Liebe, Sprache und Kunst in der europäischen Wasserfrauenliteratur


Mémoire de Maîtrise, 2002

107 Pages, Note: 2


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Vorbemerkung zur Verwendung des Begriffs ‚Wasserfrau’

2. Liebe, Sprache, Kunst: Die thematischen Aspekte im einzelnen und in ihren Zusammenhängen
2.1 Kunst, Sprache, Liebe: Zusammenhänge
2.2 Der Aspekt ‚Kunst’ in Bezug zur Wasserfrau
2.3 Zur Kunstfigur Undine/Wasserfrau
2.3.1 Zur Entstehung der zentralen Wasserfrauenfigur der Undine in der Romantik
2.3.2 Wasser als imaginärer Raum und die Wasserfrau als aquatische Muse
2.3.3 Grenzfigur Wasserfrau
2.4 Pygmalion und die Wasserfrauen
2.5 Der Aspekt ‚Sprache’ in der Wasserfrauenliteratur
2.6 Das Phänomen ‚Liebe’ in der Wasserfrauenliteratur
2.6.1 Liebe – eine Erfahrungsmodalität der Erkenntnis
2.6.2 Liebe als Kommunikationsform und Sprache
2.6.3 Utopisches Moment der Liebe: Wandlung und Belebung durch Liebe
2.6.4 Liebe als Fiktion und Mythos

3. Textanalysen vor dem Hintergrund der Aspekte von Liebe, Sprache und Kunst
3.1 Friedrich de la Motte Fouqués „Undine“ – Integration von Poesie in die Gesellschaft durch Liebe?
3.2 Hans Christian Andersens „Die kleine Seejungfrau“ – Erzählung bewegt
3.2.1 Exkurs: ‚Mignon’ als Kunstfigur und Parallele zur Kunstfigur der Wasserfrau
3.2.2 „Die kleine Seejungfrau“
3.3 Oscar Wildes „Der Fischer und seine Seele“ – Kunstliebe und Sprache
als Verführungsinstrument
3.4 Jean Giraudoux’ „Undine“ – Kunst und Liebe als ‚wahre’ Illusion
3.5 Ingeborg Bachmanns „Undine geht“ – Utopien von Sprache und Liebe

4. Schluß

Literaturliste

1. Einleitung

Der mythische Kern des Wasserfrauenstoffes, die Begegnung von Wasserfrau und Mensch, fasziniert schon seit der Antike bis in die heutige Zeit hinein und wird daher in Kunst und Literatur in den unterschiedlichsten Variationen und Bearbeitungen immer wieder thematisiert.

Die andauernde Attraktion des Stoffes liegt sicherlich auch darin begründet, daß er eine Ansammlung von essentiellen Sehnsüchten und Phantasien, utopischen Hoffnungen und Ängsten des Menschen beherbergt und dessen Darstellung ermöglicht. Entsprechend wird die Wasserfrau auch immer wieder als Inkarnation der Liebe, Kunst, Tod, als Wunschprojektionsfläche und „als Platzhalter für alle reinen Größen“[1] bezeichnet.

Da es sich dabei aber immer auch um eine Beziehung zwischen einer Wasser frau und einem Menschen mann handelt, hat sich nicht zuletzt deshalb auch die feministische Literaturwissenschaft dieser Literaturrichtung angenommen, weil sie in ihr einen Schauplatz insbesondere von männlichen Phantasien, Ängsten und Wunschbildern vertreten sieht, infolgedessen die Figur der Wasserfrau geradezu als Paradebeispiel für männliche Projektionen und imaginierte Weiblichkeitsbilder gilt.

Zu diesem Themenschwerpunkt liegen daher bereits eine Vielzahl von Arbeiten und Untersuchungen vor, so daß die vorliegende Arbeit aus diesem Grund nicht als ein weiterer Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Frauenforschung beabsichtigt ist. Zudem geht „[d]ie Darstellung einer solchen Liebesbeziehung [...] in jedem Fall über die Beschreibung einer menschlichen Liebesbeziehung hinaus“[2] und läßt sich daher nicht auf diese reduzieren. Denn die Besonderheit der Liebeskonstellation zwischen Mensch und Wasserfrau ist durch eine Ungleichheit beider Partner gekennzeichnet, die zum einen die Verbindung zu einem phantastischem Wesen schon an sich als utopisch ausweist und zum anderen die Wasserfrau als übernatürliches Geschöpf zur Repräsentantin und Trägerin von Utopien in den Vordergrund rückt.

Die vorliegende Arbeit will sich daher unabhängig von der Geschlechterproblematik den utopischen Momenten in der europäischen Wasserfrauenliteratur widmen, die über das Dreieck der Aspekte Liebe, Sprache und Kunst in Erscheinung treten. Dabei soll versucht werden zu zeigen, daß in der Wasserfrauenliteratur Utopien der absoluten Liebe und Formen eines nicht entfremdeten Daseins entworfen und dargestellt werden, die zugleich auch immer im Zusammenhang mit Kunst und Literatur stehen. Daher werden anhand den Texten auch das Verhältnis von Autor/Künstler und Mensch zur Kunst und Sprache, bzw. ob und wie Kunst und Leben miteinander vereinbar sind, verhandelt und der Frage nachgegangen, inwiefern Kunst und Sprache eine Rolle bei der Verwirklichung von Utopien spielen können.

Zu diesem Zweck ist die Arbeit in einen theoretischen und in einen darauf folgenden analytischen Hauptteil gegliedert. Im ersten Teil der Arbeit sollen die Aspekte Liebe, Sprache und Kunst jeweils im einzelnen näher beleuchtet und ihre Bezüge zueinander aufgezeigt werden, um auf diese Weise den Hintergrund und Ausgangspunkt für die Textanalysen im zweiten Teil zu bilden. Anhand dieser Textanalysen sollen die abstrakten und theoretischen Aussagen und Erörterungen zu den Aspekten Liebe, Sprache, Kunst exemplarisch an ausgewählten zentralen Texten der Wasserfrauenliteratur konkretisiert werden. Bei der Literatur handelt es sich um eine Auswahl aus dem europäischen Raum, wobei sich die Ausweitung über den deutschen Sprachraum hinaus aus der Internationalität des Phänomens ergibt. Die Textgrundlage für meine Arbeit bilden daher Friedrich de la Motte Fouqués „Undine“ (1811), Hans Christian Andersens „Die kleine Seejungfrau“ (1837), Oscar Wildes „Der Fischer und seine Seele“ (1891), Jean Giraudoux’ „Undine“ (1938/39) und Ingeborg Bachmanns „Undine geht“ (1961).

1.1 Vorbemerkung zur Verwendung des Begriffs ‚Wasserfrau’

Da sich die vorliegende Arbeit auf eine Auswahl der europäischen Wasserfrauenliteratur bezieht, der Großteil davon aber explizit auf die Gattung der ‚Undinen’ rekurriert, ist zur Definition der ‚Wasserfrau’ im nachfolgenden noch anzumerken, daß die im weiteren gebrauchten Bezeichnungen ‚Undine’ bzw. ‚Wasserfrau’ teilweise gleichbedeutend für Nixen, Sirenen, Undinen und Wasserfrauen verwendet werden.

Denn trotz der Unterschiede zwischen dem auf der einen Seite sehr speziellen Begriff ‚Undinen’ und der sehr allgemeinumfassenden Bezeichnung ‚Wasserfrau’, die z.B. auch das Wasserfrauengeschlecht der Melusinen mit einbezieht, werden die auszuführenden Feststellungen in den allgemeineren Abschnitten weder in Bezug zu den ‚Undinen’ bei Fouqué, Giraudoux und Bachmann, noch bei den namenlosen Nixen bei Andersen und Wilde im wesentlichen durch die vorhandenen Verschiedenheiten verändert, wie sich im Verlauf der Arbeit zeigen soll. Die nötigen Differenzierungen sollen daher an gegebener Stelle bei den Einzelanalysen der Texte ergänzend aufgegriffen und dargelegt werden.

2. Liebe, Sprache, Kunst: Die thematischen Aspekte im einzelnen und in ihren Zusammenhängen

2.1 Kunst, Sprache, Liebe: Zusammenhänge

Um die Aspekte Kunst, Sprache und Liebe im nachfolgenden auf die Wasserfrauenliteratur anzuwenden, möchte ich zunächst kurz erläutern, inwieweit sie als zusammengehörig zu betrachten sind. Dabei bestehen die für meine Arbeit relevanten thematischen Zusammenhänge von Liebe, Sprache und Kunst hauptsächlich in dem utopischen Moment, das in ihnen Ausdruck findet und durch sie vermittelt wird.

Wie ich im weiteren Verlauf genauer zeigen werde, liegt die utopische Kraft der Liebe, Sprache und Kunst besonders in deren Eigenschaften zur Wirklichkeitserschaffung und -überschreitung, Grenzerweiterung und Bewußtseinsveränderung. Aus diesem Grund wird mit diesen Bereichen die Hoffnung auf eine nichtentfremdete Existenz verbunden, da sie mögliche Mittel darstellen, eine eigene die defizitäre und nutzorientierte Welt auf eine bessere ganzheitliche hin zu transzendieren oder ihr eine eigene vollkommenere Welt gegenüberzustellen, indem die poetische Sprache, künstlerische Imagination und der ‚andere Zustand’ der Liebe einen Raum erschaffen, der jenseits der rational begrifflichen Welt der Gesellschaft und des Alltags steht.

Die Beschränkungen aufhebende und befreiende Kraft utopischer Zustände birgt dennoch auch ein destruktives und isolierendes Element in sich, das einerseits eine gerade notwendige Eigenschaft darstellt, um eben erst befreiend wirken zu können, andererseits generell auch eine Gefährdung bedeuten kann. Der Bezug zur realen Welt kann durch totale Auflösung, Zertrümmerung oder Herauslösung aus bestehenden Ordnungen zerstört werden und in einen völligen Orientierungs- und Selbstverlust münden, dem häufig psychische Zerstörung in Form von Wahnsinn, oder auch physische Zerstörung (Tod) folgen.

Aus diesem Grund sind solche Utopien in der Realität nur in Ansätzen zu verwirklichen und finden ihren vollständigen Ausdruck nur in der Kunst, wobei aber auch dort oftmals zugleich ihr Scheitern dargestellt wird, wie es in der Wasserfrauenliteratur durch den strukturell angelegten Verrat, sowohl an bestehenden Ordnungen als auch an den Wasserfrauen, sichtbar wird.

Das Wort „Verrat“ [...] gehört ja auch seiner Natur nach zum Undine-Stoff. [...] Es wird Verrat geübt an der Ordnung um der Undine willen, und es wird Verrat geübt an Undine um der Ordnung willen.[3]

Der Mensch muß also immer wieder in sein Gesellschaft und Orientierung bietendes System zurückkehren, wenn er in letzter Konsequenz seiner Vernichtung entgehen will. Daher bleibt der utopische Zustand für ihn nur zeitlich begrenzt und momenthaft erfahrbar.

Auch wenn Utopien selbst nicht wirklich lebbar sind und als zum Scheitern verurteilt erscheinen, besteht ihre Wirkung und Sinn aber dennoch nicht nur darin, daß sie einen Moment der Erholung und der Belebung bieten, denn dann würden sie lediglich nur zur Stabilisierung der bestehenden Ordnung beitragen, sondern in dem Ermöglichen, in andere Wirklichkeitsbereiche vorzustoßen und dadurch ein verändertes Bewußtsein zu erreichen, welches wiederum dazu beitragen kann, die bestehende Ordnung zu verändern.

2.2 Der Aspekt ‚Kunst’ in Bezug zur Wasserfrau

In dem vielzitierten Ausschnitt aus einem Interview mit Ingeborg Bachmann wird die bachmannsche Undine mit der Kunst gleichgesetzt:

Die Undine ist keine Frau, auch kein Lebewesen, sondern, um es mit Büchner zu sagen, ‚die Kunst, ach die Kunst’. Und der Autor, in dem Fall ich, ist auf der anderen Seite zu suchen, also unter denen, die Hans genannt werden.[4]

Jedoch gilt diese Aussage nicht nur eingeschränkt für Bachmanns Undine, sondern auch für die Wasserfrauen von Fouqué, Andersen, Wilde und Giraudoux, denn es handelt sich dabei um eine Kunst, die den Menschen durch ihre Wirkung mittels der ihr eigenen Darstellungsmöglichkeiten, wie z.B. die poetische Sprache, für andere Daseinsformen und -realitäten über die alltägliche Normalität hinaus empfänglich machen und zugleich seine eigenen Ausdrucksmöglichkeiten erweitern oder verändern soll.

In der Wasserfrauenliteratur spiegelt sich daher ein Kunstverständnis wider, das die Kunst als das ganz ‚Andere’ jenseits der gesellschaftlichen Realität ansiedelt, das in seiner Wirksamkeit jedoch in der Lage ist, die trennenden Grenzen zu transzendieren und den Blick auf eine zwar nicht vorhandene, aber mögliche Welt eröffnet. Da Kunst mit sich selbst identisch ist[5] erlaubt sie auch dem Individuum, abseits der nutzorientierten produktiven Gesellschaft, im Reservat einer zweckfreien Zone, ein ganzheitliches und nichtentfremdetes Erleben, eine „Harmonie und ‚Koncinnität’, die das Leben, das Geschäft, die Politik nicht bieten können [...]“[6] Neben dieser befreienden Aufgabe liegen die utopischen Qualitäten in dem Offenbarungscharakter und der damit verbundenen sinnstiftenden Funktion von Kunst, die sich somit als Religionsersatz erweisen kann, da das Göttliche „im Rätsel der Natur, des Subjekts, in den Rätseln der Kunst und des Weiblichen“[7] aufscheint.

Sie [die Kunst, Natur, Weiblichkeit, Subjekt] alle sind materiell, bergen aber einen immateriellen Überschuß, der im Begriff des Göttlichen oder Okkulten gefaßt wird. So kann der vormals himmlische Trost im Irdischen gesucht werden. [...] In ihrem Okkulten offenbart sich genau wie in der Natur das, was unfaßbar bleiben muß und darum Gott heißt.[8]

In dem Hinausweisenden und auf das ‚Andere’ Zielende der Kunst wird das eigentlich Unfaßbare zur Anschauung gebracht. Kunst ist dabei aber nicht dieses Göttliche oder die Wahrheit selbst, sondern diese vermag nur am und durch das Medium Kunst sichtbar zu werden, welches auf diese Weise als Erkenntnismittel fungiert.[9]

Daher vollzieht sich das Erkennen über Kunst nur als ein mittelbares, denn ihr Wesen ist nicht das Unmittelbare, sondern nur ihr Gehalt, der durch sie aber „er-formt werden kann.“[10]

Kunst geht auf Wahrheit, ist sie nicht unmittelbar; insofern ist Wahrheit ihr Gehalt. Erkenntnis ist sie durch ihr Verhältnis zur Wahrheit; Kunst selbst erkennt sie, indem sie an ihr hervortritt. Weder ist sie als Erkenntnis diskursiv noch ihre Wahrheit die Widerspiegelung eines Objekts.[11]

Trotz ihrer Mittelbarkeit kann Kunst eine nicht diskursive und daher begriffslose Erkenntnisform darstellen, die aufgrund dessen zum Träger des begrifflich nicht darstellbaren Elements der Sehnsucht zu werden vermag, welches durch das in der Kunst aufscheinende utopische Moment und den damit sichtbar werdenden Mangel an der vorhandenen Realität deutlich wird. Sehnsucht ist dabei sowohl Produkt als auch Abbild des entstehenden Mangels, der aus der Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit herrührt. Insofern spiegelt das Phänomen der Sehnsucht zum einen die Verneinung und Kritik an der bestehenden Gesellschaft wider und zum anderen verweist sie in ihrem Verlangen, auf eine mögliche bessere, aber außerhalb liegende und damit unerreichbare Welt. Jedoch künden die Kunstwerke von diesem fernen Bereich und „deute[n] darauf, daß das Nichtseiende sein könnte. Die Wirklichkeit der Kunstwerke zeugt für die Möglichkeit des Möglichen.“[12]

Daher ist auch in der romantischen Kunstauffassung die Hoffnung auf Erlösung der Welt an die Kunst gebunden, eine Kunst, die Kraft der Imagination und schöpferischen Phantasie die mangelhafte Realität auf eine bessere hin transzendieren und mittels poetischer Durchdringung der hiesigen Welt auf das utopische Ziel einer befreiten und nichtentfremdeten hin annähern sollte.

Dazu war jedoch erst eine Kunst imstande, die aufgrund veränderter Bewertungskriterien eine Eigengesetzlichkeit zugeschrieben bekam, nach der Kunst nicht mehr nur an die Nachahmung der Natur gebunden war, sondern nach der sie als Ausdruck reiner Imaginationskraft des Künstlers der Natur als ebenbürtige und autonome Wirklichkeit gegenübergestellt werden konnte.

Die Distanzierung von der Realität und die gesellschaftliche Abseitigkeit neigt jedoch auch dazu, von der bürgerlichen Arbeitswelt und Gesellschaft zu entfremden. Als ästhetisches Phänomen vermag Kunst ein Versinken des Betrachters in der Anschauung herbeizuführen und ihn in eine ästhetische Gestimmtheit zu versetzen, die ihn von der nüchternen Realität entrückt. Diese Erfahrung und der Vergleich zwischen der vorhandenen Welt und dem utopischen Versprechen der Kunst kann das Ungenügen an der Realität zu einer Unerträglichkeit steigern, die eine unstillbare Sehnsucht nach dem ‚Anderen’ hervorruft und die im Falle des Verharrens in dieser Sehnsucht in eine hermetische Innerlichkeit und Isolation münden kann. Problematisch erweist sich auch eine mögliche Verwechslung von Kunst und Leben, die dadurch begünstigt wird, daß Kunst in der Gerafftheit der Zeit und Darstellung von Ereignissen jener Langweiligkeit und Weitläufigkeit des Lebens entbehrt und deshalb die Kunst einen Anschein von Lebendigkeit und Authentizität zugeschrieben bekommt, die das Leben selbst zu übertreffen scheint. Als eine mit der Realität verwechselbare Fiktion offenbart sich der in der Kunst innewohnende Illusionscharakter. Dadurch erscheint die Kunst als paradoxes Phänomen, indem sie einerseits auf Wahrheit verweist, andererseits in die Nähe von Zauberei und Täuschung rückt und insofern verdeutlicht wird, daß sie neben dem Potential der Erkenntnis auch das der Verblendung und Irreführung birgt.

Da die hier getroffenen Aussagen über Kunst in den von mir ausgewählten Texten anhand der Wasserfrauenfigur thematisiert werden, soll deshalb im nächsten Abschnitt die Gestalt und Funktion der Wasserfrau als Kunstfigur näher betrachtet werden.

2.3 Zur Kunstfigur Undine/Wasserfrau

In der Forschungsliteratur ist in Bezug auf Undinen/Wasserfrauen oftmals von Kunstprodukten[13], Kunstfiguren[14] die Rede, von Verkörperungen des Wunderbaren und des Phantastischen. Als Gestalt gewordene Imagination werden sie zu Vertretern der Kunst, Liebe und Literatur, die, weil sie dem Imaginären entstammen und in die Welt einzutreten vermögen, als Mittler zwischen diesen Sphären fungieren.

Ausgehend von einer kurzen Erläuterung der Entstehungsbedingungen und Eigenschaften der Fouquéschen Undine als ein zentraler Text der Wasserfrauenliteratur, dessen Wirkung bis ins 20. Jh. fortdauert, sollen in diesem Abschnitt die Aussagen der Forschungsliteratur aufgegriffen werden und die in den Wasserfrauenfiguren strukturell angelegten Merkmale und Bezüge zum Imaginären verdeutlicht und dadurch nachvollziehbar gemacht werden, wodurch sie sich im wesentlichen als Kunstfiguren auszeichnen.

2.3.1 Zur Entstehung der zentralen Wasserfrauenfigur der Undine in der Romantik

Fouqués „Undine“ geht auf Paracelsus’ Beschreibung der Undinen in seiner natur-philosophischen Abhandlung aus dem 16. Jh. zurück. Daß es so lange dauerte, bis aus den durchaus naturwissenschaftlich gemeinten weiblichen Elementargeistern des Wassers bei Paracelsus die literarische Gestalt der Undine bei Fouqué wurde, hing mit den sich in der Romantik entwickelnden Kunstauffassungen zusammen, die das ‚Auftauchen’ von „Undine“ erst ermöglichten. Wie oben schon erwähnt, bekam die Kunst zum einen den Status der Eigengesetzlichkeit zuerkannt, zum anderen sollte die Welt mittels Poesie transzendiert werden. Eine der romantischen Forderungen zur Erreichung dieses Zieles bestand in der

Poetisierung und Personalisierung der Natur, de[n] Rückgriff auf märchenhafte und sagenhafte Figuren vergangener Zeiten [...][15]

Aus diesem Grund wurden auf der Suche nach geeigneten Stoffen und Figuren die Vorstellungen von Elementargeistern wieder populärer:

Mit der Romantik belebt sich das Interesse für die Elementargeistervorstellungen. Die wiedererwachende Sehnsucht nach dem Phantastischen sieht in den Elementargeistern diejenigen, die die (von der Naturwissenschaft für tot erklärte) Natur wieder beleben, sie verzaubern und wieder mysteriös erscheinen lassen. [...] [S]o werden sie in der Romantik die „Geheimnisträger“ der Natur, die die Schöpferkraft, die Größe und auch den Abgrund der Natur offenbaren. Die Elementargeiser gelten nicht mehr als reale Geschöpfe, sondern sie werden als Gegenstand der Phantasie betrachtet und werden zu Figuren des phantastischen Überschreitens der Wirklichkeit.[16]

Als solche finden Paracelsus’ Elementarwesen Eingang in die Konzeption der literarischen Gestalt der Undine bei Fouqué, die sich in ihrer Eigenschaft als Elementargeist und phantastisches Geschöpf als nahezu perfektes Medium erweist, um die romantischen Kunstideale in einer Figur darzustellen: Als Verkörperung der Natur werden die Elementarwesen Undinen zu Repräsentantinnen für die personifizierte und poetisierte Natur und damit für die Poesie selbst.

Undines eigentliche Natur, ihr Herkommen ist die Wasserwelt, ihrem Wesen nach aber ist sie bei Fouqué Poesie.[17]

2.3.2 Wasser als imaginärer Raum und die Wasserfrau als aquatische Muse

In der Romantik bekam das Element des Wassers einen hohen Stellenwert eingeräumt, da es durch seine fließende, formlose und wandelbare Gestalt als poetischer Stoff sogar als Quelle der Poesie selbst angesehen wurde. Als Element ohne Grenzen, das man als der menschlich beschränkten Welt diametral entgegengesetzt dachte, entsprach es in seinen Eigenschaften den romantischen Vorstellungen eines poetisch-utopischen Raumes[18] und – wegen seiner Verschmelzungsfähigkeit – der grenzenlosen Liebe. Aber auch nach der Romantik bleibt weiterhin die Bedeutung der Natur und speziell die der Wasserwelt als Ursprung des Imaginären bestehen, so wie auch die Figur der Wasserfrau als Repräsentantin dieser sprachlosen Sphäre und damit des vorsprachlichen Zustandes fortlebt.

Als Verkörperung des poetischen Elements verleihen die Wasserfrauen, wie schon die Sirenen des Homerischen Mythos, der sprachlosen Natur eine Stimme und eine Gestalt, die es der Natur erst ermöglicht, für den Menschen hör- und sichtbar und damit überhaupt verständlich zu werden. In dieser Vermittlerrolle zwischen dem Menschen und dem Chaotischen der Natur können die Wasserfrauen als Musen fungieren, wie auch die direkte Abstammung der Sirenen als Töchter der Musen nahelegt.[19]

Eine Begegnung mit den Wasserfrauen ist – wie auch schon diejenige Odysseus’ mit den Sirenen – immer eine Begegnung mit dem Imaginären und Vorsprachlichen, das sich in der unmittelbaren ästhetischen Wirkung von Gesang, Stimme und Schönheit äußert. Auf diese Weise vernehmbar geworden, bedarf die Stimme der Natur einer Art Übersetzung, die durch den Mensch, vornehmlich Künstler/Dichter, der sie hört, in den sprachlichen Bereich überführt wird, indem er der sprachlosen Natur eine begriffliche Sprache verleiht und sie somit in Poesie oder Kunst umformen kann. Für den Poeten ist dabei die Wahrung einer gewissen Distanz zum Imaginären und die Verweigerung einer völligen Hingabe vonnöten, denn wie Inge Stephan in Bezug auf Eichendorffs Gedicht „Der stille Grund“ feststellt, so kann auch allgemein konstatiert werden, daß

Poesie nur entstehen [kann], wenn [der] Dichter [...] den verlorengegangenen Kontakt mit der Natur, d.h. auch mit der eigenen unterdrückten Natur, sucht, auf ihre Stimme, d.h. auch auf die Stimme des eigenen Unbewußten hört, und sich dem „stillen Grund“ als poetischer Inspirationsquelle annähert, ohne dabei das eigene Bewußtsein vollständig auszuschalten.[20]

Die Distanz soll also vor Überwältigung und Auflösung des Individuums schützen, die von der gleichsam magischen Wirkung der Wasserfrauen ausgeht, weshalb Odysseus sich aus diesem Grunde fesseln läßt, um anders als seine (sinnes)tauben Gefährten gleichzeitig Hörender/Wahrnehmender bleiben zu können und dennoch später von den genossenen Stimmen berichten zu können, was nicht möglich gewesen wäre, wäre er den Sirenen gänzlich anheim gefallen. Im Falle von Odysseus initiiert also die Begegnung mit den Sirenen bei gleichzeitigem Beibehalten des Abstandes seine Erzählung über dieses Abenteuer, verhelfen ihm die aquatischen Musen zu seiner Erzähler- und Autorschaft, oder wie es Stuby ausdrückt, zu einer „sinnstiftende[n] kulturelle[n] Leistung, [so daß] Odysseus den Sirenengesang der eigenen Erinnerung – und später dem eigenen Text – einschreiben [kann]“.[21]

Das schon angeklungene Element der Unerreichbarkeit der Musen spiegelt sich in ihrer Stilisierung zu göttlichen, zumindest aber überirdischen Gestalten und hat seine Funktion darin, sie zu einer „inspiratorische[n] Anregerin und Auslöserin der [...] Kunstproduktion“[22] zu machen, die jedoch durch den Abstand und die Ferne zu einem unbedrohlichen Abbild und Ideal gerät, das zwar die Phantasie berührt und beflügelt, den Körper jedoch von einer überwältigenden physisch präsenten Sinnlichkeit ausnimmt und das Individuum vor dem Selbstverlust bewahrt bleibt. Von diesem Aspekt aus ergeben sich thematisch Parallelen zwischen der Muse, der/dem idealisierten fiktiven Geliebten, wie auch zum Pygmalion-Motiv, das später an gesonderter Stelle besprochen werden soll.

Sprach, so Bronfen, die Muse zunächst selbst durch des Künstlers Mund, so wird sie im weiteren Verlauf der Entwicklung auf ihre bloß anregende und auslösende Funktion, die sich bis in die Anfänge des zwanzigsten Jahrhunderts geltend macht, festgelegt und die Rolle der einst göttlichen Muse auf die idealisierte Geliebte übertragen.[23]

Die Distanz zur Geliebten und Muse, sei es durch Idealisierung oder durch körperliche Abwesenheit, erlaubt eine nur ästhetische und damit künstliche Sinnlichkeit, die sich in dem Substitut der imaginierten Bilder oder leblosen Statuen manifestiert, deren Ungefährlichkeit garantiert und die in einer damit einhergehenden Entlebendigung von Muse/Geliebte ihren Ausdruck findet. So stellt Bronfen fest, „daß mit der Romantik gerade die sterbende oder tote Geliebte zur Muse ernannt wird“[24], „[d]enn, für die Rhetorik der Invokation ist ihre Abwesenheit Bedingung.“[25]

Als Verkörperung des Imaginären sind Wasserfrau, idealisierte ferne Geliebte und Muse also aus dem gleichen Stoff gemacht, aus dem die Träume sind und treten daher in der Literatur als Inkarnation der Liebe, Kunst und Poesie in Erscheinung.

2.3.3 Grenzfigur Wasserfrau

Die Wasserfrau weist als ein Mischwesen Strukturen auf, die sie zu einer nicht festlegbaren Figur machen, indem sie Grenzen in sich vereint, übertritt und verdeutlicht. Am offensichtlichsten manifestieren sich diese Strukturen in ihrer Fähigkeit, zwischen und in den voneinander getrennten Welten des Wassers und der Erde auftreten zu können und weiterhin in ihrer eigenen Gestalt, die entweder sowohl Anteile eines menschlichen als auch tierhaften Körpers enthält (bei den Nixen und Sirenen) oder zumindest aus dem Wasser selbst stammt und auf diese Weise selbst eine Grenze, zwischen Mensch und Natur, in sich trägt.[26] Auf den zweiten Blick erweisen sich auch ihre magischen Kräfte und ihr außerordentlicher Liebreiz als grenz- und wirklichkeitsüberschreitend, indem zum einen die Gesetze der Menschen­welt außer Kraft gesetzt und überboten werden und zum anderen, indem die bezaubernde Wirkung der Wasserfrauen die normale Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen zu erweitern vermag, so daß dieser in die Lage versetzt wird, hinter den vordergründigen Erscheinungen der Welt die Stimme der Poesie und Natur zu vernehmen.

Diese wahrheitsvermittelnden Fähigkeiten der Wasserfrau rühren von den Sirenen her, die aufgrund ihres speziellen Zugangs zur Wirklichkeit im Ruf der Allwissenheit standen, die all denen zuteil werden sollte, die zu ihnen in Kontakt traten und aufgrund dessen die Gestalt der Wasserfrau oftmals kindliche und naive Züge aufweist, denn

[d]as unschuldige, noch nicht in die gebildete und verbildete Welt der Erwachsenen integrierte Kind wird damit die Mittlerfigur zwischen einem ‚vorgeschichtlichen’ Einssein des Menschen mit der Natur und einem utopischen Bild[27]

einer vollkommeneren und nichtentfremdeten Existenz, in der die Diskrepanz zwischen Sein und Schein aufgehoben ist. Wie auch die Kunst identisch mit sich selbst ist, ist analog dazu die Figur der Wasserfrau charakterisiert durch völlige Durchsichtigkeit und Klarheit in bezug auf die Übereinstimmung von Denken und Handeln, die von demjenigen, der sich mit einer Wasserfrau einläßt, ebenso unbedingt konsequentes Sein und Tun fordern und dem der mit Mängeln behaftete Mensch freilich überfordert gegenübersteht, so daß er an den totalitären Ansprüchen und Bedingungen in Bezug auf Liebe, Treue, Dasein und/oder Poesie zwangsläufig an seine Grenzen und Beschränkungen stößt und scheitert.

Am okkulten Charakter der Wasserfrau wird deutlich, worin ihre zugleich spezifische Attraktion und Bedrohlichkeit begründet liegt und sie gleichzeitig bewundernswert, aber auch furchterregend, fremd, abstoßend und daher zutiefst ambivalent erscheint. Die vormals faszinierenden Besonderheiten der Wasserfrau werden als unheimlich und ängstigend empfunden, sobald das gewöhnliche und menschlich erträgliche Maß überschritten wird und die Außergewöhnlichkeiten der Wasserfrau der Zauberei und anderen unrechtmäßig und eventuell bösartig erscheinenden Kräften zugeschrieben werden, die die Menschen zu überwältigen drohen und denen er sich ohnmächtig ausgeliefert fühlt. Aus diesem Grund haftet selbst den Undinen, die vom Erscheinungsbild keine organischen Anomalien aufweisen (wie ihre Schwestern, die Nixen und Sirenen, die zur Hälfte Mensch und zur anderen Fisch/Vogel sind) eine gewisse Monstrosität an, die sowohl eine teilweise reizende als auch grauenerregende Wirkung verursachen. Für eine gewisse Zeit jedoch vermag „[d]ie Eigenschaft der Schönheit [...], daß die Frau weiterhin begehrt wird“[28] und daß die zwiespältigen Gefühle und das Grauen durch den ästhetischen Schein neutralisiert und die Unheimlichkeit überdeckt werden.

Monströs wirkt die Wasserfrau auch deshalb auf den Menschen, weil sie für ihn auf ganzer Linie immer ein ‚Zuviel’ bedeutet, eine Unfaßbarkeit, die sich nicht nur in dem übernatürlichen Wesen, den geheimen Fähigkeiten oder dem utopischen Glücksversprechen äußern, sondern in der Unbestimmbarkeit, die ihr als Grenzgängerin und Vertreterin einer formlosen, schwankenden und nichtfestlegbaren Welt anhaftet. Paradoxerweise kann sie als eigentlich ungreifbares und schleierhaftes Wesen, das eine schwebende Position zwischen Wasser und Erde einnimmt, da sie ja nie endgültig in der Menschenwelt Fuß faßt, den Schleier der verborgenen Wirklichkeit für den Menschen lüften und ihm, wenn auch nur kurzfristig, zu deren Erkennen verhelfen, wodurch sich noch einmal der utopische Charakter der Beziehung zu einer Wasserfrau als zu einem überirdischen und erleuchtenden Wesen offenbart.

Sinnfällig werden die wertvollen Funktionen der Wasserfrau auch in dem Motiv ihrer aristokratischen Herkunft, denn so, wie Kunst und Poesie ein hohes Ansehen genießen, entspricht die gesellschaftlich edle Abstammung der gleichen Wertschätzung und ist daher ein Merkmal, das den positiven Außenseiterstatus des phantastischen höheren Wesens verdeutlicht, wie auch Liebe, Kunst und Poesie stets als außerhalb und über der Ordnung stehende Bereiche betrachtet werden. Zudem deutet das Motiv der aristokratischen Abstammung eine aufwärtsstrebende Neigung und vertikale Bewegungsrichtung der Wasserfrauen an, die mit dem Komplex Seele/Seelenerlangung eine Weiterführung und Ausgestaltung erfährt, denn wie Fouqués Undine zum Wunsch nach einer Seele sagt: „[...] alles will höher, als es steht.“[29] Selbst wenn das Seelenmotiv später nicht mehr im Zusammenhang mit einem Wunsch nach christlicher Beseelung steht, wie ursprünglich bei Fouqué und Andersen, dann doch im Sinne einer Belebung, die auf eine thematische Parallele zu dem Pygmalion-Mythos verweist, dessen Bedeutung für die Wasserfrauenliteratur im nächsten Abschnitt genauer betrachtet wird.

2.4 Pygmalion und die Wasserfrauen

In der Wasserfrauenliteratur tauchen immer wieder Hinweise auf den Pygmalion-Mythos auf. Sei es, daß im Text direkt darauf bezug genommen wird, sei es, daß Statuen oder imaginierte und belebte „schöne Bildchen“[30] in den Erzählungen an zentralen Positionen erscheinen, denn im Pygmalionstoff verschränken sich sowohl Liebes-, Beseelungs-/Belebungs- als auch Kunstmotive ineinander.

Gleich der Beziehung zwischen Wasserfrau und Menschenmann basiert die Beziehung zwischen dem sich als Pygmalion verstehenden Künstler und seinem Kunstwerk auf der Liebe, die als das verbindende Element die Voraussetzung dafür schafft, daß der entzündende Funke überspringen und die Belebung/Beseelung hervorrufen kann. Möglich wird dieser Vorgang in einer Liebesbeziehung erst durch Selbsterweiterung auf das Gegenüber oder Objekt hin, durch die die Ich-Grenzen zum ‚Du’ durchlässig werden und ein Teil des Eigenen auf den anderen übergehen oder projiziert werden kann, wodurch die Wasserfrau letztendlich in den Besitz einer Seele gelangen oder das Kunstwerk belebt werden kann. Nach außen hin erscheint dieser Prozeß als gleichsam magisches Phänomen, wobei der schöpferischen Phantasie und verwirklichenden, durchdringenden Kraft der Liebe eine zauberische Wirkung zugeschrieben wird, die den Künstler gewissermaßen als Magier und göttlichen Schöpfer auszeichnen, der imstande ist, Leben, Kunst und Wirklichkeiten zu erschaffen und zu erwecken.

Ort und Bedingung für den Akt der künstlerischen Produktion und Imagination ist die Abgeschiedenheit, die in einer örtlichen und geistigen Abweichung von der Normalität besteht. Daher begegnen sich der menschliche Protagonist und die Kunstfigur Wasserfrau an einer außerordentlichen Stätte, die sich entweder durch eine idyllische Landschaft und/oder absondernde Neigungen der Inselhaftigkeit oder der Weitläufigkeit des Wassers auszeichnet. Derartige Eigenschaften lassen diese besonderen Orte als losgelöstes Zwischenreich der Phantasie und damit zum Bereich des Imaginären zugehörig erscheinen und das Auftauchen des Kunstproduktes ‚Wasserfrau’ als folgerichtigen Ausdruck der Sehnsucht nach einem ‚anderen Zustand’.[31]

Die aus dem Reich der Einbildungskraft entspringende Wasserfrau stellt als artifizielle Traumfrau eine Alternative und Gegenentwurf zur realen Frau allgemein, wie auch speziell in der Wasserfrauenliteratur zur gesellschaftlichen Konzeption der Frauenfigur dar.[32] Dabei vermag das erst vom Künstler geschaffene schöne Bild und Kunstprodukt die wirkliche Frau zu verdrängen und die ästhetische Liebe sich als eine narzisstische zu erweisen, da die Traumfrau ganz das Abbild der eigenen Wünsche, Projektionen und Vorstellungen ihres Schöpfers repräsentiert.[33] Aufgrund ihrer Künstlichkeit tritt

[d]ie Kunstfigur [...] nicht ins Leben [...], sondern der Mensch hebt in der Ekstase seiner schöpferischen Phantasie die reale Zeit in ästhetischer Fiktion subjektiv auf.[34]

In diesem Zustand des Außer-sich-Seins und durch den damit verbundenen Austritt aus der linearen Zeit vermag der Mensch Augenblicke einer Annäherung an die Unsterblichkeit zu gewahren. In der Wasserfrauenliteratur ist dieses Ereignis stets an die Begegnung mit einer Undine/Nixe geknüpft und greift damit ein thematisches Motiv aus dem älteren Melusinenstoff auf, nach dem sich die Wasserfrau als das klar überlegene Wesen erweist und der Mensch/Mann zu ihr in einem abhängigen Verhältnis steht.

Dort nämlich erstrebt der Mensch die Verbindung mit der Mahrte, um an ihrer übernatürlichen Kraft teilhaben zu können; die Mahrtenehe verspricht dem Menschen die Unsterblichkeit.[35]

Im Zuge der Christianisierung übernimmt nun das Konstrukt ‚Seele’ als einzig zulässiges Mittel die Funktion der Erlösung durch das an sie gekoppelte Versprechen der Unsterblichkeit. Da die Wasserfrau ursprünglich der heidnischen unbeseelten Natur entstammt, ausgestattet mit magischen Fähigkeiten, und der Mensch nun im Besitz einer unsterblichen christlichen Seele ist, kehrt sich das Abhängigkeitsverhältnis um: die vormals den Menschen erlösende, bereichernde und gesellschaftlich fruchtbringende Wasserfrau wird, mangels einer unsterblichen Seele, selbst erlösungsbedürftig und daher abhängig von der Liebe eines Menschen/Mannes, durch die ihr allein eine Seele und weltliche, gesellschaftliche Eingliederung zuteil werden könnte.

Während beispielsweise Melusine die Reintegration Raimunds initiiert und sich durch außerordentliche gesellschaftliche Produktivität auszeichnet, also pragmatisch orientiert ist, tendiert der Undinenstoff zur Abstraktion, zur Distanzierung gesellschaftlicher Einflußnahme. Der Wunsch nach einer Seele ist [...] zunächst immateriell und impliziert vielmehr eine Wesensänderung bzw. eine Wesenserweiterung des Betreffenden, die an und für sich keinen sichtbaren, gesellschaftlich objektiven Erfolg nach außen trägt. Ausdruck hierfür ist die Kinderlosigkeit der Mahrtenehe.[36]

In dem Motivkomplex Seele überschneiden sich also verschiedene Bedeutungsbereiche: Ermöglicht die Erlangung einer christlichen Seele ursprünglich in religiöser Hinsicht Erlösung und Unsterblichkeit und in bezug auf das eigene Dasein und Wesen eine verwandelnde und erweiternde Wirkung, so wird daneben durch ihre in die patriarchalisch christliche Kultur einbindende Funktion zugleich auch ihr zivilisatorischer Zweck und damit ihr konträr zur Natur stehender Charakter deutlich und der Akt der Beseelung von Natur (Wasserfrau) gleichsam zu einer Unterwerfung derselben. Auf diese Weise versinnbildlicht das Konstrukt der christlichen Seele geradezu die bezwungene und „wegdressierte Natur“[37], die zwar unsterblich, aber aufgrund ihres gesellschaftlichen Selbstzwangcharakters dennoch weiterhin erlösungsbedürftig erscheint und paradoxerweise einer nichtentfremdeten Existenz im Wege steht. Als gesellschaftliches Produkt stellt die Seele für Foucault denn auch ein Machtinstrument dar, mit dem man „Prozeduren der Überwachung, der Züchtigung, des Zwangs“[38] ausüben kann:

Diese wirkliche und unkörperliche Seele ist keine Substanz; sie ist das Element, in welchem sich die Wirkungen einer bestimmten Macht und der Gegenstandsbezug eines Wissens miteinander verschränken; sie ist das Zahnradgetriebe, mittels dessen die Machtbeziehungen ein Wissen ermöglichen und das Wissen die Machtwirkungen erneuert und verstärkt. [...] Der Mensch, von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man einlädt, ist bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er. Eine ‚Seele’ wohnt in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stück der Herrschaft ist, welche die Macht über den Körper ausübt. Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie. Die Seele: Gefängnis des Körpers.[39]

In diesem Zusammenhang wird verständlich, daß der Verlust oder das Fehlen der christlichen Seele in der Wasserfrauenliteratur zum Teil nicht mehr als Mangel betrachtet wird, sondern sogar zur Auszeichnung und Vorbedingung für ein wirklich beseeltes (im Sinne eines lebendigen und nichtentfremdeten) Dasein gerät. Auf diese Weise erfährt das Motiv der Seelenerlangung eine erneute Umwertung, indem nun nämlich der Mensch über die Begegnung mit der Wasserfrau quasi ihrer Naturseele teilhaftig wird und in den erfüllten Momenten außerhalb der engen Grenzen der Ordnung und Gesellschaft eine Belebung erfährt.

Dadurch kommt auch dem Pygmalionmotiv eine veränderte Bedeutung zu, da die Richtung der belebenden Wirkung nicht mehr nur allein vom Künstler ausgeht, sondern auch er über die Berührung mit dem Imaginären zu einer Annäherung an einen ursprünglichen vollkommenen Zustand gelangt.

2.5 Der Aspekt ‚Sprache’ in der Wasserfrauenliteratur

In der Wasserfrauenliteratur lassen sich etliche Bezüge und Hinweise zum Thema ‚Sprache’ finden, die mal explizit, wie bei Andersen und Bachmann als Sprachlosigkeit und Sprache selbst, mal eher indirekt in Bezug auf die Literatur als sprachliche, dichterische Kunst erscheinen.

Als Verkörperung des sprachlosen Bereichs des Wassers und des Imaginären stehen der Wasserfrau vor Eintritt in die Menschenwelt generell andere und unmittelbarere Ausdrucksmöglichkeiten wie Singen, Tanzen oder auch die Körpersprache näher als die der begrifflichen Sprache und steht somit in direktem Bezug zur Poesie. So vermag sie in der Funktion einer Muse, wie die Sirenen Odysseus oder Fouqués Undine, zur Text- und Erzählproduktion anzuregen oder wird selbst „zur Sprachreflexionsfigur, in der sich Ingeborg Bachmanns sprach- und literaturtheoretische Überlegungen wiederspiegeln.“[40]

Prinzipiell stehen sich aber mit den Bereichen Wasserfrau/Wasser und Mensch/Welt verschiedene Ausdrucksformen gegenüber und schon allein aus diesem Grund tritt Sprache thematisch in den Vordergrund, als es insofern immer auch um die Verständigungsmöglichkeiten zwischen zwei unterschiedlichen Welten und den ihr angehörigen Wesen geht, wie besonders Andersens Seejungfrau verdeutlicht.

Insgesamt stellt sich daher in diesem Zusammenhang die Frage, was welche Sprache vermag und was nicht, weshalb an dieser Stelle auch ein Blick auf die Sprachmöglichkeiten und -grenzen geworfen werden soll.

Sprache versucht die Welt begrifflich zu erfassen und abzubilden und kann als derart ordnendes und klärendes Sinnsystem ein Mittel der Wahrheitserkenntnis darstellen. Zugleich liegt in der sprachlichen Benennung aber auch ein vereinseitigendes und ausgrenzendes Moment, denn die Form der Sprache, der Begriff, vermag niemals die Wirklichkeit oder das ganze Wesen einer Sache erschöpfend zu begreifen, weshalb sie gleichzeitig entwertend, verblendend und verführend wirken, weil der Eindruck entstehen kann, sie gebe die gänzlich erfaßte Wirklichkeit wieder.

Die unbenennbaren und unbeschreiblichen Erfahrungen in den Momenten der Liebe, des Glücks, der Erkenntnis werden in Begriffe gepfercht, die, indem sie nie ganz bezeichnen, was unter ihnen gefaßt sein soll, die unerhörten Momente unterschlagen, [...][41]

In der formenden und ordnenden Kraft der Sprache liegt zugleich also auch ihr Mangel und ihre Grenze begründet, denn obwohl sie für die Verständigung des Alltäglichen ausreichen mag, scheitert sie an der Erfassung und Vermittlung der Gesamtheit der Erscheinungen und Wahrnehmungen. Weil Sprache immer nur auf etwas verweisen, es aber nicht unmittelbar sprechen kann, daher also immer nur inkongruentes Mitteilen ist, stellt sie lediglich ein Ersatz für reale Erfahrungen und die Wirklichkeit dar, der gleichsam immer, sowohl trennend als auch verbindend, zwischen dem bezeichneten Objekt und dem Menschen steht und somit allenfalls eine Annäherung an die Wirklichkeit bedeuten kann. Uneigentlich und indirekt bleibt Kommunikation mittels Sprache auch deshalb, weil sie selbst ein reales Gebilde darstellt, das eine eigene Welt erschafft. Aus dem Wissen um diese inadäquate Vermittlungskraft resultiert denn auch eine Sprachskepsis, weil „[d]amit überhaupt bezweifelbar [wird], ob Sprache etwas über Wirklichkeit, etwas ‚Wahres’ ausdrücken kann.“[42]

An die als unzulänglich empfundene Mittelbarkeit der Sprache knüpfen sich jedoch auch Hoffnungen, denn würde man eine Sprache finden, die die Wirklichkeit in ihrer Vielschichtigkeit besser und getreuer abbilden würde, könnte sie in ihrer realitätsschöpfenden Wirkung die vorhandene defizitäre auf eine vollkommenere Welt hin verändern, indem mit den Grenzen der Sprache auch die der Welt in Annäherung an ein utopisches Ziel hin erweitert würden.[43] Gerade Bachmann versteht „Dichtung als Ausdruck des menschlichen Wunsches nach Grenzüberschreitung“[44] und sieht in dem „utopische[n] Richtungsnehmen [...] die entscheidende Funktion und Aufgabe von Literatur“[45], wobei es „[z]war [...] nicht möglich [ist], die Grenzen zu überschreiten, aber die Möglichkeit [besteht], sie zu verschieben.“[46]

Eine Überschreitung oder Auflösung der Grenzen würde das Individuum bedrohen, denn dann träte es in einen Verschmelzungszustand mit dem Objekt oder der Wirklichkeit, die zwar erst eine unmittelbare Mitteilung ermöglichen würde, die aber gleichzeitig den Selbstverlust des Individuums bedeuten kann. Solche Vereinigungen sind dennoch mittels der poetischen Imagination im Bereich der Poesie möglich, welche imstande ist, ähnlich einer magischen Kraft, die Distanz zwischen den Menschen aufzuheben.

Dabei besteht die Aufgabe der Poesie[47] darin,

einen der empirischen Lebenswelt fernen, irrealen Stoff auf eine Weise so zu transformieren und zu präsentieren, so daß er der inneren Anschauung [...] vorstellbar wird.[48]

Dies geschieht mittels einer Darstellungsweise, die an die spezifischen Fähigkeiten der poetischen Sprache gebunden ist und sich dadurch auszeichnet, daß sie imstande ist, die Begrifflichkeit und Eindeutigkeit der normalen Sprache zu überhöhen, da sie durch Verdichtung mehrerer Bedeutungsmöglichkeiten und -ebenen in einem Wort die begriffliche Grenze der Wörter und somit der Sprache auszudehnen vermag und auf diese Weise eine über die vordergründige Eindeutigkeit eines Wortes oder Begriffes hinausweisende Erweiterung zu einer Mehrdimensionalität der Sprache hin stattfindet. In der Bewahrung und Konstruktion der Mehrdeutigkeit der Worte vermag Poesie, insbesondere aber die lyrische Form in ihren musikalischen Anlagen, sich auch den unmittelbaren Ausdrucksformen anzunähern, da sie auf diese Weise das Unfaßbare in der Andeutung aufruft und auf das ‚Wahre’ und Wirkliche verweist. Im klingenden und liedhaften Charakter tritt die lyrisch poetische Sprache jedoch auch an die Grenzen des Sag- und Verstehbaren und bewahrt sich so ein rätselhaftes Wesen:

Wo die Sprache sich an der Schwelle zwischen Sprechen und Tönen bewegt, wo die Bedeutung der Worte zurücktritt, redundant wird und der Klang im Vordergrund steht, wo das lyrische Ich kein Gegenüber, nicht ‚Ich’ und ‚Du’, Anfang und Ende unterscheidet, erreicht der lyrische Ausdruck seinen Höhepunkt. Dies [ist der] intensivste und zugleich flüchtigste Punkt der lyrischen Form[49]

der an das Schweigen grenzt oder direkt darein mündet. Insofern fungiert die poetische Sprache als ein „zu lyrischer Form verdichteter Schleier“[50], durch den das zu Offenbarende geheimnisvoll durchscheinen kann, sich jedoch weiterhin jeglicher Festlegung und Ergreifung entzieht.

Dieser flüchtige Charakter bedeutet gleichzeitig eine schwere Verständlichkeit und Unzugänglichkeit, welche die Poesie für die Alltagsverständigung unbrauchbar und unfunktional macht und die aus der Perspektive der praxisbezogenen, einwertigen Sprache Tendenzen zur Abgeschiedenheit, Innerlichkeit und Realitätsferne aufweist, wodurch dem Menschen in letzter Konsequenz Isolation, Desintegration und Wahn drohen kann.

An dieser Stelle ergeben sich wiederum Parallelen zur Wasserfrauenfigur, die trotz ihres nicht begreifbaren Wesens dennoch eine offenbarende Funktion für den Menschen einnimmt, andererseits die Begegnung mit ihr in ein abseitiges Reich führt, in dem der Mensch sich auch verlieren kann und die die ihr eigenen unmittelbaren musikalischen Ausdrucksformen aufweist. Hier wird noch einmal deutlich, inwiefern und welche Beziehungen zwischen der Wasserfrau, der Sprache und der Poesie als eine besondere sprachliche Form bestehen.

2.6 Das Phänomen ‚Liebe’ in der Wasserfrauenliteratur

In der Wasserfrauenliteratur nimmt die Liebe eine zentrale Position ein. Sie erscheint in diesen Texten zum einen als „soziales und zugleich ästhetisches Phänomen“[51], das sich durch „Überschneidung von Imaginärem und Realität“[52] auszeichnet und damit sowohl ein utopisches als auch täuschendes Moment birgt.

Das Dreiecksverhältnis von Wasserfrau/Undine, Menschenmann und Menschenfrau ist strukturell durch diese Eigenschaften geprägt, die auch die Anhäufung einer ganzen Reihe von gängigen Liebestopoi in der Wasserfrauenliteratur erklärt. Dabei handelt es sich um Darstellungen kultureller Gemeinplätze des allgemeinen Liebesdiskurses, die ihrerseits durch Literatur tradiert und codiert sind: die Maßlosigkeit und Unbedingtheit der Liebe, Liebe als Subversion und Opposition zur bestehenden Ordnung, Einmaligkeit und Einzigartigkeit der Liebe, die unglückliche, unerfüllte und gescheiterte Liebe, Liebe als Passion (Leidenschaft und Leid), Täuschung und Erkenntnis durch Liebe und Liebe als Utopie (Glückserfahrung und Erlösung).[53] Gerade im Zusammenhang des Topos von Liebe als Utopie, tritt immer auch das Scheitern einer solchen in Erscheinung, wird „[d]er Illusionswert der Liebe, der durch die Realität enttäuscht wird“[54] thematisiert.

Im folgenden möchte ich einzelne der schon genannten Aspekte des Phänomens Liebe näher in Bezug zu Sprache und Kunst rücken und versuchen diese ausführlicher zu erläutern.

2.6.1 Liebe – eine Erfahrungsmodalität der Erkenntnis

Im Gegensatz zu den begrifflichen Erkenntnisqualitäten der Sprache und des Denkens stellen Erfahrungen, wozu auch die Liebe zu rechnen ist, eine unmittelbare Art der Erkenntnis dar. Diese Eigenschaft der Liebe beruht darauf, daß das Phänomen an sich außerhalb des sprachlichen Begriffssystem und damit im Bereich des Unfaßbaren anzusiedeln ist.

Immer erscheint [...] die Liebe als Anderes der [...] Ordnung, als ein Zustand, der nicht faßbar ist, als etwas außerhalb der Raum- und Zeitkoordinaten der sozialen Existenz, ohne Ort im Sozialen bzw. Symbolischen und ohne Zukunft, ein quasi sprachloser Zustand, eine Art zauberhafter, begriffsloser Übereinstimmung, die der Worte nicht bedürfe, die vielmehr durch Worte zerstört zu werden drohe.[55]

Denn wie oben im Kapitel „Sprache“ bereits erwähnt, ist Sprache nur ein unzurei­chen­des Mittel, um die komplexe Wirklichkeit erfassen und vermitteln zu können, so daß das Wesen der Welt, einer Sache oder eines Menschen nur über unmittelbare Erfahrung zu erschließen ist. Dieses unmittelbare In-Kontakt-Treten entspricht einem ‚Sehen’, einem Wahrnehmen, welches befähigt, durch den äußeren Schein hindurch den inneren Kern zu erblicken und weder nur an der ästhetischen Oberfläche verhaftet zu bleiben noch in dem Anderen (Mensch und Wirklichkeit) vermeintlich dessen wahres Wesen zu erkennen, stattdessen aber nur in ihm die zugeschriebenen eigenen Projektionen und Ideale wiederfindet. Weil auf diese Weise der/das Andere nur jeweils als Spiegel für die eigenen Wunschbilder fungiert und aus dem Erkennen ein Verkennen wird, bleiben Verbindung und Austausch ausgeschlossen.

Eine ent-täuschte, illusionsfreie Begegnung, motiviert durch ein liebend interessiertes Zugewandsein, vermag eine Öffnung und Erweiterung des Selbst zum Anderen und der Wirklichkeit hin zu bewirken, die wiederum ein wahrhaftes In-Beziehung-Treten und Kommunikation miteinander ermöglicht.[56]

2.6.2 Liebe als Kommunikationsform und Sprache

Da sich die Erfahrung der Liebe einem adäquaten sprachlichen Ausdruck verwehrt, besteht die spezifische Kommunikationsform der Liebe analog zur außersprachlichen Wesenserfassung in einem durchdringenden Gefühl und wortlosen Austausch, in den die sich durch den Zustand der Liebe zueinander hin erweiterten Individuen miteinander treten. Dadurch begeben sie sich aus ihrer quasi monologischen Situation und einem damit verbundenen isolationsähnlichen Zustand in einen nonverbalen Dialog. Auf diese Weise vollzieht sich eine wesensvermittelnde und -verstehende Kommunikation, die als spür- und fühlbares Verständnis und Mitteilung der begrifflich abstrakten Sprache gegenübersteht und die Kraft dieser Eigenschaft zugleich in der Lage ist, die ernorme Kluft zwischen den Menschen gleichsam magisch zu überbrücken und Begegnung zu ermöglichen.

Neben der nonverbalen Kommunikation drängt Liebe als „das gesprächigste aller Gefühle“[57], ungeachtet der Tatsache, daß Sprache dafür nur unzureichend geeignet erscheint, immer wieder nach Ausdruck in und durch Sprache.

Zuletzt ist Liebe ein exemplarisch sprachutopisches Thema auch deshalb, weil sie sich immer auch selbst als Sprache äußert und wie diese im Spannungsfeld von Sprachlosigkeit oder Monolog einerseits und Dialog andererseits steht. Liebe als anderer Zustand bedeutet schließlich zugleich, in einer anderen Sprache zu reden.[58]

Bei dem Versuch eine Sprache für Liebe zu finden, entsteht, anstatt der zu erwartenden möglichst persönlichen und einzigartigen, gerade eine außerordentlich formelhafte Ausdruckweise, die im Widerspruch zur oben genannten Forderung nach einer ‚anderen Sprache’ steht.

Diese scheinbare Unvereinbarkeit von universellem Ausdruck und individueller Wirklichkeit der Gefühle läßt sich dadurch erklären, daß Sprache selbst bei originellstem Gebrauch nur unzureichend Unsagbares (wie die Liebe) vermitteln kann, so daß nach Barthes der Wert der Liebesformel nicht in dem Inhalt des Gesagten als vielmehr an der Tatsache liegt, daß und wie es gesagt wird und dadurch die Aktion des Sagens und alle Elemente (wie Klang und Rhythmus), die über den begrifflichen Aussagewert hinausweisen, höher einzuschätzen sind als die Aussage selbst.[59] Das noch so innige und subjektive Bekenntnis der Liebesformel ‚Ich-liebe dich’ vermag nicht die wirkliche Emotion des Begehrens/der Wollust zu sagen, sondern verweist nur auf das Gefühl, das diese Aussage veranlaßt hat.[60] Insofern werden diese universellen Formeln zu Hinweisen auf das Eigentliche und entspricht der Formelcharakter nicht dem Unsagbaren, sondern nur Zeigbaren.

[...]


[1] Nawab: Ingeborg Bachmanns „Undine geht“. S. 123

[2] ebd. S. 5

[3] von Matt: Liebesverrat. S. 244

[4] Koschel: Wir müssen wahre Sätze finden. S. 46

[5] vgl. Althoff: Weiblichkeit als Kunst. S. 113

[6] ebd. S. 113

[7] ebd. S. 117

[8] ebd. S. 117

[9] vgl. Adorno: Ästhetische Theorie. S. 419

[10] Althoff: Weiblichkeit als Kunst. S. 155

[11] Adorno: Ästhetische Theorie. S. 419

[12] ebd. S. 200

[13] vgl. Nawab: Ingeborg Bachmanns „Undine geht“.

[14] vgl. Weigel: Liebe – nichts als ein Mythos?

[15] Trüpel-Rüdel: Undine. Eine motivgeschichtliche Untersuchung. S. 53

[16] ebd. S. 53

[17] Fassbind-Eigenheer: Undine oder die nasse Grenze zwischen mir und mir. S. 38

[18] vgl. ebd. S. 38

[19] vgl. Fink: Who’s who in der antiken Mythologie. S. 284

[20] Stephan: Weiblichkeit, Wasser und Tod. S. 121

[21] Stuby: Liebe, Tod und Wasserfrau. S. 16

[22] Bronfen: Die schöne Leiche. S. 109

[23] ebd. S. 109

[24] ebd. S. 110

[25] ebd. S. 109

[26] vgl. Fassbind-Eigenheer: Undine oder die nasse Grenze zwischen mir und mir. S. 73f.

[27] ebd. S. 92

[28] Trüpel-Rüdel: Undine. Eine motivgeschichtliche Untersuchung. S. 114

[29] Fouqué: Undine. S. 149

[30] ebd. S. 113

[31] vgl. Nawab: Ingeborg Bachmanns „Undine geht“. S. 20f.

[32] vgl. Berger: Metamorphose und Mortifikation. S. 266

[33] vgl. Roth: Hydropsie des Imaginären: Mythos Undine. S. 9

[34] Nawab: Ingeborg Bachmanns „Undine geht“. S. 122

[35] ebd. S. 101

[36] ebd. S. 102

[37] Roth: Hydropsie des Imaginären: Mythos Undine. S. 67

[38] Foucault: Überwachen und Strafen. S. 41f.

[39] ebd. S. 42

[40] Fassbind-Eigenheer: Undine oder die nasse Grenze zwischen mir und mir. S. 175

[41] Althoff: Weiblichkeit als Kunst. S. 115

[42] Horn: „Ich ohne Gewähr“. S. 71

[43] vgl. ebd. S. 74-77

[44] ebd. S. 74

[45] ebd. S. 76

[46] ebd. S. 76

[47] Die folgenden Aussagen über Poesie möchte ich mit Kieß’ Arbeit „Poesie und Prosa“ stützen, die zwar auf Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahren“ bezogen ist, dennoch aber viele erhellende Anregungen, auch in Hinsicht auf Andersens „Die kleine Seejungfrau“ bietet, wie später noch ersichtlich werden soll.

[48] Kieß: Poesie und Prosa. S. 82

[49] ebd. S. 38

[50] ebd. S. 23

[51] Baackmann: Erklär mir Liebe. S. 20

[52] ebd. S. 16

[53] ebd. S. 5-14

[54] ebd. S. 63

[55] Weigel: Liebe – nichts als ein Mythos? S. 220

[56] vgl. Horn: „Ich ohne Gewähr“.

[57] vgl. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften.

[58] Oberle: Liebe als Sprache und Sprache als Liebe. S. 253

[59] Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe. S. 142-145

[60] ebd. S. 138

Fin de l'extrait de 107 pages

Résumé des informations

Titre
Liebe, Sprache und Kunst in der europäischen Wasserfrauenliteratur
Université
Justus-Liebig-University Giessen
Note
2
Auteur
Année
2002
Pages
107
N° de catalogue
V132278
ISBN (ebook)
9783640377435
ISBN (Livre)
9783640377817
Taille d'un fichier
914 KB
Langue
allemand
Mots clés
Undine, Nixen, Sirenen, Die kleine Meerjungfrau, Der Fischer und seine Seele, Undine geht, Oscar Wilde, Hans Christian Andersen, Jean Giraudoux, Ingeborg Bachmann, Liebe, Sprache, Kunst, Sprachreflexion, Utopie, Liebeskonstellation 'Wasserfrau' und 'Menschmann', Grenzgängerin, Romantische Kunstauffassung, Beseelung, Seele, Verrat, Grenzüberschreitung, Pygmalion-Mythos, Romantisches Liebeskonzept, Historische Entwicklung der Wasserfauenfigur, Literarische Entwicklung der Wasserfrauenfigur, Erlösung, Liebesutopie, Wasserfrau
Citation du texte
Magistra Artium Alice Männl (Auteur), 2002, Liebe, Sprache und Kunst in der europäischen Wasserfrauenliteratur, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/132278

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