Konflikte in Anton Pavlovič Čechovs Drama „Čajka“


Tesis de Maestría, 2003

77 Páginas, Calificación: Sehr Gut


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Konflikttheorien
2.1. Zum Konfliktbegriff
2.2. Geschichte der Konflikttheorien
2.2.1. Georg Simmel (1858-1918)
2.2.2. Max Weber (1864-1920)
2.2.3. Weitere Ansätze

3. Konflikte in A. P. Čechovs Drama „Čajka“
3.1.Das „Dreieck“: Treplev – Trigorin – Arkadina
3.1.1. Konfliktsituation
3.1.2. Analyse
3.1.2.1. Treplev und Arkadina
3.1.2.2. Treplev und Nina
3.1.2.3. Treplev und Trigorin
3.1.2.3. 1. Exkurs: Duelle
3.1.2.4. Treplev
3.1.2.5. Nina und Trigorin
3.1.2.6. Kurzzusammenfassung
3.2.Soziale Konflikte
3.2.1. Šamraev und Arkadina
3.2.2. Medvedenko
3.2.3. Generationskonflikte
3.2.3.1. Nina
3.2.3.2. Maša
3.3.Intrapersonelle Konflikte
3.3.1. Maša
3.4.Latente Konflikte
3.4.1. Nina und Arkadina
3.5. Polina Andreevna – ein Sonderfall

4. Resümee

5. Anhang
5.1. Traditionen konflikttheoretischen Denkens (Graphik)
5.2. Zur mythologischen Gestalt des Ödipus (à“Ödipuskomplex“)
5.3. Konflikte in der „Čajka“
5.4. „Die Möwe“: Personen
5.5. Der Konflikt zwischen Arkadina und Šamraev (Čajka. II, 446/447)

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Meine Diplomarbeit stellt eine Konfliktanalyse von Anton Pavlovič Čechovs Drama „Čajka“ (1896) dar.

Ich lernte dieses Stück kennen, als ich an der Universität von Irkutsk im Jahr 2000 ein Semester studierte und wir dort sowohl die „Möwe“ im Unterricht lasen, als auch einer Aufführung im Theater von Irkutsk beiwohnten. Mir gefiel das Drama auf Anhieb, und so hatte ich später die Idee, meine Diplomarbeit darüber zu verfassen.

Außer meiner persönlichen Motivation gibt es auch noch eine wissenschaftliche. Čechovs Drama „Die Möwe“ entstand bereits im 19. Jahrhundert, aber das in diesem Werk zentrale Thema „Konflikte“ ist gerade heute hochaktuell. Egal, mit welcher Gesellschaftsebene man sich beschäftigt – der Familie, einer sozialen Schicht, politischen Parteien, dem internationalen System -, Konflikte sind in der heutigen Welt ein alltägliches Phänomen. Eine Untersuchung dieses Phänomens, z.B. auf der Basis eines literarischen Textes, ist sehr lohnend.

Da Čechovs Werken oft vorgeworfen wird, „[…] undramatisch, handlungsarm, ohne Kommunikation […]“ (Leithold 1989, 11) zu sein, könnte dies fälschlich zu der Schlussfolgerung verleiten, dass, wo keine Kommunikation vorhanden ist, es auch keine Konflikte geben kann. Die wissenschaftliche Legitimation und Relevanz meiner Arbeit basieren auf folgender Aussage Leitholds (1989, 54[1] ): „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Sobald Menschen an einem Ort aufeinander treffen, kommt es unweigerlich zu (verbalen oder nonverbalen) Kommunikationsformen. Dadurch steigt das Konfliktpotential.

Ob Čechov wirklich „[…] undramatisch, handlungsarm, ohne Kommunikation […]“ (Leithold 1989, 11) ist, ist zu hinterfragen. Leithold (1989, 180) führt die Aktualität der Dramen Čechovs auf folgende Ursachen zurück: „Die Thematisierung moderner Bewusstseinskonflikte und ihre verschlüsselte wie vielschichtige Umsetzung in eine adäquate dramatische Form machen die Brisanz und Aktualität der Dramen Čechovs aus.“

Čechov gelingt es in seinem Drama „Čajka“ außerdem brillant darzustellen, wie Menschen ständig um ihre eigenen Sorgen und Nöte kreisen, die ihrer Mitmenschen vergessen und vergeblich um Konfliktlösungen ringen.

Der Konfliktbegriff, auf welchem meine Diplomarbeit basiert, ist sehr breit und verschwommen (s. 2. 1.). Die Eingrenzung des Themas war einigermaßen schwierig. Relevante Fragen waren: Ab wann kann man in einer Situation von einem Konflikt sprechen? Auf welche Konflikte lohnt es sich, näher einzugehen, und welche Konflikte können in der Analyse vernachlässigt werden? Welche Konflikte lassen sich in welche Kategorien zusammenfassen?

Konflikte werden in der Praxis und traditionell negativ bewertet, wohingegen die Theorie (z.B. Lewis A. Coser) das positive Potential von Konflikten hervor streicht. In Čechovs „Čajka“ fällt es nicht leicht, diese zweite (positive) Seite von Konflikten zu entdecken, zumal der zentrale Konflikt im Drama mit dem Selbstmord eines Charakters endet.

Zweifelsohne beinhaltet jeder Konflikt ein konstruktives Potential. Er bietet eine Lerngelegenheit für beteiligte Akteure, lenkt die Aufmerksamkeit auf Probleme und Missverständnisse, etc.

Ziel meiner Diplomarbeit ist es, dem Leser einen Überblick über die im Drama „Die Möwe“ vorhandenen Konflikte zu geben. Dazu sollen die obigen Fragen und meine drei zentralen Forschungsfragen beitragen. Letztere lauten:

a. Wie lässt sich der meiner Arbeit zugrunde liegende Begriff „Konflikt“ definieren?

Welche Konflikttheorien sind für das Thema relevant?

b. Anhand welcher Kriterien und Methoden können Konflikte (allgemein) analysiert

werden?

-Z.B.: Kategorien und Funktion von Konflikten, Konfliktursachen,

Konfliktsituation und –verlauf (angewandte Mittel: Gewalt, etc.), Akteure

und ihre Beziehungen zueinander, Ausgang und Lösung von Konflikten,

Kontext.

c. Wie sieht die Konfliktanalyse konkret in Čechovs „Čajka“ aus?

Für die Dramenanalyse formulierte ich außerdem eine Hypothese, welche folgendermaßen lautet: „Je komplexer ein Konflikt ist, desto schwieriger seine Lösung.“ Unter „komplex“ kann ein Konflikt verstanden werden, welcher auf mehrere Ursachen zurückzuführen ist und/oder von einem Konfliktverlauf mit variierenden und unter Umständen gewalttätigen Mitteln dominiert wird.

Zu der in der Arbeit angewandten Methode: Die zentralen Forschungsfragen dienen als Leitfaden, um das Thema auszuarbeiten und zu strukturieren. Der Untersuchung der „Möwe“ ist ein Theorieblock vorausgestellt, welcher verschiedene wissenschaftliche Zugänge zum Thema „Konflikte“ erläutert und den Einstieg in die Arbeit erleichtern soll.

Bei der praktischen Analyse werden immer wieder Bezüge zu den Konflikttheorien hergestellt. Bei der Darstellung der in „Čajka“ vorkommenden Konflikte sind folgende Schwerpunkte gesetzt: Kategorisierung und Beschreibung der Konfliktsituation, Konfliktursachen und –ausgang, Akteure und ihr Verhältnis zueinander… (s.o.: zentrale Forschungsfragen).

Bevor auf die inhaltliche Gliederung meiner Arbeit eingegangen wird, noch ein paar Anmerkungen zur Literatur. Über Konflikttheorien ist sehr viel Material vorhanden, was zeigt, dass sich die Wissenschaft intensiv mit diesem Thema beschäftigt. Ebenso wenig mangelt es an Literatur über Anton P. Čechov und seine Werke. Literatur, welche sich mit Konflikten in Čechovs Dramen auseinandersetzt, ist dagegen spärlich.

Die Mehrheit der Aufsätze beschäftigt sich entweder mit der „Möwe“ als Gesamtwerk, untersucht Kommunikations-, Dramenstruktur oder einzelne Figuren. Immer wieder taucht aber der Konfliktbegriff hier auf – ein Beweis dafür, wie zentral dieser Begriff für das Verständnis des Dramas ist. Sehr wertvoll war die Lektüre von Leitholds „Studien zu A.P. Čechovs Drama „Die Möwe“ “ (1989), in welchem die Kommunikationsstruktur des Stückes ausführlich analysiert wird.

Das Literaturverzeichnis meiner Diplomarbeit erhebt keinen Anspruch darauf, vollständig zu sein, es sollte aber die wichtigste Sekundärliteratur zum Thema enthalten und fortführende Untersuchungen erleichtern. Auch die Berücksichtigung russischsprachiger Literatur in meiner Arbeit war mir ein Anliegen, um die Interpretation nicht nur von „außen“ zu betreiben.

Die inhaltliche Gliederung der Diplomarbeit sieht folgendermaßen aus:

Im Theorieteil werden der Konfliktbegriff erläutert und anschließend die für mein Thema relevanten Konflikttheorien vorgestellt. Im Zusammenhang mit Konflikten lohnt es sich, auf Kommunikationstheorien (z.B. Watzlawick et al. 1982) einzugehen, da der Großteil von Konflikten auf Kommunikationsstörungen basiert.

Der praktische Teil beinhaltet die Konfliktanalyse von Čechovs „Möwe“. Es wird hier grob zwischen (Konflikten auf) der Individual- und der Gesellschaftsebene unterschieden.

Der zentrale Konflikt auf der Gesellschaftsebene in der „Čajka“ ist jener, welcher sich um die Künstler Treplev, Trigorin und Arkadina dreht. Da dieser Konflikt besonders komplex und facettenreich ist, wird er länger als die übrigen Konflikte abgehandelt.

Auf der Gesellschaftsebene lassen sich zweitens soziale Konflikte ausmachen. Diese treten im Stück zugunsten individueller Konflikte zurück, aber es existieren zwei Beispiele für den sozialen Konflikttypus: die Auseinandersetzung zwischen Arkadina und dem Gutsverwalter Šamraev bezüglich der Kutschpferde (2. Akt). Und der sozialen Ursachen zugrunde liegende intrapersonelle Konflikt Medvedenkos, des Lehrers.

Eine Form sozialer Konflikte stellen Generationskonflikte dar (Brockhaus 1974, Bd. III, 198), wofür sich in der „Čajka“ ebenfalls Beispiele finden. Nina und Maša haben Schwierigkeiten mit ihren Vätern. Vaterkonflikte sind nicht untypisch für die Werke Čechovs, wie später gezeigt werden wird.

Auf der Individualebene, wo es um so genannte „intrapersonelle“ (innere) Konflikte geht, wird noch einmal die Figur Maša behandelt.

Das vorletzte Kapitel widmet sich latenten Konflikten im Drama und dem problematischen Verhältnis zwischen Nina und Arkadina, welche beide den Schriftsteller Trigorin verehren. Als ein Sonderfall wird Polina Andreevna, die Ehefrau des Gutsverwalters, präsentiert, welche eine Affäre mit Dorn, dem Arzt, hat.

Das Resümee beinhaltet eine Zusammenfassung meiner Arbeit und zeigt die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung. Dabei werden die zentralen Forschungsfragen beantwortet, welche beim Schreiben als Leitfaden dienten.

Hinsichtlich der verschiedenen Konfliktkategorien existieren einige Überschneidungen, z.B. intrapersonelle Konflikte, welche von einem Generationsproblem verschuldet werden, etc. Die Konflikte werden jeweils jenen Kategorien zugeordnet, in welche sie am ehesten passen, und der Leser wird auf diverse Überlappungen hingewiesen.

Anton P. Čechov beschrieb seine „Čajka“ als ein Stück mit „[…] mnogo razgovorov o literature, malo dejstvija, pjat’ pudov ljubvi“.“ (Baluchatyj 1969, 103). Das „Stimmungsdrama“ (Kindlers Literatur Lexikon 1965, Bd. I, 2027) „Die Möwe“ ist aber besonders aus psychologischer Sicht tiefgründiger und interessanter, als es der Autor annahm.

2. Konflikttheorien

2.1. Zum Konfliktbegriff

In diesem Kapitel werden zuerst diverse Literaturvorschläge zum Konfliktbegriff präsentiert. Anschließend werden Konfliktursachen und –kategorien vorgestellt und zuletzt eine eigene Definition des Begriffes „Konflikt“ vorgeschlagen.

In der Literatur herrscht Konsens darüber, dass der Konfliktbegriff schwer und nur allgemein zu fassen ist. Laut Bonacker (2002, 13) „[…] wird heute unter Konflikt ganz Unterschiedliches verstanden.“ Oder: „Was als Konflikt bezeichnet wird, hängt […] von gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen ab […]“ (Bonacker 2002, 16).

Da der Konfliktbegriff, so derselbe Autor (2002, 9), „[…] zu den Grundbegriffen der Sozialwissenschaften [gehört]“ und die Grundlage für die Konflikttheorien bildet, ist es notwendig, diesen Begriff zu definieren – auch wenn die berücksichtigte Literatur Definitionen von „Konflikt“ eher vermeidet.

Konflikt leitet sich vom lateinischen „confligere“ (dt. „zusammenstoßen, in Kampf geraten, kämpfen, streiten“) ab. Bereits hier stößt man auf verschiedene Bedeutungen dieses Wortes. Borisoff/Victor (1989, xiii) gießen den Konfliktbegriff in folgende (sehr allgemeine) Form: „Conflicts are broadly defined as disagreements between and among individuals.“ Man kann erstens einwenden, dass Konflikte nicht nur auf der Individualebene, sondern auch beispielsweise auf der staatlichen oder internationalen Ebene existieren. Zweitens ist das Wort „disagreement“ (s.o.), welches im Deutschen mit „(Meinungs-)Verschiedenheit“ übersetzt wird, zu breit, um es für eine Definition des Konfliktbegriffes zu verwenden.

Besser scheint die Definition, welche Bonacker (2002, 388) vorschlägt: „Einem gängigen Verständnis zufolge wird Konflikt als Interessengegensatz zwischen verschiedenen sozialen Gruppierungen verstanden, der als Gegnerschaft zwischen Individuen, Individuen und Gruppen, Gruppen und Gruppen, Verbänden, Gesellschaften, Staaten und anderen sozialen Assoziationen ausgetragen werden kann.“ Bei dieser Definition werden allerdings Übergänge in intrapersonale Konflikte vernachlässigt (ebenda).

Bonacker (2002, 15) beschreibt den Konflikt als ein „[…] soziales Phänomen […]“ und „[…] ein[en] zentrale[n] Bestandteil zwischenmenschlicher Beziehungen […]“ (1996, 18). Diese letzte Bemerkung führt zu einer weiteren wichtigen Feststellung: Konflikte sollen, wie

in der Einleitung im ersten Kapitel erwähnt, nicht ausschließlich negativ bewertet werden! Eine ähnliche Meinung vertreten Imbusch/Zoll (1996, 14), welche Konflikte „[…] erst einmal weder gut noch schlecht […]“ finden.

Das Positive an Konflikten ist ihre Entlarvung falscher Harmonievorstellungen, Aufmerksammachen auf Spannungen und die Einleitung eines sozialen Wandels. Dies ist nur dann möglich, wenn eine Gesellschaft offen für den Umgang mit Konflikten ist (Bonacker 2002, 393) – eine Voraussetzung, welche der Gesellschaft eine gewisse Reife abverlangt. In

Čechovs „Čajka“ wird die Voraussetzung des offenen Umganges mit Konflikten nicht erfüllt.

Interessant ist folgende Feststellung Bonackers (2002, 14), dass „[…] ein Konflikt seitens der Akteure erst einmal festgestellt werden muß.“ Werden latente Konflikte zu Unrecht als Konflikte bezeichnet? Es kann vorkommen, dass die Betroffenen ihr Problem nicht als solches erkennen und erst ein Außenstehender den Konflikt diagnostiziert. Latente Konflikte zu untersuchen ist umso interessanter, da ihre Merkmale nicht offen auf der Hand liegen. Es wäre schade, latente Konflikte bei einer Konfliktuntersuchung auszunehmen.

Imbusch/Zoll (1996, 64) konstatieren verschiedene Fehler beim Umgang mit dem Konfliktbegriff, unter anderem Vermischung von Beschreibung und Bewertung, intentionale Zuschreibungen an Akteure bzw. Konfliktparteien, Erfassung von Konfliktaustragungsformen und Merkmalen der Ausprägung, Rekurse auf Ursachen, Kontexte und Austragungsmodi[2].

Es ist daher vorteilhafter, der Konfliktanalyse der „Čajka“ eine breitere Definition des Begriffes zugrunde zu legen, um Konfliktursachen, -lösungen, etc. mit einzubeziehen.

Fragestellungen an Konflikte betreffen Konfliktgegenstand, -parteien (ihr Verhältnis zueinander – symmetrisch oder asymmetrisch – und ihre Organisation), Austragungsformen des Konfliktes und Vorschläge für Konfliktregelungen (Bonacker 2002, 16)[3].

Weitere Fragen sind zu stellen nach (a) Konfliktursachen und (b) Konfliktkategorien. Auf beide Fragen gibt es mehrere Antworten.

Ad a.: „Konflikte beruhen auf Unterschieden in den sozialen Lagen der Menschen und/oder auf Unterschieden in den Interessenkonstellationen.“ (Imbusch/Zoll 1996, 14). Noch allgemeiner formuliert (Bonacker 1996, 101): Die Ausgangspunkte von Konflikten liegen in den verschiedenen Zielen der Akteure. Wie vielfältig Konfliktursachen sein können, wird in der Dramenanalyse zu sehen sein.

Ad b.: Imbusch/Zoll (1996, 65) ordnen Konflikte vier Analyseebenen zu:

- Das Individuum mit 1. intrapersonellen Konflikten
- Die Gesellschaft mit 2. interpersonellen Konflikten

3. innergesellschaftlichen Konflikten

- Das internationale System mit 4. internationalen Konflikten

Die Sozialwissenschaften interessieren sich für die Ebenen 2-4. Beispiele für die zweite Ebene stellen Entscheidungs- und Beziehungskonflikte dar (ebenda), welche besonders für Čechovs „Čajka“ relevant sind.

Einen anderen Versuch der Kategorisierung von Konflikten stellt Bonacker (2002, 389[4] ) vor: Bei so genannten „Rangordnungskonflikten“ geht es um Ansprüche auf soziale Positionen zwischen Inhabern benachbarter Positionen. „Verteilungskonflikte“ haben knappe Güter, Arbeitsplätze, etc. zum Anlass, und „Regelkonflikte“ drehen sich um verschiedene Werte und Normen.

Man kann außerdem zwischen „echten“ und „unechten“ Konflikten und „manifesten“ – diese sind von den Konfliktparteien als solche erkennbar – und „latenten“ Konflikten unterscheiden (Imbusch/Zoll 1996, 67). Das Begriffspaar „echt“ und „unecht“ stammt von Lewis A. Coser, nach welchem „unechte“ Konflikte aus psychischen Frustrationen entstehen, Selbstzweck sind und zu Aggressionen gegen wechselnde Objekte führen (Bonacker 1996, 69). Für Coser entstehen Konflikte durch Unzufriedenheit mit Distributionsverhältnissen und Benachteiligungen, was wiederum die Verbesserung einer Situation motiviert (ebenda).

Konflikte können weiters eingeteilt werden in:

-„symmetrisch“ vs. „asymmetrisch“ – bei der ersten Kategorie sind Voraussetzungen,

Mittel und Kontexte der Konfliktparteien identisch (Imbusch/Zoll 1996, 67) -,

-„legitim“ vs. „nicht legitim“ (Imbusch/Zoll 1996, 68),

-„konsensual“ vs. „dissensual“ – letzteres bedeutet inkompatible Zielsetzungen und

Austragungsformen zwischen den Konfliktparteien (Imbusch/Zoll 1996, 69[5] ) – und

-„konstruktiv“ vs. „destruktiv“ (Imbusch/Zoll 1996, 69). Nach Morton Deutsch sind

konstruktive Konflikte mit einem positiven und für die Akteure akzeptablen

Ergebnis verbunden (ebenda). Wie ein „positives“ Ergebnis wiederum definiert

wird, mag dahingestellt sein.

In Bezug auf Konfliktgründe existiert die Einteilung in „objektive“ und „subjektive“ Konflikte. Objektive Konflikte sind rückführbar auf die Verteilung knapper Güter und Werte in der Gesellschaft, subjektive Konflikte sind das Ergebnis von Einstellungen, welche sich aus bestimmten Prädispositionen (Hass, etc.) ergeben (ebenda).

Für diese Diplomarbeit werden die oben aufgezählten Konfliktkategorien verwendet, um die Konflikte im Drama Čechovs zu analysieren. Es sind Begriffe und Kategorien, mit welchen seit längerem erfolgreich operiert wird und die sämtliche Konfliktvarianten mit einschließen.

Auf der Grundlage der erfolgten Literaturrecherche zum Begriff „Konflikt“ ist zum Abschluss dieses Kapitels folgende „ Minimaldefinition “ des Begriffes vorzuschlagen: Ein Konflikt ist ein soziales Phänomen, welches einen scharfen Gegensatz zwischen Weltanschauungen, Meinungen oder Überzeugungen darstellt und das von den Konfliktparteien oder einem Außenstehenden festgestellt werden muss. Konflikte können inter- und intrapersonelle, zwischenstaatliche, etc. Formen annehmen und haben, trotz ihres negativen Images, positive Seiten (z.B. Entlarvung falscher Harmonievorstellungen). Genauere Definitionen des komplexen Begriffes „Konflikt“ sind von den jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig.

Es ist noch einmal darauf hinzuweisen, wie komplex und vielfältig der Konfliktbegriff ist und dass es in der Literatur einige Widersprüche und Uneinigkeiten zu diesem Thema gibt. Dem Begriff „Konflikt“, welcher „[…] zu den Grundbegriffen der Sozialwissenschaften [gehört]“ (Bonacker 2002, 9), mangelt es an einer eindeutigen Definition.

Dieses Schicksal, das nicht nur negativ gesehen werden soll, teilt „Konflikt“ mit anderen Begriffen der Sozialwissenschaften. Die Wissenschafter sind dazu angeregt, eigene Vorschläge und Definitionen zu präsentieren und zum wissenschaftlichen Fortschritt beizutragen.

2.2. Geschichte der Konflikttheorien

Im folgenden Kapitel werden die wichtigsten Vertreter der Konflikttheorien vorgestellt. Die Abschnitte 2. 2. 1. und 2. 2. 2. sind zwei „[…] ideengeschichtlichen Vorläufern

konflikttheoretischen Denkens […]“ (Bonacker 2002, 19) gewidmet: Georg Simmel und Max Weber. Danach (2. 2. 3.) wird auf andere wichtige Ansätze in den Konflikttheorien eingegangen werden.

Bonacker (1996, 16) macht darauf aufmerksam, dass es innerhalb der Konflikttheorien eine große theoretische und thematische „Vielfalt“ gibt. Diese Vielfalt lässt sich an einer Graphik bei Imbusch/Zoll (1996, 128) illustrieren. Die Graphik (s. Anhang: Graphik 1) zeigt auch, wie weit das konflikttheoretische Denken in der Geschichte zurückreicht und gibt einen guten Überblick über die verschiedenen Epochen.

Laut Krysmanski (1971, 7) war die Konfliktforschung anfangs auf Bereiche wie Industriebetriebe und die Familie beschränkt. Später vergrößerte sich ihr Blickwinkel (ebenda). Das Konfliktphänomen tritt in unterschiedlichen Kontexten auf und weitet sich mit Differenzierung und Modernisierung der Gesellschaft immer weiter aus.

Laut Imbusch/Zoll (1996, 124[6] ) ist es das vorrangige Ziel der Konflikttheorien (in der Soziologie), „[…] to explain why people think and act the way they do.“ Man sieht, dass Konflikte durch das Denken und Handeln von Menschen verursacht werden.

2.2.1. Georg Simmel (1858-1918)

Imbusch/Zoll (1996, 133) schreiben über Simmel folgendes: „Georg Simmel wird von vielen Autoren als der erste originäre Konflikttheoretiker betrachtet.“ Im Gegensatz zu Max Weber

– auf welchen später zurückzukommen ist -, der sich mit der Gesellschaft auseinandersetzte, widmete sich Simmel der individuellen Ebene von Konflikten (ebenda).

Georg Simmel ist nicht nur ein zentraler Vertreter der Konflikttheorien, dem eine „[…] komplexe Beobachtung des Konflikts […]“ (Bonacker 1996, 55) zu verdanken ist, er lenkte auch seine Aufmerksamkeit früh auf das Individuum. Da in Čechovs Drama „Čajka“ Individualkonflikte im Mittelpunkt stehen, erwies sich die Beschäftigung mit Simmel als überaus nützlich.

Simmel widmete sich ferner der familiären Ebene: „Er [Georg Simmel] nennt den Familienkonflikt eine Streitform sui generis […]“ – wegen der Enge des Zusammenlebens, etc. (Schneider 1994, 65).

Georg Simmels großes Verdienst war es, die integrierende Wirkung von Konflikten zu betonen (Bonacker 1996, 56), da aus interpersonellen Konflikten Gruppen bzw. ein sozialer Zusammenhang entstehen (Bonacker 1996, 57). In Folge wächst die Heterogenität der Gruppe/n, wodurch wiederum das Konfliktpotential geschürt wird (ebenda).

Diese „[…] Dialektik von Konflikt und Vereinigung […]“ (ebenda) gleicht einem Kreislauf, in welchem sich Konflikte und soziale Gruppenbildungen gegenseitig abwechseln. Man kann sich fragen, ob und wie in diesem Kreislauf ein Fortschritt (z.B. effizientere Konfliktlösungen) möglich ist.

Laut Bonacker (2002, 85) untersuchte Simmel Konfliktformen „[…] nach dem Grade der Loslösung eines Konfliktes von individuellen „Gemütszuständen“ oder direkten Interaktionsbeziehungen.“ Simmel unterschied zwischen zwei Extremen: dem Konflikt als einer persönlichen Sache zweier Menschen, wobei die Persönlichkeit der Konfliktpartner entscheidend ist, und dem Konflikt als einer unpersönlichen Sache, die produziert wird und gesellschaftlich-funktional ist (ebenda).

Für Simmel, einem Anhänger der formalen Soziologie, standen die äußeren Formen der Vergesellschaftung im Mittelpunkt (Bonacker 1996, 55). „Vergesellschaftung“ bedeutete nach Georg Simmel ein jeder Bezug von Individuen aufeinander, Interaktion und Wechselwirkung zwischen Menschen – wozu auch das Konfliktphänomen gehört (Bonacker 1996, 56). Simmels allgemeine Grundthese lautet: „Konflikte sind Vergesellschaftungsformen.“ (Bonacker 2002, 85).

Eine Konfliktform, mit welcher sich Georg Simmel intensiv auseinandersetzte, war der Kampf (Bonacker 2002, 86). In diesen sind mindestens zwei Personen involviert. Ziel des Kampfes ist die Interessendurchsetzung; auch körperliche Gewalt wird nicht ausgeschlossen (ebenda). „Die subtilste Form des Konfliktes ist für Simmel aber die Konkurrenz.“ (Bonacker

2002, 87). „ Konkurrenz “ bedeutet indirekter Kampf und ein soziales Ereignis. Dieser Kampf ist deshalb „indirekt“, weil ein Dritter miteinbezogen wird, welcher selbst nicht am Konflikt teilnimmt (ebenda).

Das vom Soziologen Simmel entworfene Konzept des „Dritten“ ist sehr wertvoll für die folgenden Konfliktanalysen. Der „Dritte“ tritt in einem Konflikt entweder als Vermittler, tertius gaudens (wenn keine Koalition zwischen den beiden Gegnern zustande kommt) oder Unterdrücker (dieser schürt den Konflikt nach dem Prinzip „divide et impera“) auf (Bühl 1976, 31/32). Zumindest befindet sich der „Dritte“ in der Rolle eines Zeugen (passiver Beobachter). Beispiele für Dreierbeziehungen sind Paarbindungen (mit der

Begleiterscheinung der „ „Eifersucht“ “ (Bühl 1976, 32[7] ), welche alternative Paarbeziehungen zurückweist) und Familienbildungen (Mutter-Kind-Vater) (Bühl 1976, 32[8] ). Besonders für die Familie finden sich in der „Möwe“ einige Beispiele.

Simmel unterscheidet zwischen folgenden Möglichkeiten, einen Konflikt zu beenden: Wegfall des Streitobjektes, Sieg, Versöhnung oder Kompromiss (Bonacker 2002, 90). Die einfachste und radikalste Variante stellt für ihn der „Sieg“ dar. Dieser muss entweder erklärt oder anerkannt werden (ebenda).

Der „Kompromiss“ als zweite Form der Konfliktbeendigung ist mit einem Tausch vergleichbar. Er verkörpert ein gesellschaftliches und, da von Ziel und Zweck des Konfliktes abhängig, objektives Phänomen. „Versöhnungen“ wiederum finden dort statt, wo die Psyche der Konfliktparteien eine wichtige Rolle spielt, z.B. bei Liebespaaren oder Freunden (Bonacker 2002, 91).

Die drei vorgestellten Varianten der Konfliktlösung kontrastieren stark miteinander. Der Wegfall des Streitobjektes[9] ist losgelöst von den Intentionen der Konfliktpartner. Die anderen Möglichkeiten – Sieg, Versöhnung, Kompromiss – setzen Aktivität von mindestens einer Seite voraus. Bei einem „Sieg“ muss ein Akteur seine Niederlage eingestehen, der andere wiederum muss seine Überlegenheit demonstrieren und durchsetzen.

Eine Versöhnung hat zur Bedingung, dass beide Konfliktpartner einigermaßen gesprächsbereit sind und in der Beendigung des Konfliktes einen größeren Vorteil sehen als in seiner Aufrechterhaltung. Versöhnungen sind nur dann realistisch, wenn der Konflikt nicht allzu tief und festgefahren ist. Der Kompromiss als viertes und letztes Mittel, einen Streit beizulegen, ist ein Produkt unserer Zeit. Er funktioniert ähnlich wie ein Tausch, und beide Parteien profitieren von einer solchen Lösung.

Was den Wegfall des Streitobjektes von den anderen Varianten der Konfliktbeendigung vor allem unterscheidet, ist, dass er, als ein zufälliges Phänomen, keiner Bewertung unterliegt. An Siege, Versöhnungen und Kompromisse können dagegen sehr wohl Wertemaßstäbe angelegt werden. Aus heutiger Sicht sind symmetrische Konfliktlösungen (Versöhnung, Kompromiss) asymmetrischen (Sieg) vorzuziehen, da sie auf der Gleichberechtigung der Konfliktgegner beruhen.

Im Drama „Die Möwe“ werden Konflikte größtenteils asymmetrisch gelöst; aber auch der Wegfall des Streitobjektes kommt einmal vor. Symmetrische Konfliktlösungen (Versöhnung, Kompromiss) sind spärlich.

Krysmanski (1971, 30) macht die Entdeckung, dass (Gruppen-)Konflikte nach außen („Aggression“) und nach innen hin („Askese“) gelöst werden können.

Ein paar abschließende Bemerkungen zu Georg Simmel, diesem bedeutsamen Vertreter des konflikttheoretischen Denkens. Wie sich aus der Graphik von Imbusch/Zoll (1996, 128) (s. Anhang: Graphik 1) ablesen lässt, war die Zeit zwischen 1900 und 1920 eine sehr fruchtbare Periode für die Konflikttheorien. Neben Simmel waren damals auch Sigmund Freud und Max Weber tätig.

Dem Soziologen Simmel werden nicht zu viele Blumen gestreut, wenn Imbusch/Zoll (1996, 133) behaupten, dass er „[…] von vielen Autoren als der erste originäre Konflikttheoretiker betrachtet“ wird. Simmel wandte sich der Individualebene von Konflikten zu einer Zeit zu, als die Katastrophe des Ersten Weltkrieges die Menschen erschütterte und das Individuum gegenüber der Gesellschaft nicht viel zählte.

Er hob, was ebenfalls sehr fortschrittlich war, die integrierende Wirkung von Konflikten hervor (Bonacker 1996, 56) und untersuchte Konfliktformen und –lösungen. Wenn man sich näher mit den Konflikttheorien befassen will, ist eine Beschäftigung mit Georg Simmel äußerst nützlich.

2. 2. 2. Max Weber (1864-1920)

Nach Simmel folgt nun Max Weber, ein Begründer der deutschen Soziologie (Bonacker 1996, 59). Über Weber, der um dieselbe Zeit (1900-1920) wirkte wie Simmel, wurden im Laufe der Zeit zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen geschrieben. Daraus wird ersichtlich, welch bedeutenden Platz dieser Soziologe bis heute in der Wissenschaft einnimmt.

Im Folgenden wird der konflikttheoretische Beitrag Webers untersucht. Laut Bonacker (ebenda) versuchte Max Weber, soziales Handeln von Individuen deutend zu verstehen[10] und erklären. Er hob sich deutlich von älteren Ansätzen ab. Innovative Ideen, welche auch bei Georg Simmel zu finden sind, waren ein wichtiges Charakteristikum der Konflikttheorien zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Das soziale Handeln, welches Max Weber verstehen und erklären wollte (s.o.), war die Grundlage seiner soziologischen Reflexion. Er selbst definierte den Begriff des sozialen Handelns folgendermaßen: „ “’Soziales’ Handeln […] soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“ “ (Bonacker 1996, 59[11] ). Soziales Handeln wird hier nicht normativ verstanden (ebenda). Es besitzt für Weber unterschiedlichste Ausprägungen, z.B. das Werben um die Gunst eines Partners, Töten (!), Kunstkonkurrenz, etc. (Bonacker 2002, 68[12] ).

Soziales Handeln ist eng mit sozialen Verhältnissen verknüpft und wird, so Weber, durch zwei Formen, Kampf und Kooperation, motiviert. Neben dem Begriff „Kampf“, zu welchem Max Weber die Konkurrenz zählt (Bonacker 2002, 69), untersuchte der Soziologe besonders den Machtbegriff, was ihn zu der bis heute viel zitierten Definition führte:

„ “Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ “ (Bonacker 1996, 60[13] ).

Weber spezifizierte drei Lebensordnungen, in welchen um Macht gekämpft wird (Bonacker 1996, 61 ff.):

(a) Wirtschaftsordnung,
(b) soziale und
(c) politische Ordnung (dieser schenkte Weber die größte Aufmerksamkeit).

Die drei Lebensordnungen sind charakterisiert durch verschiedene Kampfmittel, individuellen Gegenstand des Kampfes und bestimmte Interessensakteure und Regeln.

In der sozialen Ordnung wird um soziale Macht, Ehre und Prestige gekämpft (die Begriffe „Ehre“ und „Prestige“ entsprechen der Weberschen Terminologie (Bonacker 1996, 62)). Akteure sind hier Stände und Statusgruppen, welche bestimmte Werte verkörpern und vertreten. In der Folge entstehen (religiöse,…) Konflikte (ebenda).

Weber hielt es für wichtig, bei den drei Lebensordnungen die jeweilige Herrschaftsordnung und Legitimation zu betrachten (Bonacker 1996, 63).

Der Begriff „Macht“ ist für die beabsichtigte Konfliktanalyse der „Möwe“ nicht uninteressant. Ohne „Macht“ (und auf der anderen Seite „Ohnmacht“) sind Konflikte allgemein nicht vorstellbar. Dies lässt sich gut im Tierreich beobachten. Laut Charles Darwin ist der Existenzkampf, der Sieg des Stärkeren über den Schwächeren, unumgänglich, um das Überleben der Gattung zu sichern (Bonacker 1996, 39; Kapitel: „Der anthropologische Diskurs über Aggression“). Später folgt noch eine genauere Auseinandersetzung mit diesen (anthropologischen) Aggressionsdiskursen.

Was an Weber (und Simmel) gut gefällt, ist dass sie Konflikte als etwas Positives sehen, z.B. da neue Regeln und Normen entstehen oder modifiziert werden (Bonacker 2002, 80). Das Entstehen von neuen Normen ist in unserer heutigen Gesellschaft, die unter einer „Gesetzesflut“ leidet, nicht unbedingt wünschenswert, eine Modifizierung und Verbesserung von Regelungen ist aber auf jeden Fall zu begrüßen.

Nach der Vorstellung zweier Klassiker der Konflikttheorien wird auf andere für das Thema bedeutsame Vertreter und Ansätze dieser Theorien eingegangen. Sie leisteten ebenfalls sehr wertvolle Beiträge für die Konfliktforschung.

2.2.3. Weitere Ansätze

Für eine Konfliktanalyse wertvoll sind die „ Aggressionstheorien “. Konflikte sind beinahe immer mit Aggressionen verbunden, und so lohnt es sich, diese genauer zu betrachten. Bonacker (2002, 507) schreibt Aggressionen verschiedene Ursachen und Funktionen zu. Sein Vorschlag für die Definition dieses immer aktives Handeln umfassenden Begriffes lautet (2002, 507[14] ):

The term ‚human aggression’ characterizes – at least from the point of view of the person affected or a

neutral judge – an inconsiderate or malicious violation of a norm which implies current or potential harm by a

person actively responsible; characterizing the violation of the norm as ‚inconsiderate’ or ‚malicious’ implies

that no arguments for exoneration (e.g. excuses or justifications) will be accepted.

Gemäß der klassischen Frustrations-Aggressions-Theorie tendiert jede Frustration zu aggressivem Verhalten und umgekehrt (Bonacker 2002, 508[15] ). Zwei weitere wichtige Bemerkungen zum Aggressionsphänomen. Erstens, während des Aggressionsprozesses steigen Güterabwägungen und Kosten-Nutzen-Kalküle (Bonacker 2002, 514). Zweitens, es

gibt eine „Perspektivendivergenz“. Also die Selbst- und Fremdsicht der Aggressionspartner sind konträr (Bonacker 2002, 516).

Im anthropologischen, biologisch oder psychologisch erörterten Diskurs über Aggression „[…] wird [der Konflikt] als Ausdruck eines ohnehin schon vorhandenen Potentials gesehen, das dem Menschen naturhaft zukommt.“ (Bonacker 1996, 38). Erwähnenswert sind das Knappheits- und das Konkurrenzargument. Konkurrenz entsteht einerseits aus dem Mangel an Raum und Nahrung, andererseits aus dem Kampf um sexuelle Partner (Bonacker 1996, 39). Konflikte werden im anthropologischen Diskurs als den Fortschritt fördernd und etwas Positives betrachtet (Bonacker 1996, 42).

Krysmanski (1971, 45 ff.) listet folgende Theorien auf:

(1) die Instinkttheorien. Sie sehen Aggression als einen normalen Trieb und wollen ihn konstruktiv lenken. Auch für Sigmund Freud (1856-1939) sind Aggressionen natürliche Triebe, welche durch „ „Kulturgehorsam“ “ im Zaum gehalten und durch Kriege entfesselt werden (Bonacker 2002, 450[16] ).
(2) Die Frustrationstheorien (Krysmanski 1971, 46[17] ) orten die Ursache von Aggression in der Unterbrechung bzw. Störung der Problemlösungsaktivität.
(3) Die Lerntheorien der Aggression machen die Sozialisation (Praktiken der Kindererziehung, etc.) für aggressives Verhalten verantwortlich (Krysmanski 1971, 46[18] ).

Auch Konrad Lorenz (1903-1989) (Bonacker 1996, 44), ein Anhänger der Ethologie, beschäftigte sich mit Aggressionen und schrieb diesen drei Eigenschaften zu. Erstens, Aggression sei ein Mittel zur Erreichung bestimmter Ziele (hier trägt die Ethologie zur höheren Legitimität von Aggressionen bei). Zweitens, die Affektbestimmtheit von Aggression (Aggression als ein Instinkt). Drittens, die Hemmungen bzw. Wertvorstellungen, die mit dem Aggressionsbegriff verbunden sind, vor allem das Tötungsverbot (ebenda).

Im Laufe der Geschichte wurde die Aggressionstheorie „soziologisiert“. Gründe für Aggressionen wurden angesiedelt in ökonomischen und sozialen Problemen und in Ohnmachtserfahrungen (Bonacker 1996, 51).

Freuds Annahme, dass Aggressionen normale Triebe sind, welche durch die Kultur (Zivilisation) kontrolliert werden, ist zuzustimmen. Die moderne Gesellschaft tendiert dazu,

Aggressionen als unzivilisiert und primitiv abzuwerten und zu leugnen. Das „normale“ Ausleben von Aggressionen bei Eifersucht, etc. wird immer schwieriger. Früher oder später schaffen sich Aggressionen ihr Ventil, und so kommen Amokläufe und ähnliches zustande.

Nicht zu vergessen ist letztendlich, dass Aggressionen auch, wie in der „Čajka“ bei dem Akteur Treplev zu sehen ist, gegen sich selbst gerichtet sein können.

Da diese Diplomarbeit ein Kapitel mit „ Soziale Konflikte “ betitelt, sollen einige Hinweise zu diesem Begriff erfolgen. Der Brockhaus (1974, Bd. III, 198) schlägt folgende Definition vor:

„Unter den sozialen K. fallen alle Auseinandersetzungen, die von sozialen Gruppierungen zur Veränderung oder Beibehaltung der Gegebenheiten geführt werden (Generations-K., Geschlechter-K., Klassen-K. u. a.).“

Lewis A. Coser setzte sich intensiv mit dem Phänomen des sozialen Konfliktes auseinander. Er verstand diesen Begriff, für welchen es bislang mehrere Definitionen gab, als „[…] einen Kampf um Werte und um Anrecht auf mangelnden Status, auf Macht und Mittel, einen Kampf, in dem einander zuwiderlaufende Interessen notwendig einander entweder neutralisieren oder verletzen oder ganz ausschalten.“ (Coser 1965, 10).

Coser stellte den „[…] inneren sozialen Konflikt […]“ dem „[…] äußeren Konflikt […]“ (Coser 1965, 182) gegenüber. Während der äußere soziale Konflikt zwischen verschiedenen Gruppen stattfindet, bilden sich innere soziale Konflikte innerhalb einer Gruppe (ebenda).

Cosers Hauptanliegen war es, das negative Image des (sozialen) Konfliktes zu verbessern. Er formulierte einige Thesen, z.B. „Konflikt bindet die Gegner aneinander“ (Coser 1965, 144) und „Konflikt schafft Vereinigungen und Koalitionen“ (Coser 1965, 166). In dieselbe Richtung geht folgendes Zitat: „ »[…] Der Kampf selbst ist schon die Auflösung der Spannung zwischen den Gegensätzen«.“ (Coser 1965, 87[19] ).

Bedeutend für diese Arbeit ist folgende These Cosers (1965, 80): „Je enger die Beziehung, desto stärker der Konflikt“. In Čechovs „Möwe“ treten fast nur Konflikte zwischen Akteuren auf, die sich, meistens durch familiäre Bindungen, nahe stehen.

Auch Ralf Dahrendorf untersuchte soziale Konflikte. Er stellte drei Einstellungen zu sozialen Konflikten nebeneinander – Unterdrückung, Lösung, Regelung (Bonacker 2002, 219). Soziale Konflikte wurzeln, so Dahrendorf, im „[…] grundsätzlichen Antagonismus in einer Herrschaftsordnung […]“ (Bonacker 1996, 67). Es stehen sich immer zwei Gruppen gegenüber, welche einerseits das alte, andererseits ein neues System bevorzugen (ebenda).

Dahrendorf versuchte, mittels vier Prämissen sozialen Wandel zu erklären: Ubiquität[20] (Allgemeinheit) des Wandels, des Konfliktes, der Produktivität und der Herrschaft (Bonacker 1996, 65).

Neben den bisher präsentierten traditionellen Ansätzen der Konflikttheorien sind auch die neueren Forschungen nicht zu vergessen, z.B. Erich Weede (Imbusch/Zoll 1996, 140/141). Dieser erklärt zwischenmenschliche Konflikte und deren Ursachen durch

(a) das egoistische Verhalten der Menschen, welches zu objektiven Interessensgegensätzen

führt.

(b) Interessensgegensätze entstehen dadurch, dass Menschen mögliche negative

Nutzenfolgen für andere nicht kennen.

(c) Die Interdependenz menschlicher Handlungen ist ein zentraler Faktor für die

Herausbildung von Konflikten (ebenda).

Zum Abschluss dieses Theorieblocks eine kurze Zusammenfassung und Bewertung. Ziel der Darstellung der Konflikttheorien war es, dem Leser einen Überblick über die zahlreichen Ansätze dieser Richtung zu geben und auf die Konfliktanalyse des Dramas „Die Möwe“ vorzubereiten.

Im 20. Jahrhundert tauchten in der Konfliktforschung verschiedenste Strömungen und Denkmodelle auf, welche sich individuell dem Thema „Konflikte“ näherten. Was auffällt, ist dass sich die meisten Ansätze bisher weniger um die Konfliktakteure kümmerten und, was sich mit meinen Intentionen für die Arbeit deckt, mehr auf die Konfliktsituation und

-ursachen eingingen!

Eine Theoriesynthese (der verschiedenen Konflikttheorien) wäre nützlich, um die „besten“ Ansätze in der Forschung zusammenzuführen und das Konfliktphänomen umfassend zu untersuchen.

Da sich die Konflikttheorien durch Vielfalt und einen großen Ideenreichtum auszeichnen, konnte nicht auf alle Vertreter und Ansätze gebührend eingegangen werden. Für eine genauere Auseinandersetzung mit dem konflikttheoretischen Denken sei der Leser an die Bibliographie verwiesen.

Mithilfe der Konflikttheorien steht für die Konfliktanalyse ein ausreichendes Repertoire an Methoden und Fragen zur Verfügung (Konfliktkategorien, -ursachen, -lösungen, etc.) (s. Einleitung: Zentrale Fragestellungen). So wird es möglich sein, die einzelnen Konflikte ausführlich und genau zu interpretieren.

[...]


[1] Aus: Watzlawick, Paul/ Beavin, Janet H./ Jackson Don D. (1974). Menschliche Kommunikation. Formen,

Störungen, Paradoxien. 4. Aufl.. Bern, Stuttgart, Wien. 53.

[2] Bei einigen Punkten (z.B. Konfliktaustragungsformen) herrscht in der Literatur Uneinigkeit, ob sie in eine

Konfliktanalyse einbezogen werden sollen oder nicht.

[3] Meine Untersuchung von Čechovs „Möwe“ folgt weitgehend diesen Fragestellungen.

[4] Aus: Giesen, Bernhard (1993 oder 1994? [zwei widersprüchliche Angaben; die Verfasserin]). Die

Konflikttheorie. In: Endruweit, Günter (Hg.). Moderne Theorien der Soziologie. Stuttgart. 87-134.

[5] Aus: Kriesberg, Louis (1982). Social Conflicts. Englewood Cliffs. 30 ff.

[6] Aus: Duke, James T. (1976). Conflict and Power in Social Life. Provo. 1.

[7] Aus: Simmel, Georg (1958). Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin. 91,

210.

[8] Caplow, Theodore (1968). Two against One. Coalitions in Triads. Englewood Cliffs (New Jersey). 62-113.

[9] Z.B. wenn eine Frau, um welche zwei Männer werben, wegzieht, stirbt, etc.

[10] Die verstehende Soziologie konzentriert sich auf das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und

Gesellschaft (Bonacker 2002, 79).

[11] Aus: Weber, Max (1980). Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen. 1.

[12] Aus: Weber, Max (1980). Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5. Aufl..

Tübingen. 20.

[13] Aus: Weber, Max (1980). Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen. 28.

[14] Aus: Mees, Ulrich (1990). Constitutive elements of the concept of human aggression. In: Aggressive

Behavior, 16. 286.

[15] Aus: Dollard, John/ Doob, Leonard W./ Miller, Neal E./ Mowrer, Hobart O./ Sears, Robert R. (1939).

Frustration and Aggression. New Haven.

[16] Aus: Freud, Sigmund (1915). Zeitgemäßes über Krieg und Tod. G. W. X. 335.

[17] Dollard, John/ Doob, Leonard W./ Miller, Neal E./ Mowrer, Hobart O./ Sears, Robert R. (1939). Frustration

and Aggression. New Haven; Berkowitz, L. (1962). Aggression: A Social-Psychological Analysis. New York.

[18] Bandura, A./ Walters, R. H. (1963). Social Learning and Personality Development. New York; Wolfgang, M.

E./ Ferracutti, F. (1967). The Subculture of Violence. New York.

[19] Aus: Simmel, Georg (1908). Der Streit. In: Soziologie. Leipzig, Duncker und Humblot. 247.

[20] Vom lateinischen „ubique“ (dt. „überall“); der Begriff „Ubiquität“ ist besser mit „Allgegenwart“ zu

übersetzen.

Final del extracto de 77 páginas

Detalles

Título
Konflikte in Anton Pavlovič Čechovs Drama „Čajka“
Universidad
University of Salzburg  (Institut für Slawistik)
Calificación
Sehr Gut
Autor
Año
2003
Páginas
77
No. de catálogo
V119201
ISBN (Ebook)
9783640222186
ISBN (Libro)
9783640223886
Tamaño de fichero
800 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Konflikte, Anton, Pavlovič, Drama, Die Möwe
Citar trabajo
MMag. Eva Winkler (Autor), 2003, Konflikte in Anton Pavlovič Čechovs Drama „Čajka“, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119201

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