Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Randständigkeit des Solidaritätsbegriffs
3 Abgrenzung vom Mitleid
4. Ethische Überlegungen
5. Bildung und Solidarität
6. Fazit
Literaturverze ichnis
1. Einleitung
Der Begriff der „Solidarität“ wird im Alltags- und politischen Diskurs vielfach verwendet. Dennoch ist oftmals nicht klar, was er bedeutet. Neben der Erschließung eines Konzepts der Solidarität widmet sich diese Arbeit den Fragen, weshalb besonders in der Gegenwart Solidarität von zentraler Relevanz ist und wie Solidarität konkret im individuellen, politischen sowie bildungsbezogenen Handeln umgesetzt werden kann.
Zunächst werden Gründe für die Randständigkeit des Solidaritätsbegriffs nach Angehrn erläutert. Im darauffolgenden Kapitel wird Solidarität anhand von Hannah Arendts Untersuchungen zur Französischen Revolution von Mitleid abgegrenzt. Der anschließende Teil widmet sich Corine Pelluchons ethischen Überlegungen zur Solidarität. Neben dem erneuten Rückgriff auf Arendt wird die aktuelle politische Lage reflektiert. Zuletzt soll verdeutlicht werden, welche Bedeutung das für die Bildung hat, anhand von Überlegungen Klafkis zu Allgemeinbildung und epochaltypischen Schlüsselproblemen, welche anschließend beispielhaft für die aktuelle Zeit expliziert werden. Die Arbeit schließt mit einem zusammenfassenden Fazit.
2. Die Randständigkeit des Solidaritätsbegriffs
Trotz reger Verwendung dient der Begriff der Solidarität in der Sozialphilosophie und anderen Geistes- und Sozialwissenschaften oftmals dem Hinweis auf eine Lücke (vgl. Angehrn 2001, 13). Das „westliche“ Demokratieverständnis beruht unter anderem auf den Ideen der Französischen Revolution der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit - wobei zu Letzterem heute ungefähr synonym der Begriff der „Solidarität“ verwendet wird. Allerdings wird der Solidarität als demokratischem Leitprinzip nicht in dem Maße Bedeutung zugemessen wie den anderen beiden Ideen. Dafür führt Angehrn (2001) drei Gründe an:
1. Das Konzept hat wenig realgesellschaftliche Relevanz. Am wichtigsten in modernen kapitalistischen Gesellschaften ist die Freiheit. Die Gleichheit ist zwar keineswegs umgesetzt (Menschen haben sehr unterschiedliche Chancen je nach Herkunft, Aussehen, Geschlechtszugehörigkeit, sexueller Orientierung etc.), aber zumindest zum Beispiel von Aktivistin- nen*Aktivisten1 gefordert und diese Forderungen werden weitgehend als legitime Ansprüche aufgefasst (wenn auch nicht durchgehend, etwa im rechten politischen Spektrum2 ). Solidarität hingegen hat selten Relevanz. Das Gegenkonzept - der Egoismus - ist gesellschaftlich akzeptiert, wird naturalisiert und als allgemein nachvollziehbar erachtet. Das heißt, dass besonders in individualistischen Gesellschaften, wie der in Deutschland vorherrschenden, Egoismus als dem Menschen von Natur aus gegebene Eigenschaft gewertet wird und daraus resultierend Argumentationen, die beispielsweise das eigene Handeln mit Eigennutz oder einem Privatinteresse begründen, gut nachvollziehbar sind. Angehrn (2001) erklärt, dass aus diesem Grund die Schere zwischen Arm und Reich durch die neoliberale Wirtschaftspolitik, die allein auf Freiheit ausgelegt ist, immer größer wird (vgl. Oxfam 2021). Individualisierung und neoliberale Ideologie führen dazu, dass Gemeinschaften weniger Wert beigemessen wird und umgekehrt dem Eigeninteresse mehr. In der Folge schwindet die Solidarität (vgl. Angehrn, S. 14 f.).
2. Freiheit und Gleichheit werden rechtlich garantiert. Individuen sind rechtlich und moralisch dazu verpflichtet, die Freiheit und Gleichheit ihrer Mitmenschen zu gewähren. Diskriminierung in Sachen Chancengleichheit ist, obgleich sie alltäglich geschieht und strukturell in der Gesellschaftverankertist, im Grundgesetz verboten und moralisch angreifbar. Es besteht eine negative Pflicht, die Freiheit und Gleichheit anderer nicht zu behindern. Solidarität hingegen ist kein bloßes Unterlassen, sondern eine aktive Haltung, zum Beispiel andere Menschen, wenn diese bedürftig sind, zu unterstützen. Individuen sind weder rechtlich noch - nach einer weit verbreiteten Auffassung - moralisch dazu verpflichtet, sondern Solidarität wird als wertvolles Plus erachtet. Wenn sich solidarisch verhalten wird, ist das kein Muss. Für das Nicht-Verletzen der Freiheit anderer hingegen wird niemand gelobt, sondern es wird als selbstverständlich gefordert. Solidarität wird als positives Gebot, nicht als Pflicht (wie die anderen zwei Konzepte), erachtet, weshalb es weniger Wirkkraft hat (vgl. ebd., S. 15 ff.).
3. Solidarität entsteht aus einem sozialen Gefühl der Verbundenheit. Pflichten gegenüber allen Individuen zu erfüllengilt unabhängig vom Verhältnis zu ihnen. Negative Pflichten als ein Unterlassen können gegenüber allen Menschen gleichermaßen erbracht werden. Es ist möglich, niemanden auf eine bestimmte Weise einzuschränken. Solidarität als aktive Anteilnahme und aktives Unterstützen Anderer jedoch kann nicht in gleichem Maße allen Menschen gegenüber geleistet werden, da die menschlichen Möglichkeiten begrenzt sind. Folglich ist ein verbreiteter Einwand, dass Individuen bereits durch das Konzept der Solidarität nicht zu Solidarität verpflichtet werden können und dass Solidarität nicht egalitär gegenüber allen gefordert werden kann, sondern maximal mit Bezug auf eine Verbundenheit, also in begrenzterem Maße als die anderen Leitideen (vgl. ebd., S. 17).
3. Abgrenzung vom Mitleid
Solidarität gilt als moralisches Gebot und als lobenswert. Gleichzeitig ist es eine nicht unumstrittene, aber doch weit verbreitete Auffassung, dass Moral universell gültig ist (vgl. Angehrn 2001, S. 17). Dennoch würde es eine Überforderung darstellen, beispielsweise an allem Leid der Welt Anteil zu nehmen und sich in der Verantwortung dafür zu fühlen (vgl. ebd., S.17). Zumindest sofern dies praktisch in die Tat umgesetzt würde, wäre es weder psychisch verkraftbar noch tatsächlich im Rahmen der menschlichen Handlungsmöglichkeiten.
Die Kritik an einer umfassenden Umsetzbarkeit und der moralischen Einforderbarkeit von Solidarität deutet jedoch von einem Solidaritätsverständnis her, von welchem sich in dieser Arbeit explizit distanziert wird3. Solidarität ist nicht gleichzusetzen mit Mitleid - welches tatsächlich nicht emotional mit allen Lebewesen gleichermaßen empfunden werden kann. Um dies zu verdeutlichen, wird an dieser Stelle die Position Hannah Arendts wiedergegeben, die anhand der Narrative und Ideologien, derer sich im Zuge der Französischen Revolution bedient wurde, und der darauffolgenden - auf jenen aufbauenden - Schreckensherrschaft Robespierres, Mitleid als Basis für Solidarität problematisiert.
Arendt erläutert, dass die Revolutionäre aus Mitleid mit „der Masse“ bewegt, im Namen dieser „Masse“ handelten, sich selbst dabei jedoch von jener distanzierten (vgl. Arendt 2011, S. 94 f.). Die vorgebliche Orientierung an dem Interesse der breiten Masse, welches die Revolutionäre wie selbstverständlich zu kennen meinten, obwohl sie selbst nicht dazugehörten, stellt eine typische populistische Selbstbegründung dar. „Le peuple“ wurde im Zuge der Französischen Revolution durchgehend als essenziell unglücklich „toujours malheureux“ (ebd., S. 95) beschrieben. In Anlehnung an Rousseau, der in der Zivilisation die Wurzel der Tugendlosigkeit sah, werden umgekehrt jene, die von dieser entfernt verortet werden, „das arme Volk“, idealisiert. Sie wurden von den Revolutionären nicht als mündige Bürger*innen wahrgenommen, sondern als frei von Politik und somit natürlich, unverdorben und tugendhaft. Charakterisiert als ausschließlich gut und unglücklich wurde „der Masse“, also all jenen, von denen sich die Revolutionäre abgrenzten, eine passive Opferrolle zugeschrieben. Neben dem problematischen Paternalismus, der daraus spricht, suggeriert das selbsternannte Handeln imNa- men der Ausgebeuteten zudem, dass diese eine homogene Masse seien, die jenes gutheißen würde. Insofern es einem Kollektiv einen einzigen Willen unterstellt, wirkt es vereinheitlichend. Dieser Wille, der „volonté générale“, ließ im Gegensatz zum „volonté des tous“ keinen Raum für Diskussion zu und somit, Arendts politischer Philosophie folgend, auch keinen Raum für das Politische. Der volonté de tous ist ein diskursiv entstandener Konsent,also ein Kompromiss, welcher im volonté generale nicht benötigt wird, da Unterschiede übergangen werden (vgl. ebd., 96 f.). Ein solches Mitleid gibt keinen Raum für die eigene Entfaltung. Weder richtete sich der volonté generale also danach, was die Menschen tatsächlich wollten in all ihrer Verschiedenheit, noch befahl er ihnen, was sie tun sollten, sondern was sie - hätten sie den Verstand der Revolutionäre - in ihrem eigenen Interesse eigentlich wollen sollten.4
Des Weiteren wurden politische Entscheidungen nach der Quantität der dadurch vertretenen beziehungsweise verletzten Einzelinteressen beurteilt. Das provoziert eine verbreitete Kritik an utilitaristischen Maßstäben: Jegliche Grausamkeit ist an Minderheiten legitim (vgl. Rawls 1975). Ein derart verstandenes Mitleid achtet also keinerlei Minderheitenrechte, sondern alles was vorgeblich „der Masse“ hilft, gilt als gerechtfertigt (vgl. Arendt 2011, S. 100).
Zudem wurde Mitleid in idealisierter und überhöhter Weise als die „Fähigkeit, sichselbst im Leiden der anderen zu verlieren “ (ebd., S. 102) verstanden. Ein solches ist auf die Person bezogen, die Mitleid empfindet, nicht auf diejenige, die leidet. Es ist ein „auf sich selbst reflektiertes Gefühl“ (ebd., S. 112). Daran lässt sich kritisieren, dass der Fokus falsch gesetzt ist. Ob sich das Gegenüber in Mitleid verliert, ist für Leidende irrelevant, da es nichts an ihrer Situation ändert. Mitleid als selbstgenüssliches Zelebrieren der eigenen Emotionalität ist nicht ausreichend praktisch. Solidarität jedoch darf sich nicht auf Emotionalität ohne daraus resul- tierendes Handeln beschränken, sondern zeigt sich nur in aktivem Handeln (vgl. ebd., S. 102).5
Wirklich emotional erregt sind Menschen Arendt zufolge nur bei Einzelgeschichten . Im Gegensatz zu Mitleid im Sinne emotionaler Ergriffenheit mit der*dem Einzelnen ist Solidarität verallgemeinert möglich. Solidarität muss von wechselhaften Gefühlen unabhängig und eine langfristigere Interessensgemeinschaft sein. Es wird sich nicht mit einer Person, sondern mit einer verallgemeinerten Gruppe identifiziert (vgl. ebd., S. 112 f.). Zudem ist Solidarität mit einer Gruppe zwangsläufig weniger emotional als Mitleid und durch diese weniger „leidenschaftliche“ Haltung eher vernunftgeleitet - ein zentraler Punkt, um politisches Handeln anleiten zu können, welches nicht in einer Schreckensherrschaft wie jener Robespierres mündet. Mitleid, welches Arendt mit dem absolut Guten identifiziert, kennt wie jenes keine Kompromisse - eine essenzielle Fähigkeit für das Politische. Emotionales Mitleid führt zu direktem Handeln, welches laut Hannah Arendt gewaltvoll ist (vgl. ebd., S. 110)6.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Mitleid Arendt zufolge entweder bei der*dem Einzelnen, auf personaler Ebene bleibt oder bei dem Versuch, es auf eine größere Gruppe auszudehnen, jene vereinheitlicht als ein Subjekt denkt und somit paternalistisch aller Pluralität beraubt. Beides ist unpolitisch, da sich Arendt zufolge Politisches erst durch die aktive Partizipation aller (in ihrer Verschiedenheit) konstituiert und einen Zwischenraum für Verhandlungen darstellt. Somit ist auch die Grundlage der Solidarität, welche im Gegensatz zum Mitleid politisch ist, ein zu öffnender Raum für alle Menschen.
4. Ethische Überlegungen
In ihrer „Ethik der Wertschätzung“ definiert Corine Pelluchon (2019) Solidarität als Sorge um die Welt, die zum Handeln veranlasst. Basis der Solidarität ist die Wertschätzung Anderer. Daraus resultiert die Übernahme von Verantwortung für die Konsequenzen des eigenen Handelns. Ziel ist eine bewohnbare Welt für andere Menschen in der Gegenwart7 und für spätere Generationen8. In Anlehnung an Arendt greift Pelluchon das Konzept der „Liebe zur Welt“ (amor mundi) auf. Es bezeichnet die Wertschätzung der Welt und alles Lebendigen, aus der sich der Wille ergibt, „an der gemeinsamen Anstrengung zu ihrer Bewahrung teilzuhaben“ (ebd., S. 164). Darin sieht Arendt ein „Heilmittel“ gegen Nihilismus und Fatalismus.
Pelluchon konstatiert, dass Menschen sich nicht solidarisch verhalten, wenn sie ihrer Hoffnung beraubt sind, die Fähigkeit zu haben, die Welt zu erneuern und ihre Umgebung durch ihr Handeln zu formen. Ähnlich zum französischen Existenzialismus sieht sie darin ein Annehmen der eigenen Freiheit (vgl. ebd., S. 155). So leugnet etwa der Glaube, dass das politische und wirtschaftliche System unabänderbar sind, dass beide nicht a priori existieren, sondern von Menschenhand geschaffen sind und folglich durch Menschen auch wieder verändert werden können. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der sogenannte „Ökonomismus“: „Weil sich der Ökonomismus auf alle Lebensbereiche erstreckt und sich auf allen Ebenen durchsetzt, von den Individuen bis zu den Gemeinden und den Regierungen, wird die Ideologie, auf die er sich stützt, zur dominanten Ideologie“ (ebd., S. 157). So ist eine oft gehörte Antwort etwa auf den Einwand, dass unbegrenzter Wachstum die letzten Ressourcen ausbeutet und schließlich auch das Überleben der menschlichen Art massiv gefährdet, dass „die Welt eben so funktioniert“. In solchen Aussagen zeichnen sich die Resignation und das Abweisen von Freiheit und Verantwortung ab, die aus dem vollständigen Akzeptieren einer vermeintlich unumgänglichen Weltordnung resultieren. Dass der Ökonomismus eine heutzutage weitgehend internalisierte Ideologie ist, zeigt sich auch in der Selbstvermarktung. Bröckling zufolge ist in der Spätmoderne die Norm oder Anrufung des „unternehmerischen Selbst“ handlungsleitend. Selbstverwirklichung wird zunehmend mit wirtschaftlichem Erfolg identifiziert. Ein kapitalistisches Selbstbild verinnerlicht Marktprinzipen sowohl für die Steuerung als auch die Zielsetzung des Lebens (vgl. Bröckling 2007; Ecarius 2017, S. 23; dies. 2020, 41, 46). Wer sich selbst als Objekt, das es stets neu herzustellen und zu verbessern gilt, erachtet, sich selbst nicht als Mensch mit intrinsischem Wert betrachtet, kann auch nicht mehr mit anderen Menschen zusammenleben (im Sinne von Kooperation statt Konkurrenz).
„Ökonomismus“ bezeichnet nicht nur eine Ideologie, sondern auch eine politische Ausrichtung, konkret: die Unterordnung des Politischen unter die Ökonomie. Dies zeigt sich, wenn Politiker*innen ihre Entscheidungen wissentlich statt am Gemeinwohl an Wirtschaftsinteressen ausrichten. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist das ca. 50km vor Köln gelegene Lützerath - eine von 30 Ortschaften, die bereits zwangsgeräumt und abgebaggert wurden oder noch bis in die 2030er abgebaggert werden sollen. Menschen, die dort leben, ggf. dort geboren und aufgewachsen sind, werden zwangsenteignet, damit der Großkonzern RWE dort in bis zu 210m Tiefe mehr Kohle abbauen kann.9 Pelluchon (2019) spricht von einer „totale[n] Liberalisierung des Handelns“, die „sich auf alle Güter erstreckt“ (S. 156). Auch Güter, die einen „Dienst an der Öffentlichkeit darstellen“ (ebd., S. 156) werden Objekte der Spekulation - zum Beispiel wenn Wasser privatisiert wird und Firmen wie Nestlé aus dem Verkauf von Wasser Profit schlagen, während der Grundwasserspiegel rund um die gekauften Quellen sinkt und Ortsansässige dadurch den Zugang zu sauberem Trinkwasser verlieren oder wenn - wie im Fall Lützeraths - Lebensraum von der Regierung an private Energiekonzerne verkauft wird. Die totale Kommerzialisierung findet ihren Höhepunkt, wenn der finanzielle Wert eines Menschenlebens für Kosten-Nutzen-Kalkulationen (etwa anhand des Geschlechts, der Arbeitsfähigkeit oder z.B. in den USA unter anderem anhand von race) berechnet wird, wenn von „Humankapital“ oder „Human Ressoruces“ die Rede ist. Wirtschaft wurde ursprünglich als Mittel, das den Menschen dient, gedacht, hat sich jedoch verselbstständigt. „Der Ökonomismus zeugt von einer falschen Konzeption von Ökonomie, weil, was ein Mittel ist, als Zweck betrachtet wird“ (ebd., S. 157). Heute dienen Menschen in vielen Fällen unhinterfragt der Wirtschaft. Wirtschaftswachstum hat sich als Selbstzweck durchgesetzt - egal um welchen Preis. Pelluchon (2019) folgert: „Die zu Lobbies zusammengeschlossenen mulitnationa- len Konzerne treffen kaum noch auf Hindernisse und kontrollieren die Ökonomie, während es den Regierungen, die ihren Pressionen weichen, nicht mehr gelingt, ihre Macht zu begrenzen“ (S. 156). In vielen Fällen ist jedoch selbst dieser Anspruch der Politik nicht mehr gegeben: Politiker*innen haben oftmals kein Interesse daran, die Macht jener Konzerne zu begrenzen, wenn sie selbst Verbindungen zu ihnen unterhalten und sich dadurch selbst finanziell bereichern. Ökonomismus setzt „an die Stelle des öffentlichen Raums einen deregulierten Markt“ (ebd., S. 155) und zerstört dadurch jede Demokratie bzw., Arendt zufolge, das Politische an sich.
Pelluchon (2019) argumentiert, dass es sich beim Ökonomismus um eine Form der totalitären Herrschaft handelt. Totalitarismus bestimmt sie als Herrschaftsform, die
(1) den moralischen Wert eines jeden Lebewesens an sich nicht anerkennt,
(2) jede Sphäre der Gesellschaft durchdringt und
(3) eine „essentialistische Konzeption des Menschen“ (S. 154) vertritt. Identitäten und Gruppenzugehörigkeiten werden als essenzielle, unveränderliche Eigenschaften, anhand derer sich alle Lebewesen in ein binäres System von „Reine und Unreine“ (S. 154) einteilen lassen, erachtet. Das zerstört Pluralität und Mehrdimensionalität.
Der Ökonomismus erfüllt diese Kriterien, da er, wie beschrieben,
(1) dem Lebendigem den Selbstwert abspricht, wenn Menschen, Natur und nichtmenschliche Tiere nur als Mittel erachtet und kommerzialisiert werden, was deren unbegrenzte Ausbeutung ermöglicht,
(2) als einzige „gültige“ Ideologie beinahe die gesamte Welt beherrscht und
(3) dadurch einen pluralen Diskurs unmöglich macht (vgl. ebd., S. 157 f.).
Ähnlich wie andere totalitäre Ideologien stellt auch der Ökonomismus eine Bedrohung für alle Lebewesen auf diesem Planeten dar (vgl. ebd., S. 155).
[...]
1 Um allen Geschlechtsidentitäten gerecht zu werden, gendere ich mit Sternchen - es sei denn, es handelt sich bei den Benannten explizit nur um eine Geschlechtskategorie. Wenn sich dadurch nicht zwei einzeln lesbare Begriffe ergeben, sondern ein Teil der männlichen Bezeichnung dabei verloren gehen würde, werden, um konsequenterweise den umgekehrten Fall (der Nichtnennung von Männern) zu vermeiden, beide Formen ausgeschrieben und durch ein Sternchen getrennt, wobei die weibliche Form zuerst genannt wird. Bei zu den Nomen gehörigen grammatikalischen Formen wie Artikeln, Personalpronomen, Possessivartikeln, Relativpronomen etc. wird ebenfalls zuerst die weibliche Form genannt. Dies geschieht zu dem Zweck, passiv der männlichen Dominanz in der deutschen Sprache entgegenzuwirken. Also z.B. wird „sie*er“, statt „er*sie“ genutzt. Des Weiteren nutze ich statt der vorgeblichen Verallgemeinerung „man“, die nicht nur vom Begriff „Mann“ hergeleitet ist, sondern aufgrund der identischen Aussprache auch männliche Assoziationen hervorruft, die aus feministischen Kreisen stammende, geschlechtsneutrale Wortneuschöpfung „mensch“.
2 Die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan konstatiert in ihrer Analyse der postmigrantischen Gesellschaft, dass demokratische Leitbilder wie das der Gleichheit kombiniert mit der Tatsache, dass diese keineswegs umgesetzt ist, eine kognitive Dissonanz auslösen, auf die von Teilen der Bevölkerung dadurch reagiert wird, dass sie an den Ist-Zustand angepasst werden. Das heißt, dass Normen wie Chancengleichheit auf die privilegierte Bevölkerung reduziert werden, der sie bereits zukommen. Diese Haltung des Ablehnens der Chancengleichheit für Alle sieht sie vor allem in den in den letzten Jahren in Europa erstarkten rechtspopulistischen Strömungen und Parteien gegeben (vgl. Foroutan 2019).
3 An dieser Stelle sei angemerkt, dass ein derartiges Solidaritätsverständnis, selbst wenn es nicht abgelehnt würde, theoretisch denkbar wäre. Die Realität kann nicht mit einem Soll-Zustand gleichgesetzt werden. Dass eine absolute Anteilnahme gegenüber allen Menschen oder sogar Lebewesen auf der Welt faktisch nicht möglich ist, bedeutet nicht automatisch, dass eine Annäherung an diesen Zustand nicht ethisch zu befürworten wäre. Ein Gebot der Annäherung wäre also durchaus denkbar. Darüber hinaus gibt es Konzepte der moralischen Verantwortung, die bestimmte Kriterien entwickeln (beispielsweise das Wissen um die jeweilige Situation und die Möglichkeit, auf diese einzuwirken etc.) und je nach gradueller Erfülltheit dieser Kriterien auch dementsprechende graduelle Anteilnahme fordern. Eine solche Einstellung mündet nicht zwangsläufig in Überforderung, sondern vielleicht sogar in einen produktiven Aktivismus und gesamtgesellschaftlichen Engagement.
4 Damit spricht Arendt mehrere Kritikpunkte an, die auch in aktuellen Debatten zum Thema Solidarität aufgegriffen werden, zum Beispiel wenn betont wird, dass es keine weiteren Initiativen „weißer Weltverbesserer*innen“ braucht, die in selbsternannter Solidarität mit Schwarzen agieren. (Die hier verwendeten Ausdrücke „ weiß “ und „Schwarz“ bezeichnen keine biologischen Merkmale (Hautfarbe etc.), sondern politische und soziale Konstruktionen. „ Weiß “ beschreibt eine dominante, privilegierte Position und „Schwarz“ eine unterdrückte Position. Neben „Schwarz“ wird auch „PoC“ (= „People of Color“) als Selbstbezeichnung von Menschen, die als nicht- weiß behandelt werden, genutzt. Um den Konstruktionscharakter zu verdeutlichen, wird bei „ weiß “ die Kursivschreibung verwendet. Da es sich bei „Schwarz“ nicht um ein Adjektiv im Sinne einer Eigenschaftsbeschreibung, sondern um eine politische und gesellschaftliche Kategorie und einen Eigennamen handelt, wird es großgeschrieben.)
5 Dieser Kritikpunkt erinnert an moderne diskriminierungskritische Forderungen wie Angela Davis‘ berühmtes Zitat, dass es in einer rassistischen Gesellschaft nicht genüge, nicht rassistisch zu sein, sondern mensch anti-rassistisch - im Sinne von aktiv gegen den vorherrschenden Rassismus engagiert - sein müsse, oder aber an - berechtigte -Rufe wie „allyship requires action“.
6 Dass aufrichtiges emotionales Mitleid in jedem Fall gewaltvoll ist, scheint wenig plausibel. Eine Diskussion dessen ist an dieser Stelle jedoch nicht zielführend, da für die vorliegende Arbeit vor allem relevant ist, dass ein derartiges Mitleid zu Gewalt führen kann - eine Gefahr, für die die weniger emotionale Solidarität weniger anfällig ist.
7 Das kann sich zum Beispiel darin ausdrücken, dass sich darum gesorgt wird, dass das eigene politische Verhalten beispielsweise in Bezug auf die Migrationspolitik und/oder das Konsumverhalten nicht die Lebensgrundlage von Menschen in anderen Regionen zerstören.
8 Beispiele dafür wären, wenn sich darum gesorgt wird, dass das eigene politische Verhalten und/oder Konsumverhalten nicht die Lebensgrundlage derjenigen, die aktuell Kinder oder Jugendliche oder noch nicht geboren sind, zerstört.
9 Das in den 1990er Jahren geplante Vorhaben ist mit der aktuellen Gesetzeslage zum Klimaschutz nicht mehr vereinbar. Obwohl Enteignungen nach deutschem Recht „dem Wohle der Allgemeinheit dienen” (Art. 14 GG (2)) ist das de facto im Fall des Kohleabbaus in Lützerath und Umgebung - beachte mensch die Menschen, die ihre Heimat verlieren, die Umweltschäden und die Treibhausgasemissionen - in keiner Weise gegeben.