DIE GELEBTE ZEIT - Dilthey’s Auffassung von der Zeit und seine Kritik an Kant’s Zeitlehre


Research Paper (postgraduate), 2009

74 Pages


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG

I. KAPITEL: Diltheys Zeitlehre
1. Die Bedeutung des Zeitbegriffs in Diltheys Philosophie
2. Zeit als reale Lebenskategorie
3. Zeitdimensionen bei Dilthey
3.1. Gegenwart
3.2. Vergangenheit
3.3. Zukunft
4. Die Unterschiede zwischen den Zeitdimensionen
5. Die Kategorien des Denkens in Bezug auf die Zeit
6. Die Zeitlichkeit des Lebens
6.1. Der Lebensverlauf im Zusammenhang der Zeitlichkeit
6.2. Die Unterscheidung von konkreter Zeit und phänomenaler Zeit (die Zeit des Naturgeschehens)
7. Die Unermesslichkeit der Zeit in Bezug auf die Unterscheidung von realer
und objektiver Zeit

II. KAPITEL: Die Zeitlehre von Kant
1. Eine kurze Geschichte der Zeitauffassung vor I. Kant
2. Die Zeitlehre in Kants Dissertation
3. Die Bestimmung der Zeit in der transzendentalen Ästhetik der Kritik der
reinen Vernunft

4. Das Zeitproblem in der transzendentalen Analytik

III. KAPITEL: Diltheys Kritik an Kants Zeitlehre
1. Die Bedeutung der Kantischen Philosophie für Dilthey
2. Diltheys Kritik in den Berliner Logik-Vorlesungen der achtziger Jahre
3. Diltheys Kritik an Kants Zeitlehre in Ausarbeitungen und Entwürfen zum zweiten Band der „Einleitung in die Geisteswissenschaften.“
4. Dauer und Veränderung in der Zeit im Zusammenhang der Kritik an der Kantischen Zeitlehre
5. Weitere Kritik Diltheys in Bezug auf die psychischen Akte

SCHLUSSBEMERKUNG

LITERATURVERZEICHNIS

EINLEITUNG

Die Frage nach der Zeit scheint zum ältesten Kulturgut des Menschen zu gehören. Schon in der Mythologie findet man die Bemühung um die Lösung dieser Frage. Denn der Mensch kann seine Existenz und die Existenz der anderen nur begreifen, wenn er weiß, was die Zeit ist. Trotz der langen Reifezeit dieses Problems ist der Mensch noch zu keiner endgültigen Beantwortung dieser Frage gelangt.

Die abendländische Philosophie beschäftigt sich mit dieser Frage explizit seit Parmenides und Heraklit. Wenn man über die verschiedenen Bestimmungen der Zeit in der philosophischen Tradition nachdenkt, so lässt sich eine Mannigfaltigkeit der Auffassungen aufzeigen, die trotzdem eine innere Einheit sichtbar werden lässt, die folgendermaßen artikuliert werden kann. Die Zeit ist eine Form, in der sich jedes Geschehen abspielt. Ob das Geschehen ein Vorgang der Natur oder des Geistes ist und ob diese Form als eine vorhandene Dimension oder als eine sich konstruierende Handlung gedacht wurde, hängt wesentlich von der Bestimmungsweise der jeweiligen Zeitlehre ab.

Nicht nur die Philosophie bemüht sich, die Realität der Zeit zu verstehen und sie zu lösen. Auch die frühen abendländischen Physiker zielen seit dem frühen 16. Jahrhundert auf die Lösung der Zeitproblematik. Eine kurze Erörterung, wie die moderne Physik die Zeitproblematik erarbeitet hat, ist deshalb sinnvoll für das Verstehen der Gedanken von W. Dilthey und H. Bergson, weil sich beide gegen die Zeitauffassung der Physik positioniert haben.

Die Entwicklung im Mikro- und Makrobereich der Physik sowie die neue Entwicklungsbewegung in der Biologie führen zu einer neuen Konzeption der Zeit. Prigogine hat in diesem Sinne als erster eine bahnbrechende Diskussionslage für das neue Verständnis der Zeit unter der Verwendung von traditionellen philosophischen Begriffen bezüglich des Gegensatzes von „Sein“ und „Werden“ eingeführt.[1] Er stellt fest, dass solange die Physik den qualitätslosen Parameter t zu ihrer Grundlage hat, sie bloß statisch-ideale Strukturen beschreibt, denen wie Platons Ideen jegliches Werden fremd ist. Er fordert, dass das Programm der Physik reformuliert werden muss und das für eine große Zahl von Phänomenen typische „Werden“ nicht länger ausgeschlossen werden solle. Die physikalische Auffassung der Zeit reiche, so Prigogine, nicht, die reale Struktur der Zeit zu erkennen.

Die Lebensphilosophen (vor allem, Dilthey, Bergson, Simmel usw.) sind der Meinung, dass die Zeit nicht durch die physikalische Auffassung ausgeschöpft werden kann. Die Zeit und die Zeitlichkeit des Menschen seien unersetzbare Grundbestimmungen des menschlichen In-der-Welt-Seins. Wissenschaftliche Forschungen über die Zeit könnten nur dadurch zu einem befriedigendem Ergebnis führen, wenn sie die lebensweltlichen Zeitauffassungen berücksichtigen. Man solle anerkennen, dass der Mensch auf seine eigene Weise mit der Zeit vertraut ist. Wir als Menschen wüssten von ihr in dem Sinne, dass wir mit ihr umgehen können und dass wir unser Leben mehr oder weniger möglichst im Einklang mit ihr einrichten. Wir bräuchten die Zeit, um unsere alltäglichen Beziehungen zur Natur und zu den Menschen zu regeln. In diesem Sinne bildeten die Zeiterlebnisse ein Selbstverständnis für uns.

In diesem Zusammenhang stellt sich diese Arbeit die Aufgabe, wie und warum die Zeit nicht durch die physikalische Auffassung erschöpfend behandelt werden kann. Wodurch unterscheidet sich die „gelebte Zeit“ von der „physikalischen Zeit“? Kann man durch diese Trennung wirklich das Wesen der Zeit darstellen? Diese Arbeit sucht nach möglichen Antworten auf diese Fragen durch die Zeitlehre von W. Dilthey und seine Kritik an Kant’s Zeitlehre.

Dilthey übt eine scharfe Kritik an Kants Zeitlehre und ihm vorgeworfen, dass er das Wesen der Zeit nicht verstanden hat. Wir haben Kants Zeitlehre als Ausgangspunkt für die Zeitauffassung von Dilthey ausgewählt, um dessen Zeitanalyse besser zu verstehen. Deshalb besteht die genauere Absicht der vorliegenden Arbeit darin, eine Darstellung der Zeitlehre von W. Dilthey unter besonderer Berücksichtigung von I. Kants Zeitanalyse aufzustellen. Da der Kern der Arbeit aber die Darstellung der Zeitlehre von Dilthey ist, wird Kants Zeitanalyse nicht unmittelbar mit der Zeitlehre von Dilthey verglichen. Vielmehr wird die Kritik von Dilthey an Kant einbezogen.

Das erste Kapitel behandelt Diltheys Zeitanalyse. Leider ist festzustellen, dass er weder eine eigenständige Arbeit über die Zeitlehre verfasst, noch sonst viel über die Zeit geschrieben hat. Es gibt auch keine eigenständige Arbeit, die über seine Zeitlehre geschrieben worden ist. Deswegen müssen wir uns im Vergleich zu Bergson mit weniger Textmaterial begnügen. Trotzdem versuchen wir aus seinen Schriften die essentiellen Gedanken über die Zeit zusammenzustellen. Dieses Kapitel beginnt mit der Analyse der Zeitmomente, deren Unterschiede eingehend erörtert werden. Da bei Dilthey die Zeitlichkeit ganz eng mit dem Leben zusammenhängt, wird unter „Zeitlichkeit des Lebens“ diese gegenseitige Beziehung zunächst in Bezug auf den Lebensverlauf und dann in Bezug auf die auch bei Bergson zu findende Unterscheidung von konkreter und phänomenaler Zeit behandelt. Dilthey versteht die Zeit als reale Lebenskategorie, er nimmt sie sogar als erste Bestimmung des Lebens an. Dies wird im Zusammenhang mit der ‚Unermesslichkeit’ der Zeit in Betracht gezogen.

Im zweiten Kapitel wird die Hauptmerkmale der Kantischen Zeitlehre erwähnt. Die Analyse der Kantischen Zeitlehre beginnt mit seiner Dissertation „De Mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis“, weil er dort seinen Grundgedanken über die Zeit zum ersten Mal entwickelt hat. Kant sagt dort u.a., dass die Zeit kein empirischer Begriff ist, sondern die Form des inneren Sinnes und somit eine apriorische Form unserer Sinnlichkeit. Ohne Zweifel hat Kant seine eigenständige und ausführliche Zeitlehre in der „transzendentale[n] Ästhetik“ der „Kritik der reinen Vernunft“ herausgearbeitet. Er nennt Zeit und Raum reine Anschauungen unserer Sinnlichkeit, ohne sie mit dem kategorischen Denken in Beziehung zu setzen. In der „transzendentale[n] Analytik“ beschäftigt sich Kant mit der konstitutiven Bedeutung der Zeit für die menschliche Erkenntnis.

Das dritte Kapitel der Arbeit bezieht sich auf Diltheys Kritik an Kants Zeitlehre. Zuerst wird die Wichtigkeit der Kantischen Philosophie für Dilthey herausgehoben. Anschließend wird seine eigene Positionierung gegenüber Kants transzendentaler Philosophie aufgezeigt, wie er sie schon ab 1880 in seinen „Berliner Logik-Vorlesungen“ vornimmt. Er hat seine Kritik in „Ausarbeitungen und Entwürfen zum Zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften (ca. 1870-1895)“ (GS. Band XIX) weitergeführt. Er beurteilt die Kantische Zeitlehre als wichtigsten Angriff gegen die Realität der inneren Wahrnehmung und der Zeit. Dilthey ist davon überzeugt, dass man auf jeden Fall eine Kritik an Kant braucht, um die Realität der geistigen Welt zu rechtfertigen. Ohne diese Kritik bleibt die Zeitlehre unbegründbar. Er behandelt auch die Veränderung und Dauer im Zusammenhang mit der Kantischen Zeitlehre und wirft ihr vor, dass Kant die Zeit aus Unzeitlichem entstehen lässt,

I. KAPITEL: Diltheys Zeitlehre

1. Die Bedeutung des Zeitbegriffs in Diltheys Philosophie

Obwohl Dilthey in seinem Werk der Analyse des Zeitbegriffs nicht viel Platz gewidmet hat,[2] ist doch die Problematik der Zeit als Seinskonstitution des Menschen in seinem Werk nicht wegzudenken.

Die Analyse der Begriffe Leben und Erlebnis machen das Wesen der Diltheyschen Philosophie aus. Wichtig ist dabei die Differenzierung Diltheys zwischen menschlichem Leben und allgemeinem Leben. Das menschliche Leben wird als der Kontext der Wechselwirkungen zwischen Personen aufgefasst; es ist jenes, das „von jedem Individuum aus sich seine Eigenwelt schafft.“ (VI, 314) Leben, allgemein, wird von Dilthey immer als ein Prozess der wechselseitigen Beeinflussung und Korrelation verstanden.[3] Das menschliche Leben aber ist für ihn eine „menschlich – gesellschaftlich – geschichtliche Wirklichkeit.[4]

Im folgenden wird, wenn vom Leben die Rede ist, immer das menschliche Leben verstanden, falls nicht ausdrücklich das allgemeine Leben angesprochen wird.[5]

Das Leben ist zeitlich bestimmt. Die Zeitlichkeit ist für Dilthey die erste bestimmende Kategorie des Lebens und grundlegend für alle übrigen Bestimmungen, die Zeitlichkeit enthalten. Das zeigt sich schon in dem Ausdruck „Lebensverlauf“, der die zeitliche Erstreckung des Lebens meint. Die Zeit begleitet die Menschen bis zu ihrem Tod und ist für sie immer da. Sie bildet die zusammenfassende Einheit unseres Bewusstseins. Der Lebensverlauf wird durch die gegenseitigen Wechselwirkungen zwischen dem Mensch und der Natur bestimmt (vgl. VI, 313f.). Das Leben ist aber nicht nur äußerlich, sondern auch von innen her als eine sich zeitlich erstreckende Einheit gegeben, dem die Zeit aber in anderer Weise als dem Naturgeschehen zukommt. Dilthey bestand auf der Unterscheidung der Zeit des Lebens als ‚wirkliche Zeit’ von der Zeit des Naturgeschehens als einer äußerer Form. Für ihn wird die Zeit in den Geisteswissenschaften, in denen die innere Wahrnehmung eine größere Rolle spielt, anders behandelt als in den Naturwissenschaften. Dilthey versucht nun, die Realität durch die innere Wahrnehmung zu begründen, d.h. geisteswissenschaftlich zu fundieren. Während die äußere Wahrnehmung auf die Natur zu zutreffen scheint und mit dem Raum verbunden wurde, hat die innere Wahrnehmung die äußere in sich. Der Mensch ist sich selbst und der Gesellschaft, in der er lebt, nicht als etwas Konstantes, sondern als etwas Zeitliches, Vergängliches, Veränderliches inne. Diese Erfahrungstatsache bildet die Basis, auf der die Theorie der geisteswissenschaftlichen ,Realität der Zeit’ zu stehen kommt. Demgegenüber machen die Naturwissenschaften von der Zeit als einer messbaren Gebrauch.[6] Trotz der Differenzierung von subjektiven und objektiven Zeitcharakter in Mensch und Natur leugnet Dilthey nicht den Existenzanspruch der objektiven Naturzeit und deren Einfluss auf den Menschen. Der Mensch steht als Teil der Natur ebenfalls innerhalb der zeitlichen Struktur der Natur. Vielmehr sagt er, dass die Zeitlichkeit des Lebens nicht mit der gleichwertig ablaufenden formalen Zeit erschöpft ist.

Von der inneren Wahrnehmung her versteht man sein Leben als endliches. Diese Endlichkeit macht im Gegensatz zur physikalischen Zeit das Wesen des Lebens aus. Dilthey prägt dafür den Begriff der „Korruptibiliät“. Sie bedeutet die Hinfälligkeit und Zerbrechlichkeit des menschlichen Daseins und meint zweierlei. Erstens: Das menschliche Leben ist in seiner Ganzheit dem Zerbrechen ausgesetzt, d.h. der Mensch könnte in jedem Augenblick sterben; und zweitens: Alles, „was wir besitzen, lieben oder auch hassen und fürchten“ (VIII, 79), ist der Zeitlichkeit unterworfen, d.h. der Mensch kann keinen einzigen Zustand seines Lebens festhalten. Dilthey stellt aber die Korruptibilität des Lebens nicht mit der Vergänglichkeit der Dinge auf eine Ebene. Die in der äußeren Natur herrschende Vergänglichkeit, in der das Wesen der Dinge unabhängig von der Zeitlichkeit bestimmt wird, gilt nur für Naturdinge, die lediglich in einem äußerlichen Sinn „in“ der Zeit sind. Im Gegensatz zur Vergänglichkeit hat es die Korruptibilität mit der „Selbigkeit“ zu tun. Die Zeit wird hier verinnerlicht. Jeder fühlt seine Endlichkeit und Sterblichkeit.[7] Der Wunsch des Menschen, dieser Daseinskonstitution zu entfliehen, führt ihn unter anderem in die mystische Weltflucht. Nach Dilthey kann eine „Versenkung in das Ewige“ (XIX, 215) dem Menschen keine Möglichkeit bieten, dieser Korruptibilität zu entgehen.

Anhand der Begriffe Korruptibilität und Lebensverlauf haben wir gesehen, wie die Zeit konstituierend für die Lebensparameter der Diltheyschen Philosophie wirkt. Eine Beschäftigung mit dem Erlebnisbegriff wird zeigen, inwiefern das Erlebnis ebenfalls von der Zeit bestimmt ist.

Der Lebensverlauf besteht aus Erlebnissen, welche „die kleinste Einheit“ des Lebens, „die Urzelle der geschichtlichen Welt“ (VII, 161) sind. Obwohl das Erlebnis die kleinste Lebenseinheit ist, heißt das aber nicht, dass es etwas Einfaches ist, sondern weist eine reine innere Gliederung auf. Das menschliche Leben ist allgemein durch zeitlich in sich ausgedehnte Erlebnisse gegliedert. Die Erlebnisse, die im Lebensverlauf stattfinden, stehen nicht beziehungslos nebeneinander, sondern beziehen sich auf ein Ganzes. Der Lebenszusammenhang, der aus Erlebnissen besteht, ist nicht eine Summe aufeinanderfolgender Momente, sondern eine durch Beziehungen, die alle Teile verbinden, konstituierte Einheit (vgl. VII, 140). In diesem Sinne ist der Lebenszusammenhang ein Ganzheitszusammenhang. Aber solange die Zeitlichkeit nicht in den Begriff der Ganzheit des Lebenszusammenhangs eingeht, bleibt die Struktur des Lebenszusammenhangs unvollständig. Da die Bedeutung die Teile des Lebens zum Ganzen verbindet, könnte man sagen, dass der Lebenszusammenhang ein Bedeutungszusammenhang ist. Die Kategorie der Bedeutung bekommt ihre Realität aber erst durch die Verknüpfung mit der Zeitlichkeit des Lebens[8] und ergibt sich „nur vermittels der Erinnerung, in welcher wir den vergangenen Lebensverlauf überblicken können.“ (VII, 233) Wenn wir uns an etwas erinnern, öffnet sich zuerst die Kategorie der Bedeutung. Dilthey setzt hier eine feste Verbindung zwischen der Bedeutung und der Erinnerung und durch sie mit der Vergangenheit. Er hält die Bedeutung für eine entscheidende Kategorie des Verstehens des Lebens (vgl. VII, 234). So kommt die Vergangenheit in Bezug auf das Verstehen des Lebens in eine Vorrangstellung vor Gegenwart und Zukunft. Die Bedeutung kann nur durch die Vergangenheit verstanden werden. Dies macht das Wesen des von Dilthey gesehenen Wirkungszusammenhangs aus.[9] Im Wirkungszusammenhang verbinden sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Als „Fortwirken“ bezeichnet Dilthey den Fortbestand des Vergangenen in die Gegenwart und das Sicherstrecken desselben in die Zukunft. Den Charakter dieses Prozesses bezeichnet er als „Präsenz“. Die Präsenz wird von Dilthey als das Einbezogenwerden von Vergangenem in unser Erleben bestimmt.[10]

Wenn man die Grundprinzipien von Diltheys Zeitlehre benennen will, dann könnte man folgende Punkte aufzählen: Dilthey ist strikt gegen alle Annahmen, die die Zeit einfach als rastlose Funktion oder als Fluss charakterisieren. Zeit ist bei ihm nicht nur eine aus gleichwertigen Teilen bestehende Linie, sondern hat unermessliche Qualität. Deshalb ist es verständlich, dass Dilthey die Zeitauffassung der Naturwissenschaften ablehnt. Da er die Zeit als reale Manifestation des Lebens sieht, verbindet er immer Zeit mit seiner Kategorie des Erlebnisses. Aus diesem Grund kritisiert er Kants Zeitlehre, weil dieser die Zeit als apriori leere Form betrachtet hat.

Obwohl Diltheys gesamte Philosophie mit der Zeitproblematik direkt in Beziehung gesetzt werden kann, bleibt seine Zeitanalyse im Zusammenhang seiner Konzeption einer „Kritik der historischen Vernunft“ leider unvollständig.[11] Aus diesem Grund – da Diltheys Gedanken wie öfter in seiner Zeitanalyse Fragment geblieben sind –, kann seine Zeitanalyse, genauer gesagt, seine Auffassung von der Realität der Zeit nicht exakter analysiert werden.

Trotzdem wollen wir hier versuchen, seine Zeitanalyse, so weit wir können, sichtbar und verständlich zu machen. Dilthey nimmt die Zeitlichkeit als erste und grundlegende Kategorie des Lebens an. Bevor wir mit einer Analyse der Zeitmomente bei Dilthey fortfahren, möchten wir versuchen zu klären, wie und warum Dilthey die Zeitlichkeit als grundlegende Kategorie des Lebens ansieht.

2. Zeit als reale Lebenskategorie

Bei Dilthey ist die Zeitlichkeit die grundlegende und umfassende Kategorie, mit deren Hilfe die von ihm erwähnten Kategorien in eine Ordnung gebracht werden und die es dadurch ermöglicht, das Leben als Ganzes zu verstehen.

Er akzentuiert die universale, fundamentale und konstitutive Geltung dieser Kategorien, welche sind: Bedeutung, Sinn, Wert, Zweck, Kraft usw. Der Mensch kann nur durch diese Kategorien verstanden werden. Er ist ohne Sinn, Zweck, Wert und Bedeutung nicht lebensfähig. Erst durch diese Kategorien gewinnt sein Leben einen Sinn (vgl. XI, 379). Der Lebensverlauf der Menschen kann nur einen Sinn, eine Bedeutung oder einen Wert haben, wenn man eine Haltung, sei es eine religiöse, philosophische oder naturwissenschaftliche, gegenüber der Welt und dem Kosmos entwickelt.

Dilthey zählt Lebenskategorien an verschiedenen Stellen in verschiedener Anzahl auf. Neben den oben erwähnten Kategorien nennt er noch Zusammenhang, Ganzes und Teile, Struktur, Zeitlichkeit, Wirken und Leiden, Entwicklung, Gestaltung, Ideal und Wesen. Bei diesen Kategorien handelt es sich nicht um ein subjektives Schema, das wir von uns aus den Dingen aufpressen, sondern um Formen des menschlichen Lebens selbst. „Sie sind nicht zu ihm hinzutretende Arten der Formung, sondern die strukturellen Formen des Lebens selbst in seinem zeitlichen Verlauf kommen in ihnen zum Ausdruck.“ (VII, 203)

Dilthey schreibt aber der Bedeutung unter den Lebenskategorien einen Vorrang zu, weil die Bedeutung für jeden Lebenszusammenhang konstitutiv ist und im Erleben jeder Lebenszusammenhang als ein Bedeutungszusammenhang konstituiert wird. Um das Leben zu verstehen, muss man über Lebenskategorien verfügen. Die Lebenskategorien konstituieren den Verstehensprozess, sie enthalten lebensimmanente Prämissen des Verstehens, die dem Verstehenden ein Verstehen des Lebens aus dem Leben selbst ermöglichen.[12] Die Lebenskategorien sind bedingt durch die Kategorie der Zeitlichkeit. Trotz dieser Bedingtheit stellen sich diese Kategorien als autonom und eigenwertig dar.[13]

Um das gegenseitige Verhältnis zwischen Bedeutung, Zweck und Werten zu verstehen, muss man die Kategorie der Zeitlichkeit mitdenken. Jede Kategorie hat ein anderes Verhältnis zur Zeitlichkeit; z. B. ist Bedeutung an Erinnerung und mit ihr an Vergangenheit geknüpft. Die Zweck-Kategorie kommt nur in Frage, wenn der Mensch sich der Zukunft entgegenstreckt. Zweck und Ideal als menschliche Vorhaben brauchen Zukunft, in der sie sich verwirklichen können. Obwohl sowohl die Zukunft als auch die Kategorie des Zwecks keinen festen Existenzgrund haben, weil sie noch nicht da sind, braucht man sie, um alltägliches Leben weiterzuführen. Ohne Hoffnung, die den Lebenswillen ermöglicht, kann man sein alltägliches Leben nicht bewältigen. Die Werte beziehen sich meistens auf das Gefühl des Einzelnen, in dem für Dilthey schon eine Wertung begründet liegt, lassen sich zwanglos der Gegenwart zuordnen. Dilthey versucht von hier aus in den inneren Zusammenhang der Kategorien vorzudringen.[14]

Dilthey ist fest davon überzeugt, dass jede von diesen Kategorien fähig ist, das ganze Leben von ihrem Gesichtspunkt aus zu erfassen, weil jede von einem anderen Gesichtspunkt aus das Ganze des Lebens dem Verstehen zugänglich macht. Sie sind unvergleichbar miteinander. Es gibt aber einen Unterschied: Die Eigenwerte der erlebten Gegenwart stehen belanglos nebeneinander. Das Leben erweist sich unter diesem Wertgesichtspunkt als eine unendliche Fülle von Daseinswert, negativem, positivem, von Eigenwerten. „Und auch die Beziehung zwischen Eigenwerten und Wirkungswerten setzt nur kausale Verhältnisse, deren mechanischer Charakter nicht die Tiefen des Lebens erreicht.“ (VII, 236)

Die Kategorien des Lebens haben natürlich mit den Zeitmomenten zu tun. Je nach verschiedenen Zeitmomenten werden diese Kategorien anders bewertet und verstanden, wie wir oben kurz zu zeigen versuchten. Dies wird verständlicher, wenn wir etwas näher betrachten, was Dilthey unter den Zeitmomenten (Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft) versteht.

3. Zeitdimensionen bei Dilthey

Dilthey nimmt die drei Zeitdimensionen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft an. Gegenwart ist erfüllte Realität des Lebens. Das Fortrücken der Zeit lässt immer mehr Vergangenheit zurück und rückt vorwärts in die Zukunft. Die Gegenwart schließt allein im Leben die Vorstellung der Vergangenheit in der Erinnerung und die Vorstellung der Zukunft in der Phantasie und in der Aktivität des Zweckesetzens im Modus der Möglichkeit. Somit ist die Gegenwart von Vergangenheit erfüllt und trägt in sich die Zukunft. Diese Zeitverhältnisse bestimmen ‚das Reich des Lebens’.[15]

Nach Dilthey ist die Zeit kein ständiger Ablauf, vielmehr betont er ihre unermessliche Qualität.[16] Er sagt: „Zeit ist nicht nur eine Linie, die aus gleichwertigen Teilen bestünde, ein System von Verhältnissen, von Sukzessionen, Gleichzeitigkeit, Dauer.“ (VII, 72) Abgesehen von der Erfüllung der Zeit mit der Realität ist die Zeit in ihren Teilen untereinander als „gleichwertig“ zu betrachten. Dilthey stellt fest: „Denken wir die Zeit abwesend von dem, was sie erfüllt, so sind die Teile derselben einander gleichwertig. In dieser Kontinuität ist auch der kleinste Teil linear, er ist ein Ablauf ; ein ‚ist’ ist nirgend im kleinsten Teil.“ (VII, 72)

Wir kommen jetzt etwas detaillierter zu den Zeitmomenten, wie Dilthey sie gedacht hat.

3.1. Gegenwart

Dilthey definiert Gegenwart als „Erfüllung eines Zeitmomentes mit Realität.“ (VII, 93) Im Erleben wird die Zeit erfahren als das ‚rastlose Vorrücken der Gegenwart’. Gegenwart ist hier als ein Übergangspunkt zu verstehen, „in welchem das Gegenwärtige immerfort Vergangenheit wird und das Zukünftige Gegenwart.“ (Ebd.) Dilthey spricht der Gegenwart die Realität zu. Man kann in der Gegenwart im Gegensatz zur Erinnerung und Vorstellung seine Existenz fühlen und hoffnungsvoll oder schwermütig sein usw. Während sich der Inhalt des Erlebnisses ändert, geht die Erfüllung der Realität mit einem Zeitmoment weiter. „Diese Erfüllung mit Realität oder Gegenwart besteht ständig, während das, was den Inhalt des Erlebens ausmacht, sich immerfort ändert.“ (VII, 193)

Wie oben erörtert wurde, lehnt Dilthey die Auffassung ab, die Zeit nur als Ablauf zu interpretieren. Stattdessen schlägt Dilthey vor, die Rastlosigkeit der Zeit zu benutzen, um den Umfang der Gegenwart zu erweitern, weil nur durch diese Betrachtung von Zeit als Vorwärtsbewegung ein Erlebnis von Zeit möglich wird. Diese Vorwärtsbewegung macht den Charakter der Gegenwart im Unterschied zum Vorstellen des Erlebten (Vergangenheit) oder zu Erlebenden (Zukunft) aus.[17]

Was besagt „das Erlebnis der Gegenwart“? Nach Dilthey ist die Gegenwart eigentlich nicht zu erfahren. Wenn Zeit als ein Ablauf konstruiert wird, dann wird die Gegenwart nicht erlebt, sondern gelebt. Wir können natürlich ein Erlebnis der Gegenwart haben, aber dann bekommen wir keine Erfahrung ihres Inhaltes als gegenwärtig.[18] Da das Zukünftige sehr schnell zur Gegenwart wird und Gegenwart in die Vergangenheit sinkt, leben wir Gegenwart so, als ob es wirklich eine Gegenwart gäbe. Es scheint so, als sei die Gegenwart ein fiktionaler Punkt, der nur Vergangenheit und Zukunft voneinander trennt.[19] Wir leben in der Gegenwart mit etwas, das sofort vergangene Gegenwart wird. Es gibt sie nur dadurch, dass ich meinen Blick auf die Gegenwart richte, obschon sie wieder schon Vergangenheit geworden ist. Dieser Charakter der Gegenwart erinnert uns an die Zeitlehre von Aristoteles. Er benutzt nirgendwo das Wort „Gegenwart“, sondern bei ihm wird, wenn man so sagen darf, der Begriff Gegenwart durch das „Jetzt“ ersetzt. Das „Jetzt“ trennt, wie Diltheys Gegenwart, Vergangenheit von der Zukunft.[20] Zeit und Bewegung bedingen sich gegenseitig. Es ist offensichtlich, dass ohne Bewegung und Veränderung die Zeit nicht zu denken ist. „Dass somit Zeit nicht gleich Bewegung, andererseits aber auch nicht ohne Bewegung ist, leuchtet ein.“[21] Das Jetzt gehört zur Zeit, wie die Zeit zum Jetzt gehört, „[w]enn es einerseits Zeit nicht gäbe, gäbe es auch das Jetzt nicht, wenn es andererseits das Jetzt nicht gäbe, dann auch die Zeit nicht.“[22] Eine andere Parallelität zwischen Diltheys und Aristoteles’ Zeitlehre besteht darin, dass die Zeit überall dieselbe ist (objektive Zeit bei Dilthey). Wenn man aber vom Jetzt (Gegenwart) aus Vergangenheit und Zukunft betrachtet, ist die Zeit nicht mehr dieselbe. „Und sie (die Zeit) ist überall am gleichen Zeitpunkt dieselbe; in ihrem ‚davor’ und ‚danach’ betrachtet ist sie jedoch nicht dieselbe, weil ja auch der Wandel, als dieser gegenwärtige, ein einheitlicher ist, hingegen der vergangene und zukünftige (Zustand) verschieden.“[23] Das Jetzt trennt bei Aristoteles nicht nur als Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft, sondern hält diese auch zusammen. Das Jetzt hat zwei Funktionen: Es ermöglicht die Teilung der Zeit in Vergangenheit und Zukunft und zieht eine Grenze zwischen beiden und gewährt so ihre Einheit.[24] Die Zeit hört nie auf; sie ist ja immer am Anfang. Das Jetzt als Übergangsbrücke ist nach Vergangenheit Ende, und nach bevorstehender Zukunft ein Anfang. Deswegen müssen auch „früher“ und „später“ durch das „Jetzt“ verstanden werden, weil wir „früher“ oder „später“ gemäß dem Abstand vom Jetzt sagen. „Wozu das Jetzt gehört, dazu gehört auch die Entfernung vom Jetzt.“[25]

Dilthey charakterisiert Gegenwart als Heranrücken in der Sukzession. Dieser fortrückende Charakter der Gegenwart, der auch der Erfüllung des Zeitmomentes mit Realität zugehört, geht bis dahin weiter, wobei deren Kontinuität z. B. im Schlaf oder andern Zuständen verwandelt, abgebrochen wird. Mit der Aufeinanderfolge der Erlebnisse bildet die Gegenwart eine enge Verbundenheit mit der Zukunft. Gegenwart jagt sozusagen durch ihr Fortrücken die Erlebnisse der Zukunft. „Dieses Fortrücken der Gegenwart in der Zeit ist die Tatsache, welche aus keinem Ordnungssystem eines inneren Sinnes erklärt werden kann.“(XIX, 211) Ein Vorgang, der schon gewesen ist, „verliert sich abtropfend gleichsam in die See der Vergangenheit (...); nach vorn wird ein Erwartetes, Zukünftiges Gegenwart.“ (Ebd.) Zukünftige Gegenwart bedeutet die Abhängigkeit der Zukunft von der Gegenwart. Es gibt Zukunft nur deshalb, weil es denjenigen gibt, der in der Gegenwart etwas hofft, sich so oder so fühlt, etwas will usw. Deswegen wird Gegenwart bei Dilthey als Lebenszustand definiert, „der sich in Aufmerken, Fühlen und Wollen äußert.“ (Ebd.)

Da die Zeit immer mit dem Erlebnis zusammengedacht werden soll, ist dieser Erlebnisbezug mit der Zeit durch ein Bedingungssystem, das in unserem Vorstellen gegründet wäre, zu rechtfertigen. Damit zusammenhängend kann das Fortrücken der Gegenwart, das an diesem fundamentalen Lebensverhältnis auftritt, nicht als ein dem Vorstellen gegenüberstehender Teil eines Ordnungssystems gedacht werden. Das Fortrücken der Gegenwart ist durch ein äußeres System nicht zu erklären, weil es einen inneren Tatbestand hat.[26] Es könnte vielmehr als Symbol unseres Bewusstseins, das nicht nur gegenwärtiges, sondern auch vergangenes und zukünftiges Verhältnis hat, gedacht werden. Durch die Gegenwart gewinnt die Zeit verschiedene Verhältnisse zu Vergangenheit und Zukunft, „welches zwischen Erinnertem, Erlebtem und Geplantem bestünde und das Fortrücken der Gegenwart in der Zeit zur Folge hätte.“ (XIX, 214) Da das Ordnungssystem unabhängig von uns besteht, wird von ihm aus dem einzelnen Tatbestand in mir der Wert von Gegenwart zugeteilt. Die Beurteilung der Tatbestände als negativ oder positiv gehört dem Wesen der Gegenwart an. „Gegenwart ist ein unmittelbares Erleben.“ (Ebd.)

Die Gegenwart und Vergangenheit sind nicht voneinander zu lösen. Die vergangenen Erlebnisse sind gar nicht ganz vergangen und deswegen werden sie nicht als verloren gedacht. Die Vergangenheit reicht durch die Erinnerung in die Gegenwart hinein. „Hierzu kommt, dass der Zusammenhang des Erinnerten mit dem Gegenwärtigen, der Fortbestand der qualitativ bestimmten Realität, das Fortwirken des Vergangenen, als Kraft in der Gegenwart dem Erinnerten einen eigenen Charakter von Präsenz mitteilt.“ (VII, 73)

Die Präsenz ist das Einbezogenwerden von Vergangenem in unser Erleben.[27] In diesem Zusammenhang deutet Dilthey an, dass die lebendige Gegenwart als gegenwärtig mehr und anderes ist als die Vorstellung eines bloßen Zeitpunkts. Man hat gleich ein Ganzes gegenwärtig, zu dem auch Vergangenheit und Zukunft mitgehört. Dilthey erklärt diese Beziehung so: „im Leben umschließt die Gegenwart die Vorstellung von der Vergangenheit in der Erinnerung und die von der Zukunft in der Phantasie, die ihren Möglichkeiten nachgeht, und in der Aktivität, welche unter diese Möglichkeiten sich Zwecke setzt. So ist die Gegenwart von Vergangenheiten erfüllt und trägt die Zukunft in sich.“ (VII, 232) Dieser Präsenzcharakter eines Teiles der Vergangenheit darf nicht als ein formales Wesen der Zeit betrachtet werden, weil das Wesen der Zeit als Form von seinen besonderen Inhalten nicht losgelöst werden kann. Das in der Präsenz Gegenwärtige ist immer bedingt durch den Inhalt des Erlebens selbst, der immer eine einheitliche Bedeutung hat. Das in der Präsenz gleichzeitig Gegenwärtige gliedert sich mit der Bedeutung zu einer Einheit: dem Erlebnis. Das Erlebnis enthält in sich als Teil die ganze Fülle des Lebensverlaufs selbst und darf nicht durch falsche Konstruktionen geschmälert werden (vgl. VI, 314 ).

Damit gewinnt hier die konkrete (wirkliche) Zeit ihren wesentlichen Unterschied gegenüber den formalen Zeitbestimmungen. In der konkreten Zeit gibt es keinen strukturlos gleichmäßigen Ablauf, sondern sie enthält in sich eine innere Gliederung (Erlebnisse).

Damit kommen wir zur Vergangenheit, dem zweiten Zeitmoment, dem Dilthey einen Vorrang gegenüber den anderen zugeschrieben hat.

3.2. Vergangenheit

Die Zeit fließt in die Gegenwart. Dies ist ein Zeitfluss „in welchem das Gegenwärtige immerfort Vergangenheit wird und das Zukünftige Gegenwart.“ (VII, 193) Das rastlose Vorrücken der Gegenwart ist sozusagen ein rastloses Vorrücken in Vergangenheit, weil das Gegenwärtige immerfort Vergangenheit wird. Vergangenheit besteht eigentlich aus der Gegenwart; wenn es kein rastloses Vorrücken der Gegenwart gäbe, gäbe es auch keine Vergangenheit. Sie hängt von der Gegenwart ab, weil sie schon erlebte Gegenwart ist. „Die Vorstellungen, in denen wir Vergangenheit und Zukunft besitzen, sind nur da für den in der Gegenwart Lebenden.“ (VII, 193)

Im Gegensatz zum Erlebnis in der Gegenwart schreibt Dilthey der Vergangenheit die „Erinnerung“ zu. Nur durch die Erinnerung kann man Vergangenheit erleben. Vergangenheit gehört zum Bereich, der schon „gewesen“ ist, er ist, von der Gegenwart aus betrachtet, nicht mehr zu verändern. „Wenn wir auf die Vergangenheit zurückblicken, verhalten wir uns passiv; sie ist das Unabänderliche; vergebens rüttelt der durch sie bestimmte Mensch an ihr in Träumen.“ (VII, 193) Das Verhalten der Menschen gegenüber der Vergangenheit ist nicht nur passiv, sondern auch bereuend. Man hört immer, dass man im Hinblick auf die Vergangenheit wegen seiner Taten Reue empfinden. Ich hätte eigentlich dieses oder jenes tun sollen, anstatt so gehandelt zu haben. Die Unabänderlichkeit der Vergangenheit lehrt den Menschen seine existenzielle Schwäche.

Im Hinblick auf Vergangenheit sind die Bewusstseinszustände von Erlebnissen anders als in Hinsicht auf Gegenwart und Zukunft. Wenn ich z. B. wegen des Todes einer Bekannten trauere, wird das gegenwärtige Erlebnis (Trauer) anders erlebt als nach einem Monat in der Erinnerung dieses Todesfalls (als vergangene Trauer), was wieder etwas anderes ist als die Vorstellung des zukünftigen Todes einer Bekannten. Alle drei Erlebnisse werden vom Ich grundsätzlich anders erlebt und deshalb hat das Ich von ein und derselben Begebenheit (Tod) verschiedene Bewusstseinszustände. So nimmt etwa die Trauer mit dem Vergehen der Zeit immer mehr ab und die Erlebnisse geraten in Vergessenheit. Daher sind die Teile der mit der Realität erfüllten Zeit „nicht nur qualitativ voneinander unterschieden, sondern wenn wir von der Gegenwart aus rückwärts auf Vergangenheit blicken und vorwärts auf Zukunft, so hat jeder Teil des Flusses der Zeit, abgesehen von dem, was in ihm auftritt, einen verschiedenen Charakter.“ (VII, 193) Durch die Erinnerung aufgerufene Bilder sind abgestuft durch eigene Interessen, selbst gegebene Bedeutung oder durch das Zeitvergehen, die von der Gegenwart aus bis ins erste Erinnerungsbild hineinreichen. Von erfüllter Gegenwart aus vorgestellte zukünftige Möglichkeiten, die unendlich und unbestimmt sind, haben einen anderen Charakter als Vergangenheit und Gegenwart.[28] Je zeitlicher etwas ist, desto geringer wird seine Bedeutung. Anders gesagt, etwas verliert seine Bedeutung mit zunehmenden Vergehen der Zeit.

Wenn es bei Dilthey um das Verstehen des Lebens geht, gewinnt die Vergangenheit eine ausgezeichnete Stelle vor Gegenwart und Zukunft. Die Bedeutung des eigenen Lebens baut sich erst durch die Erinnerung auf. Man erinnert sich nicht an alles, was man bisher erlebt hat, sondern nur an für einen selbst Bedeutungsvolles. „Die Bedeutung ist uns nur in der Erinnerung zugänglich, durch die wir die abgelaufenen Strecken des Lebensverlaufes zusammen erfassen.“[29] Dilthey geht vom Vorrang der Bedeutung als Lebenskategorie aus, weil eine Erfassung des Lebens als eines Gesamtzusammenhanges nur durch die Bedeutung möglich ist (vgl. VII, 233). Der Vorrang der Bedeutung ist als der Vorrang der Vergangenheit zu verstehen, weil die Bedeutung die Kategorie der Erinnerung ist. Der Sinn eines Lebens ist nur rückblickend abzulesen. In der Vergangenheit einen Vorrang vor den anderen Zeitdimensionen zu sehen, erinnert an Hegels Zeitlehre. Hegel legt großen Wert auf die Erinnerung im Zusammenhang mit der Vergangenheit[30] und betont wie Dilthey die Wichtigkeit der Vergangenheit im Zusammenhang mit der Geschichte.[31] In diesem Sinne sollte man hier auf die Rolle der Vergangenheit bei Bergson hinweisen (vgl. IV. Kapitel, 6.1. Vergangenheit).

Wenn man etwas erinnert, taucht zuerst die Bedeutung auf. Obwohl die Bedeutung die umfassende Kategorie ist, unter welcher das Leben auffassbar wird, kann sie nur von der Vergangenheit her verstanden werden. Durch eine solche zeitliche Interpretation der Kategorien des Verstehens ergibt sich, dass der Einzelne nie in der Lage sein wird, sein eigenes Leben so gut wie das anderer verstehen zu können, weil er sich immer „mitten drin“ in seinem eigenen Leben befindet. Aus diesem Grund kann er nur seine Vergangenheit verstehen, weil seine Gegenwart und Zukunft noch unklar und unentschieden sind. Solange man lebt, wird die Vergangenheit nie abgeschlossen, müsste man „das Ende des Lebenslaufs abwarten und könnte in der Todesstunde erst das Ganze überschauen, von dem aus die Beziehung seiner Teile feststellbar wäre“ (VII, 233). Es ist umstritten, ob man in der Todesstunde seine Vergangenheit anders als bisher bewerten könne, ob man wirklich noch in der Todesstunde eine rationale Denkfähigkeit haben könnte. Anstatt die Todesstunde abzuwarten, wie Dilthey vorschlägt, um den eigenen Lebensverlauf verstehen zu können, sollte man mit gesunder Vernunft vor der Todesstunde seinen eigenen Lebensverlauf zu verstehen versuchen.[32]

[...]


[1] Vgl. Prigogine, I.: Vom Sein zum Werden. Zeit und Komplexität in die Naturwissenschaften, München 19794 , S. 13f.

[2] Dilthey beschäftigt sich mit seiner Zeitanalyse in Band VII, S. 72-75, 192-196, und Band XIX, S. 210-222. Es ist bemerkenswert, dass er in seiner Philosophie der Analyse der Zeit so wenig Aufmerksamkeit gewidmet hat.

[3] Das Leben wird durch Zeit, Raum und Wechselwirkungsrelationen bestimmt und strukturiert. „Dieses Leben ist immer und überall örtlich und zeitlich bestimmt - lokalisiert gleichsam in der raumzeitlichen Ordnung der Abläufe an Lebenseinheiten. Hebt man aber das heraus, was überall und immer in der Sphäre der Menschenwelt stattfindet und als solches das örtlich und zeitlich bestimmte Geschehen möglich macht, nicht durch eine Abstraktion von diesem letzteren, sondern in einer Anschauung, die von diesem Ganzen in seinen immer und überall gleichen Eigenschaften zu den räumlich zeitlich differenzierten hinführt- dann entsteht der Begriff des Lebens, der die Grundlage für alle einzelnen Gestalten und Systeme, die an ihm auftreten, für unser Erleben, Verstehen, Ausdrücken und vergleichendes Betrachten derselben enthält.“ ( V, 229)

[4] T. Bodammer macht auf häufig anzutreffende Missverständnisse in den Interpretationen der Lebensphilosophie Diltheys aufmerksam. „Diltheys Redeweise vom Leben ist besonders missverständlich; auch der Verdacht eines mythisierenden, biologistischen oder vitalistischen Irrationalismus haftet ihr an (vgl. Lukács 1962). Doch zu Unrecht! Dilthey schränkt das Wort in seiner Bedeutung ausdrücklich auf die geschichtlich-gesellschaftliche ‚Menschenwelt’ ein: ‚Leben’ – das ist ‚der Zusammenhang der unter den Bedingungen der äußeren Welt stehenden Wechselwirkungen zwischen Personen’ (Dilthey, VII, 228). Im gleichen, ‚interpersonalen’ Sinn kann ‚Leben’ auch als ein ‚das menschliche Geschlecht umfassender Zusammenhang’ von Dilthey umschrieben werden (VII, 131). Gemeint ist ‚Leben’ hier offenbar als der gesellschaftliche und geschichtliche Funktions- und Strukturzusammenhang, in dem sich Menschen stets bereits handelnd und integrierend vorfinden und verstehen.“ Aus: Philosophie der Geisteswissenschaften, Freiburg/München 1987, S. 48-49.

[5] Dilthey geht vom Leben aus. Das Alltagsverständnis dagegen versucht von der Welt aus das Leben zu verstehen. Diese Einschätzung vertritt auch Karl Albert: Nach Dilthey führe der Weg „von der Deutung des Lebens zur Welt“ (VII, 291). Das Leben zeige sich im Erlebnis des Subjekts. Im Erleben erscheine das Leben, das über das einzelne hinausgeht. Albert verweist hier auf folgenden Text bei Dilthey: „Leben ist ein Teil des Lebens überhaupt“ (VII, 359). Allerdings müsse man klar machen, dass Dilthey „das Wort ‚Leben’ in einem zweifachen Sinn verwendet. Er kann das Leben des einzelnen Menschen meinen, aber auch das Leben schlechthin. Die Berechtigung für diesen Sprachgebrauch ergibt sich daraus, dass wir ja nicht nur in uns unser eigenes Leben erfahren, sondern zugleich, was Leben schlechthin ist. In dem Satz: ‚Leben ist ein Teil des Lebens überhaupt’, ist das erste ‚Leben’ als das individuelle Leben zu verstehen, das zweite ‚Leben’ als das universale Leben. (...) wenn [Dilthey] vom ‚Leben’ spricht, so meint er vor allem die Welt des Geistigen, die Welt der Kultur in ihren verschiedenen Bereichen: Philosophie, Kunst, Religion, Gesellschaft, Recht, Politik, Wissenschaft usw., kurz ‚die Menschenwelt’.“ Albert, K.: Lebensphilosophie, S. 78.

[6] Da Dilthey selbst davon überzeugt ist, dass die Geisteswissenschaften auf der Erfahrung beruhen, erwachsen sie aus der Auslegung der Selbsterfahrung des Lebens und – damit zusammenhängend – aus der „Tatsache des Lebens“, die die zeithaften Prozesse sind. Dilthey führt die These über die Realität der Zeit sowohl von einer Substanzphilosophie als auch von einer Philosophie des Selbstbewusstseins aus. Er vermeidet aber einen bloßen Relativismus und eine der traditionalen Zeitlehren, die die Zeit zum Abbild der Ewigkeit (Platon) macht oder durch die Behauptung der Phänomenalität der Zeit die Realität der Zeit vernachlässigen. In diesem Zusammenhang kritisiert Dilthey zum ersten Mal in seinen Logik-Vorlesungen der achtziger Jahre streng die Kantische Zeitlehre. Um die Realität der geistigen Welt rechtfertigen zu können, braucht man nach Dilthey „vor allem eine Kritik der Lehre Kants, welche die Zeit zu einer bloßen Erscheinung macht und damit das Leben selbst.“ (V, 5).

[7] Endlichkeit ist ein zeitlicher Begriff. Wir werden als endliches Wesen eines Tages nicht mehr da sein. Mit diesem unvermeidlichen Schicksal begegnen wir einer zukünftigen Gegenwart. Es ist aber wahr, dass diese existenziale Wahrheit des Menschen gar nicht vom Mensch wahrgenommen wird. Die Menschen schieben ihre Endlichkeit (Korruptibilität) auf die Anderen, was Heidegger mit der „Man“ - Sphäre meinte, obwohl sie innerlich ganz genau wissen, dass sie in einer zukünftigen Gegenwart nicht mehr existieren werden. Der einzelne Mensch wird in einer Gegenwart Vergangenheit sein. Vgl. Bollnow, O-F.: Dilthey, S. 93 f.

[8] Dilthey schildert diese Verknüpfung folgendermaßen: „Wir erfassen die Bedeutung eines Momentes der Vergangenheit. Er ist bedeutsam, insofern in ihm eine Bindung für die Zukunft durch die Tat oder ein äußeres Ereignis sich vollzog. Oder sofern der Plan künftiger Lebensführung erfasst wurde. Oder sofern ein solcher Plan seiner Realisierung entgegengeführt wurde. Oder er ist für das Gesamtleben bedeutsam, sofern das Eingreifen des Individuums in dieses sich vollzog, in welchem sein eigenstes Wesen in die Gestaltung der Menschheit eingriff. In allen diesen und anderen Fällen hat der einzelne Moment Bedeutung durch seinen Zusammenhang von Vergangenheit und Zukunft, von Einzeldasein und Menschheit.“ (VII, 233)

[9] Dilthey meint damit den Wirkungszusammenhang, der eine Verknüpfung zwischen Bedeutung und Wirkung ist. Man erkennt erst aus der Wirkung die Bedeutung. Die Bedeutung wird dem Erlebnis nur zugesprochen, indem es im weiteren Leben eine Wirkung ausgeübt hat. Ein Erlebnis ist bedeutsam, insofern es das spätere Leben bestimmt. Hier ergibt sich eine am Einzelleben entwickelte Bestimmung des Bedeutungszusammenhangs in Verbindung mit der anderen Bestimmung als Wirkungszusammenhang.

[10] „Hierzu kommt, dass der Zusammenhang des Erinnerten mit dem Gegenwärtigen, der Fortbestand der qualitativ bestimmten Realität, das Fortwirken des Vergangenen als Kraft in der Gegenwart dem Erinnerten einen eigenen Charakter von Präsenz mitteilt.“ (VII, 73)

[11] H-U. Lessing betont die Mängel der Diltheyschen Zeitanalyse in Bezug auf die innere Erfahrung. Er stellt aber fest, dass trotz dieser Mängel Diltheys Bemühung um die erkenntnistheoretisch-logisch-methodologische Begründung der Geisteswissenschaften für die Philosophie des 20. Jahrhunderts sehr einflussreich ist. „Obwohl (...) wichtige Teile der ‚Kritik der historischen Vernunft‘, wie z. B. die zur erkenntnistheoretischen Grundlegung gehörigen Analysen der inneren Erfahrung und der Zeit, nicht ausgearbeitet bzw., wie bei der Logik und Methodologie nur teilweise erarbeitet sind, hat sich Diltheys Versuch einer erkenntnistheoretisch-logisch-methodologischen Grundlegung der Geisteswissenschaften als ein Programm von großer Virulenz und Tragweite erwiesen.“ Dilthey, W.: Texte zur Kritik der historischen Vernunft, hrsg. v. H-U. Lessing, in der Einleitung, S. 23.

[12] Vgl. Jatzkowski, T.: Die Theorie des kulturell-historischen Verstehens bei W. Dilthey und G. Simmel, Herdecke 1998, S. 217.

[13] „Ein neuer Zug des Lebens wird nun sichtbar, der von der Zeit bedingt ist, aber als ein Neues über sie hinausgeht. Das Leben wird in seinem Eigenwesen durch Kategorien verstanden, welche dem Erkennen der Natur fremd sind. Auch hier liegt das entscheidende Moment darin, dass diese Kategorien nicht a priori auf das Leben als ein ihm Fremdes angewandt werden, sondern dass sie im Wesen des Lebens selber liegen.“ (VII, 232.)

[14] „Wir verstehen das Leben nur in einer beständigen Annäherung; und zwar liegt es in der Natur des Verstehens <und> in der Natur des Lebens, dass dasselbe auf den verschiedenen Standpunkten, in welchen sein Zeitverlauf aufgefasst wird, ganz verschiedene Seiten uns zeigt. In der Erinnerung (wenn wir erinnern), tut sich zuerst die Kategorie der Bedeutung auf. Jede Gegenwart ist von Realität erfüllt. Dieser aber schreiben wir einen positiven oder negativen Wert zu. Und wie wir der Zukunft uns entgegenstrecken, entstehen die Kategorien des Zwecks, des Ideals, der Gestaltung des Lebens.“ (VII, 236)

[15] Menschliches Dasein und die Zeit sind untrennbar miteinander verbunden, jedoch bleibt die Frage spannend, ob die Zeit vor dem Mensch da war und somit vom Menschen unabhängig ist, ob sie so wie der Mensch erst von einer ‚äußeren’ Kraft geschaffen wurde oder ob sie erst mit und durch den Menschen als eine jeweilige Perspektive auf die Welt entstand. Trotz der vielen ungelösten Fragen ist es sicher, dass wir zeitliche Wesen sind, uns nicht von der Zeit befreien können. Die Zeitlichkeit ist eine existenziale Grundbestimmung des Menschen.

Augustinus beschäftigt sich mit dieser Frage im „Vom Gottesstaat“, 12. Buch, und vertritt dort das Nicht-Gleich-Ewigsein der Zeit mit dem Gott (vgl. Bd. II, S. 89-90).

[16] R. A. Makreel: zeigt einige Ähnlichkeit von Bergsons Zeitauffassung mit Dilthey aufgrund der Unermesslichkeit der Zeit. Beide sind gegen die Zeitauffassung der praktizierenden Wissenschaftler. Er zeigt aber gleichzeitig die Andersartigkeit beider Philosophen: „Bergson hatte den praktizierenden Wissenschaftler heftig angegriffen, der die Beweglichkeit der Zeit anhand von Punkten verfolgt, durch welche ein Gegenstand sich bewegt. Aber gerade weil dies so offensichtlich unangemessen ist, scheint Dilthey Bergsons Anliegen nicht zu teilen. Eine solche Geometrisierung von Zeit stellt für Dilthey kein philosophisches Problem dar. Sie ist lediglich ein hypothetischer Notbehelf.“ Aus: Dilthey. Philosoph der Geisteswissenschaften, Franfurt a/ M. 1991, S. 436-437.

[17] „Dies beständige Versinken des Gegenwärtigen rückwärts in ein Vergangenes und zu–Gegenwart–Werden dessen, was wir eben noch erwartet, gewollt, gefürchtet haben, das auch nur in der Region des Vorgestellten war - das ist der Charakter der wirklichen Zeit.“ (VII, 72)

[18] Vgl. Makreel, R. A.: Dilthey, S. 438.

[19] K. Albert stellt dies folgendermaßen fest: „die Einsicht, dass man zwar die Gegenwart abstrakt mathematisch von außen her bestimmen kann, gewissermaßen als einen Punkt der Vergangenheit und Zukunft trennt, dass aber Gegenwart niemals so erlebt wird.“ Aus: Lebensphilosophie, S. 83.

[20] Aristoteles beschäftigt sich mit der Zeit in Physik, Buch IV, Kapital 10. Er sagt: „[w]as das ‚Jetzt’ angeht, welches augenscheinlich Vergangenes und Zukünftiges trennt, so ist nicht leicht zu sehen, ob es die ganze Zeit hindurch immer ein und dasselbe bleibt, oder ob es immer wieder ein anderes wird.“ Aus: Physik IV 11, 218a 3-10.

[21] Ebd., 218b 25-30.

[22] Ebd., 220a 1-5.

[23] Ebd. IV 12, 220b 5-10.

[24] Aristoteles stellt fest: „Das Jetzt bildet den Zusammenhang von Zeit (...); es hält ja die vergangene und zukünftige Zeit zusammen. Und es ist auch die Grenze von Zeit, stellt es doch des einen Anfang, des anderen Ende dar, nur ist dies nicht so sichtbar wie bei dem Punkt, der ja bleibt. Es teilt der Möglichkeit nach; und sofern es diese Eigenschaft zeigt, ist das Jetzt immer ein anderes, insofern es dagegen zusammenknüpft, ist es immer dasselbe – wie bei den mathematischen Linien: der je angenommene Punkt ist für das Denken nicht derselbe; für den, der die Linie teilt, ist es immer ein anderer Punkt; insofern es aber ein einziger Punkt ist, ist er überall derselbe. “ Aus: Physik IV 12, 222a 10-15.

[25] Ebd., 223a 1-5.

[26] Dilthey nimmt die Zeit nicht als Ordnungssystem an. In Band XIX sagt er: „Nehmen wir an, die Zeit sei ein Ordnungssystem, das in den Bedingungen eines Nichtzeitlichen gegründet wäre, so zeigt sich sofort die Unmöglichkeit, eine solche Ansicht durchzuführen.“ (XIX, 214)

[27] „Unter anderen Momenten teilt das Fortwirken des Vergangenen als Kraft in der Gegenwart, die Bedeutung desselben für sie, dem Erinnerten einen eigenen Charakter von Präsenz mit, durch die es in die Gegenwart einbezogen wird.“ (VII, 194 )

[28] Dilthey erläutert dies mit einem Beispiel: „Rückwärts die Reihe der nach Bewusstseinswert und Gefühlsanteil abgestuften Erinnerungsbilder: ähnlich wie eine Reihe von Häusern oder Bäumen sich in die ferne verliert, verkleinert, so stuft sich in dieser Erinnerungslinie der Grad der Erinnerungsfrische ab, bis sich am Horizont der Bilder im Dunkeln verlieren und je mehr Glieder vorwärts zwischen der erfüllten Gegenwart und einem Momente der Zukunft liegen, Gemütszustände, äußere Vorgänge, Mittel, Zwe>

[29] Carr, D.: Zukünftige Vergangenheit, in: Dilthey und die Philosophie der Gegenwart, Freiburg 1985, S. 425.

[30] Hegel verdeutlicht die Wichtigkeit der Erinnerung mit folgenden Sätzen: „Aber die Erinnerung hat sie [Geistesgestalt] aufbewahrt und ist das Innere und die in der Tat höhere Form der Substanz.“ Aus: Phänomenologie des Geistes, Theorie- Werkausgabe, Bd. 3, Frankfurt 1969, S. 591.

[31] Hegel sagt darüber in Vorlesungen über die Philosophie der Religion II: „So ist die göttliche Geschichte zweitens als Erscheinung, ist als Vergangenheit; sie ist, hat Sein, aber ein Sein, das zum Schein herabgesetzt ist. Als Erscheinung ist sie unmittelbares Dasein, das auch zugleich negiert ist; dies ist Vergangenheit. Die göttliche Geschichte ist so als Vergangenheit, als die (eigentliche Geschichte ).“ Aus: Theorie-Werkausgabe Bd. 17, S. 215.

[32] Diese Feststellung Diltheys erinnert an die Glückseligkeitslehre Aristoteles’. Er erörtert es in der Nikomachischen Ethik im 1. Buch. Dort geht es um die Frage, wodurch man glücklich sein kann. Da die Glückseligkeit nur einem ganzen Leben zugeschrieben werden kann, kann man nicht sagen, ob man glücklich ist, bevor man stirbt. „Sollen wir nun auch sonst keinen Menschen glücklich nennen, solange er lebt, sondern auch nach dem Ausspruche des Salon sein Ende abwarten? Und wenn dies gelten soll, wäre der Mensch vielleicht auch dann glückselig zu nennen und auch Salon es so nicht meint, sondern nur, dass man erst dann einen Menschen mit Sicherheit glücklich nennen kann, weil er dann allem Übel und Ungemach enthoben ist, so hat auch das Bedenken (...). Soll man wirklich das Ende abwarten müssen und dann erst einen Menschen glücklich preisen dürfen, nicht als wäre er es dann, sondern weil er es vorher war, wie wäre es da nicht ungereimt, dass zur Zeit seines Glückes dieses Wirkliche nicht mit Wahrheit von ihm ausgesagt werden kann, weil man die Lebenden wegen der Wechselfälle des Schicksals nicht glücklich preisen mag, und weil die Glückseligkeit für etwas Bleibendes und sehr schwer Wandelbares gilt, während die Geschicke sich oft bei denselben Menschen im Kreise bewegen?“ Aristoteles: Nikomachischen Ethik, Buch 1, hrsg. von G. Bien, Hamburg 1972, S. 18-19.

Excerpt out of 74 pages

Details

Title
DIE GELEBTE ZEIT - Dilthey’s Auffassung von der Zeit und seine Kritik an Kant’s Zeitlehre
College
Erciyes University
Author
Year
2009
Pages
74
Catalog Number
V125692
ISBN (eBook)
9783640312955
ISBN (Book)
9783640316816
File size
806 KB
Language
German
Keywords
GELEBTE, ZEIT, Dilthey’s, Auffassung, Zeit, Kritik, Kant’s, Zeitlehre
Quote paper
PD.Dr. Arslan Topakkaya (Author), 2009, DIE GELEBTE ZEIT - Dilthey’s Auffassung von der Zeit und seine Kritik an Kant’s Zeitlehre, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/125692

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