Venedikt Erofeevs “Moskva - Petuški ” als Gegenentwurf zum sozialistischen Realismus

Die Parodie in „Moskva-Petuški“ als die Ohrfeige dem sozialistischen Realismus


Seminar Paper, 2009

22 Pages


Excerpt


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung

2. Parodie des sozialistischen Realismus
2.1. Ein Exkurs in die Geschichte

3. Parodie auf dem Sujetniveau

4. Parodie auf dem Sprachniveau
4.1 Die Sprache des Sozrealismus
4.2. Besonderheiten der Sprache Eroveevs
4.3. Parodie sowjetischer Klischees und Slogans

5. Parabolismus der Sprachstruktur

6. Parodie der Bibel

Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

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(Erofeev 2000:55)

Venedikt Erofeevs Roman „Moskva-Petuški“ erwies sich als Gegenentwurf zum sozialistischen Realismus. Das Thema, das Sujet und die bittere Kritik an der Gesellschaft, den politischen Umständen sowie der sozialistischen Literatur stellen sich gegenüber den Dogmen dieser Strömung. Es ist nicht verwunderlich, dass aufgrund solcher Vorgehensweise das im Frühjahr 1969 abgeschlossene Manuskript von “Moskau–Petuški” in der UdSSR nicht veröffentlicht werden konnte. Erst im Jahre 1989 wurde das Buch in der Sowjetunion vollständig publiziert. Die besondere Aufmerksamkeit erregt die Parodie des Sowjetsystems besonders die Parodie der Sprache des Sozialrealismus. Die Sprache des Buches ist teils die Sprache der Psalmen, teils die Umgangssprache der Arbeiter. Der Autor verwendet zahlreiche Metaphern, Metonymien und markante Vergleiche, die die Sprache besonders aufschlussreich und lebendig machen. Das Untersuchungsobjekt der vorliegenden Arbeit sind daher die sprachlichen Mittel Erofeevs in „Moskva-Petuski“, mit denen er einen grotesk- parodistischen Effekt erreicht. Das Ziel der Untersuchung ist es festzustellen, inwiefern sich die Sprache der Helden Erofeevs von den sprachlichen Kanonen des sozialistischen Realismus unterscheidet.

2. Die Parodie des sozialistischen Realismus

Erofeev verbindet in seinem Roman mittels sehr feiner Parodie die Vergangenheit mit der Zukunft. Linda Hutcheon definiert Parodie in ihrem Buch „Theory of Parody“ folgendermaßen: “the repetition with difference with the pragmatic ethos ranging from the reverential to the playful to the scornful“.[1] Nach M. Martin ist Erofeevs Parodie nicht nur reflektierend und kontemplativ, sondern sie regeneriert die Sprache. Erofeevs Verflechtungen der Wörter und das Vermischen ihrer Bedeutungen können nur dann verstanden werden, wenn wir die gewöhnliche Bedeutung dieser Ausdrucke kennen, da alles Neue nur dann neu ist, wenn wir uns mit dem Alten auskennen. Nur im Vergleich zu den im Hintergrund liegenden Texten und Realien des sozialistischen Realismus können wir die Innovation der Ausdruckskraft Erofeevs wahrnehmen. Auf Grund dessen ist es sinnvoll, in die Geschichte des Sozrealismus einzutauchen.

2.1. Ein Exkurs in die Geschichte

Den Begriff „sozialistischer Realismus“ kann man heute nicht einheitlich differenzieren. Holthusen (1978: 180) bezeichnet ihn als „Literatur der Stalin-Ära“, die zeitlich durch den ersten Schriftstellerkongress (1934) und durch den Beginn des „Tauwetters“ (1954- 56) begrenzt wurde. R. Kluge behauptet, dass der Entwicklungsweg des sozialistischen Realismus von Veresaev, Serafimovič und Gor´kij vollzogen wird. Die literaturtheoretischen Grundlagen des Sozrealismus haben Plechanov seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts und Lenin im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts vorbereitet (Kluge 1973: 22). Weiter schreibt Kluge, dass “für alle sowjetischen und auch eine Reihe westlicher Arbeiten die Oktoberrevolution einen epochalen Einschnitt darstellt: mit dem Jahre 1917 beginnt die Geschichte der russischen Sowjetliteratur”. Jedoch charakterisiert er diese erste Periode noch nicht als sozialistischen Realismus, sondern als “späten Realismus” (Kluge 1973: 20). Der Begriff des sozialistischen Realismus wurde erstmals am 20.05.1932 von I. Gronskij erwähnt (Kasack 1992: 1225). Er war damals der Vorsitzende des Organisationskomitees zur Bildung des SV UdSSR.

In jener Zeit hatte die große Bedeutung der „Proletkul´t“ (von proletarskaja kultura) (Lauer 2005: 188). Die Schriftsteller versuchten, neue Formen einer proletarischen Kultur und Literatur auszuarbeiten. Das Ziel des Proletkul´ts war es, den Analphabetismus zu beseitigen und eine kollektivistische „Wir-Kunst“ zu entwickeln. Er lehnte die Kunst der vorherigen Epochen ab. Eine Reihe neuer Zeitungen und Almanachs brachte neue Ideen unter das Volk. Unter anderen kann man solche Titel wie Ognekrylyj zavod (1918), Č ugunnyj ulej (1921), Na postu (1923) nennen.

Zu den ersten Autoren der sowjetischen Literatur gehören Veresaev, Serafimovič, Gor´kij und viele andere, die „bereits den geistigen und moralischen Niedergang des bürgerlichen Russland schildern und das triumphierende Proletariat zum literarischen Helden erheben“ (Kluge 1973: 183).

Wie oben schon gesagt wurde, soll die sowjetische Literatur typische Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens gestalten. “Das literarische Kunstwerk soll die Propaganda der fortschrittlichen politischen Ideen herauslösen, kein abstraktes, philosophisches Konzept, sondern eine reale gesellschaftliche und politische Vorstellung vermitteln” (Kluge 1973: 183). Aus all dem folgt, dass Autoren die Taten der legendären Kriegshelden, der Parteiführung, die den Opfermut der Volkshelden und der Soldaten steuerte, den Partisanenkampf schilderten. In vielen Romanen ging es um den Wiederaufbau der Fabriken und Werke, den Fortschritt der Kollektivierung, die Gewinnung bürgerlicher Spezialisten. Der dichterische Vorwurf der sowjetischen Literatur war ein leidender, gefährdeter und zugleich politisch korrekter und strebender Mensch. Auf dieser Interpretation entstand der Begriff des „positiven Helden“ (položitel´nyj geroj), der in sich eine Führungspersönlichkeit, ein Vorbild, den Erbauer eines neuen Lebens verkörperte. Es war ein Mensch ohne jeden inneren Zweifel, also ein Kommunist.

Den Aufschwung des Sozrealismus verbindet man mit der Nachkriegszeit. Die politischen Aspekte des zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit verlangen die Mobilisierung des ganzen Landes. Die Solidarität des russischen Volkes, revolutionärer Elan und Widerstandswille sollten erhoben werden. Die Macht der Partei verstärkte sich. Die Partei strebte an, nicht nur im wirtschaftlichen und politischen, sondern auch im geistigen und künstlerischen Bereich eine führende Rolle zu spielen. In der Sowjetunion wirkten sich alle politischen Maßnahmen auf die Literatur aus. Immer wieder pflegte die Parteiführung das Anliegen einer proletarischen Literatur, die „Sowjetpatriotismus und unbedingten Parteigehorsam propagieren soll“ (Lauer 2005: 207). Die Partei bestimmte die Themen und Gattungen der Literatur und griff tief in die Schicksale der Literaten ein. Literarische Werke wurden auf „sozialen Auftrag“ geschrieben, indem Tagesparolen und Parteibeschlüsse in poetische Texte umgesetzt wurden.

Im Status des Schriftstellerverbandes stand die folgende Definition der künstlerischen Methode der sowjetischen Literatur:

Der Sozialistische Realismus, der die Hauptmethode der sowjetischen Schönen Literatur und Literaturkritik ist, fordert vom Künstler wahrheitsgetreue, historisch konkrete Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung. Wahrheitsgetreue und historische Konkretheit der künstlerischen Darstellung muss mit den Aufgaben der ideologischen Umgestaltung und Erziehung der Werktätigen im Geiste des Sozialismus verbunden werden (Lauer 2005: 207).

Eine entscheidende Rolle für die Erscheinung eines Werkes spielte in dieser Zeit die Zensur. Das System der sowjetischen Zensur war vielschichtig und sehr streng. Sie sorgte dafür, dass die Werke weder Kritik an der Partei oder an der Gesellschaft, noch religiöse Diskurse oder erotische Szenen enthielten.

Besondere Aufmerksamkeit galt der Entwicklung der edukativen Literatur. Die Literatur soll eine aufklärende und didaktische Funktion haben, als Lehrbuch des Lebens dienen und den Leser dazu zwingen, darüber nachzudenken, wie die gesellschaftlichen Verhältnisse dem Zeitgeist entsprechen sollten.

Nach Stalins Tod setzte die Phase einer gewisser Lockerung in der Literatur ein, die des so genannten literarischen „Tauwetters“ (1953 - 1964). Das war eine Phase des „Hin- und Herschwankens zwischen Lockern und Anziehen der literaturpolitischen Schraube“ (Lauer 2005: 219). Die literarische Diskussion wurde überall lebhafter. Die Schriftsteller fingen wieder an, sich zwecks gemeinsamer Aktionen zu versammeln. Nichtsdestotrotz blieben die ehrwürdigen Ideale und dogmatischen Konzepte des russischen sozialistischen Realismus noch in Kraft. Mit der Absetzung Chruščëvs endete die Periode des Tauwetters und es begann die Phase der „Stagnation“.

Wie oben bereits erwähnt, entstand der Roman Erofeevs „Moskva – Petuški“ im Herbst 1969, in der Zeit der sogenannten „Stagnation“ (1964-1985). Die reaktionären Bürokraten und Schriftsteller hatten wieder die Macht über die Literatur gewonnen. In der Brežnev-Ära herrschte Enttäuschung über die Unterdrückung des Tauwetters. Seit 1974 fingen die Behörden an, die unerwünschten Schriftsteller wieder zu verfolgen.

Die Politik der Perestrojka (1985-1991) eröffnete zum ersten Mal die Möglichkeit, sich gegen den Sozialrealismus zu äußern. Die Zensurbestimmungen wurden wesentlich gelockert. Die Werke der verschwiegenen Autoren, die jahrzehntelang verboten waren, wurden freigegeben. Unter anderem wurden Werke veröffentlicht, die die Wahrheit über die Sowjetunion darstellten. Die Perestrojka brachte viele positive Veränderungen in die Literatur. Vor allem hat sich ein Prozess der Demokratisierung, Erneuerung und Normalisierung der russischen Literatur durchgeführt. Ab Ende der 80er Jahre wurden die Forderungen des Sozialismus instabil und bald wurde der Begriff selbst nur in der historischen Bedeutung angewendet. In der Zeit der Perestrojka hat sich nicht nur das Leben des Volkes verändert, sondern auch die Sprache. In der Periode der Sowjetunion hat sich die russische Sprache von „großer und gewaltiger“ in eine arme, vereinfachte und „politisch korrekte“ gewandelt.

Nach den Kanonen des Sozrealismus ist es schon eindeutig, dass der Held des Romans „Moskva-Petuški“ nicht als positiver Held bezeichnet werden kann. Erofeevs Venička ist ein Alkoholiker, der die Kunst des Trinkens beschreibt und lobpreist.

Erofeev war an der sowjetischen Wirklichkeit verzweifelt und stellte diese Verzweiflung in seinen künstlerischen Werken dar. Er beschreibt die sowjetische Wirklichkeit wahrheitsgetreu. Das Ergebnis seiner Beurteilung der Sowjetwirklichkeit sind Zweifel, Entsetzen und religiöses Suchen.

Deswegen der Zensur ist es nicht verwunderlich, dass der Roman „Moskva-Petuški“ mit seinen Engeln, dem Alkoholkonsum, der Beschreibung der Normüberschreitung der Kabellegerbrigade, Überlegungen zu erotischen Themen und sich wie Glasperlen über den Text verstreuten Flüchen nicht von der Zensur durchgelassen werden konnte.

Mit seinen Engeln, dem Alkoholkonsum der Kabellegerbrigade, Normübererfüllungen setzte sich Erofeev mit der literarischen Tradition der Zeit auseinander. Der Roman ist grotesk, ironisch, poetisch, voller gewagter Bilder, mit einem extrem dichten, anspielungsreichen Text.

3. Parodie auf dem Sujetniveau

Als Parodie des sozialistischen Realismus dient auch der autobiographische Hintergrund des Romans. Schon im ersten Kapitel erfährt man aus dem Dialog mit dem Leser, dass der Hauptprotagonist Venička heißt, was der Spitzname von Benedikt ist.

Вы, конечно, спросите: а дальше, Веничка , а дальше – что ты пил? Да я и сам путем не знаю, что я пил (Erofeev 2000: 17).

Vlasov schreibt: „Именно с этого места текст „Москвы-Петушков“ может рассматриваться как автобиографическая проза“ (Vlasov 2000:140).

Autobiographische Romane waren auch im Sozrealismus weit verbreitet. In der 30er Jahren entstanden neue Formen dokumentischer Prosa. Im Lebensbau- und Faktographiediskurs (LEF-Diskurs) dokumentieren die Autoren die Produktionsvorgänge. Der berühmteste Vertreter dieser Gattung war Nikolaj Čužak. Die Hauptfiguren dieser Prosa waren Konstrukteure, Ingenieure, Techniker, Funktionäre, die zum Aufbau des Sozialismus beigetragen haben. Zur Dokumentarliteratur gehörten aber auch Memoiren, Biographien, Tagebücher und Reportagen. Die Faktennähe bedeutete aber auch, dass die Schriftsteller sich von den Gegebenheiten des Arbeitslebens, von den Konflikten der Produktion bestimmen ließen (Lauer 2005:193).

Bei Erofeev ist der Held ein Alkoholiker, der die Kunst des Trinkens beschreibt und lobpreist. Man sieht den Untergang des Helden. Zuerst wurde er aus der Stelle der Brigadier entlassen, danach aus Sorbonne rausgeschmissen. Alles geht bei ihm schief.

А директор Сорбонны, пока я думал про умное, тихо подкрался ко мне сзади, да как хряснет меня по шее: „Дурак ты, - говорит, - а никакой ни Логос! Вон, - кричит, - вон Ерофеев из нашей Сорбонны!“ (Erofeev 2000: 78)

Venja ist praktisch in der hoffnungslosen Öde seines Alltags dem Alkoholismus verfallen.

4. Parodie auf dem Sprachniveau

Велик и могуч русский язык

4.1 Die Sprache des Sozrealismus

. Der Realismus hat seine stilistischen Besonderheiten. Der realistische Stil strebt nach wirklichkeitsgetreuer Darstellung. Für das Sujet spielte die Faktentreue eine besondere Rolle. Man verzichtet auf Metaphern, Allegorien und phantastische Bilder. Die Sprache wurde denotativ gebraucht. R. Kluge bestätigt: “Da für die realistische Dichtung die ´Botschaft´, die Aussage im Mittelpunkt steht, wird die Sprache eben hauptsächlich in ihrer kommunikativen Funktion verwendet, ihrer kreativen Potenz kommt nur sekundäre Bedeutung zu” (Kluge 1973:21). Das alles raubt der russischen Sprache ihren Zauber und ihren Charme. So schreibt zum Beispiel M. Martin in seinem Artikel “The Story of Russian”:

During the Soviet years the Russian language, from the “great and powerful” (velikii i moguchii), turned into a spent, limp and clichéd form filled with meaningless expressions, often naming non-existent phenomena (M. Martin 1997-154).

Folglich widmen die realistischen Autoren der Umwelt und dem Milieu der Helden besondere Aufmerksamkeit. Die Personen wurden mit Hilfe sprachlicher Mittel in sozialer, professioneller und psychologischer Hinsicht charakterisiert.

[...]


[1] Zitiert nach M. Martin, 1997 S. 157

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Details

Title
Venedikt Erofeevs “Moskva - Petuški ” als Gegenentwurf zum sozialistischen Realismus
Subtitle
Die Parodie in „Moskva-Petuški“ als die Ohrfeige dem sozialistischen Realismus
College
Christian-Albrechts-University of Kiel  (Slavistik)
Course
Russian Literatur
Author
Year
2009
Pages
22
Catalog Number
V123226
ISBN (eBook)
9783640276349
ISBN (Book)
9783640276332
File size
523 KB
Language
German
Keywords
Venedikt, Erofeevs, Petuški, Gegenentwurf, Realismus, Russian, Literatur
Quote paper
M.A. Yana Lobunez (Author), 2009, Venedikt Erofeevs “Moskva - Petuški ” als Gegenentwurf zum sozialistischen Realismus , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/123226

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