In meiner Diplomarbeit behandle ich mittels eines Vergleiches v. August Aichhorn und Marian Heitger folgende Forschungsfragen:
1.) An welchen Gesichtspunkten hat sich pädagogisches Handeln in Bezug auf die Arbeit mit verwahrlosten Kindern und Jugendlichen nach August Aichhorn und Marian Heitger zu orientieren?
2.) Sind diese beiden Positionen kompatibel?
Aus der Behandlung dieser beiden Fragen entwickelte sich eine dritte Frage, die zur zentralen Forschungsfrage meiner Arbeit wurde:
3.) Kann August Aichhorns Handeln aus dem Blickwinkel Marian Heitgers Prinzipien als „pädagogisch“ angesehen werden?
Aichhorn, der psychoanalytische Theorieelemente zur Begründung seines zuvor gesetzten Handelns herangezogen hatte, verfolgte als Erziehungsziel die Kulturfähigkeit. Der Zögling sollte vom Lustprinzip über die primitive Realitätsfähigkeit durch die Erziehung zur Kulturfähigkeit gelangen. Das Erlangen der Kulturfähigkeit sah er gleichzeitig auch als eine Charakterveränderung, indem die Ichstruktur – insbesondere die Ausbildung des Über-Ichs – verändert wird. Dabei richtete sich Aichhorns Augenmerk primär auf das emotionale Erleben des Kindes.
Heitgers Ziel der Erziehung ist eine Gewissensbildung. Diese richte sich auf die Vernunft. Weiters nennt Heitger Prinzipien, nach denen sich Erziehung orientieren muss. Einige dieser Prinzipien habe ich in meiner Arbeit näher ausgeführt. Es sind dies Selbstbestimmung und Mündigkeit, argumentativer Dialog und Takt. Heitger bezeichnet ein Handeln, das sich nicht nach diesen Prinzipien orientiert, als „nicht-pädagogisch“.
Auch bei der Anwendung von Erziehungsmitteln gibt es unterschiedliche Sichtweisen. Aichhorn vertritt die Ansicht, dass bezüglich aggressiver verwahrloster Jugendlicher absolute Milde und Güte und vor allem die Herstellung einer positiven Übertragungsbeziehung notwendig seien.
Heitger wiederum vertritt die Ansicht, dass pädagogisches Handeln, das Erziehungsmittel überhaupt einsetzt, nicht als pädagogisch begründbares Verhalten anzusehen ist, da es dem Prinzip der Selbstbestimmung und Mündigkeit zuwiderläuft.
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
Einleitung
1. August Aichhorns Verständnis von pädagogischem Handeln, bezogen auf die Arbeit mit „verwahrlosten“ Kindern und Jugendlichen
1.1 Ausgangslage August Aichhorns
1.2 Der Begriff Verwahrlosung bei August Aichhorn
1.2.1 Differenzierung von „latenter Verwahrlosung“ und „manifester Verwahrlosung“
1.2.2 Neurotische Grenzfälle mit Verwahrlosungserscheinungen vs. Verwahrloste, die in einem offenen Konflikt mit der Umwelt stehen
1.2.3 Die Annahme des Unbewussten
1.2.4 Die Bedeutung des Über-Ich s
1.2.5 Lustprinzip und Realitätsprinzip
1.3 Erziehungsziele aus Aichhorns Sicht
1.3.1 „Kulturfähigkeit“ im Sinne von Aichhorn
1.4 „Erziehungsmittel“ bzw. Forderungen an Erzieher aus Aichhorns Sicht
1.4.1 Die positive Übertragung
1.4.2 Absolute Milde und Güte
2. Marian Heitgers Verständnis von pädagogischem Handeln
2.1 Ausgangslage Marian Heitgers
2.2 Erziehung in Bezug auf Verwahrlosung bei Marian Heitger
2.3 Erziehungsziele vs. Prinzipien aus Heitgers Sicht
2.3.1 Selbstbestimmung und Mündigkeit
2.3.2 Argumentativer Dialog
2.3.3 Takt
2.4 Erziehungsmittel aus Heitgers Sicht
3. Gegenüberstellung der Gesichtspunkte Aichhorns und Heitgers bezüglich bestimmter Parameter pädagogischen Handelns
3.1 Unterschiede und Gemeinsamkeiten bzgl. der Gesichtspunkte Aichhorns und Heitgers, worauf pädagogisches Handeln innerhalb der Erziehung abzielt
3.2 Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Sichtweisen Aichhorns und Heitgers bzgl. der Verwendung von Erziehungsmitteln
3.3 Aichhorns und Heitgers Sicht auf Manipulation bzw. Fremdbestimmung innerhalb der Erziehung
4. Kann Aichhorns Handeln – wenn man Heitgers Prinzipien folgt – als „pädagogisch“ angesehen werden?
4.1 Differenzierung der Begriffe „vorpädagogisch“ und „pädagogisch“
4.2 Kann Aichhorns Handeln als Handeln im „vorpädagogischen Raum“ nach Heitger angesehen werden?
5. Weiterführende Gedanken, die sich aus der Beantwortung der Forschungsfragen ergeben
5.1 Pädagogisches Handeln und seine Begründbarkeit durch die Orientierung an Prinzipien wie Selbstbestimmung und Mündigkeit
5.2 Das Nicht-Anwenden von Erziehungsmitteln bzw. manipulationsfreies Handeln
5.3 Der Übergang zwischen einem Handeln im „vorpädagogischen“ bis zu einem im „pädagogischen“ Wirkungsfeld
6. Literaturverzeichnis
Vorwort
Im Rahmen eines einmonatigen Einsatzes beim Verein der Wiener Jugenderholung mit sozial vernachlässigten und dissozialen Kindern habe ich als Erzieherin bemerkt, wie schwierig es ist, über einen längeren Zeitraum hinweg solchen Kindern mit einem pädagogisch gerechtfertigten Verhalten entgegenzutreten. In Gesprächen mit anderen ErzieherInnen wurde mir klar, dass deren Herangehensweise an Probleme mit den Kindern – das Phänomen der Verhaltensauffälligkeit bzw. Verwahrlosung betreffend - völlig unterschiedlich war. Einige von ihnen hielten es für angebracht, die Kinder zu bestrafen oder sie anzuschreien. Diese Methoden wurden also angewandt von ErzieherInnen, die kurzfristige Erfolge erzielen wollten, aber nicht an die nachhaltige Wirkung dieser Erziehungsmittel dachten. Es stellte sich für mich die Frage, wie mit solchen Kindern – auch in schwierigen Situationen – umgegangen werden kann, sodass für die Kinder selbst eine Weiterentwicklung ihrer Persönlichkeit möglich wird und sie nicht nur Verhaltensweisen, die sie in ihrem eigenen Umfeld erlernt haben wiederholen und Einstellungen, die sie sich selbst und ihrer Umwelt gegenüber erworben haben, durch solche Verhaltensweisen bekräftigt werden. Diese Überlegungen führten mich dazu, mich mit August Aichhorns Arbeit auseinanderzusetzen. Gleichzeitig besuchte ich an der Universität Vorlesungen über Pädagogik im Allgemeinen und lernte u.a. Marian Heitger und seinen Zugang zur Pädagogik kennen und stellte mir die Frage, ob die Ansichten zweier Pädagogen aus unterschiedlichen Bereichen der Pädagogik miteinander vereinbar sind.
Aus diesen Überlegungen heraus resultiert die vorliegende Diplomarbeit, die die Gesichtspunkte pädagogisches Handeln betreffend von August Aichhorn und Marian Heitger vergleicht und überprüft, ob Aichhorns Handeln in der Arbeit mit verwahrlosten Kindern und Jugendlichen aus dem Blickwinkel von Heitgers Prinzipien als pädagogisch angesehen werden kann.
Einleitung
August Aichhorn[1] arbeitete mit verwahrlosten[2] Kindern und Jugendlichen. Er war Fürsorgeerzieher und hatte mit dem Phänomen der Verwahrlosung[3] sowohl in Fürsorgeerziehungsheimen als auch im Rahmen der Erziehungsberatung zu tun. Sein Wirken fand zunächst vorwiegend in der Praxis statt. Er ist in seiner Arbeit im Rahmen der Fürsorgeerziehung einen ungewöhnlichen Weg gegangen, indem er intuitiv erzieherisch anders handelte als es zu seiner Zeit üblich war, und forderte bei bestimmten Verwahrlosungsformen - so auch bei einer Gruppe von äußerst aggressiven Jugendlichen - von Erziehern[4] als Erziehungsmaßnahme „absolute Milde und Güte“ gegenüber den Zöglingen (vgl. Aichhorn 1925, 144ff.). Später hielt er Vorträge, in denen er sein Handeln anhand psychoanalytischer Theorieelemente rechtfertigte. Diese Referate sind im Buch „Verwahrloste Jugend“ (Aichhorn 1925) niedergeschrieben, das bis zur heutigen Zeit weite Verbreitung findet. Aichhorns Ziel in der Fürsorgeerziehung war es, die Verwahrlosten zur „Kulturfähigkeit“ zu bringen. Das Kind solle von der „primitiven Realitätsfähigkeit“ mit Hilfe der Erziehung zur „Kulturfähigkeit“ gelangen, die es ihm ermöglicht, sich in die Gesellschaft zu integrieren. In einem eigenen Kapitel über die Erziehungsziele bei Aichhorn werde ich auf dieses spezielle Ziel genauer eingehen. Mit seinen Worten lässt sich zusammenfassen: „Der Säugling … verlangt sehr vernehmlich sofortige Befriedigung seiner Bedürfnisse und wehrt sich heftigst gegen jede Unlust. Im Heranreifen hat er sich so zu entwickeln, daß[5] er fähig wird, Lustgewinn aufzuschieben, auf Lustgewinn zu verzichten und Unlust zu ertragen; denn sonst ist ein Leben in der sozialen Gemeinschaft unmöglich. Auch alle geistigen und seelischen Fähigkeiten müssen sich so entfalten, daß das Kind in die Kulturgemeinschaft seiner Zeit hineinwächst, an deren Kulturgütern teilnimmt, sie erhält und nach Möglichkeit mithilft, sie zu vermehren“ (Aichhorn 1959, 136). Und in einem weiteren Zitat verdeutlicht er die Aufgabe der Erziehung, indem er sagt: „Das Leben allein, mit seinen das Einzelindividuum recht wenig berücksichtigenden Konstellationen, reicht dazu nicht aus, es bedarf noch jener Einflußnahme von seiten der Erwachsenen, die Erziehung heißt. … Das Leben selbst erzwingt mit seinen Anforderungen die primitive Realitätsfähigkeit, die Erziehung erweitert diese zur Kulturfähigkeit“ (Aichhorn 1925, 12). Um Anhaltspunkte für ein pädagogisches Handeln – dieses Ziel betreffend - zu finden, richtet Aichhorn sein Augenmerk auf die Entwicklungstheorie und auf das Instanzenmodell von Sigmund Freud (vgl. Freud 1923) und versucht mit Hilfe von letzterem eine Darstellung des Kräfteverhältnisses von Es, Ich und Über-Ich - wie es bei verwahrlosten Jugendlichen bestehen kann – zu geben. Aus der jeweiligen Gewichtung dieser drei Anteile leitet sich nach Aichhorn das geforderte Verhalten des Erziehers ab.
Im Rahmen meines Studiums bin ich zudem immer wieder auf Marian Heitgers[6] Prinzipien gestoßen, die in der Pädagogik als Wissenschaft immer wieder zu wertvollen Diskussionen führen. Aus diesem Grund möchte ich auf seine Prinzipien näher eingehen und seine Gesichtspunkte pädagogisches Handeln betreffend mit denen Aichhorns vergleichen. Heitger ist ein Vertreter der Prinzipienwissenschaftlichen Pädagogik und vermittelt sein pädagogisches Wissen vorwiegend in der Lehre der Erziehungswissenschaft an Universitäten sowie in seinen Schriften. Er setzt sich mit Pädagogik im Allgemeinen auseinander und formuliert Prinzipien, deren Beachtung ein Handeln – aus Heitgers Sicht - erst zu einem pädagogischen Handeln macht. Seinen Ausführungen zufolge haben diese Prinzipien einen allgemeinen Geltungsanspruch für die Pädagogik. Heitger formuliert das Ziel pädagogischen Handelns wie folgt: „Die Erziehung richtet sich auf ein Verhalten und eine Haltung, die dem Sollen gehorcht, d.h. nicht schon durch naturhaftes Wachsen gerechtfertigt ist; die auch einmal gegen die eigenen Neigungen und Wünsche gerichtet sein kann, die vielleicht auch Schmerz bereitet und Anstrengung fordert, die aber um des ethischen Anspruches willen in Kauf genommen werden muß“ (Heitger 1994, 126). Auch in diesem Zitat klingt an, dass gesellschaftliche Normen den Maßstab für das Ziel bilden, das mit Hilfe der Erziehung erreicht werden soll. Um dieses Ziel erreichen zu können, bezieht sich Heitger auf die Transzendentalphilosophie und nennt - wie schon zuvor erwähnt - Prinzipien, die ihm zufolge für den Pädagogen und sein Handeln jederzeit und unbedingt Geltung haben.
Die Ausgangspunkte der beiden Pädagogen, unter welchen Gesichtspunkten erzieherisches Handeln als solches geltend gemacht werden kann, sind demnach unterschiedlich. Und doch vertreten beide die Ansicht, dass es wichtig für Pädagogen ist, mit Hilfe eines bestimmten theoretischen Hintergrundes pädagogisches Handeln auch rechtfertigen zu können. Aichhorn nimmt hierfür die psychoanalytische Theorie zu Hilfe, während Heitger den transzendentalphilosophischen Zugang wählt. Das Erziehungsziel beider nimmt die Gesellschaft mit ihren Forderungen nach Sozietät mit in ihre Betrachtungen hinein. Es besteht also auch hier eine Überschneidung des Geltungsanspruchs ihrer Ausführungen.
Ich werde nun im Folgenden die Umstände, aus denen sich die Forschungsfrage meiner Diplomarbeit ergibt, näher erörtern.
Die Sozialpädagogik ist ein Teilbereich der Pädagogik, in den auch die Fürsorgeerziehung[7] fällt. Aichhorns Arbeit mit verwahrlosten Kindern und Jugendlichen bewegte sich in diesem Bereich, den ich im Rahmen meiner Diplomarbeit genauer betrachten möchte, weil er durch die besondere Situation, in der sich Erzieher und Zögling befinden, interessante Einblicke in die Schwierigkeit der Erziehertätigkeit allgemein bietet und auch für die wissenschaftliche Begründbarkeit pädagogischen Handelns wichtigen Diskussionsstoff liefern kann. Für meine Arbeit wähle ich deshalb Aichhorn aus, weil er einen besonderen Stellenwert in der Sozialpädagogik erhielt, indem er als einer der ersten Pädagogen versuchte, mit Hilfe psychoanalytischer Theorieelemente das Phänomen der Verwahrlosung zu erklären. Diese zog er im Weiteren für die Begründung seines zuvor in der Fürsorgeerziehung und im Rahmen von Erziehungsberatungen intuitiv gesetzten Verhaltens heran. Seine Ausführungen erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, stellen demnach auch keine „Theorie der Verwahrlosung“ im engeren Sinne dar. Und doch hat er mit diesen Überlegungen und Schlussfolgerungen einen wichtigen Schritt in diese Richtung geleistet. Er hat in dem Buch „Verwahrloste Jugend“ Elemente der psychoanalytischen Theorie mit einigen Falldarstellungen aus der Erziehungsberatung und aus Fürsorgeerziehungsheimen zusammengeführt und ist damit ein Wegbereiter für die Etablierung der Psychoanalytischen Pädagogik innerhalb der Erziehungswissenschaft allgemein geworden. Dieser Teilbereich der Pädagogik befindet sich in einer Entwicklung, die auch heute noch lange nicht zu Ende ist. Einer der Ausgangspunkte hierfür liegt jedoch in der Arbeit Aichhorns.
Um zu überprüfen, ob seine Gesichtspunkte, pädagogisches Handeln betreffend, innerhalb der Pädagogik auch für einen Vertreter der Allgemeinen Pädagogik Geltung haben können, ziehe ich Heitger hinzu, dessen Zugang, pädagogische Themen betreffend, ein philosophischer ist. Er setzt sich eingehend mit allgemeinen Fragen der Pädagogik auseinander und lässt in seinen Theorien keinen Zweifel daran, dass pädagogisches Handeln – aus seiner Sicht gesehen – erst unter bestimmten Voraussetzungen „pädagogisch“ genannt werden darf. Die Bedingungen, die ihm zufolge erfüllt sein müssen, gelten auch für jede Erziehungssituation. Ich werde demnach in meiner Diplomarbeit Heitgers philosophischen Zugang zu pädagogischen Themen Aichhorns psychoanalytischem Ansatz pädagogisches Handeln betreffend gegenüberstellen, um zu überprüfen, ob dessen erzieherisches Handeln auch aus der bildungsphilosophischen Sicht Heitgers pädagogisch genannt werden kann.
Aichhorn beschäftigt sich intensiv mit psychoanalytischen Theorieelementen, die sein erzieherisches Verhalten rechtfertigen können. In seinen Publikationen geht er jedoch kaum auf allgemeine Fragen der Pädagogik ein, sondern richtet sein Augenmerk - geprägt durch seine Tätigkeit in der Fürsorgeerziehung - vorwiegend auf das Phänomen der Verwahrlosung.
Obwohl Heitger sich mit Fragen der Sonder- und Heilpädagogik und der Psychotherapie auseinandergesetzt hat und auch das Phänomen der Verwahrlosung bzw. Verhaltensauffälligkeit in seine Betrachtungen mit einbezieht, fehlt jedoch in seinen Ausführungen ein konkreter Verweis auf die Schriften Aichhorns. Beide Pädagogen konzentrieren sich für die Begründung pädagogischen Handelns lediglich auf ihre jeweiligen Anschauungen. Eine Gegenüberstellung der Gesichtspunkte verschiedener Teilbereiche innerhalb der Pädagogik war in ihren Ausführungen jedoch nicht Gegenstand der Betrachtung.
Weiters ist festzuhalten: Es gibt zwar einige Forschungsarbeiten (vgl. Kazak 2003; Schopf 2002; Forstner 1997), die sich intensiv mit Aichhorns Methodik und seinem Bild der Verwahrlosung auseinandersetzen, eine Gegenüberstellung mit Theorien von Vertretern der Allgemeinen Pädagogik, die Gesichtspunkte für pädagogisches Handeln betreffend, ist in der Literatur jedoch nicht zu finden. Dieser Umstand führt mich nun dazu, mich dieser ausgewählten Forschungslücke zu widmen.
Folgt ein Pädagoge als Leser nun den Ausführungen Aichhorns in seinem Buch „Verwahrloste Jugend“, wird er vielleicht den Erklärungen und Motiven für dessen Handeln zustimmen. Es erhebt sich jedoch die Frage, ob Aichhorns Handeln auch unter anderen Gesichtspunkten wissenschaftlich begründbar ist. Aichhorns Praxisfeld war das der Fürsorgeerziehung, während Heitgers Wirken in der Weitergabe von pädagogischer Lehre besteht. Da Aichhorn und Heitger allerdings beide als Pädagogen zu bezeichnen sind und beide pädagogisches Handeln zu begründen versuch(t)en, liegt der Schluss nahe, dass es Überschneidungspunkte innerhalb ihrer Theorien gibt. Um dies zu untersuchen, werde ich die theoretischen Grundannahmen Heitgers näher beleuchten und den Umgang mit verwahrlosten Kindern und Jugendlichen mit Hilfe seines philosophischen Ansatzes betrachten. Heitger beschränkt sich in seinen Theorien nicht nur auf einen Teil der Erziehungswissenschaft, sondern nimmt den gesamten Bereich der Pädagogik ins Blickfeld. Er beschreibt Prinzipien, die seiner Meinung nach den Anspruch haben, für alle Erzieher zu gelten. Nach diesen Prinzipien muss sich jeder Pädagoge richten, wenn er pädagogisch handeln will. Tut er das nicht, so kann sein Handeln nicht als „pädagogisch“ gewertet werden. Aus diesem Verständnis heraus stellt sich nun die Frage, ob denn Aichhorns Handeln – wenn man es mit Heitgers Ausführungen in Verbindung setzt - noch als pädagogisches Handeln zu betrachten ist. Dieser Frage werde ich im Rahmen einer Gegenüberstellung der beiden Pädagogen auf den Grund gehen.
Aichhorns Position hinsichtlich pädagogischen Handelns bezieht sich vorrangig auf den Bereich der Verwahrlosung. Heitgers pädagogische Ausführungen sind allgemein formuliert und betreffen die gesamte Pädagogik. Ich werde die Aussagen beider Pädagogen in Hinblick auf das Verhalten von Erziehern vergleichen, um mögliche Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede zwischen den beiden Ansätzen herauszuarbeiten. Es ist jedoch durch die unterschiedliche Ausgangslage der beiden und die verschiedenen Theorien, die sie für die Begründung ihrer Thesen zu Hilfe nehmen, anzunehmen, dass die Übereinstimmung bezüglich der Ergebnisse ihrer Begründungsversuche nur gering sein wird. Dieser Vermutung folgend, möchte ich meine Untersuchung ausweiten und – wie im vorigen Kapitel erwähnt – der Frage nachgehen, ob Aichhorns Handeln, den Theorien Heitgers zufolge, die für pädagogisches Handeln die Beachtung der Prinzipien fordern, überhaupt dem Anspruch des „Pädagogischen“ genügt. Meine Fragestellungen lauten demnach:
- An welchen Gesichtspunkten hat sich pädagogisches Handeln in Bezug auf die Arbeit mit verwahrlosten Kindern und Jugendlichen nach August Aichhorn und Marian Heitger zu orientieren?
- Sind die Positionen der beiden bezüglich dieser Frage kompatibel?
- Ist Aichhorns Handeln – wenn man Heitgers Prinzipien folgt - als „pädagogisch“ anzusehen?
Es ergibt sich nun die Frage, welche Relevanz die Beantwortung dieser Fragestellungen für die Sozialpädagogik hat.
Wenn man die beiden pädagogischen Ansätze, erzieherisches Handeln zu betrachten, vergleicht, stellt sich die Frage, ob Aichhorns Handeln und seine Forderungen an Erzieher den Richtlinien Heitgers für pädagogisches Agieren gerecht werden oder ob es, wenn man dessen Prinzipien als Maßstab für pädagogisches Handeln heranzieht, als „nicht-pädagogisch“ bezeichnet werden muss. Heitger differenziert hierfür zwischen „pädagogischem“ und „nicht-pädagogischem“ Handeln. Immer dann, wenn Erzieher ihr Verhalten nicht nach seinen genannten Prinzipien richten, sind sie nicht „pädagogisch“ tätig. Wenn es aus bestimmten Gründen, z.B. die Individuallage des Kindes betreffend, nicht möglich ist, erzieherisches Verhalten den Prinzipien entsprechend auszurichten, dies aber in weiterer Folge angestrebt wird, so nennt Heitger dies ein Handeln im „vorpädagogischen Raum“. Auf diese Unterscheidung werde ich in einem der Subkapitel näher eingehen, wenn ich Heitgers weitergehende begriffliche Trennung von „vorpädagogisch“ (vgl. Heitger 1976) und „pädagogisch“ in den Vordergrund rücke. Und auch hier werde ich versuchen, diese Unterscheidung mit den Methoden Aichhorns in Verbindung zu bringen, um zu überprüfen, ob Aichhorns Handeln – aus Heitgers Sicht - im Bereich des „vorpädagogischen Raumes“ anzusiedeln wäre. Je nachdem, wie die Beantwortung dieser Frage ausfällt, wäre Aichhorns Verhalten im Bereich der Sozialpädagogik aus Sicht eines anderen Teilbereiches, nämlich aus bildungsphilosophischer Sicht wie sie Heitger vertritt, als pädagogisches Handeln zu rechtfertigen oder in Frage zu stellen.
Die Differenzierung zwischen „pädagogischem“ und „nicht pädagogischem“ Handeln ist überdies eine Grundsatzfrage der Pädagogik als Wissenschaft. Ich werde mich in meiner Arbeit jedoch nur auf die Gegenüberstellung der Theorien Heitgers und Aichhorns beschränken.
Im Folgenden werde ich ausführen, mit welcher Methode ich an die Beantwortung meiner Forschungsfragen herangehe.
Um die in meiner Diplomarbeit angeführten Fragestellungen genau erörtern und beantworten zu können, werde ich mich vorwiegend auf Primärliteratur von Aichhorn und Heitger beziehen. Zur Veranschaulichung des pädagogischen Handelns Aichhorns werde ich aus dem Buch „Verwahrloste Jugend“ Falldarstellungen zitieren. Sie sollen im Weiteren dem Leser ein besseres Verständnis hinsichtlich Aichhorns Theoriebildung ermöglichen. Um einen weitgehend umfassenden Blick auf Heitgers Prinzipien zu bekommen, werde ich mich hierfür auf mehrere von ihm verfasste Bücher bzw. Aufsätze (siehe Literaturverzeichnis) beziehen.
Bei der Gegenüberstellung der beiden Pädagogen und der Diskussion, ob Aichhorns Handeln - im Sinne Heitgers - mit Hilfe der Unterscheidung von „vorpädagogisch“ und „pädagogisch“ als Handeln im Bereich des „vorpädagogischen Raumes“ angesehen werden kann, werde ich zusätzlich noch Sekundärliteratur (z.B. Datler 1995) zu Hilfe nehmen.
Ich werde nun die Gliederung meiner Diplomarbeit näher ausführen. Im ersten Kapitel werde ich zuallererst die Ausgangslage Aichhorns darstellen und den Begriff Verwahrlosung - wie ihn Aichhorn versteht – herausarbeiten. Im Weiteren werde ich ausführlich auf seine Arbeit mit Verwahrlosten eingehen. Er bezieht sich hierbei auf die individuelle psychische Situation des Kindes und konzentriert sich auf das Erkennen des Entwicklungsstandes des Über-Ich s des Kindes. In einem weiteren Schritt erläutere ich das von Aichhorn formulierte Erziehungsziel, die „Kulturfähigkeit“. In einem nächsten Subkapitel richte ich das Augenmerk auf die Forderungen Aichhorns an die Erzieher, mit welchen Erziehungsmitteln dieses Ziel erreicht werden soll. Dies sind u.a. die unbedingte Herstellung einer positiven Übertragungsbeziehung vom Kind auf den Erzieher, die - seinen Ausführungen nach - das wichtigste Moment für den Fürsorgeerzieher ist, um überhaupt pädagogisch tätig werden zu können. Als zweites Erziehungsmittel werde ich die von Aichhorn gegenüber einer speziellen Gruppe – nämlich die der „Aggressiven“ - geforderte „absolute Milde und Güte“ herausstreichen und erläutern. In meinen Ausführungen werde ich mich hierbei auf die Arbeit mit dieser bestimmten Gruppe von Jugendlichen im Fürsorgeerziehungsheim Oberhollabrunn beschränken. Ich nehme also von der Arbeit Aichhorns nur einen kleinen Teil seiner Klientel genauer unter die Lupe, damit ich später in meiner Arbeit einen kleinen Ausschnitt aus Aichhorns Arbeitsfeld aus dem Blickwinkel der Pädagogik als Wissenschaft ausführlich und kritisch betrachten kann. Zur Verdeutlichung, worauf es Aichhorn im Wesentlichen ankommt, werde ich einige Fallbeispiele aus dem Buch „Verwahrloste Jugend“ zitieren.
Im zweiten Kapitel der Diplomarbeit werde ich zuerst Heitgers Ausgangslage beschreiben und dann den Begriff Verwahrlosung bzw. Verhaltensauffälligkeit laut Heitger skizzieren. Ebenso werde ich Heitgers Sicht auf Erziehungsziele beleuchten. Im Folgenden widme ich meine Aufmerksamkeit den Gesichtspunkten, nach denen sich pädagogisches Handeln laut Heitger zu orientieren hat. Ich werde in diesem Kapitel auf jene Prinzipien, die für meine Arbeit relevant erscheinen, näher eingehen. Es sind dies die Prinzipien der Selbstbestimmung und Mündigkeit, des argumentativen Dialogs und des Takts. Ich wähle diese Prinzipien aus, weil sie für Heitger fundamental sind und durch deren Beachtung der Blick auf das geforderte Verhalten der Erzieher besonders deutlich wird. In einem weiteren Schritt beschreibe ich die Position Heitgers zu Erziehungsmitteln.
Im dritten Kapitel stelle ich die in Kapitel 1 und 2 der Diplomarbeit herausgearbeiteten Gesichtspunkte Aichhorns und Heitgers – pädagogisches Handeln betreffend - gegenüber. Hierbei werde ich ihre Sicht auf Erziehungsziele und Erziehungsmittel miteinander vergleichen. Danach stelle ich das Thema der Manipulation aus der Sicht der beiden Pädagogen dar.
Anschließend werde ich im vierten Kapitel zuerst meine zentrale Forschungsfrage beantworten, ob Aichhorns Handeln – wenn man Heitgers Sicht über die notwendige Orientierung an seinen genannten Prinzipien folgt – „pädagogisch“ genannt werden darf. Es liegt die Vermutung nahe, dass dies nicht der Fall ist. Deshalb werde ich im darauf folgenden Subkapitel mit Hilfe der Unterscheidung zwischen den Begriffen „vorpädagogisch“ und „pädagogisch“, wie sie Heitger trifft, untersuchen, ob das Handeln Aichhorns und seiner Erzieher – zumindest in Heitgers tituliertem „vorpädagogischen Raum“ anzusiedeln wäre.
In einem abschließenden fünften Kapitel werde ich die in meiner Arbeit gewonnenen Erkenntnisse zusammenfassen und die sich daraus ergebenden bzw. noch offen gebliebenen Fragen, die einer weitergehenden Betrachtung bedürfen, herausstreichen.
1. August Aichhorns Verständnis von pädagogischem Handeln, bezogen auf die Arbeit mit „verwahrlosten“ Kindern und Jugendlichen
In diesem Kapitel werde ich zunächst Aichhorns Ausgangslage beschreiben, um dann näher auf seine Arbeit mit verwahrlosten Kindern und Jugendlichen einzugehen. Ich werde herausarbeiten, welche Unterscheidung er bezüglich des Begriffs „Verwahrlosung“ vornimmt. Dies führt mich dazu, darauf einzugehen, welche Rolle das Über-Ich für die Entwicklung des Kindes aus Aichhorns Sicht hat. Des Weiteren werden Aichhorns Erziehungsziele beleuchtet, insbesondere die „Kulturfähigkeit“. In einem darauffolgenden Kapitel wird die Sicht Aichhorns auf Erziehungsmittel dargestellt und seine damit verbundenen Forderungen an Erzieher herausgestrichen. In meiner Arbeit werde ich aber das Augenmerk nur auf die Arbeit Aichhorns mit aggressiven Kindern und Jugendlichen richten und andere Arten von Verwahrlosung außer Acht lassen. Daher werde ich als „Erziehungsmittel“ sowohl die in jedem Fall geforderte Übertragungsbeziehung betrachten als auch die in diesem speziellen Fall von Aggressivität geforderte „absolute Milde und Güte“.
1.1 Ausgangslage August Aichhorns
August Aichhorn wurde 1878 in Wien geboren. Sein Vater hatte ein Bankgeschäft gegründet, seine Mutter eine Bäckerei übernommen. Nach Abschluss der Schule machte Aichhorn zuerst eine Ausbildung zum Lehrer im mathematischen Bereich, wurde jedoch schon im Jahr 1909 zum Zentraldirektor des Vereins zur Errichtung und Erhaltung von Knabenhorten bestellt. Ab diesem Zeitpunkt machte er eine Ausbildung an der Heilpädagogischen Abteilung der Wiener Universitätskinderklinik bei Prof. Lazar und widmete sich verstärkt der Jugendfürsorge. Er sagte hierzu: „... ohne psychologisches Wissen, aber aus einem sicheren Gefühl, war mir klar: wie man den Verwahrlosten sieht und wie er behandelt wird, k a n n n i c h t r i c h t i g s e i n. Und so, ohne Vorbildung, kam ich zum Verwahrlosten“ (Aichhorn A.; zit. nach Aichhorn T. 1976, 30).
In dieser Zeit, als die Zahl der Verwahrlosten durch den ersten Weltkrieg stark anstieg, war Erwin Lazar Dozent an der Wiener Universitätskinderklinik. Er brachte neue Gedanken in die Verwahrlostenpädagogik ein: Damals herrschte über weite Strecken die Sicht vor, dass Verbrecher schon als solche geboren werden. Prichard prägte den Begriff der „moral insanity“, die auch als Ursache für Verwahrlosung galt. Lombroso nahm „... als erster wissenschaftliche Untersuchungen des Verbrechers vor. Der Verbrecher sei ein Degenerierter, der in seiner Entwicklung hinter dem entwicklungsgeschichtlichen Stand der Menschheit zurückgeblieben ist. Er könne seinem verbrecherischen Tun deshalb nicht Einhalt gebieten“ (Peters 1990, 316). Beide vertraten die Ansicht, dass Verwahrloste in Anstalten gesperrt und von Ärzten untersucht werden sollten; Pädagogik - so meinten sie - könne bei diesen Kindern nichts ausrichten. Lazar hingegen sprach nicht mehr vom „geborenen Verbrecher“, d.h. er nahm nicht an, dass Verwahrlosungserscheinungen genetisch determiniert seien, sondern er bezog die Umwelt in seine Betrachtungen über die Ursachen des Zustandekommens von Verwahrlosung mit ein. Aichhorn, ein Schüler von Lazar, ging schließlich noch viel weiter, indem er - wie schon zuvor erwähnt - nicht nur die Umwelt, sondern im Weiteren auch die jeweilige psychische Entwicklung des Kindes in seine Überlegungen mit einbezog.
Die damalige Sicht der Fürsorgeerziehung in Bezug auf Verwahrlosung lässt sich mit Aichhorns Worten wie folgt beschreiben: „Wir Fürsorgeerzieher fassen den Verwahrlosten als krank auf, und sprechen von seiner Behandlung. Über den Arzt, der einen Kranken nach der Wirkung, die dessen Krankheit auf die Umgebung ausübt, behandeln wollte, würden wir uns lustig machen. Wir handeln aber solange nicht anders, als wir uns von der Wirkung nicht frei machen können, die die Verwahrlosungsäußerung auf den ausübt, der sie aushalten soll. Vielleicht gelingt uns selbst ab und zu eine affektlose Einstellung zum Verwahrlosten, unsere Maßnahmen richten wir aber zum größten Teil doch nach der Wirkung, die er auf andere ausübt. Wir fragen die Eltern, Verwandten, gehen in die Schule und zu Wohnungsnachbarn, um recht gründlich zu sein, übersehen dabei aber, daß alles erlangte Material vom Verwahrlosten nur aussagt, wie er auf seine Umgebung wirkt“ (Aichhorn A. 1926; zit. nach Aichhorn T. 1976, 60).
Dieser Betrachtung des Phänomens der Verwahrlosung wollte Aichhorn in seiner Arbeit entgegentreten. Er forderte deshalb Erzieher dazu auf, nicht primär die Wirkung des Verwahrlosten auf die Umgebung zu beachten, sondern nach Geschehnissen im Inneren des Kindes zu fragen. Um dieser - bezüglich des Blickpunktes - veränderten Betrachtungsweise folgen zu können, suchte er nach einer geeigneten psychologischen Theorie und fand später in der Psychoanalyse den ihm sinnvoll erscheinenden theoretischen Bezugsrahmen.
Aichhorn richtete im Jahr 1918 in einem ehemaligen Flüchtlingslager in Oberhollabrunn eine Fürsorgeerziehungsanstalt ein. Die meisten Kinder, die dorthin kamen, stammten aus zerrütteten Familienverhältnissen; viele von ihnen zeigten dissoziale bzw. kriminelle Verhaltensweisen (Diebstahl, Lügen ...). Das Durchschnittsalter der Zöglinge lag bei zwölf Jahren. Diese Anstalt wurde aufgrund von politischen Querelen zweieinhalb Jahre später geschlossen: „Als die Anstalt durch ihre Leistungen auffiel und vielseitige Beachtung fand, vermeinten die Juristen des Jugendamtes die Situation ausnützen zu können. Ein Magistratsoberkommissar versuchte für sich die Direktorstelle zu erlangen und mich, den man brauchte, auf die Stelle des pädagogischen Leiters zurückzudrängen“ (Aichhorn A.; zit. nach Aichhorn T. 1976, 33). Diese Kämpfe dauerten nicht lange; im Frühjahr 1921 wurde die Erziehungsanstalt in Oberhollabrunn aufgelöst. Hierzu ist zu sagen, dass diese 2½ Jahre lediglich als ein Experiment angesehen werden können, denn nach dem Schließen des Heimes wurden die Jugendlichen wieder in ihre alte Umgebung zurückgeführt, was eine hohe Rückfallquote in ihre alten Verhaltensweisen vermuten lässt. Interessant wäre auch, ob – wenn das Heim länger Bestand gehabt hätte – die Jugendlichen eine nachhaltige Verhaltens- bzw. Einstellungsänderung erfahren hätten, sodass eine stabile Entwicklung ihres Selbst stattfinden hätte können. All dies können wir aber aus den Ausführungen Aichhorns nicht ableiten. Ich beschränke mich daher darauf, das vorliegende Material von ihm näher zu betrachten und einige seiner wichtigsten Ansatzpunkte herauszustreichen.
In der Arbeit mit verwahrlosten Kindern und Jugendlichen verlangte Aichhorn von Erziehern ein enormes Umdenken und eine deutliche Veränderung ihres Bildes bezüglich Verwahrlosten. So schrieb Aichhorn: „Wir Erzieher sehen im Dissozialen einen Menschen, dessen seelisch erkrankter Organismus auszuheilen ist ... Jeder im Erziehungsdienst Tätige weiß, daß der Dissoziale nicht wieder zur gesellschaftlichen Einordnung kommt, wenn ihm Widerstände entgegengestellt werden, sondern daß dieser jederzeit und immer den Freund und Berater braucht, der liebevoll auf seine kleinen und kleinsten Bedürfnisse eingeht, seinen Schmerz teilt und sich mit ihm freut. Nicht jeder, der sich der Fürsorgeerziehung widmen will, ist imstande, diese unerläßliche Bedingung zu erfüllen. Wir müssen daher auch vom Erzieher ganz bestimmte Persönlichkeitswerte fordern“ (Aichhorn A.; zit. nach Aichhorn T., 1976, 40f.). Aichhorn stellte damit an Erzieher Forderungen, die für die damalige Zeit nicht üblich waren. Diese Forderungen werde ich im Kap. 1.6 nachzeichnen und durch ein konkretes Fallbeispiel veranschaulichen, wie sie lt. Aichhorn umzusetzen sind. Zu dieser Zeit gibt es nicht viele Pädagogen und Psychologen, die seine Ansichten über die „Verwahrlostenfürsorge“ und die Maßnahmen, die er setzt, teilen. Er gilt daher als Pionier in diesem Tätigkeitsbereich.
1922 wurde Aichhorn ordentliches Mitglied der Psychoanalytischen Vereinigung. Er blieb dem Ansatz der Psychoanalyse treu und ließ aus ihr gewonnene Einsichten und Erkenntnisse in seine berufliche Tätigkeit einfließen. Nach und nach verlagerte er seine Arbeit auf den Bereich der Erziehungsberatung, was auch eine vermehrte Arbeit mit Eltern bedeutete.
Im Jahr 1925 schrieb er das Buch „Verwahrloste Jugend“, in dem er u.a. seine in Oberhollabrunn gemachten Erfahrungen beschrieb und Verhaltensweisen - sowohl der Kinder als auch der Erzieher - aus psychoanalytischer Sicht interpretierte und kommentierte. Zu diesem Unterfangen sagte er selbst: „Und doch blieb mir klar: Erfolge aus einer Begabung sind Zufallstreffer, wichtig für den Einzelnen, aber völlig wertlos für den Ausbau einer Methode. Nur wenn es mir gelingt, theoretische Einsicht in die Berechtigung meines Handelns zu erlangen und wenn es mir möglich wird, es vor anderen zu begründen, kann ich hoffen, den Anfangsweg zu dieser Methode aufzufinden, von der ich nicht wußte, wie sie aussehen wird. Daher suchte ich weiter und kam in meinem Suchen zur Psychoanalyse: nicht um Psychoanaytiker zu werden, nicht um von der Schulbank her mir ein neues Wissensgebiet anzueignen; sondern mitten aus der Verwahrlostenfürsorge, um Hilfen zu finden im Kampfe gegen die Verwahrlosung; den Verwahrlosten zu begreifen, den Anfang einer Methode festzulegen, die es ermöglicht, den Verwahrlosten nicht mehr durch Gesellschaft und Staat verfolgen zu müssen, ihn aufzugreifen, einzusperren, zu verurteilen und dem Strafvollzug zuzuführen“ (Aichhorn A.; zit. nach Aichhorn T. 1976, 30).
Aichhorn hielt auch nach seinem Übertritt in den Ruhestand Vorlesungen und war sowohl im psychoanalytisch-pädagogischen Bereich als auch im Rahmen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung bis zu seinem Tod im Jahr 1949 tätig.
Was Aichhorn konkret unter Verwahrlosung verstand und welche Formen der Verwahrlosung er unterscheidet, wird im folgenden Kapitel näher ausgeführt.
1.2 Der Begriff Verwahrlosung bei August Aichhorn
Zu Beginn dieses Kapitels möchte ich erwähnen, dass Aichhorn keine wissenschaftlich fundierte Einteilung der Verwahrlosungstypen erstellt hat. Er selbst erinnert in seinen Büchern „Verwahrloste Jugend“ und „Erziehungsberatung und Erziehungshilfe“ immer wieder daran, indem er z.B. im zweit genannten Buch nach einer Auflistung verschiedener Ausprägungen von Verwahrlosung sagt: „Ich stelle in meinem Vortrag nach meinem Plan nur ein Gerüst auf, mit dessen Hilfe der Bau erst ausgeführt werden muß von jenen, die nach mir kommen. Was ich Ihnen über die Verwahrlosten überhaupt … zu sagen habe, ist nicht das Ende, sondern der allererste Anfang, aber doch schon mehr als eine bloße Vermutung. Aber die endgültige Beweisführung fehlt mir noch“ (Aichhorn 1959, 175). Ich werde im Weiteren einige für diese Arbeit relevante Unterscheidungen Aichhorns von Verwahrlosung, herausnehmen und genauer beschreiben.
1.2.1 Differenzierung von „latenter Verwahrlosung“ und „manifester Verwahrlosung“
Mit Hilfe der psychoanalytischen Theorie lässt sich eine Unterscheidung zwischen Verwahrlosungserscheinungen treffen, die man mit dem Begriff „manifeste Verwahrlosung“ umschreibt, und der Verwahrlosung, die nicht offensichtlich zu erkennen ist und daher „latente Verwahrlosung“ genannt wird. In der Theorie der Psychoanalyse „... wird verschiedentlich das Wort ‚manifest‘ für das Sichtbarwerden von Äußerungen gebraucht, ‚latent‘, wenn derselbe Zustand ohne diese besteht. Scheiden wir durch Einführung dieser beiden Begriffe die Verwahrlosung in zwei Phasen, die latente und manifeste, so ist die der manifesten gegeben, wenn es zu Verwahrlosungsäußerungen kommt. Der Junge, der die Schule schwänzt, vagiert, stiehlt, einbricht, ist manifest verwahrlost; der andere, bei dem diese Art der Realitätsäußerungen, also die Verwahrlosungssymptome, fehlen, der aber die dazu notwendigen psychischen Mechanismen vorgebildet hat, ist in der Phase der latenten Verwahrlosung. Es bedarf dann nur mehr des entsprechenden Anlasses, um die latente in die manifeste überzuführen, die psychischen Mechanismen zum Ablauf zu bringen. Das gewöhnlich als Ursache Angeführte (Gesellschaft, Straße) erscheint damit zur Verwahrlosung ins richtige Verhältnis gebracht. Die Ursache der Verwahrlosung aufsuchen, heißt dann auch nicht, nachsehen, was die latente Verwahrlosung zur manifesten macht, sondern ergründen, was die latente hervorruft“ (Aichhorn 1925, 44f.). Aufgabe der Fürsorgeerziehung ist es demnach - laut Aichhorn -, zuerst die Ursache der Verwahrlosung herauszufinden und durch dementsprechende Maßnahmen der latenten Verwahrlosung entgegenzuwirken, um sie zum Verschwinden zu bringen. Aichhorn richtet sein Augenmerk im Umgang mit Verwahrlosten im Weiteren der latenten Verwahrlosung und schenkt den manifesten Verwahrlosungserscheinungen keine große Aufmerksamkeit. Für ihn gibt es das Ziel, die latente Verwahrlosung zu beseitigen, was gleichbedeutend ist mit dem Beseitigen der manifesten Verwahrlosung. Diese Sichtweise Aichhorns veranlasst mich dazu, mich in meinen weiteren Ausführungen dieses Kapitels ebenso auf die latente Verwahrlosung zu beziehen.
Aichhorn beschreibt konkrete Faktoren, die zur latenten Verwahrlosung führen, folgendermaßen: „... In allen Fällen[8] lagen schwere Elternkonflikte vor, in denen die Kinder entweder Stellung gegen den Vater oder die Mutter oder beide genommen hatten. Keines der Kinder war je zur Befriedigung seines Zärtlichkeitsbedürfnisses gekommen, in einzelnen Fällen lag eine vollständige Zurückziehung der Liebe vom Menschen auf das Tier vor. Von ihren Kaninchen sprachen sie in Ausdrücken größter Zärtlichkeit, während sie ihre Kameraden auf das schwerste bedrohten. In allen Fällen war es zur Entwicklung einer sehr starken Haßkomponente gekommen. Alle waren fürchterlich geprügelt worden und prügelten oder gingen dort los, wo sie sich als die Stärkeren fühlten“ (Aichhorn A.; zit. nach Aichhorn T. 1976, 45).
Aus diesen Ausführungen geht deutlich hervor, dass laut Aichhorn v.a. die Art und Weise der Beziehungsgestaltung zu wichtigen Bezugspersonen in der frühen Kindheit dazu geführt hat, dass sich eine latente Verwahrlosung ausgebildet hat. Daraus folgt für ihn der Weg zum Ziel: „Die Behebung der Verwahrlosung ... muß auf die die Verwahrlosung verursachenden Momente eingehen und dadurch auch die latente Verwahrlosung beheben“ (Aichhorn 1925, 45).
Um also in der Erziehung die richtigen Handlungsweisen für die Rück- bzw. Hinführung zum sozialen Leben zu setzen, ist es zuerst wichtig, sich vor Augen zu halten, welche Ursachen die jeweiligen Defizite herbeigeführt haben. Hierzu schreibt Aichhorn: „Am Zustandekommen der latenten Verwahrlosung sind mehrere Faktoren beteiligt, die man als Ursache der Verwahrlosung zusammenfassen könnte. Zunächst die aus der Erbanlage gegebene Konstitution, dann ... erste Kindheits- und sonstige Erlebnisse, die ähnlich denen sein müssen, die für die Ätiologie (Ursache) der Neurose und Psychose von Bedeutung sind“ (Aichhorn 1925, 49). Dies führt mich zu einer weiteren Unterscheidung, die Aichhorn trifft, nämlich die Einteilung in die Gruppe der „neurotischen Grenzfälle mit Verwahrlosungserscheinungen“ und Verwahrloste, „die mit einem Teile oder der gesamten persönlichen Umwelt in offenem Konflikte“ stehen (vgl. Aichhorn 1925, 105).
1.2.2 Neurotische Grenzfälle mit Verwahrlosungserscheinungen vs. Verwahrloste, die in einem offenen Konflikt mit der Umwelt stehen
Aichhorn führt in seinen Büchern diese zwei Hauptgruppen von Verwahrlosung an: „... die neurotischen Grenzfälle mit Verwahrlosungserscheinungen und Verwahrlosungen, bei denen in jenem Teile des Ichs, aus dem die Verwahrlosung entstammt, neurotische Züge nicht nachweisbar sind. In den Fällen des ersten Typus befindet sich das Kind oder der Jugendliche in einem durch die Art seiner Liebesbeziehungen gewordenen inneren Konflikt: eine eigene Abwehrinstanz in ihm selbst ... belegt in gewissen Situationen Liebesstrebungen mit einem Verbot. In der Reaktion darauf kommt die Verwahrlosung zustande. In den Fällen des zweiten Typus befindet sich der Dissoziale mit einem Teile oder der gesamten persönlichen Umwelt in offenem Konflikte: die in der ersten Kindheit unbefriedigt gebliebenen Liebesstrebungen haben dazu geführt“ (Aichhorn 1925, 105).
Aichhorn trennt diese beiden Erscheinungsformen in seiner Betrachtung, da die Unterscheidung dieser zwei Typen von Verwahrlosung auch einen jeweils anderen Umgang von Seiten des Erziehers fordert. Aichhorn formuliert dies so: „Kommt ein neurotisches Kind mit Verwahrlosungserscheinungen in die Fürsorgeerziehung, so steht die Tendenz, elterliche Beziehungen auf den Fürsorgeerzieher zu übertragen, im Vordergrund. Der Fürsorgeerzieher wird sich zu einem ähnlichen Verhalten wie dem normalen Kinde gegenüber entschließen und es in positive Übertragung bringen, wenn er seine eigene Aktivität beträchtlich herabsetzt, um zu verhindern, daß sich mit ihm jene Situation wiederholt, die zum inneren Konflikte geführt hat. ... Der Fürsorgeerzieher wird der Vater, die Mutter sein und doch nicht ganz; er wird deren Forderungen vertreten und doch nicht so wie diese; er wird im richtigen Augenblicke dem Verwahrlosten zu erkennen geben, daß er ihn durchschaut hat, und doch nicht dieselben Konsequenzen ziehen wie die Eltern; er wird dem Strafbedürfnis entgegenkommen und es doch nicht ganz befriedigen. Anders wird er sich benehmen, wenn er dem im offenen Konflikte befindlichen Verwahrlosten gegenübersteht. Mit diesem wird er sich zuerst verbünden, begreifen, daß er recht hat, mit seinem Verhalten einverstanden sein und in schwierigsten Fällen ihm gelegentlich sogar auch zu verstehen geben, daß er, der Erzieher, es auch nicht anders machen würde“ (Aichhorn 1925, 106).
Eine Gesprächsführung, mit der der Erzieher auf diese Weise auf den Zögling eingeht, bedarf eines großen Maßes an Disziplin und Geduld; nur so kann man - laut Aichhorn - bei Verwahrlosten langsam Erfolge in der Veränderung des Erlebens und ihrer Einstellung bezüglich ihrer Umwelt erreichen.
Im Sinne von Aichhorn ist es notwendig, nach kurzer Zeit des Zusammentreffens eine Einschätzung darüber zu erhalten, um welchen Typ von Verwahrlosung es sich handelt um somit entsprechende Handlungen zu setzen die eine positive Übertragungsbeziehung[9] fördern können. Mit Aichhorns Worten lässt sich bezüglich dieser zwei Verwahrlosungstypen noch einmal folgendes zusammenfassen: „Führt ein im Kind entstehender Widerstreit zwischen eigenen Wünschen und den Anforderungen der Gemeinschaft zu unerträglichen Konflikten, so wird der Kampf entweder nach außen durchgekämpft, oder im Innern des eigenen Ich weitergeführt, mit anderen Vorzeichen und in entgegengesetzter Richtung; hier nach innen als Neurose mit einem Minus an Triebäußerungen, dort nach außen als Verwahrlosung mit einem Zuviel an Triebäußerungen“ (Aichhorn 1959, 98f.). Für den Erzieher ist es demnach wichtig zu erkennen, ob der Kampf ein Kampf ist, den der Zögling mit sich selbst führt, der also im Inneren des Kindes stattfindet oder einer, den er mit der äußeren Welt und damit den gesellschaftlichen Normen führt. Demnach ist es wesentlich, die Unterscheidung, ob ein Kind oder Jugendlicher primär neurotisch oder verwahrlost ist, vornehmen zu können. Wenn es sich um einen „neurotischen Grenzfall mit Verwahrlosungserscheinungen“ handelt, dann ist lt. Aichhorn ein elternähnliches Verhalten zu fordern, das sich aber letztendlich doch darin unterscheidet, dass die Konsequenzen andere sind als sie die Eltern getroffen haben (vgl. Aichhorn 1925, 105). Ist er aber der Verwahrloste in offenem Konflikt mit der Umwelt, wo sich neurotische Tendenzen nicht finden lassen, dann bedarf es zuerst einer Verbündung mit dem Kind bzw. Jugendlichen, um sein Vertrauen zu gewinnen, damit der Weg in die positive Übertragung freisteht. Würde man hier ein elternähnliches Verhalten an den Tag legen, so würde der Verwahrloste – lt. Aichhorn - in dem Erzieher einen zu bekämpfenden Erwachsenen sehen, gegen den er seinen Hass wendet, weil er genauso ist wie „alle anderen“ z.B. seine Eltern, gegen die er gelernt hat anzukämpfen.
In dieser Arbeit werde ich mich auf Aichhorns Ausführungen zur zweiten Form von Verwahrlosung konzentrieren, da beide Typen ein jeweils anderes Verhalten des Erziehers bedürfen und es mir daher sinnvoll erscheint, mich auf einen der beiden Verwahrlosungstypen zu beschränken, um im 4. Kapitel meine Fragestellung hinsichtlich der von mir gewählten Form von Verwahrlosung konkret beantworten zu können. Es ist jedoch anzumerken, dass in den meisten Fällen Mischformen dieser beiden Verwahrlosungsformen zu erkennen sind. Nicht immer ist eine eindeutige Zuordnung zu dem einen oder dem anderen Typ möglich (vgl. Aichhorn 1925, 107).
Aichhorn beschreibt und begründet sein Verhalten bezüglich des zweiten Typs (siehe oben), indem er sagt: „Ist er der Verwahrloste im offenen Konflikt und erwartet nun den Angriff, so erfolgt dieser nicht. Ich frage ihn nicht, was er angestellt hat, dringe nicht in ihn, mir zu sagen, warum das oder jenes vorgekommen sei, will von ihm nicht, so wie bei der Polizei oder beim Jugendgericht, Dinge wissen, die preiszugeben er absolut nicht geneigt ist. Ja ich sage in Fällen, wo gerade diese Fragen von ihm gewünscht werden, um in die richtige Oppositionsstellung kommen zu können, daß er alles verschweigen dürfe, was er nicht sagen wolle; daß ich seine Vorsicht einem Menschen gegenüber, den er zum erstenmal sieht, begreife. Wenn ich dann noch hinzufüge, ich würde es auch nicht anders machen als er, geht er mir gewöhnlich willig auf ein Gesprächsthema ein, das weitab von seiner dissozialen Handlung liegt, aber aus seinem Interessenkreise sich ergibt. Wenn ich Ihnen mein Verhalten nach dem Moment, in dem der Junge ein Stück Aktivität in mir gespürt hat, mit einem Worte erklären könnte, so würde ich sagen, ich werde passiv und um so passiver, je mehr der Verwahrloste den Angriff von mir erwartet. Dessen Ausbleiben läßt ihn erstaunen, dann unsicher werden, er weiß sich auf einmal nicht mehr zurechtzufinden und fühlt mehr als er erkennt, ich bin nicht der Erwachsene, nicht die zu bekämpfende Autorität, sondern der verständnisvolle Verbündete“ (Aichhorn 1925, 111f.).
Um nun einen differenzierteren und detaillierteren Überblick über Aichhorns Herangehensweise an das Problem der Verwahrlosung zu geben, werde ich in den nächsten zwei Kapiteln auf die Annahmen des Unbewussten und die Stellung des Über-Ich s, wie sie lt. Aichhorn bei Verwahrlosten des zweiten Typs besteht, eingehen.
1.2.3 Die Annahme des Unbewussten
Aichhorn, der Freuds psychoanalytischer Theorie folgt, nimmt an, dass es ein Unbewusstes (vgl. Freud 1923) gibt, welches das Verhalten eines Menschen weitgehend beeinflusst, während ihm jedoch die Gründe für sein Handeln oft nicht bewusst und einsichtig sind. Er sagt: „Wir haben uns das Unbewußte nicht als Hilfsmittel zur Erklärung seelischer Vorgänge vorzustellen, sondern als wirklich vorhanden, ebenso wie das Bewußtsein, und können dann verstehen, daß es auch seine besondere Bedeutung und seine bestimmten Funktionen hat. Wenn wir an das Bewußte und das Unbewußte denken, dürfen wir aber nicht meinen, daß es irgendwo in uns zwei voneinander getrennte Fächer gibt, die so benannt werden; die seelischen Vorgänge als solche scheiden sich im allgemeinen in zwei Zustandsphasen und diese werden unterschieden, je nachdem man von ihnen weiß oder nicht. Im Unbewußten ist mancherlei eingebettet und es hat verschiedene Aufgaben zu erfüllen. Von ihm gehen beispielsweise die Trieb- und Wunschregungen aus, auch unsere Gefühlsbeziehungen zu den Personen und Dingen der Umgebung. Was wir die Zuneigung zum anderen nennen, ist im Unbewußten viel früher da, als wir uns im Bewußtsein darüber Rechenschaft geben“ (Aichhorn 1925, 35f.).
[...]
[1] Wenn ich im Folgenden von August Aichhorn spreche, werde ich ihn nur mit seinem Nachnamen nennen.
[2] Die Kinder, mit denen Aichhorn arbeitete und die als „verwahrlost“ bezeichnet wurden, zeigten unterschiedliche Verhaltensweisen wie z.B. Stehlen, Lügen, Vagantentum. Er unterscheidet jedoch zwischen den verschiedenen Ausprägungen der Verwahrlosung, denn Verwahrlosung kann auch mit Neurosen gekoppelt vorkommen.
[3] Mit der Kursivschreibweise möchte ich die unterschiedlichen Ausgangspunkte beider Pädagogen hervorheben.
[4] Wenn ich im Folgenden von Erziehern spreche, sind sowohl Erzieher als auch Erzieherinnen damit gemeint. Da aber in den meisten Werken Aichhorns und Heitgers noch einheitlich von Erziehern die Rede ist, werde ich diesen Begriff genauso verwenden, damit für den/die LeserIn keine Verwirrung entsteht.
[5] Da die Zitate von Aichhorn und Heitger aus Jahren stammen, in denen es die neue Rechtschreibreform noch nicht gab, finden sich diesbezüglich immer wieder Worte in alter Schreibweise.
[6] Auch bei Marian Heitger werde ich im Folgenden nur seinen Nachnamen nennen.
[7] Damals sprach man von Fürsorgeerziehung. Heute würde dieser Begriff am ehesten der Heimerziehung entsprechen, wobei sich die Bedingungen dafür stark geändert haben. Darauf möchte ich aber nicht eingehen, weil ich mich auf Aichhorn und sein Handeln zu seiner Zeit konzentrieren möchte.
[8] Hier bezieht sich Aichhorn auf die Gruppe der aggressiven Zöglinge im Rahmen der Fürsorgeerziehung im Heim von Oberhollabrunn.
[9] Der Begriff positive Übertragung wird in Kap. 1.4.1 erläutert.
- Arbeit zitieren
- Mag. Irene Grundler (Autor:in), 2008, Kann August Aichhorns Handeln aus der prinzipienwissenschaftlichen Perspektive Marian Heitgers als "pädagogisch" angesehen werden?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/120852
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