Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Teil I Sozialpolitik in Deutschland und der Europäischen Union
1.1. Was ist Sozialpolitik?
1.2. Die europäische Dimension von Sozialpolitik
1.3. Die soziale Dimension des EU-Binnenmarktes
1.4. Grundrechtecharta der Europäischen Union (2000)
Teil II Soziale Arbeit in Deutschland und der Europäischen Union
2.1. Was ist Soziale Arbeit?
2.2. (Deutsche) Soziale Arbeit in der Europäischen Union oder Europäische Soziale Arbeit?
2.3. Möglichkeiten und Grenzen Sozialer Arbeit in Deutschland im Rahmen Europäischer Sozialpolitik
2.3.1. Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession
2.3.2. Migration und nationale Inklusion
2.3.3. Transnationalität und Soziale Arbeit
2.3.4. Sprachkompetenzen und Sprachbarrieren
2.3.5. Soziale Arbeit und der ESF
Teil III Zusammenfassung, Fazit und Ausblick
Literatur
Einleitung
Sozialleistungen in Europa sind in hohem Maße heterogen. Anspruchs- und Leistungsunterscheidungen und Gerechtigkeitskonzeptionen folgen sehr unterschiedlichen Logiken. Dies ist der historischen Entwicklung der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union (EU) geschuldet.
„Die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten beziehen sich auf das jeweilige staatliche Territorium. Ansprüche auf Sozialleistungen beruhen auf nationalen Gesetzen und sind zugeschnitten auf die Lebensverhältnisse in einem bestimmten Gebiet. Sie berücksichtigen in der Regel keine Tatbestände, die auf anderen Staatsgebieten eingetreten sind. Dies ist der Inhalt des Territorialitätsprinzips, das unser Recht der sozialen Sicherung, aber auch das entsprechende Recht der anderen Mitgliedstaaten beherrscht.“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017: 143)
In diesem Beitrag werden wesentliche Aspekte der Herausforderungen an Soziale Arbeit unter den Rahmenbedingungen nationalstaatlicher und europäischer Sozialpolitik aufgezeigt. Im ersten Teil wird nach einer kurzen Abhandlung zur Sozialpolitik in Deutschland und der EU im Allgemeinen detaillierter auf die europäische Dimension von Sozialpolitik, die soziale Dimension des europäischen Binnenmarktes und die Grundrechtecharta der EU eingegangen werden. Nach der Analyse der sozialpolitisch gestalteten Rahmenbedingungen der EU wendet sich Teil II der Sozialen Arbeit zu. Eine kurze Hinführung zur grundlegenden Thematik der Sozialen Arbeit folgt eine Darlegung der Positionierung und Entwicklung von Wissenschaft und Profession Sozialer Arbeit aus nationalstaatlichem und europäischem Blickwinkel. Ausgestattet mit den Perspektiven auf europäische Sozialpolitik und europäische Soziale Arbeit können weitere spezifische Herausforderungen für die Soziale Arbeit in den Blick genommen werden. Als wichtig erachtet werden in diesem Beitrag die Auseinandersetzung mit normensetzenden Menschrechten, Normierungen von Migration, Inklusion und Sprache und die Erweiterung des professionellen Blickwinkels auf eine transnationale Perspektive. Abschließend soll hier auf das Risiko der Prekarisierung der Sozialen Arbeit und die Dominanz ökonomischer Logiken unter den Rahmenbedingungen der Projektfinanzierungen durch den Europäischen Sozialfond (ESF) eingegangen werden. Im dritten Teil werden alle darlegten Wissensbestände zusammengetragen, analytisch beurteilt und mit Handlungsaspekten für die Soziale Arbeit ergänzt.
Teil 1
Sozialpolitik in Deutschland und der Europäischen Union
1.1. Was ist Sozialpolitik?
Die Leitideen von (deutscher) Sozialpolitik orientieren sich an Problemen unterstützungsbedürftiger gesellschaftlicher Gruppen und gesamtgesellschaftlichen Grundfragen. So galt es etwa im Kaiserreich neben Erfordernissen der sozialen Sicherung der Arbeiterschaft auch den innerstaatlichen Frieden sicherzustellen. Der per Verfassung zur Herstellung rechtlicher Gleichheit verpflichtete demokratische Staat kann jedoch angesichts der Freiheitsrechte des Einzelnen generelle soziale Gleichheit nicht herstellen. Gleichwohl sollte er größtmögliche soziale Gleichheit anstreben. Die Sozialpolitik wandert demnach auf einem schmalen Grad zwischen größtmöglicher Freiheit und größtmöglicher Gleichheit (vgl. Dietz et.al. 2015: 61 ff.) Daher ist vorrangiges Ziel des Sozialstaates die Wiederherstellung von Existenzsicherungsfunktionen. In der Regel geht es um den Erhalt der Erwerbsfähigkeit und damit um die Kombination der Chancengleichheit mit der Freiheit. Die Prinzipien des sozialen Rechtsstaats sollen in der Gesellschaft stabilisierend und regulierend wirken. Aber das Gerechtigkeitsprinzip unterliegt aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Wandlungen einer Dynamik. Daher gilt es, die sozialen Verhältnisse beständig neu zu regeln. Zur Intervention in soziale Problemlagen nutzt der Sozialstaat soziale Dienstleister (vgl. ebd.: 63 ff.). Sozialleistungen sind „meritorische Güter“, also (öffentliche) Güter, die durch den Staat oder mit Hilfe des Staates hergestellt werden und bei ihrer Produktion oder Konsumption einen weiteren, staatlicherseits erwünschten Nutzen entstehen lassen.“ (ebd.: 78) Sozialpolitische Interventionen müssen also mit der Summe ihrer Wirkungen gemessen werden. Deutsche und Europäische Sozialpolitik werden im Wesentlichen durch die Logiken des Wirtschaftssystems bestimmt. Die Marktwirtschaft benötigt Humankapital und versorgt im Gegenzug die Menschen mit Lebensunterhalt. Gleichzeitig produziert sie aber auch soziale Ungleichheit. Sie selbst hat für diese Ausfälle keine passenden Lösungsansätze (vgl. ebd.: 77 ff.). „Es bedarf also einer Struktur sozialer Wohlfahrtsproduktion analog zur Güterproduktion.“ (ebd.: 80) Angesichts des erheblichen Ausbaus vor allem der monetären Leistungssysteme hat es auch immer wieder kritische Debatten über Grenzen des Sozialstaates gegeben. Somit werden Leistungen infrage gestellt und gefordert, dass mehr Eigenverantwortung für die Sicherung der Lebensverhältnisse verfügbar sein müsse (vgl. Schäfer 2011: 1527).
Die dominante Gemeinsamkeit der deutschen Sozialpolitik mit der der anderen Nationalstaaten der EU liegt in den globalwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, den demografischen Entwicklungen, den Individualisierungsprozessen, gesellschaftlichen Segregationsdynamiken und den prekärer werdenden Verteilungskonflikten (vgl. Dietz et. al. 2015: 241). Zudem basieren alle europäischen Sozialmodelle auf einer Mischung sozialer Dienstleistungen und monetärer Sozialleistungen im Versicherungs-, Versorgungs- und Fürsorgeprinzip. Die jeweilige Gewichtung weicht allerdings im intereuropäischen Vergleich erheblich voneinander ab (vgl. ebd.: 210).
1.2. Die europäische Dimension von Sozialpolitik
Die Unterschiede der Traditionen, politischen Systeme, aber auch der ökonomischen Möglichkeiten und Gegebenheiten werden neben der Wirtschafts- und Finanzpolitik vielleicht in keinem anderen Politikbereich so deutlich wie in der Sozialpolitik. Bis zur Gründung der Europäischen Union (EU) 1992 durch den Vertrag von Maastricht wurde über viele Jahrzehnte in der Montanunion (1951), der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1957) und der Europäischen Gemeinschaft (1986) „eher mitgedacht als mitgemacht.“ Gleichwohl war es bereits Ziel der frühen Mitgliedstaaten die Lebensstandards der Bevölkerung durch eine gemeinschaftliche stabile wirtschaftliche Entwicklung anzuheben und die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Im Wesentlichen konzentrierte sich europäische Integrations- und Sozialpolitik allerdings auf die Erweiterung gemeinsamer Wirtschaftsgebiete. Insgesamt verweigerten die Mitgliedsstaaten auch in der frühen EU noch eher Eingriffe in ihre nationale Sozialpolitik. So blieb die „Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer“ (1989) trotz ihrer politischen Relevanz für die europäischen Mitgliedsstaaten rechtlich unverbindlich. 1992 wurde die Sozialpolitik fester Bestandteil der Integrationspolitik der EU. In Form eines Zusatzprotokolls wurde europäische Sozialpolitik Teil des Maastrichter Vertrages. Aber erst 2007 einigte sich der Europäische Rat nach der Osterweiterung auf einen Reformvertrag nachdem das Ziel einer europäischen Verfassung als gescheitert angesehen werden musste. Der am 13.12.2007 unterzeichnete Reformvertrag von Lissabon trat am 01.12.2010 in Kraft. Unterschiedliche Interessen der Nationalstaaten, politischer Parteien und gesellschaftlicher Gruppen werden in verschiedenen Institutionen und Räten der EU aufgenommen und sozialpolitisch bearbeitet. Denn die EU ist kein Staat, schon gar nicht ein Sozialstaat, sondern ein spezifisches politisches Regierungssystem (vgl. Dietz et.al. 2015: 172 ff.). Gleichwohl wird daher im Vertrag von Lissabon die Sozialpolitik zwar durch die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta (s.u.) symbolisch aufgewertet, aber eine relevante Erweiterung europäischer Sozialpolitik fand dennoch nicht statt. Eine nennenswerte Veränderung der Entscheidungsregeln und eine rechtliche Verbindlichkeit im nationalen Handlungsrahmen der Mitgliedstaaten wurden nicht umgesetzt (vgl. ebd., 185 f.) und eine Übertragbarkeit der Charta auf individuelle Rechtsansprüche von EU-Bürger*innen wurde ausgeschlossen (vgl. ebd.: 187).
Häufig wird die vertragliche Grundarchitektur der EU als asymmetrisch kritisiert. Der supranationalen Binnenmarkt- und Geldpolitik würde nur eine international koordinierte Wirtschaftspolitik, die nationale soziale Sicherungssysteme einschließt, gegenüberstehen. Primärrechtlich kämen sozialpolitischen Zielen nur nachrangige Positionen zu. Hier zeige die europäische Integration ein Paradox. Die Mitgliedsstaaten würden wohl die Notwendigkeit einer europäischen sozialen Politik erkennen, aber würden dennoch eine Übertragung ihrer sozialpolitischen Kompetenzen auf eine supranationale Ebene verweigern (vgl. Hacker 2018: 261). Als Lösung der entstandenen Falle wurden schrittweise (nur) neue Verfahren und Konzepte der koordinierten Sozialpolitikgestaltung, wie zuletzt 2017 die „Europäische Säule sozialer Rechte“, eingeführt.
Das aus der katholischen Soziallehre stammende und auch in Deutschland bedeutsame Prinzip der Subsidiarität hat in der europäischen Sozialpolitik eine besondere Gültigkeit und Reichweite inne. Bereits in Artikel 5 des Amsterdamer EG-Vertrages wird benannt, dass die europäische Gemeinschaft nur begrenzt in Feldern der Sozialpolitik tätig wird:
„Die Gemeinschaft wird innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig.
In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.
Die Maßnahmen der Gemeinschaft gehen nicht über das für die Erreichung der Ziele dieses Vertrags erforderliche Maß hinaus. (Art. 5 EG)
Für nahezu aller Felder der spezifischen Sozialpolitik und relevante Zielgruppen werden demnach soziale Leistungen nach den sozialpolitischen Prinzipien der jeweiligen Nationalstaaten gewährt und verbleiben in der nationalen Regelungskompetenz. „Die positive Anerkennung nationaler Differenzen und die Etablierung von Prozessen, „die versuchen, die Konflikte, die aus der Pluralität unterschiedlicher Wohlfahrtssysteme resultieren, abzumildern“[…], sind zwei Seiten einer Medaille in der inter- und supranationalen europäischen Sozialpolitik.“ (Dietz et. al. 2015: 185) Somit beschränkt sich die EU bei der Bearbeitung sozialer Risiken im Kontext der Verwirklichung des Binnenmarktes im Großen und Ganzen auf die Formulierung sozialer Rechte, vergibt nur eingeschränkt Gelder und verzichtet bislang gänzlich auf soziale Dienste (vgl. ebd.:185). Ein Kernproblem des Europäischen Sozialmodells bleibt also die fehlende Kongruenz der Mitgliedstaaten. Aber das normative Konzept der sozialpolitischen Koordinierungsbemühungen zeigt auch Annäherungsprozesse. Gute nationale sozialpolitische Elemente werden auf EU-Ebene miteinander verbunden. Allerdings haben die EU-Osterweiterung und die Wirtschafts- und Verschuldungsdynamiken auch zu einer Steigerung von Divergenzen der Sozialstaaten der EU geführt (vgl. Becker 2015: 27). Nach Immerfall ist demnach außerhalb der wohlfahrtstaatlichen Kernnationen im Norden und Westen Europas real kein positives Regulationsmuster sichtbar (vgl. 2018: 54). Der Begriff des Europäischen Sozialmodells ist nicht real definiert, wird aber sehr geläufig angewendet. Er verweist in der Regel auf die soziale Dimension der EU in Ergänzung zur Wirtschaftspolitik und zur Abgrenzung zu anderen nationalen Sozialsystemen jenseits der EU. Der Begriff Modell meint demnach ein normatives Konzept der gemeinsamen sozialpolitischen Ziele und Konvergenzen der Mitgliedstaaten. Im Wesentlichen geht es also um die Einbeziehung sozialstaatlicher Aspekte auf Ebene der EU angesichts globaler Entwicklungen und deren politischen Erfordernisse im Ganzen (vgl. Schuster 2006: 5). „Heute verbindet man mit dem Begriff ein vornehmlich normativ geprägtes integrationspolitisches Projekt der sozialen Werte; er bietet also eine Richtung für die Fortsetzung der europäischen Sozial- und Beschäftigungspolitik“ (Becker 2015: 10).
1.3. Die soziale Dimension des EU-Binnenmarktes
Die EU setzt demnach soziale Mindeststandards und überlässt dabei die Aufgaben der Sozialpolitik weitestgehend den Mitgliedsstaaten. Sozialpolitik ist also im Gegensatz etwa zur Agrarpolitik weiterhin keine originäre Zuständigkeit der EU. Aber ein gemeinsamer Binnenmarkt macht auch gemeinsame Standards und Regelungen im Sozialen erforderlich. Bereits als der Europäische Rat 2000 auf einem Sondergipfel die Lissabon-Strategie verabschiedete, die die Entwicklung der EU zum „dynamischstem wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zum Ziel hatte wurde im selben Jahr mit der „Europäischen Sozialagenda“ auch die soziale Flankierung dieses Vorhabens beschlossen. In der EU gibt es seitdem eine Reihe von Standards sozialer Kategorien des EU-Binnenmarktes, die in den Mitgliedstaaten nicht unterschritten werden dürfen. Auch der Europäische Gerichtshof wacht über die Durchsetzung dieser Prinzipien. Grundsätzliche Elemente der sozialen Dimension des EU-Binnenmarktes sind arbeitsrechtlicher Art. Dazu gehören Rechtsnormen zur Höchstarbeitszeit, zum Arbeitsschutz, zu Hygienestandards am Arbeitsplatz, zu Ruhezeiten und zu Urlaubsansprüchen. Aber auch Regelungen zunächst zur Gleichstellung der Geschlechter und später auch zur Bekämpfung von Diskriminierung im Rahmen des Diversity-Mainstreaming im Arbeitsleben.
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