ethnische Minoritäten etc.
9 Ergänzung: „ Diversity Management [bedeutet], dass die Vielfalt als besondere Chance wahrgenommen wird“ (Saalfrank, Zierer, 2017, S.9, Hervorhebung C.D.); „Aktivierung und Nutzung sich gegenseitig ergänzender Potenziale“ (ebd.)
10 homo oeconomicus: Personifizierung „der ökonomischen, auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Eigenlogik des kapitalistischen Wirtschaftssystems im globalisierten Wettbewerb“; „Orientierung an [.] Leistungsfähigkeit und ökonomische[r] Verwertbarkeit“ (Wansing, 2015, S. 51)
11 „besonders“ hier: die „ausgewählte“ Gruppe der regelbeschulten SuS (gegensätzlicher Sinngehalt zu 2.1., vgl. Tervooren, 2017, S. 12)
12 „Das meritokratische Prinzip fungiert [.] als Legitimationsgrundlage für die Verteilung gesellschaftlicher Güter. [.] Der Status eines Menschen, seine Bildungsmöglichkeiten und seine beruflichen Chancen, werden demnach ausschließlich durch seine Leistung legitimiert“ (Bernasconi, Böing, 2017, S. 36).
13 Pierre Bourdieu (1930-2002): frz. Philosoph u. Soziologe: Analyse der Rolle „objektiv gegebener und sozial ungleicher Strukturen in der Gesellschaft [.] in Bezug auf die Herausbildung subjektiver Denk- und Handlungsmuster [.]“ (Saalfrank, Zierer, 2017, S. 20)
14 Bereitstellung von Ressourcen (personell/finanziell etc.) nur mittels personenbezogener Zuschreibung eines spF (Etikettierung); Exklusion und Inklusion bedingen sich gegenseitig bzw. Exklusion kann unter bestimmten Umständen erst zur Inklusion führen (vgl. Saalfrank, Zierer, 2017, S. 12).
15 Vgl.: Gemäß des bourdieuschen Ansatzes ergibt sich das Grundproblem in der temporär verschobenen Transformation der sozialen Realität: Während sich die „äußere Welt“ als „neue Herausforderung“ bereits in Richtung einer inklusiven Unterrichtsgestaltung verändert, „hinkt“ der Habitus der Lehrerschaft hinterher; jedoch können Änderungen nur wirksam werden, wenn die soziale Realität „innerhalb und außerhalb der Akteur[*innen]“ (Bourdieu & Waquant, 1996, S. 161, zit. nach Saalfrank, Zierer 2017, 20) eine Änderung erfährt.
16 vgl. auch 2.1.: Definition des Qualitätsindex der gelebten Inklusionspraxis u.a. in Funktion der Gesellschaft (vgl. Wansing, 2015, S. 49)
17 Ursprünglich: „ Index for Inclusion “, entwickelt in Großbritannien und erstmals eingesetzt an englischen Grund, Sekundar- und Sonderschulen u. Schulämtern im Jahre 2000; zweite veröffentlichte englische Fassung im Jahre 2002; Ziel: Stärkung des Bewusstseins für inklusive Schulentwicklung, Entwicklung eines inklusiven Leitbildes und aktive Nutzung der produktiven Vielfalt in der Klassengemeinschaft (vgl. Boban, Hinz, 2003, S. 8; Hinz, 2015, S. 326).
18 Ergänzung: „Capacity Building“-Ansatz nach Maag Merki: „Diesem Ansatz folgend sollen Schulleitungen befähigt werden, auf der Basis geteilter Normen und Ziele interne Schulentwicklungsprozesse zu initiieren, langfristig und nachhaltig zu verfolgen und dafür notwendige sowie sinnvolle Kooperations- und Austauschforen zu implementieren“ (Maag Merki 2015, zit. nach Tellisch 2020, 34f.).
19 Vgl. hier auch: Vier Phasen des Schulentwicklungs prozesses nach Schratz (2003) (vgl. Werning, 2012, S. 52)
20 Diese Feststellung trifft auf die aktuelle Situation in der BRD zu. Ein Gegenbeispiel wäre die Schweiz, deren Bildungssystem sich durch ein hohes Maß an inklusiven Strukturen auszeichnet (Hackbarth, 2021).
21 Vgl. in Verknüpfung mit Personal- und Unterrichtsentwicklung (Werning, Arndt, 2015, S. 57, vgl. auch 2.1. Inklusive Schulentwicklung)
22 „Classroom Management beschreibt ein Beziehungsgeflecht (Haag & Streber 2013), welches die Organisation und die Regulation von Unterricht sowie die Kommunikation im Unterricht umfasst“ (Syring, 2017, S. 29).
23 Vgl. Mehrebenentheoretisch erweitertes Angebot-Nutzungsmodell nach Fend (2008b, S.22) (vgl. Werning, Arndt, 2015, S. 62f.)
24 Explorativ-empirische Interviewstudie (2014), Befragung von 14 Kooperationspaaren zu inklusivem Unterricht, effektiver Förderung, Zusammenarbeit, innerer Differenzierung, Einstellungen zur sozialen Inklusion
25 Fall A: „schulklima-inklusionsorientiert“ (Kuhl, Moser, Schäfer, Redlich, 2013, zit. nach Pool Maag, Moser Opitz 2014, 142)
26 Fall B: „individuell-förderbezogen“ (ebd.)