Leseprobe
Inhalt
INHALT
Einleitung
1. Soziale Kontrolle, Psychoaktive Substanzen und stadtischer Raum
1.1 Soziale Kontrolle und psychoaktive Substanzen
1.2 Stadtischer Raum im Neoliberalismus
2. Soziale Kontrollmechanismen im stadtischen Raum
2.1 „Verdachtsunabhangig verdachtig“: Rechtliche Mechanismen
2.2 „Akzeptierende Vertreibung“: Personelle Mechanismen
2.3 „Smile, you're on CCTV“: Technische Mechanismen
2.4 „Designing out drugs“: Architektonische Mechanismen
3. Konsequenzen fur rauschmittelkonsumierende Menschen
3.1 Exklusion und Segregation
3.2 Kriminalisierung
4. Schlussbetrachtung eines oktroyierten Herrschaftsverhaltnisses
Literaturverzeichnis
ENLEITUNG
Verschiedene psychoaktive Substanzen1 haben die Geschichte der Menschheit schon lange begleitet. Der Konsum in vormodernen Gesellschaftsformen war in der Regel durch religiose, rituelle oder medizinische Kontextualisierungen, damit verbundene tolerierte und reglemen- tierte Handlungsalternativen und gemeinschaftlichen Konsum gekennzeichnet, wodurch sozi- ale Kontrolle aus den spezifischen Konsumregeln der Gesellschaften heraus entstand und durch individuelle Zurechtweisung bei RegelverstoBen durchgesetzt wurde (vgl. Reymann 2019).
Die Situation in spatkapitalistischen, neoliberalen Gesellschaften ist eine differente. Seit den Opiumkonferenzen im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts lasst sich der erste international ge- plante und aktive Versuch feststellen, den Konsum von psychoaktiven Substanzen allumfas- send zu regulieren und zu kontrollieren. Dabei stellt die strafrechtliche Prohibition (bestimm- ter) psychoaktiver Substanzen ein sehr willkurliches und wirkmachtiges Phanomen der Menschheitsgeschichte dar, welches einen drastischen Einfluss auf die soziale Kontrolle des Gebrauchs psychoaktiver Stoffe und derer Konsument_innen hat. Doch soziale Kontrolle wird nicht nur durch die strafrechtliche Prohibition dieser Substanzen, sondern ebenfalls durch ein neoliberales Verstandnis von (stadtischem) Raum im Sinne einer unternehmerischen Stadt und spezifischen ordnungspolitischen Ideologien beeinflusst.
Theoretische Grundlage dieser Hausarbeit stellt ein etikettierungstheoretisches Verstandnis von sozialer Kontrolle und ein diskursiv-interaktionistisches Verstandnis von Raum und seiner Produktion dar (genauer in Kapitel 1). Mit dem Verhaltnis von sozialer Kontrolle und neoliberalem stadtischem Raum haben sich bereits einige Autor_innen ausfuhrlich befasst. Erwahnenswert sind hier die Erkenntnisse der kritischen Geografie (vgl. Belina 2011) und der kritischen Stadt- und Raumsoziologie (vgl. Wehrheim 2012; Kunkel 2014), welche bereits in vielen Veroffentlichungen die soziale Kontrolle von marginalisierten Gruppen analysiert und kritisch diskutiert haben.
Auf Basis von Literatur aus den angesprochenen Bereichen konkretisiert diese Hausarbeit das Thema soziale Kontrolle in der neoliberalen Stadt und geht der Frage nach, welche spezifi- schen sozialen Kontrollmechanismen im Hinblick auf Szenen von Konsument_innen psycho- aktiver Substanzen sich heute im stadtischen Raum untersuchen lassen, auf welchem Raum- verstandnis und auf welcher ordnungspolitischen Ideologie diese beruhen und welche Folgen fur die betroffenen Konsument_innen entstehen. Der erste Teil dient dabei unter anderem der begrifflichen Klarung und theoretischen Einordnung. Dazu wird zuerst ein historischer und dann analytischer Blick auf die Verbindung von sozialer Kontrolle und psychoaktiven Sub- stanzen gelegt um anschlieBend das Raumverstandnis und die ordnungspolitischen Ideologien „der Stadt“ im Neoliberalismus zu untersuchen (Kapitel 1). Auf dieser Grundlage werden die expliziten und impliziten sozialen Kontrollmechanismen in verschiedenen Dimensionen iden- tifiziert und analysiert (Kapitel 2). Zur Illustration werden dabei Beispiele aus der Stadt Essen eingebunden, der Stadt an deren Universitat diese Hausarbeit entsteht. An die Herausarbei- tung der konkreten Kontroll- und Ausschlussmechanismen schlieBt sich eine kritische raum- orientierte Untersuchung ihrer Konsequenzen an (Kapitel 3). Zum Schluss der Hausarbeit wird die soziale Kontrolle von Konsument_innen psychoaktiver Substanzen als ein oktroyier- tes Herrschaftsverhaltnis kritisch reflektiert und kommentiert (Kapitel 4).
1.1 Soziale Kontrolle und psychoaktive Substanzen
Die universitare Soziologie abweichenden Verhaltens und sozialer Kontrolle wurde grundle- gend durch die Chicagoer Schule um Robert E. Park gepragt. Sie fungierte dabei als Impuls- geber und als Stadium in der Entwicklung von einer atiologischen Perspektive auf Devianz und sozialer Kontrolle hin zu einer etikettierungstheoretischen Perspektive. Wahrend fruhe atiologische Ansatze irrtumlich die Objektivitat abweichenden Verhaltens postulierten, also davon ausgingen, dass es Devianz an sich gebe, stellte der etikettierungstheoretische Ansatz die These auf, dass Handlungen erst unter bestimmten Bedingungen in einem interaktionisti- schen Prozess als abweichend etikettiert werden. Howard Becker (1981: 8) formuliert das Verstandnis des labeling approach wie folgt: „Von diesem Standpunkt aus ist abweichendes Verhalten keine Qualitat der Handlung, die eine Person begeht, sondern vielmehr die Konse- quenz der Anwendung von Regeln durch andere und der Sanktionen gegenuber einem ,Misse- tater‘. Der Mensch mit abweichendem Verhalten ist ein Mensch, auf den diese Bezeichnung erfolgreich angewandt worden ist. Abweichendes Verhalten ist Verhalten, das Menschen so bezeichnen“. Im Folgenden stellt diese Perspektive die Grundlage fur die Analyse der Verbindung von sozialer Kontrolle und Rauschmitteln dar.
Wie bereits eingangs erwahnt, stellt der Konsum von psychoaktiven Substanzen bei weitem kein neuzeitliches Phanomen dar. Verschiedene Pflanzen und Stoffe besitzen eine eigenstan- dige und andauernde Historie. Vor allem bei vielen Naturvolkern lasst sich ein stark rituali- sierter und fur die Sozialstruktur bedeutender Gebrauch eben dieser feststellen.2 Bei der Analyse des Konsum- und Kontrollverhaltens vormoderner Gesellschaften weist Reymann (2019: 23) nach, „dass in vorgeschichtlichen Sozialverbanden keine Sanktionierungen belegt werden konnen“. Der Gebrauch von Rauschmitteln enthullt sich in den verschiedenen Gesellschaften als eng in die jeweilige Sozialstruktur eingebunden, wobei sich die Nutzungskontexte auf religiose, rituelle und medizinische Verwendungen erstrecken. Konsumierende Menschen wer- den aufgrund der gesellschaftlichen Einbettung der Substanzen nicht als deviant gelabelt. Hochstens ein VerstoB gegen die jeweiligen tradierten Konsumvorschriften in den Dimensionen Anlass, Frequenz und Statuszuganglichkeit, konnte dazu fuhren, dass manchen Menschen abweichendes Verhalten zugeschrieben und sie informell sanktioniert werden. Soziale Kon- trolle des Rauschmittelkonsums entfaltet sich in vormodernen Gesellschaften also aus der Formulierung spezifischer Nutzungskontexte und der Kopplung des Konsums an eben diese: „Der Umgang mit Drogen in vorgeschichtlichen Gesellschaften war also reglementiert - nicht sanktioniert“ (Reymann 2019: 24).
In spatkapitalistischen, neoliberalen Gesellschaften steht soziale Kontrolle von Rauschmittel- konsument_innen durch Sanktionierung im Mittelpunkt. Einerseits durch informelle Sanktio- nierung, wie z.B. gesellschaftlicher Achtung, Stigmatisierung, Ausgrenzung oder Vertrei- bung. Andererseits durch formelle Sanktionierung, welche durch die internationale Illegalisierung vieler psychoaktiver Substanzen und der damit verbundenen Einfuhrung des Strafrechts als Handlungsgrundlage sozialer Kontrolle ermoglicht wurde. Rauschmittelkon- sum wird - vor allem bei illegalisierten Substanzen - oft als abweichendes Verhalten gelabelt. Doch hier gilt es zu differenzieren: nicht jeder Konsum wird - der etikettierungstheoretischen Perspektive auf abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle folgend - auf die gleiche Art und Weise gelabelt und sanktioniert. Vielmehr ist der Prozess des Labeling und der Sanktio- nierung abhangig von einigen Faktoren:
- Unterschiedliche psychoaktive Substanzen werden unterschiedlich gelabelt (formell und informell). Sie sind mit verschiedenen Assoziationen versetzt, wecken bestimmte Bilder in den Kopfen der Gesellschaftsmitglieder_innen und werden divergierend be- urteilt. Auch ist der Handlungsrahmen ein anderer: Wahrend das Trinken einer Fla- sche Schnaps nicht formell durch ein Ermittlungsverfahren sanktioniert werden kann, da Alkohol eine legale psychoaktive Substanz darstellt, kann das Injizieren einer Dosis Heroin als Straftatbestand verfolgt werden (Besitz).
- Die Art des Konsums bestimmt ebenfalls uber die Etikettierungsprozesse. Unter Arten des Konsums lassen sich Merkmale wie Anlass/Frequenz/Uhrzeit fassen. Wie Wehr- heim (2019: 329) feststellt, gilt dies auch fur die legale Substanz Alkohol: „Der abend- liche Rotwein aus dem Barrique im halb-privaten/halb-offentlichen italienischen Restaurant wird nicht problematisiert, der morgendliche Rotwein aus dem Tetrapack auf der offentlichen Parkbank hingegen sehr wohl“.
- Anhand dieses Beispiels wird auch die Bedeutung des Raums ersichtlich. Der Raum, in dem der Konsum stattfindet, ist entscheidend. Wahrend das Konsumieren in priva- ten Raumen (z.B. Wohnung) weitestgehend toleriert wird, ist die Wahrscheinlichkeit in offentlichen Raumen als deviant wahrgenommen und sanktioniert oder kriminali- siert zu werden, deutlich hoher (vgl. Wehrheim 2019: 329).
Die vorgestellten Uberlegungen verdeutlichen die Tatsache, dass die Etikettierung von Rauschmittelkonsum nicht einheitlich ablauft. Viel mehr stehen Fragen im Vordergrund wie: Was wird konsumiert? Wer konsumiert? Wie und wo wird konsumiert? Wann wird konsu- miert?
1.2 Stadtischer Raum im Neoliberalismus
In neoliberalen Gesellschaften hat sich ein spezifisches Raumverstandnis etabliert, welches sich unter dem Schlagwort unternehmerische Stadt zusammenfassen lasst und zum Verstand- nis der aktuellen sozialen Kontrollmechanismen im Hinblick auf Rauschmittelszenen bedeu- tend ist. Das Leitbild der „unternehmerischen Stadt“ lasst sich charakterisieren durch be- triebswirtschaftliche Organisationslogik, auf Konkurrenzdenken beruhende Standortpolitiken, Privatisierungen von offentlichen Raumen, Fokussierung auf den tertiaren Wirtschaftssektor und Gestaltung der Stadt nach Konsumideologien. Spoos (2010, Auslassung von L.W.) kon- kretisiert dies wie folgt: „Die »unternehmerische Stadt« (David Harvey) steht fur eine Ver- schiebung von sozialstaatlicher Verwaltung hin zum betriebswirtschaftlichen Management [...] Da Stadte immer starker als profitorientierte Unternehmen agieren mussen, sind sie stets um die Schaffung eines markenahnlichen Stadtbildes bemuht, das ihren Bekanntheitsgrad ausweitet und fur ihre Attraktivitat burgt“. Dieses Raumverstandnis von Stadt entstand im Kontext des Ubergangs spatkapitalistischer Gesellschaften vom Fordismus zum Postfordis- mus und ist (zu mindestens in Deutschland) auf starke finanzielle Belastungen der Kommu- nen, den international immer intensiver gefuhrten Diskurs uber Globalisierung und damit ver- bundene Radikalisierung neoliberaler Ideologien zuruckzufuhren (vgl. Wehrheim 2012: 2536).
Eng verbunden mit der Konzeption der „unternehmerischen Stadt“ sind neue ordnungs- und kontrollpolitische Ideologien, die als gemeinsames Charakteristikum die Verraumlichung des Sozialen teilen. Soziale Phanomene und Probleme werden raumlich erklart, dem Raum wer- den handlungsdeterminierende Eigenschaften zugeschrieben.
[...]
1 Im Gegensatz zum Titel dieser Hausarbeit, wird im Folgenden statt des Begriffs „Drogen“, der Begriff „psychoaktive Sub- stanzen“ oder „Rauschmittel“ verwendet. Unter diesen Begriffen werden alle Substanzen verstanden, die uber pharmako- logische Mechanismen einen veranderten Bewusstseinszustand erzeugen.
2 Eine sehr umfangreiche ethnopharmakologische Ubersicht uber die Verwendung psychoaktiver Pflanzen bei verschiedenen Naturvolkern bietet Ratsch (1998).