Das Subjekt des Wirtschaftsprozesses als Ergebnis eines Optimierungskalküls in Ernst Wilhelm Händlers 'Wenn wir sterben'


Dossier / Travail, 2007

15 Pages, Note: 1,3


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Stine (Christine Trendelenburg)
1.1. Karriere als Lebensplanmuster
1.2. Absolutsetzung der Rationalisierung – Stine als Halbe
1.3. Stine und die Zeit

2. Milla
2. 1. Millas Formeln für den Erfolg
2.2. Selbstzweifel
2.3. Selbstauflösung als Strategie
2.4. Das Joint venture - eine Fata Morgana

3. Nebenstimmen: Die Töchter Ethel und Fleur
3.1. Ethel: Gesundheitswahn und Drogenexzesse
3.2. Fleurs Videokunst

Schlussbemerkungen

Literaturverzeichnis

Einleitung

„Unlike any other type of society, capitalism inevitably and by virtue of the very logic of its civilization creates, educates and subsidizes a vested interest in social unrest.”[1] Mit diesem vorangestellten Zitat von Joseph A. Schumpeter leitet der Autor Ernst-Wilhelm Händler den ersten Teil seines Wirtschaftsromans „Wenn wir sterben“ ein. Die soziale Unrast, die laut Schumpeter unabwendbar ist, sobald der Kapitalismus als leitende Gesellschaftsform anerkannt ist, scheint auch vor den Protagonisten von Händlers Roman keinen Halt zu machen. So gerät der mittelständische Elektrohersteller „Voigtländer“, der zu Beginn des Romans noch von drei gleichaltrigen Frauen geführt wird – Charlotte, Bär und Stine[2] - durch eine geschickt eingefädelte Intrige unter die alleinige Leitung Stines. Doch auch sie wird später ausgebootet - von der mächtigen Milla, die sich mit der Übernahme von „Voigtländer“ in ihrem Großkonzern „D’Wolf“ weiter profilieren will. „Wenn wir sterben“ ist ein Roman vom zeitgenössischen „Fressen und gefressen werden“: Was zählt ist einzig und allein das soziale Überleben, welches eng verquickt ist mit den eigenen, ökonomisch verwertbaren Leistungen. Werden diese nicht mehr erbracht, oder können sie nicht mehr erbracht werden, so ist der soziale Tod sicher und dann heißt es lax „Game Over“ frei nach dem Credo „Wer keinen Erfolg hat, soll gefälligst den Mund halten“[3].

Man sieht: Händler geht es nur vordergründig um den Plot als solchen, viel wichtiger ist dem Autoren eine detaillierte Schilderung des kapitalistischen Wirtschaftsprozesses. Das Ökonomische durchdringt alle Lebensbereiche, das Optimierungsdenken hat sich in den Köpfen der Protagonisten festgesetzt und ist fortan der einzige Kompass für ihre Handlungen. Diese können im Einzelnen ganz unterschiedlich ausfallen, fest steht jedoch, dass „die moderne Industriegesellschaft den Menschen entwurzelt und deformiert“[4] hat. Wie diese Symptome genau aussehen und zu Tage treten, soll im folgenden Hauptteil untersucht werden.

Das „Subjekt“ des Wirtschaftsprozesses als

„Ergebnis eines Optimierungskalküls“

1. Stine (Christine Trendelenburg)

Im polyphonen Chor der Stimmen fällt Christine Trendelenburg, genannt Stine, besonders auf. Sie ist diejenige Figur, die zunächst erfolgreich gegen Charlotte intrigiert, gegen Ende des Romans aber selbst Opfer eines Täuschungsmanövers wird. Die 45-jährige Topmanagerin verkörpert wie (fast) keine andere die Gier nach dem Mehr, ohne die ein kapitalistisches System weit weniger reibungslos, wahrscheinlich auch gar nicht mehr funktionieren könnte: „Stine ist die erste Frau, die sich hinstellt und alles haben will: Glamour, Sex und eigene Firma.“[5] Ironischerweise war Stines Großvater ein angesehner Aristoteliker (dieser Verhalt ist wohl auch als Verweis auf einen früheren Roman des Autoren gedacht) – von der Lehre vom guten Leben und der „eudaimonia“ als Endzweck allen Handelns, scheint Stines Handeln weit entfernt.

1.1. Karriere als Lebensplanmuster

Stines Wertekodex orientiert sich ausschließlich an ihrer eigenen beruflichen Leistung und den damit verbundenen Aufstiegschancen in der Karriereleiter. Um nach oben zu gelangen, scheut Stine vor keinerlei Abscheulichkeit zurück – Moral wird als überflüssig oder sogar hinderlich im beruflichen Weiterkommen empfunden. Als es darum geht, Charlotte in eine Falle zu locken und ihr ein desaströses Immobiliengeschäft in Magdeburg anzudrehen, wird der Erzähler – aus Stines Perspektive sprechend – explizit: „Wenn sie glaube, daß sie [Stine und Egin] nicht schaffen würden, was sie sich vorgenommen haben, solle sie sich doch gleich in die Badewanne legen und ihre Gummiente im Blut ihrer aufgeschnittenen Pulsadern schwimmen lassen.“[6] Dieser Gedanke verdeutlicht zudem Stines äußerst kalte und erbarmungslos fordernde Haltung auch gegen sich selbst: Wenn sie nichts leiste, „verdiene“ sie das Leben nicht. Aus ihrer Position als Projektmanagerin, leitet Stine ab, „auch das Leben als Projekt zu sehen.“[7] Eine Einstellung, die dazu verleitet, Menschen gleich Spielfiguren auf einem Schachbrett zu betrachten, und sie für die eigenen Ziele gewinnbringend einzusetzen: „Jetzt wissen alle [die Angestellten], sie bilden nur ein Zwischenlager für die Ambitionen von Egin und Stine. Wenn Egin und Stine ihre Ziele erreichen, dann stellen sie, die Angestellten, möglicherweise eine sehr gefährliche Ware dar, die schleunigst entsorgt werden muß.“[8] Besonders drastisch zeigt sich die Instrumentalisierung anderer Personen am Beispiel Egins. Egin, der zu Beginn des Romans maßgeblich zum Gelingen der Intrige gegen Charlotte beigetragen hat und ein eheähnliches Verhältnis zu Stine hat, wird gegen Ende des Plots von Stine auf einer Deponie, die natürlich metaphorisch zu verstehen ist, entsorgt.[9] Inzwischen ist Stine Egins überdrüssig geworden. Sie betrachtet ihn nicht mehr „als kapital […] das bewahrt werden sollte“[10], was grausam genug ist, sondern Egin ist für Stines Zwecke komplett nutzlos und damit auch völlig wertlos geworden. Dadurch wird deutlich: Stine entbehrt jeglichen Verantwortungs- oder Verpflichtungsgefühls gegenüber anderen Menschen, so etwas wie Schuldigkeit kennt sie nicht. Im Roman tritt Stine daher auch als weitgehend atomisierter Mensch auf, der in keinem sozialen Geflecht eingebunden ist. Ob diese Darstellung eher als Folge oder mehr als Ursache ihres Handelns zu interpretieren ist, sei dahingestellt. Klar ist hingegen, dass sie alle offenen Fragen zu Gunsten eines Optimierungskalküls entscheidet: Auf der Hannovermesse erklärt Stine, dass sie einen implantierten Mikrochip unter der Haut träg, „der alles für sie regelt.“[11] Somit ist Stine auch physisch mit der Firma verschmolzen, während bei Charlotte nur eine gedankliche Verbindung zu Voigtländer bestand.[12] In einem folgenden Gespräch mit Milla bestreitet Stine zwar, den Mikrochip unter ihrer Haut zu tragen. Aber auch falls wirklich alles gelogen war, ist der Folgegedanke nicht minder erschreckend: Offensichtlich dachte Stine, einen besonders fortschrittlichen und extrem modernen Eindruck bei den Besuchern der Hannover-Messe erwecken zu können, indem sie vorgibt ihren Körper zur Maschine umzurüsten.

1.2. Absolutsetzung der Rationalisierung – Stine als Halbe

Eine andere Vision von der Umgestaltung Stines Körper entwirft der Erzähler schon an früherer Stelle. Als Stine dem Geist Bärs begegnet, muss der Leser feststellen, dass Stine eine Körperhälfte fehlt – so dass die Sprecherin von Voigtländer als „das Präparat Stine“[13] bezeichnet wird: „Der Fortschritt hat aus ihr einen halben Menschen gemacht, der denken kann wie ein ganzer und der halbe Mensch kann noch dazu besichtigt werden. Wozu denn alles doppelt?“

Das Motiv der halben Stine gibt viel Raum für Interpretationsansätze. Zunächst fühlt sich der Leser an die Halbierungsspiele Bärs erinnert, deren Ziel es war, zunächst die Grenzen der Belastbarkeit von Voigtländers Angestellten auszuloten, um dann „überflüssig“ gewordene Arbeiter „einzusparen“. Das Prinzip der Rationalisierung wird nun auf Stines Körper übertragen, mit dem erschütternden Fazit eines analytischen, sachlichen, nicht wertenden Erzählers: „Ihre Variante verkörpert die beste Anpassung an das Fundamentalgesetz der Geschichte, die Ökonomie.“[14] Genau wie zuvor die Karriere als absolut gesetzt worden ist, erhält nun die Rationalisierung als Methode der Einsparung absoluten Charakter. Schließlich ist es ja denkbar, auch nur mit einem Auge, einem Ohr, einer Hand…auszukommen, aber in diesem Zusammenhang entlarvt sich das in der Ökonomie vorherrschende Diktum „Weniger ist mehr!“[15] als schlicht grausam. Ob das Rationalisierungsschema zum Leitmuster taugt und „Rationalisierung“ mit vernunftgeleitetem Handeln gleichzusetzen ist, wird nun äußerst zweifelhaft.

[...]


[1] Händler, Ernst-Wilhelm: Wenn wir sterben, Frankfurter Verlagsanstalt. Frankfurt a. Main, 2003.

[2] Von den dreien hat allerdings Charlotte eine etwas übergeordnete Position inne.

[3] Ebd., S. 391. Hier spricht der Erzähler aus der Perspektive Millas.

[4] http://print.perlentaucher.de/buch/11572.html

[5] Händler, S. 35.

[6] Ebd., S. 53.

[7] Ebd., S. 293.

[8] Ebd., S. 244.

[9] Vgl. ebd., S. 432.

[10] Ebd., S. 250.

[11] Ebd., S. 294

[12] Charlotte hat die Firma Voigtländer als „Sohn“ betrachtet, der viele Vorzüge gegenüber ihrer „realen“ Tochter Ethel aufweisen konnte.

[13] Ebd., S. 233.

[14] Ebd., S. 239.

[15] Ebd., S. 233.

Fin de l'extrait de 15 pages

Résumé des informations

Titre
Das Subjekt des Wirtschaftsprozesses als Ergebnis eines Optimierungskalküls in Ernst Wilhelm Händlers 'Wenn wir sterben'
Université
LMU Munich  (Institut für Deutsche Philologie)
Cours
Ausgewählte Romane der Gegenwart 2000 - 2006
Note
1,3
Auteur
Année
2007
Pages
15
N° de catalogue
V123602
ISBN (ebook)
9783640289936
ISBN (Livre)
9783640290093
Taille d'un fichier
419 KB
Langue
allemand
Mots clés
Subjekt, Wirtschaftsprozesses, Ergebnis, Optimierungskalküls, Ernst, Wilhelm, Händlers, Wenn, Ausgewählte, Romane, Gegenwart
Citation du texte
Philipp Hauner (Auteur), 2007, Das Subjekt des Wirtschaftsprozesses als Ergebnis eines Optimierungskalküls in Ernst Wilhelm Händlers 'Wenn wir sterben', Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/123602

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