Closed Circuit Videoinstallationen

Ein Leitfaden zur Geschichte und Theorie der Medienkunst


Scientific Study, 2005

1062 Pages


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Impressum

Einleitung
Medienkunstgeschichte: Zustand und Zuständigkeiten
Standortbestimmung: Bildkritik und Kulturkritik
Struktur und Inhalte

1 Medienkunst: kategoriale Bestimmungen
1.1 „Installation“
1.2 „Performance“
1.3 Input/Output (Kybernetikmodell)
1.4 „Feedback“
1.5 Immediacy/Liveness
Exkurs: Zu „Broadcasting“
1.6 „Interface“
1.7 „Interaction“
1.8 Allgemeinere Begriffspaare
1.8.1 „Kunst“ und „Medium“
Exkurs: „Simulation“ und „Metapher“
1.8.2 „Repräsentation“ und „Präsentation“
1.8.3 „Analog“ und „Digital“

2 Closed-Circuit Videoinstallationen:
Ein theoretischer Einblick
Zur Definition: Ein Überblick
Ein Definitionsvorschlag
Vorbemerkung: Zu den kunst- und medientheoretischen Forschungsfeldern
2.1 Subjekt/Objekt-Verhältnis
2.2 Wirklichkeitskonstruktionen
2.3 Systemmodelle und Verhaltensmuster
2.4 Spielkonzepte und Lernprozesse
2.5 Datenerfassung und -kontrolle
2.6 Telekommunikation

3 Closed Circuit Videoinstallationen: Ein historisch-geographischer Rückblick Zu Aufbau und Gliederung
3.1 Die erste Dekade (1966–1976)
3.1.1 Amerika
3.1.2 Europa
3.1.3 Pazifik (Japan)
Y amaguch i, Nak a y a, Ka wan aka, „ V ideo Hiroba“, Tezuka/ „ V ideo Inf o r- mat ion Cente r“, Y amamoto, Iimura
3.2 Die zweite Dekade (1977–1989)
3.2.1 Amerika
3.2.2 Europa
3.2.3 Pazifik (Japan und Australien)
Iimu ra, Y amamoto, Y amaguchi, M . Ka w aguc hi, Iw ai, Scott, S. Jones, Biggs, Gidney
3.3 Die dritte Dekade (1990–2002)
3.3.1 Amerika
3.3.2 Europa
3.3.3 Pazifik (Japan und Ostasien, Australien)

Schlussbetrachtung
„Materialität“ der Medien
„Immaterialität“ der Kunst: das „Performative“
„Suprematie des Scheins“: Der falsche Spiegel
„Closed Circuit“ als „Open System“: Zielbegriff Interaktion
Medienkunstgeschichte: Strategien und Perspektiven

Anmerkungen

Literatur und Korrespondenz

Internetquellen

Namensregister

Danksagung

Credits

Einleitung

Medienkunstgeschichte: Zustand und Zuständigkeiten

Die rhetorische Frage, ob eine Medienkunstgeschichte in die Zuständigkeit der Kunst- oder Medienwissenschaft gehört, steht und fällt mit der Technikskepsis der Kunsthistoriker und Kunstskepsis der Medientheoretiker. Die mannigfaltigen Gründe für die „angestrengte Gleich- gültigkeit“1 unter den beiden Wissensdisziplinen spiegeln sich in den jeweilig kursierenden Lösungsvorschlägen wider. Die Aufforderungen, eine etwas nüchternere Perspektive einzuneh- men und einen integrativen anstatt des bisherigen konfrontativen Kurses anzusteuern, mit dem Ziel, „die unbestreitbar notwendige Aufmerksamkeit für das Neuartige mit einem Blick auf die Kontinuitäten zu verbinden“ (Schmitz 2001, S. 97), fanden bislang auf beiden Seiten relativ wenig Gehör.

Die Gründe für den nach wie vor herrschenden Zustand liegen einerseits in den unzulängli- chen Bemühungen von Kunsthistorikern und anderen Vertretern der „Geisteswissenschaft“, die Entwicklung im Bereich der Medienkunst unter ihre hergebrachten Kategorien zu subsumieren, und andererseits in der Zuspitzung auf vollständig Neues in den neuen Medienwelten durch die Vertreter der Medientheorie. In dieser Hinsicht symptomatisch ist ihr häufiger „Pakt“ mit der „Posthistorie“ und den verwandten Medienphilosophien des „digitalen Scheins“, die sich durch eine sehr selektive Sichtweise auf die konkrete Entwicklung im Bereich der Medienkunst auszeichnen (Bolz 1992 [1991]; 1993).

Im kunst- und medienhistorischen und -theoretischen Umfeld ist bislang kein transdiszi- plinäres Konzept entwickelt, das die wesentlichen Eigenschaften und die Relevanz der Me- dienkunst an einer größeren Zahl konkreter Beispiele untersuchen würde. Hinzu kommt ein Zustand wechselseitiger Nichtbeachtung zwischen der „phantasievollen mediafiction“ und der „seriösen Medienwissenschaft“, der die Gesamtlage der Mediendebatte noch unübersichtlicher macht (vgl. Sandbothe/Zimmerli [Hrsg.] 1994).

Der im Hintergrund von „mediafictions“ wirkende „informationstheoretische Materialismus“ (F. Kittler) eliminiert in seiner konsequentesten Form den Beobachterbezug und die konkreten Formen menschlicher Raumzeiterfahrung und ästhetischer Wahrnehmung. Einige Vertreter der jüngeren Medientheorie in Deutschland nehmen inzwischen einen deutlichen Abstand zu solchen Positionen ein und suchen anderweitig ihre Verbündeten.

Das von M. Sandbothe vorgelegte Projekt der Ausbildung einer integralen Medienwissen- schaft gehört in eine Reihe solcher „Fusionsvorschläge“ der kulturwissenschaftlich orientierten Medienwissenschaft mit den benachbarten Disziplinen (in diesem Fall mit der sozialwissen- schaftlich orientierten Kommunikationswissenschaft), die genauso wie die Abgrenzungsversu- che der Kunstwissenschaft als eine Fortsetzung der Legitimationsstrategien der Medienwis- senschaft angesehen werden können (Sandbothe 2001). Die vergleichbaren Perspektiven der Verknüpfung von Theater- und Medienwissenschaft – mit dem Unterschied, dass der „stär- kere“ Partner bei der „Übernahme“ die Theaterwissenschaft sein soll – zeigen in die gleiche Richtung (Leeker 2001).

Die Arbeit von Erika Fischer-Lichte an der Begründung einer Theaterwissenschaft als Leit- wissenschaft für die Erforschung der „Kulturen des Performativen“ kann im gleichen Zusam- menhang genannt werden: Sie schließt die neueren Entwicklungen im Bereich des Theaters, der Performance- und Installationskunst mit ein (Fischer-Lichte/Pflug [Hrsg.] 1998; Fischer- Lichte/Kolesch/Weiler [Hrsg.] 1999).

Es fällt auf, dass derartige „infrastrukturelle“, durch die aktuelle (eigentlich spätestens seit Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts begonnene) Entwicklung der neuen Formen der Medienkunst praktisch erzwungene Lösungsvorschläge die Kunstwissenschaft in der Re- gel außer Acht lassen. „Erzwungen“ einerseits, weil im kunsthistorischen Umfeld kaum ver- wertbare Hinweise auf diese Entwicklung zu finden sind, und andererseits, weil insbesondere die Closed Circuit Videoinstallationen (im Folgenden: CC-Videoinstallationen) a) ein für die Medienwissenschaft entscheidendes Interessenfeld (das Problem „Echtzeit“/„immediacy“, vgl. unten) darstellen und weil b) auch für die Theaterwissenschaft die Berücksichtigung dieser Entwicklung für die Aufhebung ihrer traditionellen Formen von Theatralität (als Trennung von Zuschauern und Akteuren, von Subjekt und Objekt der Betrachtung) entscheidend zu sein scheint. Die kurze Geschichte der Medienwissenschaft zeugt von einer Vielzahl derartiger Überlegungen (vgl. u. a. Faulstich [Hrsg.] 1998; Heller/Meder/Prümm/Winckler 2000).

Von den neuesten medienwissenschaftlichen Initiativen, die für „eine von diskursiven Durch- setzungskämpfen freie Perspektive“ jenseits der „Alternativen“ zwischen „Bruch“ und „Kon- tinuität“ plädieren, wird in diesem Sinne eine größere Bereitschaft für einen kritischen Dia- log mit der Kunstwissenschaft erwartet (Gendolla/Schmitz/Schneider/Spangenberg [Hrsg.] 2001). Die institutionellen Lösungsvorschläge bezogen jedoch bislang die konkreten Beispiele der Medienkunst, einschließlich der wenigen kunsthistorischen Beiträge, nur sehr selektiv mit ein.2

Die zurzeit auch im institutionellen kunstwissenschaftlichen Bereich laufenden Anstrengun- gen konzentrieren sich verständlicherweise noch auf die Datenbankerrichtungen, aber ihre Fokussierung auf die „künstlerischen Strategien, mit denen die Betrachter ins Bild gezwungen werden“3, lässt hoffen, dass die Verbindung von kunsthistorischen und medientheoretischen Kompetenzen in der Zukunft der Erfassung und Interpretation von medienkunsthistorischen Fakten dienlich sein wird (Grau 2001; 1997). Vor allem sind konzeptuelle Erfassungsinstru- mente vonnöten, welche die hergebrachte kunsthistorische Vergleichsmethodik komplexer und den Phänomenen gerechter darstellen lassen können. Die Definition, Erfassung und Interpre- tation von CC-Videoinstallationen nehmen in diesem Zusammenhang eine Schlüsselposition ein. Die entsprechende, im vorliegenden Band vertretene Forschungsmethode setzt sich von der Suche nach den historisch weit zurückliegenden Präfigurationen heutiger interaktiver Me- dieninstallationen4 mutwillig ab, welche die Entwicklung der letzten ca. 35 Jahre im Bereich der Medienkunst vernachlässigt und bislang mit unzureichendem Vergleichsmaterial operiert. Wenn nämlich alleine die Legitimation einer „brüchigen“ – weil noch sehr unscharf erfassten – kunsthistorischen Kontinuität in den Vordergrund tritt, erscheint auch der medientheoretisch/

-geschichtlich motivierte Vorwurf der Konstruktion einer „präetablierten Harmonie“ gegen die geschichtlich orientierten Wissenschaften gerechtfertigt (Faßler/Halbach [Hrsg.] 1998, S. 18). Die Rechtfertigungen für den vordergründig semantisch und metaphorisch begründeten Be- griff der „virtual reality“ sollten anhand ihrer technologischen, epistemologischen, ästhetischen und auch ideologischen Prämissen ebenfalls kritisch überprüft werden: Dies gilt auch für die Konzepte der sog. „augmented“, „enhanced“ oder „mixed reality“ – alles Bereiche, in denen die CC-Videoinstallationen z. T. eine entscheidende Rolle spielen.

Wenn also die Medientheorie auch als Kunsttheorie reflektiert und legitimiert werden soll, muss ebenso eine Genealogie des Mediumspezifischen im (medien-)kunsthistorischen Zusam- menhang zugelassen werden. Aus der korrekten Prämisse, dass „Medien und Kunst [...] nicht in einem Oppositionsverhältnis su i gene ri s [stehen], sondern [...] diskursive Anordnungen in- nerhalb wechselnder Ordnungskategorien“ (Schmitz 2001, S. 117) darstellen sollen, folgt nicht die Konklusion, dass sich jede „substanzlogische“ Bestimmung eines „spezifisch Medialen“ als Versuch darstellt, „die eigene historische Gewordenheit zu überspringen.“5

Diese medienwissenschaftliche Position sieht die Frage nach der „Medialität“ der Medien zum Scheitern verurteilt, wenn diese auf die ihnen inhärenten Eigenschaften zurückgreift.

Im vorliegenden kunsthistorischen Überblick wird sich dagegen bestätigen, dass die Über- windung der emphatischen Opposition zwischen dem „spezifisch Medialen“ und dem „histo- risch Gewordenen“ eine Voraussetzung für einen unbefangenen Blick auf die Medienkunst ist, der seine Legitimität sowohl aus dem Bereich der Medientheorie als auch der Kunstgeschichte beziehen will. Die Anerkennung der gesellschaftlichen Relevanz und Wirkungsfähigkeit der Medienkunst wird von Medientheoretikern ausdrücklich ausgesprochen:

„Medienkunst [...] ermöglicht dies, an die alltagsweltlichen Fertigkeiten und das Vorwissen der Rezipienten anzuknüpfen, die im Laufe einer intensiven Medien- sozialisation erworben wurden. Auf diese sicherlich unerwartete Weise kann bzw. soll eine immer wieder erhobene programmatische Forderung der modernen Kunst eingelöst werden, die die Entdifferenzierung von Kunst und anderen Praxisfor- men zum Ziel hatte [...]. Für den Rezipienten kommt dies vor allem darin zum Ausdruck, dass sich die Erfahrungsbedingungen von Objekten, Closed-Circuit- Installationen, Environments und interaktiven Präsentationen der Medienkunst tiefgreifend von traditionelleren Ausstellungsumgebungen unterscheiden, denn erst die Aktivitäten ihrer Nutzer erschließen die Mannigfaltigkeit ihrer Sinnpotentiale“ (Spannenberg 2001, S. 145).

Bei den Beispielen, die Peter M. Spangenberg für die Illustration seiner These anführt (Masaki Fujihata, Jill Scott, Lynn Hershman), handelt es sich ohne Ausnahme um Closed Circuit Videoinstallationen, genauso wie bei den Beispielen von Marie-Luise Angerer, die im Rahmen der Gender-Debatte – im Hinblick auf die erwünschte Körperkultur – ebenfalls hohe Erwartungen an die Closed Circuit Videoinstallationen stellt (in: Gendolla/Schmitz/Schneider/ Spangenberg [Hrsg.] 2001).

Demgegenüber scheint das oben zitierte Projekt der Ausbildung einer integralen Medien- wissenschaft (Mike Sandbothe) mit seiner pragmatischen Ausrichtung auf die (für die aus der Literaturwissenschaft entstandenen Medienwissenschaften mit konstituierende) theoretische Überwindung des „linguistic turn“ weniger an den „feinen Unterschieden“ aus dem medien- kunsthistorischen Feld interessiert: Der Interessenfokus liegt eher auf der etwas „unscharf auf- genommenen“ Demokratisierung, die durch die allgemeine Medienbenutzung im Sinne eines „Universalisierungsprojekts“ erreicht werden soll.6

Ähnliche (pragmatische) theoretische Hintergründe und praktische Absichten verfolgt Hel- mut Schanze im Rahmen seiner Medienbewertungsstudie, die für die wichtige Frage, wie eine Sammlungstätigkeit wissenschaftlich-diskursiv verarbeitet werden soll, ebenfalls weniger geeignet zu sein scheint. 7

In der aktuellen medienwissenschaftlichen Debatte spielt das Medium Video (einschließlich seiner inhärenten Spezifika und der diese am besten repräsentierenden CC-Videoinstallationen) eine eher untergeordnete Rolle. Die ungelösten Fragen und vor allem die niemals wertfreien Zugänge der Medien- und Kunstwissenschaft zu den Wertungsfragen sind deshalb auf die bisherige „angestrengte Gleichgültigkeit“ beider Wissensdisziplinen zurückzuführen.

Die künftige Medienkunstgeschichte muss der „posthistorischen“ Endzeitparanoia und den Aufhebungsphantasien eine Kontinuitätsthese entgegensetzen, die sie jedoch nicht zur Kon- struktion von „präetablierten Harmonien“ zurückführt, sondern im gleichen Atemzug die Werk- zeuge für die Registrierung und Wiedergabe von Neuem und Altem entwickelt. Das Erfordernis zur Neuaneignung der Geschichte erwächst gerade aus der Notwendigkeit einer permanenten Auseinandersetzung mit den neuen Technologien.

„Sobald sich Kritik und Geschichtsschreibung darüber klar zu werden haben, wel- che Leistungen die neuen Medien auf welchem Wege erzeugen, wird ihr Verständ- nis für die spezifischen Leistungen der vermeintlich traditionellen Künste erheblich geschärft.“ (Brock 2001, S. 206)

Die Geschichte ist eine Konstruktion und Institution, genauso wie die Kunst, Religion oder das Recht, und es haftet nichts „Wahrhaftiges“ an diesen Sphären, was mehr als die Bedürfnisse der Menschen widerspiegeln würde. Die Konsequenz und Voraussetzung des hier vertretenen Konstruktivismuspostulats ist die Beobachterabhängigkeit, wie sie Brian O’Doherty in seinem berühmtesten Essay plastisch umschrieben hat:

“Life is horizontal, just one thing after another, a conveyer belt shuffling toward the horizon. But history, the view from the departing spacecraft, is different. As the scale changes layers of time are superimposed and through them we project perspectives with which to recover and correct the past.” (O’Doherty 1991 [1976], S. 13)

In seinem ebenso bedeutenden Buch „Die Schrift“ bezeichnete Vilém Flusser die Geschichte nicht nur als eine Funktion des Schreibens und des sich im Schreiben ausdrückenden Bewusst- seins, sondern stellte die These auf, dass „das Schreiben, dieses Ordnen von Schriftzeichen zu Zeilen [...] mechanisierbar und automatisierbar“ sei (Flusser 1992 [1987], S. 12). Wie kann man – perspektivisch – diesen Wiederspruch zwischen der kontinuierlich (re-)konstruierenden Geschichte, ihrer Einmaligkeit und ihrer potenziellen Automatisierbarkeit und Programmier- barkeit aufheben? Eine brisante Frage, die sich auch auf die Entwicklung und Kontrolle des Neuen richtet. Ein rationelles Wegrationalisieren des Menschen als „Verbrecher“ ist ohne re- pressive Mittel nach wie vor kaum vorstellbar – ein geschlossener Kreis. Der darin liegende konservative, konservierende (= geschichtliche) Gedanke, den Flusser wegrationalisiert, rich- tet sich gegen die in seinem Repertoire nicht ausgesprochene, aber implizit enthaltene „Geste des Programierens“, welche die Selektion und Willkür unmöglich hätte ausklammern können.

Von sechzehn in Flussers Buch „Gesten. Versuch einer Phänomenologie“ (1991) beschrie- benen Gesten ist die erste Geste die des Schreibens und die vorletzte und letzte die des Videos und des Suchens. Schon anhand der Reihenfolge der aufgeführten Gesten lässt sich eine lineare, zielgerichtete Entwicklungslinie ausmachen. Sie widerspricht scheinbar dem, was in „Die Schrift“ stand. Scheinbar, weil eine sinnphilosophische Begründung des Unsinns der Sinnphilosophie in den letzten drei Sätzen von „Die Schrift“ die emphatischen Oppostionen aufhebt.8

Das Suchen nach der Erklärung der Geste des Programmierens entpuppt sich deshalb zu- nächst als Falle für den eifrigen Wissenschaftler. Die Krise der Wissenschaft ist in der Interpre- tation Flussers die Krise der Geste des Suchens, des Modells aller Gesten, der Geste „an sich“: Aus der Theorie soll eine Strategie des lebenden „In-der-Welt-Seins“ werden, wohlgemerkt keine „richtungslose“ Art der Forschung.

Es handelt sich um eine dialogische Forschung, deren „utopisches Ziel die immer intersubjektivere Erkenntnis unserer Lebensumstände ist [...] Gegenwärtig besteht das utopische Resultat der Forschung in der optima- len Transformation der Lebensumstände für ein gemeinsames Näherbringen der Möglichkeiten: Telematik.“ (Flusser 1991, S. 272)

Dadurch wird nicht nur der hohe Stellenwert der „Geste des Videos“ und ihrer dialogischen Struktur offenbar; das „Umlernen des Denkens“, das Wieder-in-den-Kindergarten-Gehen des Menschen erfordert keine hermeneutischen Entzifferungen. Es verlangt ein Aufrollen system- analytischer Lösungen: Das Hereinholen gemeinsamer Möglichkeiten ist nicht nur die Verknüp- fung von Ideen aus verschiedenen, von Aristoteles bis vor kurzem noch disparaten Bereichen der Kunst, Wissenschaft, Ökonomie und Politik, sondern fordert ein Verständnis dafür, welche Funktion etwas hat und haben kann. Doch wenn Urteile wie „wahr“ und „falsch“, „echt“ und „künstlich“ in Anbetracht der technischen Bilder mit Flusser aufzugeben sind, wie sieht es mit lebenserhaltenden Funktionen wie Mimesis, Nachahmung oder auch im Computerbereich – „cut and paste“ – aus?

Im Unterschied zur „Simulation“ Baudrillards, die Flusser keineswegs „sympathisch“ fand, vertrat er eine teilweise ironisch-spielerische Denkweise und eine Haltung, die im Grunde als optimistisch bezeichnet werden kann. Wegen seines Abschieds von der Mimesis-Funktion des Denkens und Handelns musste auch der Begriff „Simulation“ dem Wort „Einbildung“ weichen. Wie sich die dahinter verborgene „projektive Existenz“ (der Apparate) weiterhin „verhalten“ und weiterentwickeln sollte und vor allem, wie ein endgültiges, nicht mehr rückgängig mach- bares Treffen und Ineinandergehen der Imagination und projektiven Existenz stattfinden sollte, darüber gab Flusser keine Auskunft. Der Grund dafür ist eben die falsch gestellte Proxemik- Frage: Die „Wissenschaft“, die „Geste des Suchens“, ist nicht nur die Schau (Theorie) der ewi gen „Formen“, sondern und vor allem ein Dasein (Praxis) im augenb li cklichen Zustand der „Materie“.

Die „Telematik“ als Horizont der Annährung materialisiert sich im Kontext der vorliegenden Historie über das scheinbare Paradoxon, die „Geste des Programmierens“. Ein außergewöhn- liches Experiment der Umschreibung von Medienkunst und -design aus der Perspektive eines Programmierers unternahm Lev Manovich mit seinem Buch „The Language of New Media“ (2001). Sein Zugang definiert sich in einer deutlichen Abgrenzung von einem traditionellen, kunsthistorischen Kontinuitätsgedanken, der sich am fertigen „Werk“ und nicht zuletzt an dem kontinuierlichen Raumkegel der Perspektivenlehre der Renaissance orientiert. Manovich begründet dagegen die Aufmerksamkeitsverschiebung durch die Kontinuität zwischen dem Medienwerk und seinen versteckten algorithmischen Regeln und durch die Diskontinuität, die hinter den 3-D-Raumsimulationen der Computergrafik steckt. Auf diese Weise wehrt sich Manovich gegen die Argumente, die besagen, dass die 3-D-Computersimulationen eigentlich einen Regress im Sinne der Rückkehr zur hergebrachten Renaissance-Perspektive darstelle (Manovich 2001, S. 257; zu den Kritikern gehört u. a. Bill Viola, vgl. Viola 1993), und bietet zugleich ein aus der Filmsprache übernommenes ästhetisches Strukturmodell der Montage, das sich auf die digitalen Darstellungsformen übertragen ließe. Es ist ein Argument, das in dieser Form z. B. Klaus Honnef Anfang der neunziger Jahre aufstellte, ohne sich auf die Me- dienkunst zu beschränken: Er betrachtete die Montage als ein ästhetisches Prinzip, das als symbolisches formales Äquivalent die „Perspektive als symbolische Form“ in den avancierten Erscheinungen zeitgenössischer Kunst abgelöst habe9:

„Die Montage ist demzufolge kein austauschbares formales Strukturmodell, mög- lichen anderen ebenbürtig, sondern, eben weil die Montage Zeit und Raum der Wahrnehmung als etwas Diskontinuierliches und Unstetiges, sich wechselseitig auch permanent Relativierendes aufscheinen lässt, durchgängiges ästhetisches Prinzip der avancierten zeitgenössischen Kunst [deshalb ist es] nicht verwun- derlich, dass die Montage, die einst das ästhetische Signum der künstlerischen Einmischung in die Verhältnisse der Realität gewesen ist, durch die Künstler ei- ner von neuem sensibilisierten Aufmerksamkeit für die spezifischen Umstände der Zeitläufe als visuelles Erkenntnismittel gleichsam wiederentdeckt wurde.“ (Wede- wer 1992, S. 146–147)

Die Gleichzeitigkeit des Montage-Prinzips und eine gewisse „Treue“ zu manieristischen und barocken Neigungen wie zum „Sog“ oder ad infinitum der zentralen Perspektive, wie sie oft zusammen in den Medienkunstwerken auftreten, widersprechen dem Postulat, nach dem die Perspektive von der Montage abgelöst wird. Es kann sogar die Behauptung aufgestellt werden, dass dieser Umstand im Lichte der architektonischen Prinzipien des zeit- oder/und räumlichen Aufbaus der Medienkunstwerke eine feste Qualität darstellt. Während sich Manovich erwar- tungsgemäß, weil von einer Position der „digitalen“ Gestaltung ausgehend, für das Prinzip der Montage, der Diskontinuität und des „Haptischen“ ausspricht und zugleich mit Recht (in Anlehnung an A. Riegl) auf die historisch-ideologische Begründung von „haptischen“ bzw.

„optischen“ Raumauffassungen verweist, muss im Folgenden eine derartige Festlegung ausge- schlossen werden. Die CC-Videoinstallationen als Hauptgegenstand der vorliegenden Historie legen es aufgrund der stetigen Verwendung von Videokameras, also optischen Interfaces, nahe, eher eine Gegenposition anzunehmen.10

Die Ablehnung von emphatischen Oppositionen als Anerkennungsinstanz der Beobachter- abhängigkeit soll im Folgenden einer breiteren Forschungsbasis dienlich sein. Das visuelle Interface – die Videokamera – als unabsehbares Input eines potenziell interaktiven Medien- kunstwerkes wird also den Fokus dieses Buches darstellen. Die Frage der Programmierbarkeit – also danach, was und wie etwas zwischen diesem Input und dem einen oder anderen Output geschieht – wird in jeder CC-Videoinstallation einzeln zu beantworten sein.

Zu der ersten grundlegenden, raumbezogenen Komponente des visuellen Interface kommt die zweite, zeitbezogene Eigenschaft der CC-Videoinstallationen hinzu, die sich durch die vor- liegende Historie hindurchziehen wird: ihre Augenblicklichkeit. Auch sie ist, ebenso zu Recht, ein kritischer Punkt der Medienphilosophie. Auch hier empfehlt sich die Ablehnung starrer Oppositionen aus der Überzeugung heraus, dass die Verkürzungen und Pauschalisierungen die Sensibilität für die Ähnlichkeiten zugunsten der groben Unterschiede entscheidend beein- flussen. Paul Virilio schrieb in diesem Sinn über die unumkehrbare Durchsetzung der „teleopti- schen Wirklichkeit“ gegen die „topische Wirklichkeit des Ereignisses“ (Virilio 1997, S. 31) und diagnostizierte in der rasanten technologischen Entwicklung eine kritische Beschleunigung der Bewegungslosigkeit:

„In unserem normalen und alltäglichen Leben gehen wir tatsächlich von der ex- tensiven Zeit der Geschichte zur intensiven Zeit einer geschichtslosen Augenblick- lichkeit über, ermöglicht durch die gegenwärtigen Technologien.“ (Virilio 1997, S. 47)

Eine wichtige Aufgabe dieses Buches ist es, mit Hilfe von CC-Videoinstallationen eine Ge- schichte der vermeintlich „geschichtslosen Augenblicklichkeit“ in der Medienkunst zu erzählen. Sie kann nur über eine scheinbar paradoxe Aufhebung der Geschichte in der Augenblicklichkeit, in ihrer Rückkopplung in Angriff genommen werden und muss auch ihre zeitlichen Ingredien- zen unter Verzicht auf die emphatischen Oppositionen zu ermessen versuchen. Der visuelle Input, rückgekoppelt mit seinem Output, ergibt also eine weitgehend interpretationsfreie, for- maltechnische Definition der CC-Videoinstallation, deren grundlegende mediale Eigenschaft das Mediale selbst ist: die Vermittlung – in diesem Fall die Tele-Vision –, die nicht nur als „Omnipräsenz“, erfasst durch eine „Ethik der Wahrnehmung“ (Virilio 1996, S. 16), bekämpft werden soll, sondern auch im Sinne von Flusser als das utopische Resultat der Forschung in der optimalen Transformation der Lebensumstände und als ein perspektivisch gemeinsames Näherbringen der Möglichkeiten – „Telematik“ – verstanden werden kann.

Das Schreiben einer Historie ist ebenso wie die mediale „Unmittelbarkeit“ bekanntlich ei- ne Konstruktion. Ein Diskurs über die mediale „Unmittelbarkeit“ aus der kunsthistorischen Perspektive kann das einander Näherbringen von maschinellen und menschlichen Sichtwei- sen durchleuchten und die Chancen und Gefahren ihrer Annäherung und Interpenetration abwägen, ohne sich a priori für eine entscheiden zu müssen.

Diese Positionsbestimmung diesseits und jenseits von angesprochenen medientheoretischen

Ansichten spiegelt sich in der entsprechenden Abgrenzung von und Anlehnung an die kunsthis- torischen Dilemmas. Die apriorische Methode bringt insbesondere in den weniger untersuchten Feldern die Gefahr einer verzerrten Perspektive auf das komplexe Geschehen mit sich. Das Risiko einer unreflektierten Übernahme der im Schoß von politischen und anderen Ideologien entstandenen und verbreiteten Mythen besteht schon auf der Ebene der formalen Erfassung der Medienkunst, welche unweigerlich die Theoriebildung beeinflusst und vice versa. Die Beob- achterabhängigkeit macht sich besonders an den Schnittstellen bemerkbar, wo die Neufokus- sierung des Impliziten zu seiner Explikation stattfindet. Die Neufokussierung gibt wiederum interessante Hinweise darauf, wie die Innovation ihre Entstehungsspuren verdunkelt, auch wenn den Spielregeln entsprechend die neue Theorie ihre Vorgänger – wie im Fall der New- ton’schen und der modernen Physiktheorien des 20. Jahrhunderts – nicht widerlegt, sondern einbezieht und zum speziellen Fall machen sollte. Dies wird an den CC-Videoinstallationen mit ihrer buchstäblich technisch eingebauten Beobachterabhängigkeit am deutlichsten:

Drei Bestandteile eines Videosystems für die Aufnahme, Wiedergabe und Speicherung von Bildern, Tönen und Bewegungsabläufen – Kamera, Monitor und Rekorder – wurden zu- nächst grundsätzlich getrennt gebaut und verfügbar; das Aufkommen von Camcordern auf dem Markt machte äußerlich die grundlegenden Funktionen dieses Mediums unsichtbar, so dass die gleichzeitige Aufnahme und Wiedergabe – das realzeitliche CC-Verhältnis – zum Normalfall geworden war. Die Miniaturisierung von analogen und insbesondere digitalen Vi- deokameras als Überwachungs- und „CUCME“(See You See Me)-Webkameras und vor allem ihr Anschließen an das Computersystem als sein visueller Input machte die Videokamera nur noch zu einem der zahlreichen möglichen Computer-Interfaces. Mit der Zwischenschaltung von Computerhard- und -software zwischen Videoaufnahme- und -wiedergabegerät verlor sich der klare Blick für die CC-Videoinstallationen und ihr Interaktionspotenzial, das jetzt nur noch im entsprechenden Programm, dem Algorithmus, erkannt wurde. Die Beobachterabhängig- keit, genauso wie das Beobachtete, wurde aufgrund ihrer potenziellen Simulierbarkeit auf der Skala der Prioritäten herabgestuft, und die Geschichte der emphatischen Oppositionen bekam ihre neue ontologische Dimension. Mit systemischem Vokabular lässt sich ihre Genealogie als der Weg des Impliziten (das Auge des Menschen) zum Expliziten (Videokamera) und zurück zum Impliziten in einem neuen System (das Computerauge) beschreiben.

Eine der Ursachen des fehlenden Bezugs der Kunstwissenschaft zur zeitgenössischen und insbesondere Medienkunst wurde von der kunsthistorischen Seite im Mangel an „Geschmacks- bildung“ oder an „Gegenwartsinteresse“ vermutet (Wyss 1996, S. 37). Der Kunsthistoriker B. Wyss wies darauf hin, dass es Hegel „glänzend verstanden [hatte], die aktuelle Kunst, ein Störelement seines philosophischen Systems, mit gezielten Hieben zu erledigen“ (Wyss 1997 [1985]). Wie der „Suprematie des Begriffs“ damals, so bleibt auch der Suprematie der einen oder anderen Technologie heute die gegenwärtige Kunstentwicklung in ihrem Facettenreich- tum verschlossen.

Ein weiterer Grund für das Ignorieren der Medienkunst im Bereich der kunsthistorischen Leh- re und Forschung entspringt einer grundlegenden Technikskepsis, die ebenso wie bei einigen medientheoretischen Positionen als Symptom eines traditionellen Denkens in emphatischen Oppositionen angesehen werden kann. Die Gegensätze „Inhalt vs. Form“ oder „Eingebung/ Talent/Genie/Ästhetik vs. Technik/Ausführung“ drücken sich im nach wie vor aktuellen kunst- historischen Dilemma aus, das die technischen Geräte und die künstlerische Idee als Alterna- tiven betrachtet.11 Die entsprechenden Versuche, Medienkunst über den Angriff auf die noch nicht genügend ausgereiften künstlerischen Techniken und Praktiken zu disqualifizieren, er- weisen sich als vielversprechend: Vor dreißig Jahren war es – wenn überhaupt wahrgenommen – die „Videokunst“, heute steht man dem breiten Feld der „interaktiven Medieninstallatio- nen“ misstrauisch gegenüber. Das Phänomen, das in manchen kunsthistorischen Äußerungen a priori abgelehnt wird, wird von der Medienwissenschaft ebenso oft unkritisch akzeptiert.

Der Mangel an laufenden wissenschaftlichen Untersuchungen und an verwendbarer und ein- leitender Literatur zur Medienkunst verursachte bereits eine spürbare Zeitverzögerung in der Aufnahme und Verarbeitung von entsprechenden Inhalten. Ein sowohl für die Kunstgeschichte als auch für die Medienwissenschaft „entlastender“ Umstand, der an dieser Stelle berücksich- tigt werden kann, ist die Tatsache, dass sich Medienkunst an einer denkbar ungünstigen (Schnitt-)Stelle zwischen diesen beiden Disziplinen befindet. Als solche wird sie meistens „un- scharf“ aufgenommen, selten „gespeichert“ und nur ausnahmsweise weiter vermittelt. Diese Situation ist zum großen Teil den mangelnden Einzeluntersuchungen zuzuschreiben.

Hinzu kommt eine weitere schwerwiegende Aporie: Die Unmittelbarkeit ästhetischer Er- fahrung – wenn auch „archäologisch“ erprobt – scheint innerhalb der Kunstgeschichte die Geschichtlichkeit der Kunst tendenziell zu verfehlen. Die Entlarvung des „unschuldigen Au- ges“12 als einen Mythos der Moderne birgt in sich die Gefahr einer radikalen Verschiebung der Forschungsakzente zugunsten der Institutionsgeschichte der Kunst, die einen wichtigen Bestandteil, aber letztlich keinen Ersatz für die Werkanalyse bieten kann. Peter Bürger sah in der kunsthistorischen Beschäftigung mit der Gegenwartskunst sogar einen Widerspruch in sich:

„Kein Zweifel, daß die Erforschung des historischen Wandels der Institutionali- sierung der Kunst ein wichtiges Forschungsfeld darstellt. Freilich bringt es den Kunsthistoriker in eine prekäre Situation, wenn er sich der eigenen Epoche nä- hert. Er sieht sich dann nämlich gezwungen, zwei verschiedene und miteinander nicht kompatible Perspektiven der Kunst gegenüber einzunehmen. Als Historiker der Institution Kunst betrachtet er die Kunst von außen, als Rezipient, Kritiker und Interpret muß er sich dagegen im Rahmen der Institution bewegen, weil au- ßerhalb derselben Gegenstände, die sie zu Werken macht, verstummen.“ (Bürger 1995, S. 67)

Der scheinbare Widerspruch löst sich auch bei diesem Einspruch durch die Überbrückung von emphatischen Oppositionen auf: Die Rezeption und Beschreibung des „Werkes“ bringt die „Innensicht“ zustande, die sich durch die Interpretation und Kontextualisierung um eine „Außensicht“ erweitert und die beiden Perspektiven noch einmal reflektiert.

„Soviel ist gewiß, wir brauchen Erzählungen: solche, die der immanenten Entwick- lung einer Form nachgehen, aber auch solche, die den Text der Werke zu anderen Texten in Beziehung setzen, ohne jenen auf diese zu reduzieren, schließlich aber vor allem solche, die den Bezug des Interpreten zum interpretierten Werk mit zum Gegenstand der Darstellung machen und so den Schein der Objektivität der eigenen Deutung zerreißen.“ (Bürger 1995, S. 69)

Die „Rettung der Bilder vor dem Begriff“ (Wyss 1997, S. 12) kann erst nach ihrer vo rl äufigen „Entschlüsselung“ unternommen werden. Diese setzt aber einen Abschied von der Angst vor der Aktualität und Augenblicklichkeit voraus.

„Nur die kunstgeschichtliche Annäherung an ein Werk der Medienkunst kann diesem angemessener gerecht werden als die allgemeine Medientheorie, da jene auf die Wahrnehmung des Werks hinlenkt und nicht auf die Reaktionsweisen und die Befindlichkeiten des Medienpublikums. Es gibt keinen Grund, die Erkenntnis der Medienkunst außerhalb der Kunstgeschichte anzusiedeln, obwohl sie und gerade weil sie eine lange Reihe von klassischen Kategorien der Künste nicht nur in Frage stellt, sondern abgeschafft hat.“ (Klotz 1995, S. 44)

Zweifellos ein begrüßenswerter Appell, leider bislang mit wenig Folgen. Die kursierenden kunsthistorischen Praktiken bewegen sich indessen zwischen dem hermeneutischen Kontext- überdruss und der semiotischen Kontexteuphorie.

Wenn die kunstgeschichtliche Hermeneutik mit dem Unbehagen des Faches angesichts der groß angelegten Kontextforschung begründet wird, „die nach und nach das Kunstwerk in sei- nen spezifischen, anschaulichen Qualitäten aus den Augen zu verlieren droht“ (Fleiß 1994,

S. 20; Bätschmann 1984), dann kann man von einer homöopathischen Überwindungsstrate- gie in Bezug auf eine prekäre Lage sprechen, die genauso wie ihr Gegenpol, der semiotische Kunstwissenschaftsentwurf (Thürlemann 1990), einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit er- hebt:

Das nach wie vor prägende Schisma der kunstwissenschaftlichen Praxis, die als „Dilem- ma“ Inhalt versus Form zwischen der Ikonographie und Stilgeschichte herrscht, will entweder durch die neuen Spaltungen überwunden werden, oder es werden gelegentlich Lösungsvor- schläge unterbreitet, die sich mehr an den Überbau als an den Unterbau halten, auch und gerade weil eine „Entfaltung der Theorie am Exempel“ programmatisch versprochen wird. Die geschichtliche Dimension, die sich über die „bedeutungskonstitutiven Inhaltsformen“ und das letztendlich unbegründbare „methodologische Prinzip der Relevanz“ begründen will (vgl. Thürlemann 1990, S. 13), bleibt nicht weniger obskur, selektiv und arbiträr als die kritisierten Wölfflin’schen überzeitlichen „Grundbegriffe“.

Eine Entfaltung der Theorie der Medienkunst an den Exempeln bleibt eine Herausforderung für die künftige Kunst- und Medienwissenschaft, wenn sie sich ernsthaft von den äußerst selektiven Vorgehensweisen der neunziger Jahre verabschieden will.

Die vermeintlichen Gegensätze des Sicheinlassens und Reflektierens in der Praxis und der Datenbeschaffung und -bearbeitung in der Theorie sind zwar kein Spezifikum einer bestimm- ten Wissensdisziplin, sie werden aber unter dem Namen „New Art History“ durch eine in- terdisziplinäre Forschungshaltung zu überwinden gesucht, die sich mit den Schwerpunkten in der Ideologiekritik, feministischen Kunstgeschichte, Psychoanalyse, Semiotik, Systemtheorie, Kulturanthropologie, Soziologie etc. noch am nächsten an die Cultural Studies wagt. Die Cultural Studies hatten sich wiederum seit einiger Zeit die meisten Kompetenzen in Bezug auf die Medienkunst erworben (Halbertsma/Zijlmans [Hrsg.] 1995, S. 8; S. 279 ff.).

Beträchtliche Teile der Medienkunst haben die Bestimmung des Wesens der Kunst im Verlauf ihres Entstehens (Heidegger, Mondrian, Cézanne) verinnerlicht, in sich materialisiert. Die CC-Videoinstallationen stellen formaltechnisch gesehen umfassende Illustrationen dieses Grundgedanken dar und scheinen zugleich gegen den Heidegger’schen Hang zur Substantivie- rung resistent zu sein. Dieser Umstand – die Auflösung des „Werkes“ in den „Prozess“ – machte die Arbeit mit diesem Genre bislang gewiss nicht zur Lieblingsbeschäftigung der Kunst- und Medienwissenschaftler. Auch wenn die Grenzen des kunstgeschichtlichen Gegenstandsfeldes inzwischen in Bewegung gekommen seien, „hat die Filmforschung oder gar die Fernsehforschung in der Kunstgeschichte noch nicht Fuß gefaßt; sie sind im Begriff, das Gegenstandsfeld einer sich etablierenden Medienwissenschaft zu werden. Man kann sich fragen, ob das kunstgeschichtliche Fach, wenn es sich um das prägende visuelle Erfahrungsmittel der Gegenwart nicht kümmert, noch überlebensfähig bleiben kann; man kann aber auch daran zweifeln, ob das Fach methodisch und personell den wissenschaftlichen Zugriff auf die neuen Massenmedien bewältigen kann und dafür nicht genuine Voraussetzungen und Ziele preisgeben müßte.“ (Warnke 1986, S. 21).

Die „genuinen Voraussetzungen und Ziele“ der Kunstgeschichte sollen im Folgenden im Interesse dieser Kunstgeschichte vordergründig ahistorisch und aideologisch begründet werden, indem ein Festhalten an dem undefinierten Begriff „Kunst“ empfohlen wird. Die Versuche, ihn wegzurationalisieren und ihm durch die anderen Begriffe eine bestimmte formaltechnische Syntax zu verleihen, schlugen letztendlich fehl (vgl. „Language“ bei L. Manovich 2001).

Der Zustand der „angestrengten Gleichgültigkeit“, in dem die Medien- und Kunstwissen- schaft ihre gegenseitigen Erkenntnisstände nur sporadisch, selektiv, ja widerwillig wahrneh- men, ist das Ergebnis eines kontinuierlichen Divergenzprozesses, dessen Eigenschaften hier nur skizzenhaft angedeutet werden können. Während der Kunstgeschichte die medialen Kom- petenzen immer mehr abgesprochen werden, entwickeln sich Teile der Medienwissenschaft im weitgehenden Verzicht auf die relevanten kunsthistorischen Erkenntnisse. Medienkunst gehört weder zum kunsthistorischen noch zum medientheoretischen Alltag in einer Atmosphäre, in der sich nach wie vor die eine oder andere Seite gelegentlich mit fremden Federn schmückt (vgl. Fleiß 1994, S. 19) und in der „Argumente“ des Typus ad verecuniam an die Stelle kon- kreter Untersuchungen gesetzt werden. Die Aufforderung von Timothy Druckrey weist auf eine Alternative zu diesem Status quo hin:

„Die Medienkünste verlangen schließlich nach einer umfassenderen historischen Perspektive, innerhalb derer die Verbindungen zwischen Technologien, sozialem Wandel und Kommunikation dynamisch, spekulativ, oft performativ [...] und ins- gesamt mehr ein Glücksspiel denn ein Endspiel sind [...] Dennoch haben die Zentralisierungen der Moderne nach zwei Dekaden krampfhafter postmoderner Verwerfungen erneut die Kunsttheorie heimgesucht, die darum ringt, Kohärenz in die paradox dezentrierten Systeme des Cyberspace zu bringen [...] so muss man den vermeintlichen Kollaps der Moderne einer nüchternen Neubetrachtung unterziehen und die konzentrierte Anstrengung unternehmen, die Geschichte des Modernismus mit einem archäologischen Ansatz und nicht bloß analytisch zu überdenken“ (Druckrey 1999, S. 102).

Nur dadurch kann

„die zunehmende Etablierung des Mediendiskurses, dessen Überlegungen mittler- weile selbst in die traditionell konservative Kunstwissenschaft einzogen, [...] eine von diskursiven Durchsetzungskämpfen freie Perspektive [ermöglichen], in der sich Kontinuität und Bruch nicht als Alternative, sondern als wechselseitige Vorausset- zungen gesellschaftlicher und künstlerischer Dynamik darstellen“ (Gendolla u. a. [Hrsg.] 2001, S. 8).

Solange das Faktensammeln im Bereich der Medienkunst als Gegensatz zur theoretischen Reflexion angesehen wird, wird auch die methodische Reflexion einer künftigen Medienkunst- geschichte nicht aufbereitet werden können. Die neuen Methoden der Kunstgeschichte müssen im Dialog mit anderen Wissensdisziplinen für die Interpretation der Medienkunst entwickelt werden, denn die alten Herangehensweisen stoßen im Dialog mit der Medienkunst an ihre Grenze und bleiben letzten Endes fruchtlos (Halbertsma/Zijlmans [Hrsg.] 1995, S. 11).

Die Übernahme neuer Informationen aus anderen Wissenschaften der Kunst- sowie Tech- nologieumfelder kann zu neuen Einsichten in das Entstehende, aber auch zur Auflösung alter kunsthistorischer „Aporien“ führen (vgl. Kacunko 2001b).

Einen methodologischen Ansatz, der besonders in Bezug auf die Medienkunst weiter aus- gebildet werden konnte, präsentierte Michael Baxandall bereits Mitte der achtziger Jahre. Sich gegen eine statische Auffassung der Intention aussprechend, die von einer vorab getrof- fenen Festlegung ausginge, machte der amerikanische Kunsthistoriker nachdrücklich auf den „Zusammenstoß mit dem Medium“ aufmerksam:

„Wir haben es aber nicht bloß mit einer einzigen Intention zu tun, sondern mit einer unübersehbaren Abfolge sich entwickelnder Intentionsmomente [...] Und wenn wir den Prozeß auch nicht nacherzählen können, so können wir ihn doch postulieren. Ein bestimmter Prozess ist vielleicht nicht rekonstruierbar, aber die grundsätzliche Annahme, daß ein Prozeß stattgefunden hat, kann für die Darstellung der Inten- tion bei einem spezifischen Bild sehr wesentlich sein.“ (Baxandall 1990 [1985], S. 107)

Diese zweifelsohne gesicherte Annahme über den prozessualen Charakter der Kunst trat seit den sechziger Jahren in der künstlerischen Praxis immer mehr in den Vor- dergrund. In den weiten Bereichen der Medienkunst trat die „in Bewegung gesetzte“ Intention des Autors auch formaltechnisch in ein unauflösbares Rückkopplungsverhältnis mit derjeni- gen des Beobachters. Zu der Zeit, als die „Betrachterfunktion im Werk“ (vgl. Kemp 1992 [1985], S. 20) ihren endgültigen Einzug in den kunstwissenschaftlichen Diskurs fand, war sie noch an den Beispielen aus den traditionellen Kunstgattungen exemplifiziert, also eher in ihrer impliziten Bedeutung untersucht. Gleichzeitig feierte die noch ungeschriebene Historie der CC-Videoinstallationen ihr zwanzigjähriges Bestehen „im Untergrund“, trotz der Tatsache, dass sie bereits zu dem Zeitpunkt auf zahlreiche weltweit berühmte Beispiele (B. Nauman, N. J. Paik, D. Graham, P. Campus, B. Viola etc.) zurückgreifen konnte.

In den CC-Videoinstallationen trat zudem die implizite Betrachterfunktion auch medien- technisch zum ersten Mal auf. Besonders darin deutet sich ihre Relevanz für eine Rezeptions- ästhetik an, welche nicht nur in einem geisteswissenschaftlichen „Kontextualismus“ (Kemp 1986, S. 207; Kemp 1992 [1985], S. 23/24) aufgehen soll, sondern sich aufrichtig mit den Errungenschaften der (interaktiven) Medienkunst auseinander setzen will. Zehn Jahre nach der Veröffentlichung des rezeptionsästhetischen Ansatzes von Wolfgang Kemp fand dieser Ansatz jedoch noch keinen Einzug in die Sphäre der Medienkunst. Parallel zu seiner Kritik an der „emphatischen“ Rezipientenorientierung des Poststrukturalismus (ironisch durch die Kür- zel VLF – Viewer Liberation Front – bezeichnet) drückte Kemp seine Skepsis gegenüber der digital unterstützten interaktiven Medienkunst über die Feststellung der ihr innewohnenden „Aporie“ aus, die oben als „Geste des Programmierens“ vorgestellt wurde:

„Die erste Bindung dieser Kunst, die den Betrachter befreien will, ist die an das Programm [...] Ich glaube [...] daß sich Wahlfreiheit nur simulieren, nicht program- mieren läßt. Programmiert werden Scheinalternativen.“ (Kemp 1996, S. 19/20)

Dieser Vorwurf lässt sich auf die konkrete Medienkunst deshalb nicht ohne weiteres appli- zieren, weil seine Allgemeinheit eine nur mäßige „Trefferquote“ in Bezug auf die konkreten Medienkunstwerke aufweisen kann. Die bereits in der früheren Beschreibung der entsprechen- den Rezeptionsästhetik als entscheidend angesehene Suche nach dem implizite n Betrachter, nach der „Betrachterfunktion im Werk“, sah einen tatsächlichen Eintrit t des e x p lizi ten Be- trachters ins Werk nicht vor.

Der Kunstgeschichte, verstanden als Interpretations- oder gar Indizienwissenschaft, die sich an den sinnphilosophischen und -kulturellen Fragen orientiert und die „Rezeptionsrealität“

„im vollen Umfang“ (Kemp 1992 [1985], S. 23/24) rekonstruieren will, fehlen nicht nur die Werkzeuge für das Erfassen medialer Kontexte: In ihrer sinn- und bedeutungsphilosophischen „Werkorientierung“ fehlt ihr die grundsätzliche Dynamik und Flexibilität, sich den Werken der (interaktiven) Medienkunst anzunähern.

Der von Jonathan Crary entwickelte und zuletzt stark an Foucault angelehnte Ansatz (Crary 1999) richtete den Fokus auf die wichtigen „Techniken des Betrachters“, bislang jedoch in einem relativ sicheren Abstand von den gegenwärtigen Medienkunstkontexten und -exempeln (eine 1979 in New York abgehaltene, wichtige Ausstellung mit CC-Videoinstallationen bekam von Crary eine eher vernichtende Kritik [Crary 1979]).

Die beiden wichtigsten klassischen Wahrnehmungstheorien, die Emissions-Theorie (z. B. J. Locke) und die Rezeptionstheorie, wurden im Hinblick auf die cartesianische Welt, gesehen oder nicht gesehen durch die Newton’sche Optik, konstruiert. Der „Sender“ und der „Emp- fänger“ (unabhängig davon, ob es sich dabei um einen Menschen, um eine Maschine oder um beides handelt) blieben trotz der physikalischen Theorien des frühen 20. Jahrhunderts im Kunstbereich theoretisch wie praktisch voneinander abgekoppelt. Bei John Dewey kann die klare Trennung zwischen der ästhetischen Erfahrung des „Produzenten“ mit der Gestaltung als Hauptaufgabe und der ästhetischen Erfahrung des „Rezipienten“ mit der Interpretation als Hauptaufgabe noch deutlich beobachtet werden (vgl. Vogel 2001, S. 138). Bazon Brock stellte zutreffend fest, dass das Neue an den „interaktiven Medien“ darin liegt, „dass zwischen Produktion und Rezeption nicht mehr unterschieden wird“ (Brock 2001, S. 215).

Der gewichtige Grund dafür ist die Tatsache, dass das vormalige „Werk“ zu einem (tech- nologischen) Prozess geworden ist, das nur in seinem andauernden „Entwischen“ in Form von

„erwischten“ Spurenfragmenten aufgefasst und begründet werden kann. Es ist die neu definier- te, neu gewonnene „Mitte“, die nichts Gemeinsames mit ihren in den vierziger und fünfziger Jahren in Süddeutschland verlorenen Pendants (Sedlmayr 1948) haben will, das Werk, in dem das „Bild“ und sein Gegenpol, der „Betrachter“, aufgegangen sind. Dies konnte natürlich nicht in einem zeit- und raumleeren Ort der „picture plane“ geschehen, wie es Brian O’Doherty „genealogisch“ und auf ihm eigene metaphorische Weise beschrieb:

“How would we tell the story of the little Picture Plane that grew up and got so mean? How it evicted everybody, including Father Perspective and Mother Space [...] Who is this Spectator, also called the Viewer, sometimes called the Observer, occasionally the Perceiver [...] He – I’m sure it is more male than female – arrived with modernism, with the disappearance of perspective.” (O’Doherty, 1991 [1976], S. 35; 39)

Die Distanz, die zwischen dem „Spectator“, seiner „snobbish cousin the Eye“ und ihrem Gegenüber herrschte, verringerte sich im Kontext der Medienkunst durch die theoretische An- erkennung und praktische Erprobung der medialen Beobachterabhängigkeit. Die unmittelbare Interpenetration der „Instanzen“ „Werk“ und „Betrachter“ brachte die beiden „Paradigmen“ um ihre Eigenständigkeit und machte sie jeweils zum Spezialfall eines künstlerischen und medialen Prozesses.

Die Beobachterabhängigkeit ist die zentrale anzuerkennende Größe im hier vertretenen „Kon- struktivismus“, bei dem die beiden aufeinander bezogenen Qualitäten Konsistenz und Begrün- dung nicht als Alternative aufgefasst, sondern aus der Perspektive der Konsistenz, verstanden als Kontext, beurteilt werden sollen. Weder sinn- noch kulturphilosophischer Horizont sol- len darin eine aktive Rolle spielen, höchstens als Vergleichsmaterial und vorläufiges, immer wieder zu verwerfendes Resultat gefundener Querverbindungen. Es handelt sich um einen „Konstruktivismus“, der entschieden gegen die Konstruktionen „präetablierter Harmonien“ à la Leibniz treten und gerade auch deshalb im stetigen Dialog mit den „radikalen“, „operativen“ und „gemäßigten“ Konstruktivismen (H. R. Maturana, N. Luhmann, S. J. Schmidt etc.) blei- ben will. Wenn weder die Entwürfe noch die Realisationen auf der Strecke bleiben sollen, ist es notwendig, die letzte denkbare Konsequenz an ihren Gegenpol rückzukoppeln, um weiter vorankommen zu können.

Dass vorgefasste Einstellungen konsistente Wirklichkeiten su i gene ris erzeugen, davon zeu- gen Hypothesen, die lange vor der Formulierung der Autopoiesis-Theorie durch H. R. Ma- turana und F. Varela sowie des radikalen Konstruktivismus von E. von Glasersfeld aufgestellt worden waren: Der Physiker A. Einstein, der Literaturkritiker und Ästhetiker B. Croce, die Philosophen H. Vaihinger (1852–1933) und A. Schopenhauer, G. B. Vico, G. Berkeley, bis hin zu den griechischen Sophisten, vor allem Gorgia, gehören zu ihren Vorboten (vgl. Watzlawick in: Literatur). R. Buckminster Fuller formulierte 1974 diesen à la Maturana „kognitionsepis- temologischen“ und auf das „Massenmedium“ Fernsehen bezogenen Vergleich:

“We know that the human has never seen outside himself [...] All sensing is done by humans entirely inside the brain, with information nerve-relayed from the external contact receivers. The human brain is like a major television studio-station” (Fuller 1974).

Die neueren Erkenntnisse über Funktionsweisen des Gehirns bestätigen die längst eingeleite- te Abkehr von den dualistisch konzipierten Wahrnehmungstheorien, die in ihren Rezeptionsund Emissionsvarianten den cartesianische Subjekt/Objekt-Hiatus mit seiner zweifelhaften „deus ex machina“-„Begründung“ zumindest konsistent zu erfassen versuchten.

Siegfried J. Schmidt, sich auf H. R. Maturana und G. Roth berufend, sah in den neuen Einsichten der Gehirnforschung den Anstoß zur Etablierung einer empirisch fundierten Er- kenntnistheorie, die ohne Ontologie auskommt (J. S. Schmidt 1990, S. 312). Maturana selbst begründete seine konstruktivistische Kognitionstheorie durch die Gewichtverschiebung von der Subjekt/Objekt-Konfrontation zur Operation des vormaligen „Subjektes“ als konstituierendes Element der Wirklichkeitskonstruktion. Wenn also die Lebenspraxis als operationell primär bezeichnet werden kann (Maturana 1990, S. 59), ohne einen „Realitätsstempel“ aufgedrückt bekommen zu müssen, stellt sich die Frage, ob nicht die Kunstpraxis ebenfalls ohne weite- re Begründungen und Erklärungen als Ausgangshypothese einer Geschichte der Medienkunst erfasst werden kann. Dies erscheint zunächst deshalb vonnöten, weil die bisherigen konkurrie- renden kunst- und medientheoretischen Versuche an ihrer Vorgefasstheit im Sinne zu selektiver Prinzipien scheiterten, die letzten Endes immer wieder ein oder zwei Dutzende von Künstlern als „Modellbeispiele“ für die verschiedensten Beweisführungen zu Tage brachten.

An dieser Stelle muss jedenfalls der Versuch unternommen werden, die Kunst- wie auch Lebenspraxis vor dem Solipsismusvorwurf zu bewahren, indem das Rückkopplungsverhältnis zwischen dem Kunstwerk und dem Betrachter als zentrale Operation anerkannt wird. Dem widerspricht jedoch Maturanas grundlegende Kritik an jeglicher Rückkopplungsmöglichkeit, denn die lebenden Systeme als Netzwerke von internen Relationen lassen demnach grund- sätzlich keine Inputs und Outputs, also keine Kybernetik zu. Maturanas Arbeit am M.I.T. in Cambridge, USA 1958/59, und die Einsicht in die dort damals begonnene AI(Artificial Intelligence)-Forschung veranlasste den chilenischen Wissenschaftler zu einer scharfen Kritik, die bis heute nicht aus dem Weg geräumt werden konnte:

„Das Denken der Leute, die ‚Artificial-Intelligence‘ entwickeln, richtet sich auf die Entwicklung von Programmen [...] In den lebenden Systemen hingegen spielen sich ganz andere Vorgänge ab. Lebende Systeme sind Systeme, die bestimmte Relationen erzeugen. Sie sind Netzwerke von internen Relationen [...] Die Aus- gangsstruktur eines lebenden Systems ermöglicht es ihm, dieselben Dinge auf verschiedene Art und Weise zu tun“ (Maturana 1990, S. 44/45) und weiter:

„Die Anfänge der Theorie der Autopoiesis liegen in der Tat um das Jahr 1960 herum [...] wollte ich das vermeiden, was ich für den Fehler der Forscher im Bereich der ‚Artificial Intelligence‘ hielt. Dieser Fehler bestand darin, daß sie ein Modell ihrer Beschreibung der biologischen Phänomene erstellten. Sie erstellten aber kein Modell der biologischen Phänomene selber“ (Maturana 1990, S. 30).

An dieser Stelle also, an der sich die oben angekündigte, paradox klingende „Geste des Programmierens“ formuliert, muss der radikale Konstruktivismus verlassen und die Kybernetik zu Hilfe gerufen werden, obwohl und gerade weil die Frage der Nachahmung biologischer und anderer Phänomene in der Algorithmuswelt nicht a priori – kongruent zur Ablehnung anderer erwähnter Apriorismen – entschieden werden will.

Die von Max Bense in den fünfziger Jahren versuchte Begründung einer semiotischen Äs- thetik durch die Zersetzung der Realität, die sich auf die „Mitrealität des Kunstwerks“ und das „Dargestellte“ bezieht, und die vergebliche Konstruktion von Modi und Formeln, welche zu einer Rekonstruktion des Ganzen verhelfen sollten, nahm noch groteskere Züge an (Bense 1954, S. 33). Die auf die „triadische“ Situation zwischen dem Künstler, Kunstwerk und Be- trachter applizierte kybernetische Theorie versteht die Realität eines Medienkunstwerks als ein in der Regel schon aus Input un d Output zusammengesetztes System, das durch die Ein- wirkung des Künstlers und Betrachters aktiviert wird und nicht nur ein metaphorisches „Als ob“, sondern auch einen formaltechnischen Rückkopplungsprozess erzeugt. In der vorliegenden Historie werden die zu behandelnden Werke schon aufgrund ihrer medialen Zusammensetzung nicht mehr als die herkömmlichen Output-Objekte in einer cartesianisch verfassten Welt er- fasst und beschrieben werden können, denn als solche ergeben sie weder Sinn noch weisen sie eine innere Konsistenz auf. Das eingesetzte Medium wird buchstäblich in seiner wesentlichen Funktion erfasst und die Mitwirkung des digitalen Computers als Steuerungssystem sowie zu- sätzlicher Interfaces und raumzeitlicher Parameter im jeweiligen Kunstwerk immer wieder am Exempel quantifiziert und auch qualifiziert. Die breit gefächerte kunsttheoretische Skala reicht von der „Cybernetic Guerrilla Warfare“ und „Self-Correction Through Cybernetics“ und der aus dem Videomedium entwickelten kybernetischen Theorie von Paul Ryan (1971; 1973, vgl. Literatur) bis hin zum „Cybernetic Spirit“ von Roy Ascott (Ascott 2001a [1966/67], S. 95), welcher im Computer das „supreme tool“ einer „behaviouristischen“ bzw. „modernen“ Kunst sieht. Es ist wichtig zu betonen, dass sich die folgenden Ausführungen nur insofern an den kybernetischen Grundsätzen orientieren werden, als sie die Input- und Output-Instanzen in ihrem Rückkopplungsverhältnis als konstituierend für weite Teile der Medienkunst anerken- nen und dieses Verhältnis als co ndi tio sine qua non aller CC-Videoinstallationen eingestehen. Die inzwischen kursierenden, negativ besetzten Etiketten wie die „retroaktive Medienkunst“ (Schwarz 1997, S. 17) können als ungerechtfertigt betrachtet werden.

Standortbestimmung: Bildkritik und Kulturkritik

„Alle Menschen streben von Natur nach Wissen; dies beweist die Freude an den Sinneswahrnehmungen, denn diese erfreuen an sich, auch abgesehen von dem Nutzen, und vor allen andern die Wahrnehmungen mittels der Augen. Denn nicht nur zu praktischen Zwecken, sondern auch wenn wir keine Handlung beabsich- tigen, ziehen wir das Sehen so gut wie allem andern vor, und dies deshalb, weil dieser Sinn uns am meisten Erkenntnis gibt und viele Unterschiede offenbart.“ (die ersten beiden Sätze der „Metaphysik“ von Aristoteles [980 a] [Rowohlt 1966]) Die kritische Begründung der medienkunsthistorischen Perspektive im Allgemeinen und die eines neuen rezeptionsästhetischen Ansatzes im Besonderen erfordert nicht nur ein Ab- standnehmen von traditionellen Dichotomien zwischen dem „spezifisch Medialen“ und dem „historisch Gewordenen“. Die Umschreibung und Eingrenzung des Untersuchungsfeldes samt grundlegender methodischer Ansätze kann den Streit um die Zuständigkeiten und die daraus resultierende „schlechte Stimmung“ für die Ausbildung einer Medienkunstgeschichte nicht aus der Welt schaffen.

Ihre Standortbestimmung erfordert fundamentalere Interventionen in die traditionellen kunst- und medienwissenschaftlichen Grundsätze.

Solange die Rettung des Bildes vor dem Medienbegriff das erklärte oder implizite Ziel der Kunsttheorie und Ästhetik bleibt, wird eine unvoreingenommene Bildkritik im Medien- kunstkontext nicht möglich sein. Diese Kritik muss ohne Rücksicht auf Verluste ausgetragen werden. Die Form des Bildes war und blieb das unbestrittene Medium der „bildenden“ Künste, solange die Audiokomponente und Kinästhetik sowie die „beschleunigten Medienbilder“ ohne Hintergrund und Rahmen und das gesamte Feld des Performativen die schmalen Grenzen des „Bildenden“ in der Kunst von Grund auf erschütterten.

Die von H. U. Reck beklagte „systemtheoretisch strapazierte Selbstreferentialität“ (Reck 1998, S. 148) brachte in der Tat als Ausgangspunkt ihrer naturanalogen Form des Spiegels und ihrer medialen Form der direkten Audio- und Videoübertragung den Begriff des Bildes, des Rahmens, des „Picture Plane“ auf den ernst zu nehmenden Prüfstand. Die zusammenhän- gende Entwicklung von Telekommunikationstechnologien und der Gen- und Gehirnforschung macht zudem die These, dass die Bilder nur kulturell gespeichert werden können, kaum veri- fizierbar, vielmehr wird sie falsifizierbar (ebd. S. 148). Wenn die Erzeugungsregeln der Bilder medial entscheidend sein sollten (ebd., S. 143), stellt sich die Frage, wie es mit dem Status von „Bildern“ steht, die stets erzeugt und nie vollendet werden (können). Kann die derart präparierte Basis des „Bildes“ seine Identifikation mit dem Medium einschließlich vielfältiger Manifestation der Medienkunst noch tragen? Oder wäre in diesem Fall nicht der Grundsatz angebrachter, der besagt, dass die Erzeugungsregeln der Medien wahrnehmungstechnisch ent- scheidend sind? Wenn das Bild als Medium in der Medienkunst wenig tauglich zu sein scheint, stellt sich die Frage, wie die Geschichte der bildenden Kunst dieser möglichen Kompetenzer- weiterung begegnet.

Jacques Lacan ordnete sein 1949 erstmals vorgetragenes „Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“ als eine Identifikation, eine „durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste Verwandlung. Daß ein Bild für einen solchen Phaseneffekt prädestiniert ist, zeigt sich bereits zur Genüge in der Ver- wendung, die der antike Terminus Imago in der Theorie findet.“ (Lacan 1996 [1966], S. 64) Die Differenzierung des imago -Bildnisses und aequalitas -Bildnisses, so wie sie aus der Re- präsentationsgeschichte der Kunst bekannt ist, weist zugleich auf die Spaltung hin, die sich aus dem medial bedingten Status des „Bildes“ ergibt. Victor I. Stoichita exemplifizierte an den berühmten „Meninas“ von Velázquez den Unterschied zwischen dem Repräsentationsbild als im ago und seinem lebensgroßen Pendant als aeq uali tas. Der Funktionsträger von aequa- li tas als einer „Erscheinungsvision“ (vgl. Stoichita 1986) war der Spiegel, das Medium, das die transitorische Funktion des „Bildes“ unter Beweis stellte und der „Repräsentation“ eine mediale Alternative im Sinne der unmittelbaren „Präsentation“ und ihrer offenkundigen Ma- nipulierbarkeit zugleich vor Augen führte. Bild und Evidenz, als ein Verhältnis der Identität und Ambivalenz, in dem es keine Trennung von Wahrnehmung und Interpretation gibt – dies ist die These des radikalen Konstruktivismus (E. von Glasersfeld; Bolz 1993, S. 39, Anm. 51), in dem die ernst genommene Viabilität bereits keine Aus-Bildung des Bildes im Sinne eines stabilen Wahrnehmungsobjektes erlaubt.

Eine Genealogie des Mediumspezifischen, die von der Malerei über Katoptrik zum Vide- ofeedback führt, kann an dieser Stelle nicht näher angegangen werden (vgl. Kacunko 2001b), es zeichnet sich jedoch am aequalitas -Paradigma ein in Bewegung geratener Bildbegriff ab, der durch die mediale Beschleunigung, Animation, Entwicklung von Sichtgeräten und den ungeklärten Status der „Nachbilder“ und anderer Grenzbereiche des alten im ago die unan- genehmen Fragen zur eigenen Rechtfertigung unter neuen medialen Prämissen beantworten muss:

“Why, though, should the sensations that create the impression of images, no longer be called ‘images’ [...] If everything that is a visual sensation can be called an image, then the significance of this word is diminished.” (Rötzer 1994, S. 62)

Die Krise der Repräsentation im medialen Zeitalter bezieht sich nicht nur auf die Refe- renzlosigkeit von synthetischen, algorithmischen Bildern, sondern und vor allem auch auf den Umstand, dass das „Bild“ ein Ort der Ortlosigkeit geworden ist: In den eigenen „LiveBildern“ übernimmt die stets wirksame und beobachterabhängig flexible aequalitas -Funktion die Füh- rung vor der in den Hintergrund getretenen imago -Repräsentationsfunktion. Das „Bild“ wird also auch selbst „performativ“, ohne referenziellen, topologischen und chronologischen Rah- men, die es ex negativo zu dem machen, was Rötzer als „frameless image“ (Rötzer 1994, S. 74) bezeichnet, wenn er von Virtual Reality spricht – der Negation ihres Selbst. Struktu- rell komplexer und funktionell einfacher gewordene Medienverhältnisse wenden sich genauso wie der schreibende Reißzahn Flussers, nur mit anderen Mitteln gegen die Bilder, verstanden als „ jene Zone des Imaginären, des Magischen und Rituellen, die wir vor die objektive Welt gestellt haben“ (Flusser 1992 [1987], S. 18).

Die vor den Augen entstehenden und schwindenden Medienbilder und -töne, Bewegungs- abläufe und anderen Wahrnehmungssensationen haben längst nicht nur das „Bewusstsein“ als einen gesicherten Zufluchtsort verlassen, auch ihre kulturelle Bedingtheit wird zunehmend fragwürdiger und irrelevanter. Die anachronistischen Versuche der Bilderverortung in einer Zeit der Signal- und Datenflüsse weichen letztendlich der unerlässlichen Aufgabe aus, die Erarbeitung von neuen, an den audiovisuellen Medien anwendbaren Erfassungsmethoden in Angriff zu nehmen (vgl. Belting 1998, S. 34).

Unter den Bedingungen der neuen Medienkunstproduktion zeichnet sich innerhalb der Kunstwissenschaft ein Ansatz ab, der sich signifikanterweise bereit zeigt, sowohl den Be- griff „Medium“ als auch „Kunst“ dem Oberbegriff und -prinzip „Bild“ als letztem Residuum einer durch die Visual, Cultural und Media Studies umkreisten Disziplin zu opfern: Vor der so neu definierten Kunstgeschichte, genannt „Bildwissenschaft“13, steht noch ein langer Weg des Erwerbs von Medienkompetenzen und der Öffnung zu und Profilierung unter den genannten Grenzdisziplinen. Die Fixierung auf das „Bild“, selbst in seiner umfassendsten Definitionsform, unter Verzicht auf das Auditive, Kinästhetische oder Prozessuale würde an dieser Stelle eher einen Rückschritt bedeuten.14

Neben dem „oszillierenden“ Bildbegriff gehört die „Avantgarde“ ebenso zu den Begriffen, de- ren Bestimmungen häufig die Gleichzeitigkeit des radikal Verschiedenen exemplifizieren. Als ein Zuschreibungssystem, das sich als Differenz zu etablierten Kunstreferenzen positioniert (Schmitz 2001, S. 136), gibt der Avantgarde-Begriff samt seiner impliziten Anwendungen Auskunft darüber, wie sich das aktuelle Selbstverständnis von Künstlern und Theoretikern ge- staltet. Die Annahme, dass die „digitale Kunst“ heute erneut eine gesellschaftliche Avantgarde- Position einnimmt (Dinkla 2001, S. 65), kann weder verifiziert noch falsifiziert werden, genau so wie die Vertreter der weiter aufgefassten „Medienkunst“ im Sinne der elektronischen Kunst in ihrem eigenen Interesse die Vorsicht vor Selbstüberschätzung bewahren sollten.

Ich stimme Douglas Davis in seiner allgemeinen Einschätzung zu, die besagt, „that the avantgarde is blind to its own hypocrisy, naïve about the political context in which it works, and thoroughly sentimental about its effect on the outside world“ und nichtdestoweniger in der Einsicht, dass „we are still not permitted the conclusion that it is counterrevolutionary“ (Davis 1977, S. 16).

An dieser Stelle möchte ich nur eine, jedoch heute von vielen geteilte Position in Be- zug auf die „avancierten Medienkunstpraktiken“ ansprechen: In seiner Ablehnung der „art’s claim to an elevated, privileged, avant-garde vision“ (Wilson 2002, S. 20) positioniert Ste- phen Wilson einen bestimmten, stark auf die wissenschaftliche und technologische Recherche bezogenen Medienkunstzugang in einem ebenso avantgardistischen, von Davis beschriebenen Sinn, jedoch mit anderem Namen: Sollten die Künste „keep watch on the cultural frontier“, hätten die Künstler die primäre Aufgabe, ihre künstlerische und wissenschaftliche Arbeit an den „frontiers of inquiry“ (Wilson 2001, S. 6/7) zu vollziehen. Die Avantgarde-Rhetorik und Überzeugung mit dem naturgemäß erhobenen Universalitätsanspruch kommt auch von der Seite des inzwischen angewachsenen Technoschamanimus und anderen Glaubensrichtungen der gegenwärtigen Medienkunst. Die unter ihnen offen ausgetragenen Durchsetzungskämpfe haben paradoxerweise oft vergleichbare Ziele, die sich unter dem gemeinsamen Nenner der „Kulturkritik“ zusammenfassen lassen.

Die strukturelle Vernetzung und gleichzeitige funktionelle Isolation von Individuen und Gesell- schaften im Medienzeitalter bilden eine gewichtige kulturkritische Angriffsfläche (vgl. Morse 1998, S. 3). Der durch die Entwicklung von „Massenmedien“ erreichte heutige Status quo wurde theoretisch durch diverse Gesellschaftsmodelle beschrieben, die in den einzelnen Me- dienkunsttheorien und -praxen wiederzufinden sind. Im Unterschied zur „Feldtheorie“ von Pierre Bourdieu (vgl. Bourdieu 1982), die in ihrer Nichtbeachtung von sozialen und medialen Elementen im künstlerischen Feld für die Medienkunst nur wenig Anwendungsmöglichkeiten fand, zeigen sich die Systemtheorien und entsprechenden Konstruktivismen wie in den oben erwähnten Beispielen von H. Maturana und F. Varela, N. Luhmann, S. J. Schmidt und anderen sehr produktiv auch in ihrer kulturkritischen Anwendung.

Auch die radikale Kulturindustriekritik von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, so wie sie im entsprechenden Kapitel der zwischen 1942 und 1944 entstandenen „Dialektik der Aufklä- rung“ vorgetragen wurde, hat – angesichts andauernder globalpolitischer und -wirtschaftlicher Zuspitzungen zwischen dem Norden und Süden bzw. dem „Westen“ und dem Rest der Welt sogar verstärkt – immer noch Konjunktur. Von apodiktischen „Medienverweigerern“ bis hin zu den Netzaktivisten und Hackern werden die in den dreißiger Jahren gestellten Fragen zur Standardisierung, Schematisierung und Stereotypisierung der Medienprodukte, ihre Fetischi- sierung und die damit zusammenhängende soziale Kontrolle in den Händen der „Kulturindus- trie“ als hochaktuell wiedererkannt und künstlerisch verarbeitet. Die kritisch-materialistischen Medientheorien von Raymond Williams (Williams 1974; vgl. auch Morse 1998) und insbe- sondere auch von Leo Löwenthal (vgl. Göttlich 1994) bieten eine Standortbestimmung der Kultursoziologie und Massenkultur, die sich differenziert und auch am Individuum orientierend mit den kulturkritischen Themen befasst, wie sie in den zahlreichen künstlerischen Beispielen der vorliegenden Historie noch diskutiert werden sollen.

S. Wilson ist bedingt zuzustimmen, wenn er die Kritische Theorie und die Cultural Studies als die dominanten Diskurse in der Analyse der Kunst im technologischen Zusammenhang herausstellt (Wilson 2002, S. 20). Auch wenn und gerade weil sich die beiden genannten Positionen nicht ohne weiteres vertragen, spiegeln sie die Bandbreite und Pluralität der be- treffenden künstlerischen Ansätze wider. Die kontextfernen und infolgedessen inflationären Übernahmen entsprechender Kritikpunkte und Stichwörter (z. B. der bereits in den fünfziger Jahren durch Pasolini „entdeckte“ „Konsumismus“, vgl. Schnell 2000, S. 195) führten in der Theorie wie in der künstlerischen Praxis zu den zu Recht kritisierten Entdifferenzierungen.

P. Weibel verbindet die Systemtheorie und die Kulturkritik in seinem Kontextualismus und Konstruktivismus miteinander und betont, dass das Ziel der sozialen Konstruktion von Kunst die Teilhabe an der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit sei (Weibel 1994, S. 57; vgl. auch Gsöllpointner 1999, S. 42/43).

Eine kulturkritisch orientierte Medienkunstgeschichte, die dem raschen Wandel der Me- dienkunst Rechnung tragen soll, darf die Spaltungen und Homogenisierungen zwischen den „Kunst-“ und „Medienwelten“, die Opportunismen und Machtkämpfe nicht aus den Augen verlieren, auch wenn sie gelegentlich keinen direkten Bezug zu ihrem Gegenstand aufweisen. Denn sie sind am Anfang des 21. Jahrhunderts zu den wichtigen Konstituenten der Wirk- lichkeit geworden, und die Relevanzsteigerung der Medienkunst ist trotz aller Rückschläge, medialen Standardisierungsversuche und politischen Indoktrination mehr als je zuvor in den Händen ihrer Produzenten.

Weder modernistische noch postmodernistische, „dekonstruktivistische“ Theorieansätze scheinen dafür geeignet zu sein, die bloßgestellten Mythen des Kommunismus und Kapita- lismus, der Kultur- und Medienindustrie durch aprioristische Rezepte verschwinden zu lassen oder gar eine ernst zu nehmende Alternative anzubieten: Die „Technik des schwebenden Ur- teils“ (vgl. McLuhan, „Das Medium ist Massage“, 1967), eine vorläufig antihermeneutische und betrachterbezogene, rezeptionsästhetische Methode wird das Terrain für die kunst- und medientheoretischen Schlussfolgerungen erst philologisch-geduldig vorbereiten müssen, bevor die neuen, im wissenschaftlichen Sinn „verwertbaren“ – affirmierbaren bzw. falsifizierbaren – Erforschungen auf diesen Grundlagen erwachsen sind.

Struktur und Inhalte

Die erste Aufgabe dieser Einleitung ist die Bestimmung der hier vertretenen Position jenseits von medientheoretischen Legitimationsstrategien und dazugehörigen Abgrenzungsversuchen bzw. Fusionsvorschlägen. Ihre Perspektive ist die Etablierung eines gemeinsamen, stärker auf- einander bezogenen medien- und kunstwissenschaftlichen Dialogs über die Medienkunst.

Die medienkunstspezifischen Alternativen zum Bild- und Kulturbegriff und deren Inhal- ten sowie zu den anderen kritischen, in Bewegung geratenen Stützpfeilern der Kunst- und Medienwissenschaft sowie verwandter Disziplinen werden künftig offensiver erarbeitet werden müssen. Die vorliegende Standortbestimmung beschränkt sich darauf, im Bezug darauf die eigene Position näher einzugrenzen.

Die darauf folgende Erläuterung von relevanten „Grundbegriffen“ soll schließlich den histo- rischen Überblick vorbereiten.

Die Strukturierung des historischen Teils orientiert sich an der zeit- und ortsspezifischen Entwicklung in Bezug auf die Künstler und ihre Arbeiten. Das konkrete Geschehen wird nicht der a posteriori entstandenen Ordnung und Schichtung unterworfen. Deshalb werden im Verlauf des historischen Überblicks erst im Laufe der zweiten Dekade die Konturen der Problemfelder ersichtlich, die ich in der nachfolgenden theoretischen Begründung und durch die gezogenen Querverbindungen hervorheben werde. Dort, wo die kritische Masse und Viel- falt an künstlerischen Arbeiten nicht überschritten wird und kaum ein überregionaler oder internationaler Austausch stattfindet, bleibt die Darstellung regional oder länderbezogen. Das leitende Prinzip der möglichst präzisen Beachtung bekannter Zusammenhänge wird mit der Zahl realisierter und bekannter Werke verknüpft, was die stetige Adjustierung der Tiefen- schärfe einzelner Darstellungen zu Folge haben wird.

Das Ziel einer derartigen Anordnung ist die Erfassung der historischen Entwicklung eines der wichtigsten Aspekte der Medienkunst. Eine der wichtigen Aufgaben der vorliegenden Historie besteht darin, Übergangsphänomene unter die Lupe zu nehmen. Die Absicht des Verfassers ist, der üblichen „massenmedial“ verkürzten, zeitgemäßen Fokussierung auf die Brüche, Höhe- punkte und „Stars“ eine auf breitere Basis gestellte Darstellung entgegenzusetzen. Sie beinhal- tet deshalb Hunderte von Künstlern und über tausend Closed Circuit Videoinstallationen und kann daher in weiten Teilen als Grundlagenforschung bezeichnet werden. Sie verzichtet auf unnötige Pointierung und vermeidet die Adjektive „relevant“ oder „avanciert“, wenn eine Be- schreibung und Qualifizierung der Medienkunstwerke vorgenommen werden soll. Die Kriterien gilt es erst noch zu entwickeln, und die vorliegende Studie leistet einen Beitrag dazu.

Die im zweiten Kapitel angesprochenen „kunst- und medientheoretischen Problemfelder“ sind in diesem Sinn als ein Rasterungsvorschlag zu verstehen, der im Sinne einer Ansammlung von „bewegbaren Rahmen“ am konkreten Material flexibel eingesetzt und erprobt werden soll.

1 Medienkunst: kategoriale Bestimmungen

Ein Grund für das bisherige Ausbleiben einer Historie der CC-Videoinstallationen liegt ne- ben den diversen praktischen Schwierigkeiten einschließlich der Materialbeschaffung vor allem auch in der Konstruktion des Untersuchungsgegenstandes. Bevor ich in der Vorbemerkung zum historischen Teil eine Definition vorschlage, werde ich im Folgenden einige Angaben zu den konstituierenden kategorialen Begriffsbestimmungen von CC-Videoinstallationen machen, die zugleich als „Grundbegriffe“ der Medienkunst angesehen werden können. Sie spielen eine zunehmend wichtige Rolle im allgemeinen medienkunsthistorischen Diskurs.

Alle erwähnten (hier mit Absicht in der englischen Form geschriebenen, weil meistens in dieser Form auch im deutschen Sprachgebrauch verwendeten) Begriffe werden in der unten aufgeführten Definition der Closed Circuit Videoinstallation enthalten sein. Sie „beschreiben“ ihre produktions-, distributions- und rezeptionstechnischen Bedingungen.

1.1 „Installation“

Der gängige Begriff „Installation“ wird in der Vorbemerkung zum historischen Überblick ein- gehender diskutiert und in die Definition der CC-Videoinstallation eingebaut. An dieser Stelle werden einige einleitende Hinweise eingefügt.

Der Terminus „Installation“ wurde erst im Laufe der siebziger Jahre allmählich ein Teil des Kunstvokabulars. Im Oxford Dictionary of Art wurde „Installation“ 1988 definiert als ein

“term which came into vogue during the 1970s for an assemblage or environment constructed in the gallery specifically for a particular exhibition.” (Reiss 1999, S. XII)

Der Begriff „Environment“ kommt der Bezeichnung eines raumgreifenden Arrangements mit skulpturalen, kinetischen, audiovisuellen und anderen Elementen noch am nächsten, das in der Praxis häufig dem Begriff „Ausstellung“ gleichgesetzt wurde und faktisch weit zurück in die Kunstgeschichte der Moderne und Neuzeit verfolgt werden kann. Allan Kaprow bezeich- nete 1958 mit „Environment“ die multimedialen Werke in Raumgröße, während Daniel Buren 1971 in seinem antiinstitutionellen und ortsspezifischen Ansatz forderte, dass der Terminus „Installation“ den der „Ausstellung“ ersetzen sollte (Reiss 1999, S. XI).

Germano Celant realisierte 1976 zur Biennale in Venedig eine Ausstellung mit dem Titel „Ambiente Arte“, die dem Grundsatz der Raumgröße der jeweiligen Arbeit gefolgt war und die auch einen historischen Überblick mit den Werken von italienischen Futuristen, russischen Konstruktivisten sowie Pollock, Kaprow und anderen lieferte.

Julie H. Reiss beobachtete im Hinblick auf die Installationen im Allgemeinen, dass “the spectator is in some w a y regarded as integral to the completion of the work.” (Kursiv vom Verfasser) Nicht viel präziser – und dies mit Recht – ist die Definition der „Installation“ von Oskar Bätschmann:

„Installationen können als Einrichtungen beschrieben werden, die dazu bestimmt sind, Ausstellungsbesucher durch Einladung oder Anlockung in einen geplanten Erfahrungsprozess einzubeziehen und zu Reflexionen über diese Erfahrung anzu- stoßen.“ (Bätschmann 1999, S. 122)

M. Rush stellte hinsichtlich der Institutionsgeschichte der „Installation“ den im Laufe der Zeit vollzogenen Wandel fest, der darin bestand, dass weite Teile der Installationskunst trotz ihrer ursprünglich antimusealen Ausrichtung der sechziger und frühen siebziger Jahre zum festen Bestandteil der heutigen Museen geworden sind.

“[...] this ‘context art’, as we might call it, itself needs an institutional context to be seen. Rooted in expanded notions of ‘sculptural space’ in Performance art and the trend toward greater viewer participation in art, Installation is another step toward the acceptance of any aspect or material of everyday life in the making of a work of art.” (Rush 1999, S. 116)

Das Wort „Installation“ suggeriert letztlich, „that an artist must actually come and install the elements, including electronic components in the case of video, in a designated space“ (Morse 1998, S. 157), und in der vorliegenden Historie wird es in dieser wenig spezifizierten und dafür umfassenden Bedeutung verwendet. Der „Installationsrahmen“ lässt sich so gesehen weder an seinem Ort- noch Zeitspezifikum festmachen.

Einen medialtechnisch gesicherten Weg, den Betrachter in eine Installation zu integrieren und mit ihr interagieren zu lassen, erprobten Künstler seit den frühen sechziger Jahren in den CCAudioinstallationen (Cage, Rauschenberg, Paik u. a.). Mit den CC-Videoinstallationen tritt das Live-Bild im Sinne einer mehr oder weniger manipulierten „Gegenwart“, eines „Prä- sens“, zum ersten Mal neben den realen Objekten und dem vorproduzierten audiovisuellen Material im Installationskontext auf. Anstatt oder zusätzlich zur Repräsentation eines Sujets kommt die mediale Repräsentation des Zuschauers, des vorhandenen oder eines entfernten Ortes etc. hinzu, die aufgrund ihrer „Unmittelbarkeit“ auch als „Präsentation“ und die ent- sprechende Kunst als eine der „new arts of presentation“ bezeichnet werden kann (vgl. Morse 1998, S. 162). M. Morse fasst diesen bedeutenden Paradigmenwechsel durch (Live-)Video im breiteren Zusammenhang auf und erklärt, “In that sense, the ‘video’ in video installation stands for contemporary image- culture per se. Each installation is an experiment in the redesign of the apparatus that represents our culture to itself” (vgl. Morse 1998, S. 158).

Von der „Performance“ unterscheidet sich „Installation“ in Morses Interpretation nicht durch die raumzeitlichen Dispositionen, sondern durch die Antwort auf die Frage, wer Subjekt der Erfahrung sei (ebd., S. 163). Einige zusätzliche Differenzierungen werden unten in der Vor- bemerkung zum historischen Überblick eingeführt und erläutert werden.

1.2 „Performance“

Das „Performative“ in seinem Wechselspiel mit dem „Theatralischen“ ist ein umfangreicher und von mehreren Wissensdisziplinen untersuchter Problemkomplex, der an dieser Stelle nicht in aller Ausführlichkeit diskutiert werden kann. In seinem Abgrenzungs- und Interpenetrati- onsverhältnis zur „Installation“ zeigt sich das „Performative“ als Horizont des oben angespro- chenen Bilddiskurses und als einer der Ausgangspunkte des medientheoretischen Diskurses. In der allgemeinen Sprachtheorie von Hjelmslev tauchen einige Begriffe auf, die sich als Erwei- terung und Alternative zum überlieferten Bildbegriff darstellen. Neben der „Äußerung“ und „Artikulation“ ist es insbesondere der Begriff der „Kompetenz“, der sich durch die Performanz oder Handlung des Subjektes definiert. Die Unterscheidung zwischen der semantischen und modalen Kompetenz kann zum Beispiel für die Erfassung und Analyse von kinästhetischen Dispositionen einer Installation oder Resultaten einer Performance fruchtbar gemacht werden. Auch das „Wertobjekt“, verstanden als ein Gegenstand im weiteren Sinne (Ereignis, Person oder Sache), das einem Subjekt als Projektionsort von Werten dient (vgl. Thürlemann 1990, S. 185–190), könnte aus dem Bereich der „Erzählung“ und des „Bildes“ in den konkreten Raum weiterprojiziert und als inhaltliche sowie formaltechnische Reichweite der „Spurensuche“ des interagierenden Subjektes aufgefasst werden.

Die kunsthistorischen und medientheoretischen Versuche, die Performance als Bild aufzu- fassen und so der entsprechenden Interpretation verfügbarer zu machen, haben inzwischen eine längere Tradition.15

Vergleichbare Beiträge über die Annäherungen des „Bildes“, der „Performance“ und der „Medien“ finden sich zudem in den kürzlich veranstalteten Tagungen und Konferenzen.16 Der Bereich der CC-Videoinstallationen und -performances ist außerdem die Schnittstel- le, an der die Abgrenzung von Theater und Performance zur mediatisierten Performance stattfindet, „auf der Ebene der ‚Liveness‘, der Kopräsenz von Akteuren und Zuschauern“ (Leeker 2001, S. 10; vgl. auch Fischer-Lichte 2000). Das „Performative“ in dieser theaterwis- senschaftlichen Interpretation wird als wirklichkeitskonstituierender Vollzug von symbolischen Akten beschrieben, der aus der Synthese der „Liveness“ des Theaters und der technisch aufge- fassten „Liveness“, vermittelt durch die Computertechnologie, in der „medialen Performance“ stattfindet (Leeker 2001, S. 12).

Das Problem an dieser Definition besteht darin, dass weder Theater noch Computertechno- logie eine spezifische „Liveness“ aufweisen können: Während die allgemeine Live-Aufführung nicht am „Theatralischen“ festgemacht werden kann – es gibt zahllose Alternativen zur Live- Kunst außerhalb des Theaters –, wiederholt sich im Hinblick auf die Computertechnologie das überlieferte Dogma über den Computer als „Echtzeitmedium“: Da er ohne Interfaces blind, taub, stumm und unbeweglich ist, wird schnell ersichtlich, dass die „Liveness“ technisch ge- sehen eine Frage der Übertragung ist, also der Rückkopplung zwischen einem Eingabe- und Ausgabegerät. Ob ein Computer dazwischen eingebaut wird, um auf der Algorithmenbasis eine bestimmte Manipulation der Realzeitübertragung zu steuern und manipulieren, bleibt davon unangetastet. In dieser Hinsicht trifft ebenso wenig zu, wenn die „Mischung aus technischer Medialität als Performanz und leiblicher Performance“ als „das Besondere der Verbindung von Theater und Medien“ ausgemacht wird (Leeker 2001, S. 13).

Dieses Besondere findet in den CC-Videoinstallationen und (in einem traditionelleren Sinn) -performances statt. Sie werden nur gelegentlich im Theater eingesetzt, und in dieser Hinsicht kann man Söke Dinkla zustimmen, wenn sie unterstreicht,

„In vielen Publikationen und Veranstaltungen wird zwar eine Veränderung der tra- ditionellen Bühnenkünste durch und mit den digitalen Medien diagnostiziert, diese wird dann allerdings vor allem anhand der Arbeit von interdisziplinär arbeitenden Medienkünstlern belegt.“ (Dinkla 2001, S. 126)

Die rechnerunterstützten CC-Videoinstallationen machen einen beträchtlichen Anteil der so verwendeten Medieninstallationsbeispiele aus. Die Hervorhebung der „neuen Leitmetapher“ im Sinne einer „Kultur als Performance“ (E. F. Lichte, vgl. die Kritik von Dinkla 2001, S. 128) stützt sich auf die modernen Positionen des beginnenden 21. Jahrhunderts, und sie ist auch historisch wenig geeignet für die tatsächlichen, nicht nur metaphorischen Herausforderungen der heutigen Medienkunst und -gesellschaft.

Die Frage, wer das Subjekt der „Performance“ ist, der Künstler, der Betrachter oder die beiden gemeinsam, entscheidet – wie oben bei M. Morse angemerkt – darüber, ob das „Werk“ über einen tatsächlichen (nicht nur metaphorischen oder impliziten) interaktiven Ansatz ver- fügt. Sobald die entsprechende Technologie durch den Willen des Künstlers und Regisseurs auch im Sinn einer Inter-Aktion eingesetzt wird, entschwindet auch die Grenze zwischen dem traditionellen Theater und der interaktiven Medienkunst. Einige solche Beispiele werden auch in der vorliegenden Historie behandelt (vgl. Polieri, auch theoretischer Rückblick). Ihre be- rühmten Vorgänger des frühen zwanzigsten und die Visionäre des neunzehnten Jahrhunderts waren Vertreter einer transdisziplinären, damals noch in der Regel mit dem Adjektiv „total“ versehenen Zugangsweise zum Theater:

Richard Wagner sprach in seinem „Outlines of the Artwork of the Future“ (vgl. Volltext in: Wagner URL), in dem er sein Konzept des „Gesamtkunstwerks“ vorstellte, von einem paradigmatischen rückkopplungsartigen Rollentausch, in dem

“the spectator transplants himself upon the stage, by means of all his visual and aural faculties; while the performer becomes an artist only by complete absorption into the public.” (Wagner 1849, nach Packer/Jordan 2001, S. 5)

Auch das im Rahmen des „Bauhaus“ in Deutschland entwickelte Theaterkonzept von O. Schlemmer und L. Moholy-Nagy forderte den Wegfall der „vierten Wand“ des traditionellen Theaters, die das Publikum bis dahin von den Aufführungen getrennt hatte, und seine Einbe- ziehung in ein Geschehen, das wohl einen Happening-Charakter bekommen sollte. Die Spiegel und andere optische und akustische Geräte sollten genutzt werden, um gigantische LiveBilder und -Töne von Schauspielern zusammen mit anderen vorproduzierten audiovisuellen Quellen zu projizieren (vgl. Moholy-Nagy [1924] in Packer/Jordan 2001, S. 23; Fricke 1996). Die Hap- penings, Fluxus- und Intermedia-Ansätze der sechziger Jahre mit C. Oldenburg, A. Kaprow, J. Dine, R. Whitman, R. Higgins und anderen kalkulierten ebenfalls mit dem Einsatz des Publikums und der erforderlichen Live-Übertragungstechnologie in ihren Aufführungen.

Die Videoübertragungstechnologie – mit und ohne Computerunterstützung – und die diese Technologie einsetzenden CC-Videoinstallationen wurden von M. Morse zusammengefasst als Teil „of a larger shift in art forms toward ‚liveness‘“ (Morse 1998, S. 159), was oben bereits als

„Kunst der Präsentation“ und von M. Fried (1967) als „theatrical“ bezeichnet wurde. Morse betonte indessen die Wichtigkeit der Unterscheidung dieses Wortgebrauchs von demjenigen des traditionellen Theaters, in dem keine direkte Beteiligung des Publikums stattfindet (vgl. Morse 1998, S. 161).

M. Leeker betont zusammenfassend mit Recht, dass das Performative gerade nicht mit der Unmittelbarkeit und Authentizität gleichzusetzen ist, „sondern vielmehr mit der ‚Präsenz der Darstellung‘, d. h. mit der Unhintergehbar- keit der Medialität menschlicher Existenz, die sich aus den performativen Akten konstituiert und mit diesen wieder verschwindet“ (Leeker 2001, S. 273).

Infolge dessen stellt sich die Frage, „inwieweit die Erfolgsgeschichte der Medien Vorausset- zung und Folge des ‚Performativen‘“ sei (Katti 1999, S. 98). L. Haustein sah zum Beispiel die „Videokunst an der Spitze der Kulturen des Performativen“ (Haustein 1999, S. 110).

Im medienkunsthistorischen Zusammenhang und dem der vorliegenden Historie ist es wich- tig, noch einmal zu betonen, dass die beiden Seiten des „Performativen“ im traditionellen Sinn (die passive und aktive Seite) anerkannt und unterschieden werden. Wenn es zur Mög- lichkeit einer Rollenübernahme durch das Publikum kommt, wird trotz seiner Aktivierung das Performative nicht in Frage gestellt; wenn aber mit medialen Signal- und Datenübertragungs- mitteln das Publikum zur freien Erkundung einer realen oder virtuellen Umgebung veranlasst wird, dann handelt es sich nicht mehr um eine erweiterte Performance, sondern um eine nichttheatralische Interaktion, in der die jeweilige Person sie selbst bleibt. Die Mischformen der Medieninstallationen, in denen der Benutzer als Spieler durch Agenten wie z. B. Avat- ars in einem mehr oder weniger interaktiven Szenario vertreten wird, behalten die Elemente der Repräsentation und Präsentation in unterschiedlichen Anteilen bei, in der Tradition des Happenings und in ihrer Stellung zwischen dem Avantgarde-Theater und der raumgreifenden Live-Collage (vgl. O’Doherty 1991 (1976), S. 47).

Selbstverständlich muss das Performative immer auch in Relation zum Beobachter bzw. Partizipanten der ersten, zweiten, n-ten Ordnung verstanden werden, als eine transitorische Größe: Der allein Interagierende ist zwar kein Performer, für einen Außenstehenden spielt er aber zugleich die Hauptrolle in einer Medienperformance, auch wenn er erkennen kann, dass es sich um eine reale Person handelt, die keine Anstrengung unternimmt, die Rolle eines anderen zu übernehmen, sozusagen ein „Als ob“ zweiter Ordnung zu werden. Der Versuch, die Grenze zwischen Partizipation und Interaktion anhand der Verwendung eines Algorithmus zwischen dem medialen Input und Output zu ziehen, den z. B. S. Dinkla und F. Popper (1997) unternommen hatten, machte noch einmal deutlich, dass die Unterschiede weder an einem Medium noch an einem Konzept festzumachen sind: Es ist immer eine Kombination von beiden, welche die „interaktive Medienkunst“ hervorbringt.

1.3 Input/Output (Kybernetikmodell)

Die Bedeutung des kybernetischen Modells ist für die medienkunsthistorische Debatte von zen- traler Bedeutung. Dieses Modell fand spätestens seit den Schriften von Norbert Wiener in der Beschreibung der Funktionsweise von analogen und digitalen Computern eine weite Verbrei- tung und zog seit den siebziger Jahren dadurch auch in die medientheoretische Diskussion ein.

Eine ebenso entscheidende Rolle spielen die beiden konstituierenden kybernetischen Begriffe

„Input“ und „Output“ bei der Offenlegung der Funktionsweise eines Audio- oder Videosystems, bevor es zum Interface eines Rechnersystems „herabgestuft“ worden ist: Oben wurden bereits drei Hauptaufgaben des Mediums Video erwähnt: Aufnahme (Input: Kamera), Wiedergabe (Output: Monitor oder Projektor) und Speicherung (Videorekorder). Die unmittelbare Ver- bindung des „Aufnahme-“ und „Wiedergabegeräts“ offenbart die ureigene Eigenschaft dieses Mediums und sein wichtiges Potenzial, die Realzeitübertragung audiovisueller Signale bzw. Daten (vgl. dazu Kacunko 1999, 2000, 2001a, 2000b).

Die „unmittelbare Präsenz“ eines solchen Videobildes und des betreffenden „Reflexions- mediums“ ist das rezeptionstechnisch Eigenartigste und zugleich Befremdlichste an der ihm zugrunde liegenden Technik. Darin liegt der wichtigste strukturell-technische Grund für die an- haltenden Dispute in der Interpretation und im historischen Verständnis der (Dis)Kontinuität zwischen dem analogen und digitalen Code. Daraus wiederum entsteht – von macht- und pro- filierungstechnischen Gründen einmal abgesehen – das in der Einleitung eingekreiste Problem von medientheoretischen und kunsthistorischen „Zuständigkeiten“. Eine „benutzerfreundliche“ Zugangsweise zur Klärung dieses Problems beschrieb Herbert Franke:

„Die Art und Weise, wie die Daten im Inneren eines Computers umgesetzt wer- den, ist für den Benutzer unerheblich. Es ist nicht nötig, die Rechenprozesse, ihre Organisation, ihren zeitlichen Verlauf usw. in allen Einzelheiten zu kennen, und bei großen Digitalrechnern ist das auch kaum möglich. Was den Benutzer inter- essiert, sind die einlaufenden und die ausgegebenen Daten, in der Fachsprache kurz ‚Eingabe‘ und ‚Ausgabe‘ genannt.“ (Franke 1979)17

Eine radikale Kritik des kybernetischen Input/Output-Modells und der informationstheore- tischen Position wurde in der Einleitung bereits einigen Aussagen von H. Maturana entnom- men. Sie basierte im Wesentlichen auf den Gehirnexperimenten u. a. an Tauben, die indirekt bewiesen, dass die Arbeitsweise von Organismen grundverschieden von derjenigen der kyber- netischen Systeme sei. Demnach gebe es keinen „außerhalb des Organismus existierenden Mechanismus, durch den die Vorgänge festgelegt werden können, die in einem Organismus ablaufen [...] Es gibt keinen ‚Input‘. Die Interaktionen eines Organismus mit dem Medium lösen die durch seine Struktur determinierten Strukturveränderungen lediglich aus [...] Man kann durch eine Interaktion mit einem strukturdeterminierten Lebewesen nie das be- stimmen, was in ihm abläuft. Man kann lediglich Strukturveränderungen auslösen, die aber jeweils durch die Struktur selbst determiniert werden.“ (Riegas/Vetter 1990, S. 16)

Der Antagonismus zwischen den Forschungsgebieten der Biotechnologie und kyberneti- schen Technologien wurde mittlerweile über die Cyborg-Phantasien und -Experimente im wis- senschaftlichen und künstlerischen Bereich weitgehend eingedämmt. Nichtsdestotrotz bleibt im Rahmen theoretischer und künstlerischer, insbesondere der Gender-Ansätze der Einwand vernehmbar, dass die Biotechnologien im Vergleich zu ihren kybernetischen Pendants in der Forschung deutlich unterbelichtet geblieben seien (vgl. Wilson 2002, S. 150; auch Morse 1998). Gillo Dorfles konstatierte in diesem Sinn bereits in den siebziger Jahren, dass eine Nutzbarmachung der Informationstheorie für die Kunstinterpretation (z. B. M. Bense) höchs- tens auf der Ebene der Analogien möglich sei (vgl. Dorfles 1987 [1977]). Es wäre interessant, die enorme Verbreitung der Metapher als künstlerisches Mittel in der digital unterstützten Medienkunst unter diesem Gesichtspunkt zu beleuchten.

Auf der anderen Seite schrieb Roy Ascott, einer der beständigsten Befürworter der „l’esprit cybernétique“18, in seinem Essay „Behaviourist Art and the Cybernetic Vision“ von 1966 über das „feedback and viable interplay“ als die wahren Kunstinhalte. Das Rückkopplungsverhältnis innerhalb von kybernetisch durch ihre Inputs und Outputs definierten Systeme wurde von Ascott als die ausschlaggebende Idee der „perfectibility of systems“ beschrieben, die in sich das Entwicklungspotenzial in der biologischen und sozialen Sphäre birgt:

“Bio-cybernetics, the simulation of living processes, genetic manipulation, the be- havioural sciences, automatic environments, together constitute an understanding for the human being which calls for and will in time produce new human values and a new morality [...] There is reason to suppose that a unity of art, science and human values is possible; there is no doubt that it is desirable” (Ascott 1966/67 in Packer/Jordan [Ed.] 2001, S. 101).

An gleicher Stelle grenzte Ascott diese humanistische Position von der Kybernetik, verstan- den als Beschreibungsmethode, ab. Die letztere wird im Sinne der Anerkennung von Input- und Output-Instanzen von CC-Videoinstallationen die Ausgangsbasis für ihre Erfassung in der vorliegenden Historie bilden. Als solche stellt sie die grundlegende methodologische Erweite- rung dar, die im Rahmen einer Medienkunstgeschichte berücksichtigt werden soll.

Nam June Paik, ein weiterer „Künstler-Schamane“ und luzider „Schamanendenker“, schrieb 1966 einen Text mit ähnlichem Namen: „Cybernated Art“, jedoch mit einem anderen Fazit:

“Cybernated art is very important, but art for cybernated life is more important, and the latter need not be cybernated.” (Paik 1966 in Packer/Jordan [Ed.] 2001, S. 40)

1948 – in dem Jahr, in dem George Orwell seine düstere Vision des totalitären und entspre- chend omnipräsenten Überwachungsstaates „1984“ niederschrieb – veröffentlichte Norbert Wiener seine Abhandlung „Cybernetics or Control and Communication in the Animal and Machine“19. Für Wiener bedeutete die Rückkopplung von Input und Output die Basis eines kybernetischen Systems, dessen wichtige Bestimmung, die Entropie-Resistenz, für die Bewäl- tigung zahlloser praktischer Aufgaben genutzt werden kann, z. B. im Ingenieurwesen oder in der Nachrichtentechnik. Wieners humanistische, jedoch im Unterschied zu Ascotts empha- tischen Äußerungen eher als „down to earth“ zu bezeichnende Äußerungen lassen unschwer erkennen, dass die Kontrolle und Effektivität (vgl. Wiener 1954), also das, was Simon Penny etwas überspitzt als „ingenieur point of view“ (Penny URLa) bezeichnet hatte, die herausra- genden Ziele/Ideale der Kybernetik in ihrer ursprünglichen Form waren. Genau gegen diese Eigenschaften werden sich die kritischen Medienkünstler wenden. Selbst die kunsthistorischen Vertreter einer „interaktiven Medienkunst“, die ausschließlich über die Verwendung von digi- talen Algorithmen zwischen Inputs und Outputs definiert werden wollen und die letztendlich zweiträngige Frage der ohnehin nichtlinearen Speicherung zur Priorität erklären, stimmen der konstituierenden Rolle des kybernetischen Input-Output-Rückkopplungsverhältnisses für die interaktive Medienkunst zu:

„Erst mit der Speicherung von Daten, auf die später wieder intern und für den Anwender unsichtbar zurückgegriffen werden kann, entwickelt sich aus dem Input- Output-Verhältnis das spiralartige Dialogprinzip, das komplexere Verknüpfungen zuläßt.“ (Dinkla 1997, S. 49)

Im Rahmen der Kunstgeschichte als akademischer Disziplin gab es Mitte der neunziger Jah- re auch Vorschläge, die Kunstgeschichte als Systemtheorie neu zu etablieren und durch die Anlehnung an die identitätsstiftende Differenz von Niklas Luhmann indirekt an die Informa- tionstheorie und Kybernetik von Gregory Bateson anzuknüpfen (vgl. Zijlmans 1995, S. 263; 251–277).

Das kybernetische Modell funktionierte auf einer sehr allgemeinen Ebene in Bezug auf Kunst über die Input/Output- bzw. Sender/Empfänger-Analogie, in der Künstler und Rezi- pient sich in einer traditionellen Weise gegenüberstanden. Eine konsequentere kybernetische Auslegung, in der das Kunstwerk auf eine Nachricht reduziert und als Medium für einen Kom- munikationszirkel zwischen dem Publikum und dem Künstler fungieren sollte, schlug Herbert W. Franke in seinem Entwurf einer kybernetischen Ästhetik vor (Franke 1979, S. 34). Gene Youngblood verwendete den Terminus „paleocybernetic“ als ein konzeptionelles Werkzeug, mit dem die Gegenwartssituation in der Welt (der frühen siebziger Jahre) beschrieben werden sollte (Youngblood 1970, S. 41 u. a.). Das kybernetische Modell ist auf seiner grundsätz- lich formaltechnischen, strukturellen Ebene für die Medienkunstgeschichte in der Behandlung des weiten Installationsbereichs und auch der Netzkunst als unverzichtbar einzustufen. Die verschiedenen daraus ableitbaren Schlussfolgerungen gehören in die jeweiligen Kunsttheorien und -philosophien und sollten nicht a priori, sondern an konkreten Exempeln verifiziert bzw. falsifiziert werden.

1.4 „Feedback“

Für das kunst- und medienhistorische und -theoretische Verständnis der Medienkunst spielt das Phänomen der Rückkopplung eine entscheidende Rolle. Dies gilt nicht nur in Bezug auf die künstlerischen medialen Selbstbeobachtungstechniken der sechziger und siebziger Jahre, sondern und vor allem auch auf die heutige interaktive Medienkunst und die dazugehörigen Theorien. Im Allgemeinen bezeichnet die Rückkopplung eine Situation, in der das Ausgangssi- gnal eines Systems an den Eingang des Systems zurückgegeben und dort zur Systemsteuerung verwendet wird. In der Biologie verweist sie auf das charakteristische Merkmal der Selbstregu- lierung in lebenden Systemen, wie zum Beispiel Wärmeregulierung im menschlichen Körper. Im Bereich der Telekommunikation und Kybernetik stellt die Rückkopplung einen besonders wichtigen Funktionstyp dar: Als Rückwirkung des Empfängers auf den Sender spielt sie nach wie vor eine entscheidende Rolle in der Kommunikation. Unter dem kunsthistorischen Ge- sichtspunkt wurde dieses Problem bislang nicht eingehend behandelt.

Eingeführt wurde der Begriff „Feedback“ um 1942 von Julian Bigelow und Norbert Wiener, und seitdem etablierte er sich als „zentraler Begriff für die VR-Technologie [VR = „Virtual Reality“] und deren Vor- stufen in Wissenschaft, Kunst, Medien (bes. Video) und Literatur“ (Weibel 1993, S. 18).

In der vorliegenden Abhandlung wird der Natur des Untersuchungsgegenstandes entspre- chend in besonderem Maße das Videofeedback eine herausragende Stellung einnehmen, auch wenn die übrigen Feedback-Formen wie das Biofeedback oder Force-Feedback gelegentlich zur Sprache kommen werden. Ähnlich wie im Fall der Etablierung eines auf die Grundsätze der Kybernetik gestützten medienkunsthistorischen Diskurses soll im Folgenden die metaphorische Verwendung der Begriffe „Feedback“ und „Videofeedback“ vermieden werden. Medientechnisch gesehen lässt sich die Genealogie des Mediumspezifischen im Videobereich durch die Analyse des Videofeedback begründen. Dessen naturanaloge Entsprechung kann wiederum aus der Phänomenologie des Spiegels abgeleitet werden, wie es Umberto Eco in seinem Aufsatz zum Verhältnis der Semiotik und Katoptrik getan hat (vgl. Eco 1988 [1985]). Die wichtigsten Spie- geleigenschaften, seine extensive (Linse) wie intrusive Manifestation (der „Abgrund-Spiegel“, Spiegel en abîme, oder Spiegel-„Rückkoppelung“) zeugen von seiner „eingebauten“ Feedback- bzw. Verstärker-Funktion, die auch im elektronischen Bereich die Basis jeder „Telepräsenz“ bildet. In seiner Funktion eines „starren Designatoren“ sei der Spiegel U. Eco zufolge kein Zeichen, er „steht“ für nichts, auch nicht für den Körper. Der Spiegel sei also nicht interpre- tierbar, und dies macht die Spiegelerfahrung zu einer „absolut singulären Erfahrung auf der Schwelle zwischen Wahrnehmung und Bedeutung“ (Eco 1988 [1985], S. 38).

Eine prägnante und überzeugende „Genealogie“ im Sinne einer „Geburt des Video aus dem Körper des Spiegels“ präsentierte Eco im gleichen Aufsatz. Das Phänomen der gleichzeitigen Aufnahme und Wiedergabe der Bilder, Töne und Bewegungsabläufe, wie es bereits dem ana- logen Medium Video eigen ist, stellte in dieser Hinsicht eine synästhetische Erweiterung des katoptrischen Feldes dar. Die intrusive Verstärker-Funktion des Mediums Video, die zugleich sein orbitales Potenzial darstellt, kann deshalb als seine di ffe r e nti a specifica innerhalb der audiovisuellen Medien angesehen werden. Ihre technische Bezeichnung ist Videofeedback.20

Vilém Flusser kam 1990 zu einer vergleichbaren Analogie des Video(-Feedback) und des Spiegels, als er Video definierte als „a mirror with a memory attached to it“ (Flusser 1990,

S. 6/7). Flusser, der auch an anderen Stellen dem Videomedium eine besondere Bedeutung eingeräumt hatte (vgl. Flusser 1991, auch Kacunko 1999), leitete aus der diesem Medium in- newohnenden technischen Eigenschaft seine wichtige „Mission“ ab: Das Medium Video sollte aufgrund seiner realitätsbezogenen „spekulativen“ (also als „katoptrisch“, und nicht metapho- risch verstandenen) Eigenschaften den „entfremdenden Spekulationen“ präventiv entgegen- wirken. Dieser Einsatz des Mediums kann also nicht wie im Erzählmedium Film in erster Linie aus der Logik der manipulativen Montage entspringen, sondern eher aus dem „Einfangen“ oder „Einhalten“ des Zeit- und Handlungsflusses und seiner „Hyperrealisierung“. Die Kritik Flussers richtete sich an die Künstler und Kritiker gleichermaßen, anwendbar wohl auch auf die Kunsthistoriker und Medientheoretiker:

“The critics are even less capable of discovering video [...] than are the artists, because they are just as much prisoners of the ‘film prejudice’ as the artists are, and they lack the concrete experience with the video apparatus.” (Flusser 1990, S. 6/7) Die zeit- und raumgreifende Erweiterung des realen und virtuellen (Re-)Präsentationsfeldes aufgrund der Videorückkopplung und des daraus etablierten Closed Circuit Videoverhältnis- ses wurde erst allmählich als künstlerisches Potenzial erkannt, wie sich einer der Zeitzeugen und größten amerikanischen Kenner sowie Mitgestalter in diesem Bereich, Gerald O’Grady, erinnerte:

“Video feedback introduced far more complex ramifications. Simply pointing the camera at the image it was generating on its own monitor and undertaking a serious examination of the results constituted a rejection of all that had come before. In conventional television, feedback was regarded as one of the most basic and unforgivable of technical errors. Now it came to form the basis of exploration of video image synthesis. Contemplating feedback, creative electronics engineers began to wonder what other visual possibilities could develop from the creative rearrangement of the paths on which signals travel” (O’Grady in: Davis/Simmons [Hrsg.]).

Wenn ein Teil des Output-Signals als Input-Signal verwendet wird, wenn also die beiden in einer Art – zeitlich gesehen natürlich linearer – „Möbius-Schleife“ verknüpft werden, entsteht die Rückkopplung als die technische Voraussetzung für die „immediacy“/zeitliche „Unmittel- barkeit“. Feedback, als Phänomen der unmittelbaren zeitlichen Verknüpfung von Input und Output (vgl. u. a. Morse 1998, S. 15) und co ndi tio sin e qua n on der „immediacy“, stellt also auch die wesentliche Disposition der Closed Circuit Videoinstallationen dar. Nicht nur die (wenigen) medienwissenschaftlichen Positionen zum Thema, sondern vor allem die aus an- deren Wissensgebieten (Physik, [neuronale] Epistemologie etc.) vorgelegten Einsichten sollen berücksichtigt werden, um u. a. die Gebräuche und Missbräuche dieses Begriffs im Kontext der Medien(kunst)debatte angemessen zu reflektieren.

Die Rückkopplung als der Anfang und die Bedingung der Möglichkeit einer biologischen (die Funktionsweisen des menschlichen Gehirns einbeziehenden) Erkenntnistheorie spielt auch für die Entwicklung der digitalen „Teletechnologie“ eine entscheidende Rolle: Die Rückkopplung ist der Ausgangspunkt einfachster Signalverstärkungen (z. B. von zwei gekoppelten Konden- satoren, die als Basis für den analogen Computer angesehen werden können), die durch ihre Repetition die Fernübertragung und die für ihre Wahrnehmung erforderliche Stabilität erst ermöglichen. Der heutige „orbitale Blick“ basiert auf dem für die digitale Signalübertragung notwendigen dicht geknüpften Netz von Repetitoren (sie stellen die Basis für die mobile Tele- kommunikation dar), die das Gleiche leisten, wie z. B. das einfache rückgekoppelte Aufnahme- Wiedergabe-Set (Videokamera + Monitor) in vielen frühen Closed Circuit Installationen.

1.5 Immediacy/Liveness

Die rückgekoppelten Inputs und Outputs sind im technischen Sinn die Erzeuger der „Imme- diacy“, der audiovisuellen und andersartigen „Unmittelbarkeit“. Diese „Unmittelbarkeit“ stellt neben dem „Zielbegriff“ der Interaktion den wohl wichtigsten „Grundbegriff“ (eine Art Meta- Kategorie) im Zusammenhang der Medienkunst und -theorie dar. Die von Marshall McLuhan (1911–1980) aufgestellte, auf den Auswirkungen von Medien auf ihre Nutzer basierende Kul- turdiagnostik verhalf bekanntlich der Medientheorie zum internationalen Durchbruch (Baltes 1997, S. 10).

Im Mittelpunkt seines einflussreichsten Werkes „Understanding Media: The Extensions of Man“ (dt. 1968, „Die magischen Kanäle“) stand die durch die elektronischen Medien und das Moment der Instantaneität gekennzeichnete letzte Phase der Medienentwicklung, die sich in Abgrenzung von dem davor liegenden mechanischen Zeitalter zu konstituieren begann (vgl. Vogel 2001, S. 134). Durch das Mosaikbild des Fernsehens „in eine allumfassende Jetztheit“ (McLuhan dt. 1968, zit. nach Baltes 1997, S. 149) einbezogen, will der junge Mensch, „das Fernsehkind“, in McLuhans Vision auch „eine Rolle und ein tiefes Engagement in der Gesellschaft, in der es lebt“ (ebd.).

„Die elektrische Geschwindigkeit ist gleichbedeutend mit Licht und dem Verstehen der Kausalzusammenhänge. So entdecken die Menschen mit der Verwendung der Elektrizität in mechanischen Situationen leicht Kausalzusammenhänge und Modelle, die beim langsameren Tempo der mechanischen Veränderung einfach nicht beobachtet werden konnten.“ (McLuhan dt. 1968, zit. nach Baltes 1997, S. 153)

Diese noch durchaus pragmatischen, auf das steigende Wahrnehmungsvermögen und die Sozialisation von Menschen abzielenden Zeilen fanden bereits in einem frühen Aufsatz McLu- hans ihre erste theoretische, auf die Schriften des kanadischen Wirtschaftswissenschaftlers Ha- rold Innis gestützte Begründung: In „Kultur ohne Schrift“ (Dezember 1953) betonte McLuhan erstmals den instantanen Charakter des Elektrizitätszeitalters und die damit verbundene im- plodierende Bewegung (Baltes 1997, S. 15) .21 Bald entstanden in Frankreich wichtige Publi- kationen zum Thema und zu den anderen, durch Ideen McLuhans inspirierten Problemkom- plexen. J. Baudrillard, J. Deleuze, F. Guattari, P. Virilio veröffentlichten die einflussreichsten Schriften.

Auch die späteren Vertreter der „informatischen Ontologie“ wie Friedrich Kittler, aber auch Peter Weibel (vgl. das Konzept der „Chronochratie“ in Weibel 1987) und viele andere kritische und auch affirmative Stimmen behandelten weltweit die „Instantaneität“ aus der medientheo- retischen und -historischen Perspektive.

Paul Virilio gehört zu den bekanntesten und schärfsten Kritikern der „medialen Unmittel- barkeit“ (vgl. Virilio 1992 [1990], 1989, 1989 [1988] u. a.). Sein Konzept einer aufgeschobe- nen Zeit, die Virilio der simultanen „Echtzeit“ entgegenstellte, und die daraus entstandenen Konzepte der „Simulationszeit“ entstanden aus seiner Beurteilung der aktuellen Medienent- wicklung, die später noch als „Tyrannei der Echtzeit“ bezeichnet wurde (Virilio 1996 [1995]). Die mediale Realzeit in Virilios Interpretation wirkt sich nicht nur auf die zunehmende Im- mobilität des Menschen und auf alle daraus folgenden Konsequenzen, sondern auch auf das Aufkommen einer neuen ästhetischen Perspektive aus:

[...]

Excerpt out of 1062 pages

Details

Title
Closed Circuit Videoinstallationen
Subtitle
Ein Leitfaden zur Geschichte und Theorie der Medienkunst
Author
Year
2005
Pages
1062
Catalog Number
V119719
ISBN (eBook)
9783640226740
File size
5642 KB
Language
German
Notes
Die im E-Book benannte DVD ist NICHT im Lieferumfang enthalten. Diese DVD kann direkt über den Autor bezogen werden: http://www.slavkokacunko.com/Closed-Circuit-Video-Installations.28.0.html
Keywords
Closed, Circuit, Videoinstallationen
Quote paper
PD Dr. Phil. Habil. Slavko Kacunko (Author), 2005, Closed Circuit Videoinstallationen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119719

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Title: Closed Circuit Videoinstallationen



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