Europäisierung der Migrationspolitik - Eine Mehrebenenanalyse


Thesis (M.A.), 2009

96 Pages, Grade: 2,5


Excerpt


Inhalt

1. Einleitung
1.1. Was ist Migrationspolitik?
1.2. Fragestellung und These
1.3. Methodik und Aufbau der Arbeit

2. Der Mehrebenenansatz und die Europäisierung
2.1. Europäisierung – nur ein Modebegriff?
2.2. Der Mehrebenenansatz
2.2.1. Vorläufer des Mehrebenenansatzes
2.2.2. Der Mehrebenenansatz von Gary Marks und Liesbet Hooghe
2.2.3. Der Mehrebenenansatz in der EU-Forschung
2.2.4. Kritik des Mehrebenenansatzes: Theorie oder Forschungsdesign?
2.3. Methode der Mehrebenenanalyse der Europäisierung der Migrationspolitik

3. Mehrebenenanalyse der Migrationspolitik
3.1. Die Europäische Ebene
3.1.1. Phase 1: 1957-1986
3.1.2. Phase 2: 1986-1992
3.1.3. Phase 3: 1992-1999
3.1.4. Phase 4: 1999 bis heute
3.1.5. Die wichtigsten Richtlinien im Bereich der Migrationspolitik
3.2. Die nationalstaatliche Ebene
3.2.1. Frankreich
3.2.2. Spanien
3.2.3. Rumänien
3.2.4. Gemeinsamkeiten und Unterschiede

4. Fazit

Primärliteratur

Sekundärliteratur

Verzeichnis der Tabellen

Tabelle 1: Feststellung des Grades der Unvereinbarkeit einer Richtlinie mit nationaler Gesetzgebung

Tabelle 2: Ausmaß und Reichweite von Europäisierung nach Radaelli

Tabelle 3: Mitglieder des Schengener Abkommens

Tabelle 4: Ländereinteilung in Weiße und Schwarze Liste

Tabelle 5: Untersuchung von Richtlinien hinsichtlich des ausgelösten Misfits und ihrer Umsetzung Richtlinien in Frankreich

Tabelle 6: Untersuchung von Richtlinien hinsichtlich des ausgelösten Misfits und ihrer Umsetzung Richtlinien in Spanien

Tabelle 7: Untersuchung von Richtlinien hinsichtlich des ausgelösten Misfits und ihrer Umsetzung in Rumänien

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Festung Europa? Die Frage ob es diese vielzitierte Abschottung der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union[1] gibt, stand am Anfang der Beschäftigung des Autors mit der Europäisierung der Migrationspolitik. Wenn man die Berichterstattung der letzten Jahren in den Medien verfolgt hat, so konnte man sehr leicht zu dem Eindruck kommen, dass diese Festung Realität sei: Man denke nur an die dramatischen Szenen, die sich täglich auf dem Mittelmeer und vor den Kanaren auf schrottreifen Booten abspielen, mit denen jedes Jahr unzählige Menschen versuchen nach Europa zu kommen, oder an den Ansturm auf die Grenzanlagen von Ceuta und Melilla im Jahr 2005 (Bendel 2008b: 15; Kreienbrink 2006: 7). Diese beiden Beispiele scheinen zu zeigen, dass Migration nach Europa unerwünscht ist, wenn Menschen solche Risiken auf sich nehmen müssen, um dorthin zu gelangen. Auf der anderen Seite aber gibt es immer wieder Diskussionen über Green- bzw. um dem Ganzen einen europäischen Anstrich zu geben Blue-Cards für hochqualifizierte Einwanderer (Angenendt/Parkes 2008, Bendel 2008b: 17), die Feststellung, dass viele europäische Gesellschaften ohne Nettozuwanderung dramatisch schnell überaltern würden, (Weil 2005: 24, vgl. Eurostat 2008: 2) und ähnliche Rufe nach mehr Zuwanderung (vgl. Angenendt 2002: 144, Geddes 2003b: 1). Und auch die sich illegal in Europa befindenden Migranten sind anscheinend nicht überall unerwünscht: Illegale Einwanderer pflücken in Spanien weit unter Tariflöhnen Orangen, Zitronen oder Tomaten und in Frankreich waren sie in großen Scharen am Bau von Autobahnen beteiligt (Nuscheler 2004: 53). Es ist also nicht so eindeutig wie es auf den ersten Blick zu sein scheint, dass sich Europa abschottet, wenn man bedenkt, dass es einen positiven Wanderungssaldo in Höhe von über einer Million Menschen pro Jahr seit dem Jahr 2001 gibt (Eurostat 2008: 65).

Die Frage, ob es eine Abschottung gibt oder nicht, führt sehr schnell zu der sich anschließenden Frage, ob die Reaktion auf Zuwanderung in den einzelnen europäischen Ländern unabhängig voneinander stattfindet, oder ob es eine Europäisierung der Migrationspolitik gibt. Um es vorwegzunehmen: Die These des Autors ist, dass es eine Europäisierung gibt.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Europäisierung ist relativ neu und den rasanten Entwicklungen des EU-Systems seit 1992 mit der Ausweitung europäischer Politik auf neue Politikfelder und den Veränderungen in der politischen Steuerung zu verdanken. Vor allem im Bereich Justiz und Inneres ist seitdem eine verstärkte politische - und somit auch wissenschaftliche - Aktivität zu verzeichnen (Occhipinti 2008 :139). Seitdem steht weniger der Integrationsprozess an sich im Fokus des wissenschaftlichen Interesses, als vielmehr die Beschäftigung mit der EU als politischem System, da man die Transformationen, die sich in der Staatstätigkeit der Mitgliedsstaaten zeigen, nur mit den neuen Governance-Formen auf dieser Ebene erklären kann (vgl. Tömmel 2008: 13).

Die Beschäftigung mit der Europäisierung der Migrationspolitik führt zunächst zu der Frage was unter den Begriff Migrationspolitik fällt, damit man weiß, was überhaupt möglicherweise europäisiert wird. Deshalb wird dieser Begriff noch in der Einleitung definiert und somit die Untersuchungsbreite festgelegt.

1.1. Was ist Migrationspolitik?

Zunächst scheint es ganz einfach: Migrationspolitik beschäftigt sich mit der Politik, die Wanderungsbewegungen regelt. Dies ergibt sich schon aus der Herkunft des Wortes Migration (lat. migrare = wandern).

„La notion de migration englobe tous les types de mouvements de population impliquant un changement du lieu de résidence habituelle, quelles que soient leur cause, leur composition, leur durée, incluant ainsi notamment les mouvements des travailleurs, des réfugiés, des personnes déplacées ou déracinées“ (OIM 2007: 47f.).

Es sind also Wanderungsbewegungen gemeint, die einen Wohnortswechsel bedeuten. Die Frage ist nun aber, welche Wanderungsbewegungen für die Untersuchung der Europäisierung der Migrationspolitik relevant sind: Sind auch Wanderungsbewegungen innerhalb der Europäischen Union oder gar Wanderungsbewegungen innerhalb der einzelnen Nationalstaaten von der - möglicherweise - europäisierten Migrationspolitik betroffen?

Für die vorliegende Untersuchung spielt die Binnenmigration innerhalb der Nationalstaaten keine Rolle. Sie wird im Allgemeinen auch nicht zu den von der Migrationspolitik geregelten Gebieten gezählt (z.B. OIM 2007: 36, Eigmüller 2007: 57, Haug/Sauer 2006: 7f.). So definieren die Herausgeber einer Spezialausgabe zur Migrationsforschung des Journal of Common Market Studies Migranten als „Personen, die 12 oder mehr Monate in einem anderem Land als ihrem Geburtsland leben“ (Sasse/Thielemann 2005: 656).

Die Migration zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union wird in der vorliegenden Untersuchung nur betrachtet, wenn die policy in diesem Bereich auch die Migration von Drittstaatsangehörigen beeinflusst oder lenkt. Diese Beschneidung des Begriffs der Migrationspolitik dient der konzeptuellen Klarheit der Arbeit. Wenn man von der Festung Europa spricht, so meint man damit die Migration aus Drittstaaten in die EU. Daher soll der Fokus dieser Arbeit auf dem Gebiet der Migration aus Nicht-EU-Ländern liegen.

Diese Migrationspolitik die sich mit den Wanderungsbewegungen von Drittstaaten in die EU beschäftigt hat es dennoch mit unterschiedlichen Migrationsformen zu tun:

Aus Migrantenperspektive lässt sich die Migration in drei Kategorien einteilen: ökonomische, erzwungene und Familienmigration (ebd.). Die ökonomische Migration wird in reguläre und irreguläre[2] Migration unterteilt. Viele irreguläre Migranten betreten das Land auf legalem Weg, bleiben aber länger als ihr Visum es erlaubt - in vielen Fällen für immer.

Erzwungene Migration sind die Fälle in denen die Migranten aus Angst um ihre Sicherheit nicht in näherer Zukunft in ihre Heimat zurückkehren können. Diese Kategorie umfasst sowohl Asylbewerber, denen Schutz durch die Genfer Konvention gewährt wird, als auch diejenigen, die diesen beantragen (ebd.). Dabei ist ein Flüchtling eine Person, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will“ (UNHCR 1951 : 2). Man geht davon aus, dass sich im Jahr 2007 1,5 Millionen Flüchtlinge in Europa aufhielten (UNHCR 2007: 7). In der Praxis ist die Unterscheidung zwischen ökonomischer und erzwungener Migration schwierig, da es zu Überlappungen kommt.

Eine besondere Kategorie der Migration ist der Familiennachzug: Das Recht der Familienmitglieder ihren Aufenthalt in gemeinsamem Familienleben zu verbringen, ist aufenthalts- und damit integrationsrelevant, stellt aber gleichzeitig auch eine eigene Form der Migration dar (Walter 2006: 85). Diese Form der Migration macht inzwischen den Hauptteil der Migration nach Europa aus (Sasse/Thielemann 2005: 657).

1.2. Fragestellung und These

„EU studies often seem to generate more theory than detailed case studies. There is a clear need for more actual testing of theory, probably less abstract theorising, and certainly more policy analysis” (Peterson 2001: 313).

Dieses Zitat soll das übergeordnete Ziel dieser Arbeit verdeutlichen: Da es inzwischen so viele Theorien - insbesondere mittlerer Reichweite - in der EU-Forschung gibt, besteht vorerst kein Bedarf an neuen Theorien, sondern die existierenden müssen getestet werden.

So gibt es auch zur Europäisierung der Migrationspolitik kaum umfassende Studien (vgl. aber Ette/Faist 2007 und Tomei 2001), sondern höchstens Studien zu einzelnen Richtlinien (z.B. Walter 2006) oder zu Teilbereichen wie der Integrationspolitik (Rosenow 2007). Allerdings war die Betrachtung der Rolle der Europäischen Union bei der Regulierung der Migrationsströme in den vergangenen Jahren ein echtes Wachstumsgebiet (Sasse/Thielemann 2005: 663 f.; vgl. z.B. Birsl 2005, Geddes 2003a, Koslowski 2000, Lahav/Messina 2005, Lavenex 2001, Lavenex 1999, Nuscheler 2004). Drei Themen prägten dieses neue Interesse (Sasse/Thielemann 2005: 664): Warum kooperierten die Länder verstärkt auf europäischer Ebene? Weshalb kommt es zur Vergemeinschaftung und bleibt es nicht bei der intergouvernementalen Kooperation? Welchen Einfluss hat die EU-Politik auf die nationale Migrationspolitik?

In der vorliegenden Arbeit soll die Frage nach dem Einfluss der EU-Politik auf die nationale Migrationspolitik, also ob die nationale Politik in diesem Bereich bereits europäisiert ist, anhand neuer Beispiele und mit einem kohärenten Ansatz untersucht werden.

Einer der populärsten und auch spannendsten Ansätze in der Europäisierungsforschung der vergangenen Jahre ist der Mehrebenenansatz[3]. Dieser Ansatz betrachtet nämlich nicht nur die Auswirkungen etwa der europäischen auf die nationalstaatliche Ebene, sondern auch die Interkonnektivität zwischen beiden Ebenen. Da die Nützlichkeit dieses Ansatzes dennoch umstritten ist, soll folgende theoretische Frage durch die Arbeit leiten:

Führt der Mehrebenenansatz bei der Untersuchung der Europäisierung der Migrationspolitik zu einem Erkenntnisgewinn?

Zur Europäisierung der Migrationspolitik an sich sollen folgende empirische Fragen die Untersuchung leiten:

Ist die Migrationspolitik europäisiert? Was sind die zentralen Inhalte und Steuerungsmuster der EU-Migrationspolitik? Gibt es dabei Unterschiede bei der Umsetzung zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten und sind diese Unterschiede möglicherweise von der Länge der Mitgliedschaft in der Europäischen Union abhängig?

Zur Beantwortung dieser Fragen soll folgende These als Leitfaden dienen:

Die restriktiven Elemente der Migrationspolitik werden europäisiert, während die liberaleren Elemente der Migrationspolitik nationaler Verantwortung überlassen werden. Mit restriktiveren Elementen sind etwa die Verschärfung des Asylrechts oder die Begrenzung der Zuwanderung Geringqualifizierter gemeint, während mit liberaleren Elementen etwa die Integrationspolitik oder Blue Cards gemeint sind.

Die Unterscheidung zwischen „liberalen“ und „restriktiven“ Elementen ist dabei eine in der Migrationspolitik oft bemühte Dichotomie, die es ermöglicht sie schnell für eine tiefergehende Analyse einzuordnen (Bendel 2008a: 229).

1.3. Methodik und Aufbau der Arbeit

Bei der Suche nach Antworten auf die theoretische Leitfrage nach der Nützlichkeit des Mehrebenenansatzes bei der Untersuchung der Europäisierung der Migrationspolitik fällt bei der Sichtung der vorhandenen Literatur zunächst auf, dass es sehr viel Literatur zum Mehrebenenansatz gibt, diese aber in den allermeisten Fällen theoretisch und abstrakt bleibt. Es gibt bisher nur verhältnismäßig wenige Versuche diesen Ansatz an konkreten Fallbeispielen zu testen (z.B. Heinelt 2008). Für die Migrationspolitik wurde bisher nur von Birsl (2005) ein Versuch unternommen[4]. Da dieser aber den Fokus auf den Vergleich der Migrationspolitik in Großbritannien, Deutschland und Spanien legt, und der Mehrebenenansatz noch wenig systematisch ist, ist die vorliegende Untersuchung ein kleiner Beitrag zur Verringerung der Diskrepanz zwischen der großen Menge an theoretischer Literatur und der kleinen Zahl an empirischen Untersuchungen.

Da ein Mehrebenenansatz gewählt wurde, sollen im empirischen Teil zwei Ebenen untersucht werden: die europäische und die nationalstaatliche. Für die nationalstaatliche Ebene wurden folgende drei Länderbeispiele gewählt: Frankreich, Spanien und Rumänien. Die Fallauswahl wurde so getroffen, dass möglichst unterschiedliche Fälle untersucht werden, damit die Ergebnisse möglichst generalisierbar sind, beziehungsweise gegebenenfalls unterschiedliche Ergebnisse erklärt werden können: Frankreich als großes Gründungsmitglied der Europäischen Union, das eine lange Tradition als Einwanderungsland hat; Spanien als mittelgroßer Mitgliedsstaat der zweiten Generation, das sich erst in den 80er und 90er Jahren vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland gewandelt hat und zur Zeit die größte Nettozuwanderungsrate der EU hat; und schließlich Rumänien als einer der neuesten Mitgliedsstaaten, der zudem eine relativ niedrige Einwohnerzahl hat, bis heute ein Nettoauswanderungsland ist und erst seit kurzem mit dem Phänomen der Einwanderung konfrontiert ist. Rumänien ist besonders interessant, da die Migrationspolitik dieses Landes in nichtrumänischer Sprache kaum politikwissenschaftlich untersucht wurde – schon gar nicht aus einer Mehrebenenperspektive. Wenn sich in diesen drei Ländern trotz der unterschiedlichen Ausgangssituationen Europäisierungseffekte beobachten ließen, so wäre dies ein verlässlicher Indikator dafür, dass die Europäisierung der Migrationspolitik auf der nationalen Ebene in der EU existiert.

Für die vorliegende Untersuchung wird vor allem eine literaturorientierte Vorgehensweise gewählt, es wird aber für den empirischen Teil auch auf Primärquellen wie zum Beispiel Originaldokumente der Kommission, der nationalen Ministerien, etc., sowie auf Statistiken von Eurostat, dem UNHCR, der International Migration Organization und der nationalen Statistikämter zurückgegriffen. Dies ist insbesondere in Rumänien nötig, da dort die Migrationsforschung noch ein sehr junges Gebiet ist, das sich noch in der ersten und zweiten Generation befindet, um eine Einteilung von Zincone und Caponio (2006) zu verwenden: Die erste Generation der Migrationsforschung beschäftigt sich mit der demographischen Zusammensetzung und der Evolution der Migrationsströme; die zweite Generation beschäftigt sich mit der wirtschaftlichen Integration der Migranten und ihrem sozialen Verhalten; die dritte Generation untersucht vor allem die Integrationspolitik und die politische Partizipation; und erst die vierte Generation beschäftigt sich damit, wie Migrationspolitik zu Stande kommt und beschlossen wird – also mit klassischer Policy-Forschung (Zincone/Caponio 2006: 269). Die vorliegende Untersuchung zählt zur „viereinhalbten Generation“ (ebd.) der Migrationsforschung, die Policy-Forschung aus einer Mehrebenenperspektive betreibt. Für Frankreich und Spanien liegen Forschungsberichte aus allen vier Generationen der Migrationsforschung vor, so dass dort eher auf Sekundärliteratur zurückgegriffen werden kann.

Um der Frage nach der Erklärungskraft des Mehrebenenansatzes im Bereich der Europäisierung der Migrationspolitik nachzugehen wird zunächst geklärt, was Europäisierung überhaupt ist (Kapitel 2.1.). Anschließend wird der Mehrebenenansatz vorgestellt (Kapitel 2.2) um dann ein Forschungsdesign festzulegen (Kapitel 2.3.), mit welchem die Entwicklungen auf europäischer Ebene (Kapitel 3.1.) und die (vermutete) Europäisierung der nationalen Migrationspolitiken in Spanien, Frankreich und Rumänien (Kapitel 3.2.) untersucht werden sollen. Diese Untersuchung lässt sich im Anschluss zu einer Bewertung der zentralen These dieser Arbeit heranziehen (Kapitel 4). Des weiteren sollen in diesem Kapitel alle Fragen noch einmal aufgegriffen werden und explizit beantwortet werden – auch wenn sie möglicherweise implizit schon zuvor beantwortet worden sind.

2. Der Mehrebenenansatz und die Europäisierung

In diesem Kapitel sollen die Europäisierungsforschung und der Mehrebenenansatz vorgestellt und erklärt werden, damit sie für die anschließende Untersuchung der Migrationspolitik genutzt werden können.

Zunächst wird geklärt, was Europäisierung überhaupt bedeutet. Dafür werden verschiedene Definitionen vorgestellt, aus denen dann diejenige ausgesucht wird, die den Autor überzeugt hat, um diese dann für den Rest der Untersuchung zu verwenden (Abschnitt 2.1.).

Anschließend soll der Mehrebenenansatz vorgestellt werden (Abschnitt 2.2.). Dabei sollen zunächst die Ursprünge dieses Ansatzes, wie z.B. die Verbindung zur Governance-Forschung dargestellt werden (Abschnitt 2.2.1.), damit klar ist worauf Gary Marks und Liesbet Hooghe, die den Ansatz maßgeblich entwickelten, zurückgriffen (Abschnitt 2.2.2.). Darauf aufbauend soll die Weiterentwicklung des Mehrebenenansatzes in der EU-Forschung durch andere Autoren nachvollzogen werden (Abschnitt 2.2.3) und abschließend geprüft werden, ob der Mehrebenenansatz nur ein Forschungsansatz oder möglicherweise doch schon eine eigene Theorie ist (Abschnitt 2.2.4.).

Schließlich soll ein Analysemodell für die Untersuchung der Europäisierung der Migrationspolitik im Mehrebenensystem vorgestellt werden (Abschnitt 2.3.).

2.1. Europäisierung – nur ein Modebegriff?

Der Begriff der Europäisierung ist in den vergangenen Jahren in der Europaforschung sehr in Mode gekommen (Olsen 2002). Dies ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass es keine allgemein akzeptierte Definition des Begriffes gibt (Auel 2006: 295). Dies führt dazu, dass der Begriff nicht nur in Mode, sondern auch umstritten ist. Schwierig ist etwa die Abgrenzung vom Begriff der europäischen Integration. So beschreiben etwa Cowles et al. (2001) Europäisierung folgendermaßen:

„We define Europeanization as the emergence and the development at the European level of distinct structures of governance, that is, of political, legal, and social institutions associated with political problem-solving that formalize interactions among the actors, and of policy-networks specializing in the creation of authoritative European rules.“ (Cowles/Caporaso/Risse 2001: 3; Hervorhebung im Original).

Da diese Definition den Aufbau und die Entstehung der Europäischen Institutionen in den Mittelpunkt rückt, ist sie nur schwer von der Definition der europäischer Integration abzugrenzen (Auel 2006: 296; Axt/Milososki/Schwarz 2007: 137). Dieser Definition wurde in der Folge auch mangelnde konzeptuelle Innovation vorgeworfen (Eising 2003: 393). Diese Probleme treffen im Prinzip für alle Europäisierungsdefinitionen zu, die eine „Froschperspektive“ (Börzel 2003: 181) einnehmen und den Einfluss der Staaten auf die Entscheidungen und Entwicklungen der EU untersuchen.

Auch die Abgrenzung vom Begriff der Konvergenz scheint zunächst schwierig (Featherstone 2003: 3). Héritier und Knill (2001) weisen aber darauf hin, dass Europäisierung, wenn sie denn eine Antwort nationaler auf europäische Politiken meint, nicht zwangsläufig Konvergenz bedeuten muss, sondern in unterschiedlichen Ländern zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann. Darüber hinaus bezeichnet Europäisierung einen Prozess, während Konvergenz ein mögliches Ergebnis dieses Prozesses ist (Radaelli 2003: 33, Vink 2003: 65).

Eine „Vogelperspektive“ (Börzel 2003: 181-183) nehmen Minimaldefinitionen ein: ihre Autoren meinen, der Konsens aller Europäisierungsdefinitionen sei, dass es eine Rückwirkung der europäischen Integration auf die nationalen Politiken gebe (z.B. Börzel 1999: 574, Hix/Goetz 2000: 10, Vink 2003: 64). Auch diese Definitionen überzeugen nicht, da sie zu unspezifisch sind um die Komplexität der Europäisierung widerzuspiegeln und so eine analytische Untersuchung zu ermöglichen (vgl. Axt/Milososki/Schwarz 2007: 138). Zudem vernachlässigen solche Definitionen aus der Vogelperspektive mögliche Wechselwirkungen zwischen top-down- und bottom-up -Prozessen (vgl. Börzel 2001: 3), sowie Europäisierungsprozesse, die nicht durch europäische Vorgaben entstehen sondern durch globale Entwicklungen bestimmt sind (vgl. Bulmer/Radaelli 2004: 3). Dennoch hat die Vogelperspektive auch einige Vorteile. Interessant ist vor allem der Goodness of Fit - Ansatz : Die These dieses Ansatzes ist, dass es eine Unvereinbarkeit – im englischsprachigen Original misfit - zwischen europäischen und mitgliedsstaatlichen Politikprogrammen, Institutionen oder politischen Prozessen geben muss, damit es einen Anpassungsdruck gibt und es so zur Europäisierung kommt (Auel 2006: 304f., Börzel 1999: 574, Börzel/Risse 2000: 5, Knill/Lehmkuhl 1999: 3).

Policy misfit means that the contents of e.g. an EC labour law Directive are not fulfilled in the relevant national law. This can refer to a gradual difference […] or to a matter of principle […]. Europeanisation can hence be of a quantitative (more or less of an existing policy) or a qualitative kind (new/replacement of national institutions or structures)” (Falkner 2003: 3; Hervorhebung im Original).

Diese Unvereinbarkeit kann entweder zwischen europäischen und nationalstaatlichen Politikprogrammen oder zwischen europäischen und nationalstaatlichen Institutionen, Regeln und Verfahren bestehen (Panke/Börzel 2008: 142).

Das G oodness of Fit -Modell ist allerdings nur dort sinnvoll, wo es klare EU-Vorgaben gibt, die von den EU-Staaten erfüllt werden müssen (Bulmer/Radaelli 2004: 10). Dort wo die Offene Methode der Koordinierung[5] angewandt wird und in anderen Bereichen loser Kooperation erscheint es unpassend (Bulmer/Lequesne 2005: 14). Darüber hinaus hat es wie alle top-down -Ansätze den Nachteil Wechselwirkungen mit dem Prozess der Integration zu vernachlässigen.

Eine gewisse Verbreitung hat folgende Europäisierungsdefinition von Claudio M. Radaelli (2004) gefunden, die eine integrierte Perspektive – also gewissermaßen eine Kombination aus Frosch- und Vogelperspektive - einnimmt (vgl. Auel 2006: 298, Axt/Milososki/Schwarz 2007: 138):

„Europeanisation consists of processes of a) construction, b) diffusion and c) institutionalisation of formal and informal rules, procedures, policy paradigms, styles, 'ways of doing things' and shared beliefs and norms which are first defined and consolidated in the EU policy process and then incorporated in the logic of domestic (national and subnational) discourse, political structures and public policies” (Radaelli 2004: 3).

Diese Definition von Radaelli, die auch Überlappungen zu den Begriffen europäische Integration und Konvergenz aufweist, sich aber dennoch deutlich von diesen unterscheidet, ist natürlich nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern greift ihrerseits auf eine Definition von Ladrech (1994: 69) zurück, der das Konzept aber enger fasste und die Europäische Integration ganz klar von der Europäisierung abgrenzte.

Eising (2003: 395) kritisiert Radaellis Definition - wenn auch eine frühe Version (Radaelli 2000: 3) - dafür, dass sie als ersten Schritt die Entwicklung bestimmter Institutionen und Praktiken auf europäischer Ebene mit aufnimmt. Dieser Schritt ist seiner Meinung nach überflüssig, da es um die Inkorporation europäischer Entwicklungen in nationale Systeme gehe (Eising 2003: 395). Diese Argumentation Eisings greift aber zu kurz, da so mögliche Wechselwirkungen außer Betracht gelassen werden. Eine solche Betrachtung würde nur Sinn ergeben, wenn man die EU statisch betrachten würde. So sind Europäisierung und Integration, auch wenn sie – wie meistens der Fall - getrennt voneinander betrachtet werden, eng miteinander verknüpft. Es sind verschiedene Richtungen ein und desselben policy cycles: bottom-up oder top-down (Bulmer/Lequesne 2005: 12).

Radaellis Definition ist also für die vorliegende Untersuchung die sinnvollste, da sie je nach Fragestellung sowohl die Frosch- als auch die Vogelperspektive einnehmen kann – abhängig davon welchen Zeitpunkt man untersucht, da weder die EU noch die Mitgliedsstaaten zu einem Zeitpunkt Ursache und Wirkung sein können (vgl. Eising 2003: 395, Panke/Börzel 2008: 140). Ein weiterer Vorteil Radaellis’ Definition ist, dass sie sich nicht auf die Wirkung europäischer Gesetzgebung beschränkt, sondern auch die Wirkung des gesamten Bereichs europäischer Politikformulierung umfasst und damit auch Formen des Regierens, die nicht auf Gesetzesproduktion abzielen (vgl. Auel 2006: 298). Die Definition bedarf aber folgender Ergänzung: Europäisierung im Sinne von Punkt b) und c) der Definition – also der Verbreitung und Institutionalisierung der Regeln, Verfahren, Politikinhalte und Normen - wirkt nicht gleichförmig in allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, sondern kann zu völlig unterschiedlichen Politikergebnissen in den einzelnen Ländern führen. (Schmidt 2001: 1, Windhoff-Héritier/Knill 2001). Festzuhalten ist auf jeden Fall, dass alle Definitionen von Europäisierung die EU als Mehrebenensystem begreifen (Panke/Börzel 2008: 140). Das bedeutet, dass es auf jeden Fall sinnvoll erscheint, die Europäisierung der Migrationspolitik mit Hilfe des Mehrebenenansatzes zu untersuchen.

Problematisch aus wissenschaftlicher Sicht ist dabei, dass sich das Phänomen der Europäisierung nur schwerlich mit Hilfe unabhängiger und abhängiger Variablen untersuchen lässt, da diese Abgrenzung schlicht nicht ex ante möglich ist (vgl. Olsen 1996: 271). Auch die Anwendung von Regressionsanalysen ist in diesem Zusammenhang nicht möglich (ebd.).

Ein weiteres Problem ist, dass weder die EU noch die Nationalstaaten statisch sind, so dass man Wechselwirkungen zwischen beweglichen Zielen untersucht (Bulmer/Radaelli 2004: 3). All diese Schwierigkeiten müssen bei der Erstellung eines Analysemodells bedacht und berücksichtigt werden.

Die Frage lautet nun, wie man Radaellis Definition von Europäisierung für die folgende Untersuchung der Migrationspolitik nutzbar machen kann. Dabei ist interessant, ob es in diesem Politikfeld schon zu einer Europäisierung gekommen ist, wie weit diese geht und ob sie einheitlich gewirkt hat. Um diese Untersuchung durchzuführen soll der Mehrebenenansatz vorgestellt werden (Kapitel 2.2.), der dann zu Untersuchung der Europäisierung der Migrationspolitik herangezogen wird. Hierfür sollen die Europäisierungsdefinition von Radaelli und der Mehrebenenansatz in einem einheitlichen Forschungsdesign zusammengefügt werden (Kapitel 2.3.).

Der Begriff der Europäisierung ist also nicht nur ein Modebegriff, sondern kann ein nützlicher Ausgangspunkt für die Untersuchung von Veränderungen in Politik und Gesellschaft sein. Allerdings nur, wenn man ihn auch genau definiert und er nicht nur ein Synonym für europäische Integration oder gar Konvergenz ist (vgl. Featherstone 2003: 3). Man muss die „vielen Gesichter der Europäisierung“ (Olsen 2002) mit einbeziehen und versuchen dabei dennoch präzise zu sein.

2.2. Der Mehrebenenansatz

„Although not commonly or methodically studied as part of the ‘multilevel governance’ literature on the EU […], migration policy has evolved as it has been exposed to a multitude of decision-making locations and bodies that have vied for competence and jurisdiction. These include a set of European institutions […] as well as a network of experts, national ministries, subnational groups, NGOs, security officials, and ad hoc groups” (Lahav 2004: 39).

Der Mehrebenenansatz ermöglicht es, nicht nur eine Ebene eines politischen Systems wie z.B. die nationale oder supranationale Ebene zu betrachten, sondern auch das Zusammenwirken und die Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Ebenen zu untersuchen. Entscheidend ist, dass es nicht nur Machtverteilung zwischen den verschiedenen Ebenen, sondern auch Interkonnektivität gibt (Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2004: 103). Bei der Untersuchung dieser Mehrebenensysteme werden auch die informellen Komponenten von Institutionen miteinbezogen (ebd.: 99).

Der größte Teil der Mehrebenenforschung beschäftigt sich mit der EU. Die Literatur zur EU als Mehrebenensystem ist derart in Mode gekommen, dass sie mittlerweile unüberschaubar ist (vgl. Knodt/Stoiber 2007: 81). Im engeren Sinne konzentriert sie sich auf multilevel governance, d.h. auf die Steuerung und Koordinierung im Mehrebenensystem. Daher wird der Mehrebenenansatz im Rahmen der EU-Forschung häufig auch als Multilevel-Governance-Ansatz bezeichnet (ebd.).

Wie hängt der Mehrebenenansatz nun mit der Europäisierung zusammen? Man muss dabei nicht soweit wie Pollack (2005) gehen, der sogar davon ausgeht, dass Europäisierungsforschung ein Ableger der Mehrebenenanalyse sei:

„A final offshoot from the multi-level governance tradition examines the phenomenon of ‘Europeanization,’ the process whereby EU institutions and policies influence national institutions and policies within the various member states” (Pollack 2005: 384).

Europäisierung bedeutet vielmehr für die meisten Vertreter des Mehrebenenansatzes eine stärkere wechselseitige Abhängigkeit der nationalen und der supranationalen Entscheidungsebenen (Börzel 1999: 576, Gualini 2003: 617). Multilevel Governance wird dann als Rahmen verwendet, in dem diese Abhängigkeiten untersucht werden (Gualini 2003: 618).

Dies ist ein weiteres Argument dafür, dass die gewählte Europäisierungsdefinition von Radaelli die geeignetste für die vorliegende Untersuchung ist, da sie die Untersuchung eben dieser wechselseitigen Abhängigkeiten ermöglicht, indem sie auch die Untersuchung von Elementen des Integrationsprozesses zulässt.

2.2.1. Vorläufer des Mehrebenenansatzes

Der Begriff der multilevel governance, bzw. das Synonym Mehrebenenpolitik kam in den 1990er-Jahren in der Politikwissenschaft in Mode (zuerst Marks 1992: 192; vgl. Benz 2004: 129, Knodt/Stoiber 2007: 81).

Das Phänomen und die Beschäftigung mit diesem sind allerdings älter: Schon in der Föderalismusforschung der 1960er und -70er Jahre beschäftigten sich Politikwissenschaftler mit der Verflechtung verschiedener Ebenen (z.B. Lowi 1964, Scharpf 1976; vgl. Benz 2004: 129). Noch heute wird insbesondere das Mehrebenensystem EU mit föderalen Systemen verglichen.

„Die EU bildet ein Mehrebenensystem, das mit föderalen Systemen vergleichbar ist“ (Jachtenfuchs 2008: 387).

Zu Beginn der 1990er Jahre wurde der Begriff der Mehrebenenverflechtung dann fast zeitgleich zur erstmaligen Verwendung des Begriffs der multilevel governance auf den deutschen Bundesstaat angewandt (Benz 1992) Ein anderer Vorgänger des Mehrebenenansatzes ist der Zwei-Ebenen-Ansatz aus den 1980er-Jahren, der auf die Interdependenz von Innen- und Außenpolitik hinwies (Bulmer 1991; Putnam 1988). Dieser Ansatz erwies sich aber als zu restriktiv, da er den Nationalstaaten eine zu große Bedeutung beimisst und andere Akteure kaum berücksichtigt (Knodt/Stoiber 2007: 90). Auch vernachlässigt er die Interdependenz der nationalen Präferenzbildungen mit denen der anderen EU-Staaten (Smith 2004: 4).

Die Miteinbeziehung anderer Akteure außer dem Staat ist eng verbunden mit dem Begriff der Governance. Auch dieser Begriff ist allerdings nicht unumstritten (vgl. Knodt 2005, Tömmel 2008: 13). So ist beispielsweise nicht klar, ob der Begriff nicht einfach nur eine neue Hülle für die alte Steuerungstheorie ist. Mayntz meint hierzu, dass Governance insofern anders sei, als dass der Begriff sich deutlich von der Steuerbarkeit durch zentrale Institutionen distanziere (Mayntz 2008: 46). Diese Distanzierung geschah insbesondere durch die Entdeckung der globalen Ebene. Als Paradebeispiel hierfür kann der häufig zitierte Buchtitel von Czempiel und Rosenau „Governance without Government“ (1992) dienen. In diesem Werk beschäftigen sich zehn renommierte Autoren mit dem Phänomen des Regierens auf globaler Ebene. Diese Betrachtung der globalen Ebene macht den Unterschied zwischen Steuerung und Governance deutlich: Für die Herstellung und Aufrechterhaltung öffentlicher Ordnung im internationalen System spielen nicht-staatliche Akteure eine wichtige Rolle. Der Unterschied wird ganz besonders deutlich, wenn die Autoren Governance als „Regelsystem“ definieren (Rosenau/Czempiel 1992: 4, Übers. d.Verf.), während der Begriff der Steuerung eindeutig akteurs- und zumeist staatsbezogen ist (Eilstrup-Sangiovanni 2006: 332, Mayntz 2008: 46;).

Eine Definition, die diesen Unterschied gut zeigt, ist die folgende von Schmitter:

„Governance is a method or mechanism for dealing with a broad range of problems/conflicts, in which actors regularly arrive at mutually satisfactory and binding decisions by negotiating and deliberating with each other and cooperating in the implementation of these decisions” (Schmitter 2006: 161).

Bezogen auf die Europäische Ebene kann man seit der Einheitlichen Europäische Akte von 1987 von Governance sprechen: In ihr wurde beschlossen in zahlreichen Politikfeldern Entscheidungen nach dem Prinzip der qualifizierten Mehrheit zu treffen. Dies führte dazu, dass die EU nicht weiter wie eine Internationale Organisation unter vielen behandelt wurde, sondern man begann sich für die EU-Governance und ihren Zusammenhang mit Governance auf anderen Ebenen zu interessieren (Bache/Flinders 2004b: 2f.).

Die Governance der EU kann dabei nur durch Interaktion der strategischen Absichten sowohl der europäischen als auch der nationalen Akteure erklärt werden - die traditionelle Debatte zwischen Supranationalismus und Intergouvernementalismus ergibt hier keinen Sinn (Tömmel 2008: 25f.).

Der Mehrebenenansatz möchte diese komplexe Situation voller Interdependenzen zwischen der internationalen, europäischen, nationalen und auch subnationalen Ebene analysieren und versucht hierfür Forschungen zur Vergleichenden Regierungslehre und zu den Internationalen Beziehungen miteinander zu verbinden (Ebbinghaus 1996: 406). Die Interdependenzen zwischen verschiedenen Ebenen können durch externe Effekte verursacht sein: So können Entscheidungen der zentralen Ebene die Entscheidungsspielräume dezentraler Ebenen verringern, oder umgekehrt Entscheidungen der dezentralen Ebenen die Möglichkeiten der zentraleren Ebene zur Erreichung von Zielen verringern (Benz 2004: 131). Interdependenzen können aber auch aus Verteilungskonflikten resultieren, die aus den unterschiedlichen Auswirkungen zentraler Entscheidungen für unterschiedliche Subebenen entstehen. (ebd.: 131).

Das Interdependenzproblem verlangt eine heuristische Wahl: Wählt man Inlandsfaktoren als Ursache europäischer Phänomene oder untersucht man die umgekehrte Wirkung (Ebbinghaus 1996: 414). Während die meisten Autoren den Weg wählten die Inlandsfaktoren durch die Entwicklungen auf europäischer Ebene erklären zu wollen, ist dennoch auch der umgekehrte Weg gangbar und wurde auch gegangen (z.B. Windhoff-Héritier 1994). Am interessantesten sind aber Untersuchungen, welche beide Perspektiven einnehmen und die Wechselwirkungen untersuchen (z.B. Börzel 2006; vgl. Bulmer/Lequesne 2005: 12). Dieser Versuch soll auch in der vorliegenden Arbeit unternommen werden.

2.2.2. Der Mehrebenenansatz von Gary Marks und Liesbet Hooghe

Entscheidend wurde der Mehrebenenansatz von Gary Marks und Liesbet Hooghe entwickelt (Hooghe/Marks 2003, Marks/Hooghe 2004, Marks 1996). Marks (1992) entwickelte den Ansatz induktiv, ausgehend von der Regional- und Strukturpolitik. Er arbeitete dort ein für dieses Politikfeld typisches Entscheidungsmuster heraus. Ausgehend von diesem Entscheidungsmuster entwickelte er gemeinsam mit Liesbet Hooghe und Kermit Blanks (1996) den Mehrebenenansatz. Ihr Ansatz war dadurch gekennzeichnet, dass er sowohl die Falle des Staatszentrismus vermied, als auch die Falle die EU nur auf die supranationalen Institutionen zu reduzieren erkannte (Knodt/Große Hüttmann 2006: 330f.). Folglich versuchten sie die nationalstaatliche und die europäische Ebene miteinander zu verbinden und dabei auch informelle Akteure mit einzubeziehen (Marks 1996; vgl. Rosamond 2006: 110). Sie sehen Staaten weiter als die wichtigsten Einheiten im Entscheidungsprozess an, sehen aber auch, dass diese durch die Handlungen ihrer Eliten und zahlreicher sub- und supranationaler Akteure in eine Mehrebenen-Polity verschmolzen werden (Marks/Hooghe/Blank 1996: 371; vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2004: 101).

„Policy-making in the EU is characterized by mutual dependence, complementary functions and overlapping competencies“ (Marks/Hooghe/Blank 1996: 372).

„With its dispersed competencies, contending but interlocked institutions, and shifting agendas, multi-level governance opens multiple points of access for interests” (Hooghe/Marks 2001: 28).

Die Entscheidungsmacht liegt also nicht mehr allein beim Rat und nationale Exekutiven können nicht prinzipiell die Ergebnisse des Entscheidungsprozesses bestimmen (Marks/Hooghe/Blank 1996: 356).

Der Mehrebenenansatz von Marks und Hooghe ist aber weiter akteurszentriert:

„Our starting point (...) is to make a clear distinction between institutions and actors, i.e. between the state (and the EU) as sets of rules and the particular individuals, groups, and organizations which act within those institutions“ (ebd.: 348).

In ihren späteren Beiträgen (Hooghe/Marks 2003, Hooghe/Marks 2001, Marks/Hooghe 2004) relativieren Marks und Hooghe die Bedeutung der regionalen Akteure und konzentrieren sich allgemeiner auf den Kontrollverlust der Nationalstaaten im Prozess der Europäischen Integration. In diesem Sinne wird auch in der vorliegenden Arbeit der Mehrebenenansatz verwendet und der Fokus auf die nationalstaatliche und die supranationale Ebene gelegt.

„(W)hile national arenas remain important arenas for the formation of national government preferences, the multi-level governance model rejects the view that subnational actors are nested exclusively within them. Instead, subnational actors operate in both national and supranational arenas“ (Hooghe/Marks 2001: 4).

Wichtig ist, dass dieses Modell das traditionelle intergouvernementale Verhandlungssystem erst in den letzten 20 Jahren abgelöst hat, und nicht für immer bestehen bleiben muss (Marks/Hooghe/Blank 1996: 373).

[...]


[1] Ab hier mit EU abgekürzt.

[2] Häufig wird auch der Begriff „illegale“ Migration verwendet, der Term „irregulär“ wird hier aber vorgezogen, da der Begriff „illegal“ negativ besetzt ist. Der Begriff irreguläre Migration stammt aus dem Sprachgebrauch der Vereinten Nationen (vgl. Nuscheler 2004: 52; OIM 2007: 50).

[3] Synonym wird der englische Ausdruck Multilevel Governance-Ansatz verwendet (häufig mit MLG-Ansatz abgekürzt).

[4] Allerdings läuft zur Zeit ein Forschungsprojekt unter der Leitung von Giovanna Zincone im Rahmen des IMISCOE-Forschungsnetzwerks „Research cluster C9 The multilevel governance of immigrant and immigration policies“; http://www.imiscoe.org/research/clusters/c9.html.

[5] Ab hier mit OMK abgekürzt.

Excerpt out of 96 pages

Details

Title
Europäisierung der Migrationspolitik - Eine Mehrebenenanalyse
College
University of Heidelberg  (Institut für Politische Wissenschaft)
Grade
2,5
Author
Year
2009
Pages
96
Catalog Number
V134149
ISBN (eBook)
9783640416905
File size
818 KB
Language
German
Notes
Der empirische Teil wurde deutlich besser bewertet als die Gesamtarbeit. Abzüge bei der Note gab es für (nach Meinung der Korrektoren) zu weit gehende Schlussfolgerungen.
Keywords
Frankreich, Spanien, Rumänien
Quote paper
Philippe Carasco (Author), 2009, Europäisierung der Migrationspolitik - Eine Mehrebenenanalyse, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/134149

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