Der Traum vom Reisen


Dossier / Travail de Séminaire, 2003

23 Pages, Note: 1,3


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Der anti-touristische Standpunkt: Daniel Boorstins Kritik am Tourismus

2. Die ewige Suche nach Authentizität als zentrales Reisemotiv und deren Problematik
2.1. Die Funktion des Tourismus als neue „Weltreligion“
2.2. Dean MacCannells Analyse zur inszenierten Authentizität im Rahmen touristischer Schauplätze
2.3. Die sechs Stufen zwischen der front und back region
2.4. Die Partizipationskultur im Tourismus

3. Das Reisen zur Erfahrung eines Raums der Imagination
3.1. Die Mythen des Nichtalltäglichen
3.2. Der Touristische Blick
3.3. Der Wiedererkennungswert im Tourismus

4. Die Funktion des Reisens als Territorium der Freiheit
4.1. Reisen zur Überschreitung der Normen des Alltags
4.2. Der Distinktionsversuch

5. Resümee

6. Literatur

Einleitung

Gedanken schweifen ab, innerhalb von Sekunden befinden wir uns in der Ferne, von der Fremde und der Exotik verführt, entrinnen wir der Trostlosigkeit der Wintermonate. Das Reisen ist eine Konstante im Leben, eine Sehnsucht, die immer dann am stärksten wird, wenn wir von Langeweile oder Stress geplagt sind. Wir träumen uns dann an die schönen Flecken dieser Erde, wo wir nicht an Pflichten und Konsequenzen denken müssen, sondern einfach mal die Seele baumeln lassen können. Das Bewusstsein, dass wir nächsten Sommer wieder unseren Urlaub verbringen werden, ist wie eine Brandung im Alltag, die uns vor der immer wiederkehrenden Routine rettet. Das Reisen gehört zur modernen Gesellschaft, beflügelt die Sinne von Millionen von Menschen, wenn das schlechte Wetter oder die hohen Anforderungen sie in ein Stimmungstief zu ziehen drohen. Das in den Tag hinein träumen, sich an fremde Orte wünschen, ist wie eine Zufluchstätte. In Gedanken malen wir uns aus, wie wir andere Länder erkunden und exotische Orte entdecken, und all das fern ab von der Realität des Alltags.

Meine Arbeit beschäftigt sich mit den verschiedenen Motivationen, die Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen und Ländern verbindet, um auf Reisen zu gehen und fremde Welten zu erkunden sowie Entwicklungen, die innerhalb des Tourismus stattgefunden haben. Dazu lege ich das Hauptaugenmerk auf den pro-touristischen Diskurs der letzten Jahre, der unter anderem von den Autoren Dean MacCannell, Christoph Hennig und Orvar Löfgren vertreten wird.

In einem intensiven Teil der Arbeit beschäftigte ich mich mit der Theorie von Dean MacCannell bezüglich des Tourismus. Er ist vor allem davon überzeugt, dass das Ziel von Reisenden die Gewinnung einer „authentischen Erfahrungen“ ist. Er lieferte 1970 erstmalig einen Widerspruch zum anti-touristischen Diskurs der vorherigen Jahrzehnte, da er positive Eigenschaften und Auswirkungen dem Tourismus für die Gesellschaft und dem Individuum zuschrieb.

Einleiten möchte ich die Arbeit mit einem kurzen Blick auf Daniel Boorstins kritische Haltung gegenüber den Tourismus, die zwar unlängst nicht mehr so stark in der wissenschaftlichen Literatur zu diesem Thema vertreten ist, aber trotz allem noch nicht vollends im allgemeinen Empfinden der Reisenden untereinander verklungen ist.

1.1. Der anti-touristische Standpunkt: Daniel Boorstins Kritik am Tourismus

Die wissenschaftliche Literatur der 60er und 70er Jahre zum Thema Tourismus wurde von einem anti-touristischen Diskurs dominiert. Grund zur Besorgnis wurde vor allem in den negativen Auswirkungen des Massentourismus auf fremde Länder sowie in der Veränderung der Art des Reisens gesehen. Ein Vertreter dieser Auffassung, Daniel Boorstin, der 1961 durch die Veröffentlichung von „The Image. A Guide to Pseudo-Events in America“ auf sich aufmerksam machte, beschreibt in dem Kapitel „From Traveler to Tourist. The Lost Art of Travel“ den offensichtlichen Untergang des „wahren Reisens“ durch einen massenhaft betriebenen Tourismus, der sich durch die moderne Gesellschaft vollzog und nun Personen aus allen Klassen finanziell ermöglichte fremde Länder zu besuchen. Boorstins nostalgische Betrachtungsweise geht auf die romantische Natur des Reisens zurück: als Abenteuer und Prozess, der zur Erleuchtung, Weiterentwicklung und Inspiration führt. Reisen besitzt, seinem Erachten nach, die Funktion eines Katalysators, der für neue Ideen sorgt, die den technischen und kulturellen Fortschritt der Gesellschaft vorantreiben sollen.[1]

Massentourismus hingegen ist für ihn die pure kommerzielle Ausbeutung und Inszenierung fremder Kulturen, die sich in Pseudo-Events bemerkbar machen und allein für das touristische Interesse entstanden sind bzw. produziert werden. Sie spiegeln nicht das Bild der Realität des Landes wieder, sondern vermitteln dem Touristen nur oberflächliche Eindrücke. Die Gewinnung einer authentischen Erfahrung des Gastlandes und deren Bewohner wird verhindert.

„These [tourist] ‘attractions’ offer an elaborately contrived indirect experience, an artificial product to be consumed in the very places where the real thing is as free as air. They are ways for the traveler to remain out of contact with foreign people in the very act of ‘sight-seeing’ them. They keep the natives in quarantine while the tourist in air-conditioned comfort views them through a picture window. They are the cultural mirages now found at tourist oases every-where.”[2]

Die Passivität der Touristen ist ein Hauptmerkmal, dass sie von „wahren Reisenden“, den travelers, unterscheidet. Nicht das Kennenlernen der fremden Kultur steht an erster Stelle, sondern das komfortable und sichere Reisen in der Gruppe mit Reiseleitung, die für sie die besten Attraktionen zum Besichtigen herausfiltert. Ihr Bild, das sie als Gruppe abgeben, erinnert laut Daniel Boorstin an das von Schafsherden, die voller Vertrauen dem Touristenführer von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten Sehenswürdigkeit nachlaufen, ohne jegliche Art von Eigeninitiative zeigen zu müssen. Das ideale Gegenstück zum Touristen hingegen ist der aktive Reisende, der sich durch seine Eigenständigkeit auszeichnet. Er ist die Verkörperung des Individualisten, dem es nach „echten“ Erlebnissen sinnt und auf eigene Gefahr und ohne größere Absicherung das Landesinnere fern ab von den Touristenströmen erkundet, um dort auch zu sich selbst finden zu können.[3]

2. Die ewige Suche nach Authentizität als zentrales Reisemotiv und deren Problematik

Dean MacCannells Aufsatz „Staged Authenticity: Arrangements of Social Space in Tourists Settings“, der 1973 erschien, ist im Kern eine Antwort auf die anti-touristische Einstellung in der wissenschaftlichen Literatur, doch insbesondere auf Daniel Boorstins „Pseudo-events“.

Er argumentiert, dass Tourismus in der modernen Gesellschaft einige wichtige Funktionen besitzt, die der der Religion nahe kommen. Sightseeing ist ein Ritual, das von einer Gemeinschaft mit moralischer Struktur ausgeführt wird und komplexe Zusammenhänge - durch z.B. das Beobachten anderer Personen bei ihren Arbeitsausführungen (work display) überschaubar macht.

MacCannell sieht das zentrale Motiv des Reisens, in der permanenten Suche nach Authentizität in einer fremden Alltagskultur, die die Diskontinuität in der eigenen modernen Gesellschaft überbrücken soll.

2.1. Die Funktion des Tourismus als neue „Weltreligion“

Das Problem der modernen Gesellschaft liegt nach Ansicht MacCannells in ihrer Komplexität, in der das Individuum einen kleinen Bruchteil eines großen unüberschaubaren Organismus darstellt. Durch die Fragmentierung der Arbeitschritte und Prozesse sowie der Loslösung von sozialen Beziehungen rückt die einstige Auffassung, dass die Arbeit den Sinn im Leben begründet, immer mehr in den Hintergrund und verliert den Wert als Identifikationsmittel.[4]

Ferner verursachen die zunehmend sekundär vermittelten Erfahrungen, die Wahl der Erkenntnisgewinnung und die Vielzahl von Möglichkeiten, die dem Individuum offen stehen um sein Leben zu gestalten, den Verlust, dass seine Lebensform sinnvoll ist. Die sekundär vermittelten Informationen verstärken das Gefühl nur noch „oberflächliche Erfahrungen" zu erleben und nicht mehr zwischen Wahrheit und Fiktion unterscheiden zu können.

Daher wird die Freizeit mehr und mehr zur Quelle des Lebensinhaltes und zentraler Gegenstand zur persönlichen Definition. Als Tourist kann man, laut Selwyn, außerhalb des alltäglichen Lebens nach Strukturen und Wurzeln der Traditionen suchen und diese rekonstruieren, die durch die Globalisierung verloren gegangen sind, um seine Sinne von der modernen Welt zu erholen.[5] Der Wunsch, die Werte fremder Alltagskulturen auf die eigene Gesellschaft zu reflektieren, soll durch das Erleben „authentischer Erfahrungen“ und mit Hilfe des Sightseeings erfolgen.[6]

Hennig beschreibt welche Bedeutung dem Begriff des sights bei MacCannell zukommt:

„Für MacCannell ist das touristische Besichtigen ein Ritual, in dem die Fragmentierungen der modernen Gesellschaft überwunden werden. Im sightseeing wird das Ganze der Gesellschaft anschaulich: ihre öffentlichen Institutionen, Arbeitsprozesse, historische Monumente, Transportsysteme, sozialen Gruppen. Während die Alltagserfahrung sich immer nur auf begrenzte Ausschnitte beschränkt, erlaubt das touristische Reisen einen Gesamtüberblick und damit auch ein Gefühl für die Werte, welche die Gesellschaft tragen.“[7]

Wie bereits erwähnt, übernimmt das Reisen bzw. der Tourismus eine wichtige Funktion, die der Religion. Denn sie verbindet Menschen aus unterschiedlichsten Kulturkreisen, Glaubensrichtungen und sozialen Schichten durch den kollektiven Akt des „Sightseeings“. Die dazugehörigen „Codes“ und seine moralische Struktur geben vor, was der Tourist zu sehen hat und noch besichtigen muss.[8] Für einige Personen fördert der Tourismus darüber hinaus den sozialen Zusammenhalt in den Gesellschaften und kann als neue Weltreligion, die jeder angehören kann, der als Tourist unterwegs ist, begriffen werden.

Der zentrale Gegenstand der Reise ist die Suche nach einer „authentischen Erfahrung“, die in der Ursprünglichkeit anderer Kulturen vermutet bzw. erhofft wird. Nach MacCannells Urteil ist der Tourist daher auch kein passiver Betrachter, der von sight zu sight tingelt, wie so oft von der anti-touristischen Sparte behauptet, sondern eine Art Kollege des Wissenschaftlers, der im Urlaubsland die „Realität fremder Länder zu entziffern“[9] versucht.

2.2. Dean MacCannells Analyse zur inszenierten Authentizität im Rahmen touristischer Schauplätze

Erving Goffman lieferte 1959 eine Theorie zum Bewusstsein der strukturellen Trennung des Raums (social establishments) in eine Vorderbühne und Hinterbühne (front und back region) mit den dort verschieden ausgeführten sozialen Rollen (performer, audience, outsider)[10], die Dean MacCannell als nützliche theoretische Grundlage dient für die Analyse im Hinblick auf die Inszenierung von touristischen Einrichtungen und Schauplätzen.

Offensichtlich handelt es sich bei der Hinterbühne um den Ort, wo vermutet wird, dass dort das wahre Leben, die Intimität quasi die authentische Realität verborgen liegt. Dagegen wird angenommen, dass, was auf der Vorderbühne geschieht bzw. präsentiert wird, die reine Inszenierung ist. Dies führt zu einer Polarität des sozialen Lebens: nur das, was wirklich intim ist wird als echt, das andere als Show empfunden.

[...]


[1] Vgl. Boorstin 1987 (1961).

[2] Boorstin 1987 (1961), S.99, zitiert nach MacCannell 1973.

[3] Boorstins Überzeugung von der Unterscheidung von tourist und traveler sieht er bestätigt durch die Abstammung und Bedeutung der beiden Begriffe:

„The old English noun “travel“ (in the sense of a journey) was originally the same word as “travail“ (meaning „trouble,“ “work,” or “torment”). And the word “travail,” in turn, seems to have been derived, through the French, from a popular Latin or Common Romanic word trepalium, which meant a three-staked instrument of torture. To journey—to “travail,” or (later) to travel—then was to do something laborious or troublesome. The traveler was an active man at work.

In the early nineteenth century a new word came into the English language which gave a clue to the changed character of world travel, especially from the American point of view. This was the word “tourist”—at first hyphenated as “tour-ist”. Our American dictionary now defines a tourist as “a person who makes a tour, especially for pleasure.” Significantly, too, the word “tour” in “tourist” was derived by back-formation from the Latin tornus, which in turn came from the Greek word for a tool describing a circle. The traveler, then, was working at something; the tourist was a pleasure-seeker.” Boorstin 1987, S.85.

[4] MacCannell 1973.

[5] Selwyn 1994.

[6] Die primitiven Stammesgesellschaften, die der Religion eine allumfassende Rolle zusprechen, die sich so auch auf jeden Aspekt des Lebens der Individuen auswirkt und ihnen einen Platz in der Gemeinschaft sichert, brauchen sich keine Gedanken um die Richtigkeit ihrer Rituale zu machen. Das Überleben ihrer Kultur liefert den Beweis. Vgl. MacCannell 1973.

[7] Hennig 1998b, S.39.

[8] Hennig 1998b, S.39.

[9] Hennig 1998b, S.39.

[10] Die Vorderbühne ist der Bereich, wo die Vorführung für das Publikum stattfindet. Die Hinterbühne erlaubt den Darstellern sich für die Vorstellung vor der Bühne vorzubereiten bzw. sich auszuruhen. „Diese Unterscheidung zielt vor allem auf die Fähigkeit von Darstellern, die dem Publikum präsentierte Information, das heißt die Darstellung, zu kontrollieren. Hinter der Bühne bleiben die Dinge verborgen, die dem Darstellungsziel zuwiderlaufen könnten bzw. die das Geheimnis des Darstellungserfolgs sind. Dies ist ein Bereich der Privatheit und Intimität, in dem die Darstellerrolle abgelegt, aber auch eingeübt werden kann. (…) Der Zugang zur Hinterbühne wird dem Publikum wie auch unbeteiligten Dritten (outsider) verwehrt.“ Wenzel 2001, S.140; vgl. auch Goffman 1983 (1959), S.60ff.

Fin de l'extrait de 23 pages

Résumé des informations

Titre
Der Traum vom Reisen
Université
Free University of Berlin  (John. F. Kennedy Institut)
Cours
Tourismus in den USA
Note
1,3
Auteur
Année
2003
Pages
23
N° de catalogue
V13718
ISBN (ebook)
9783638192910
Taille d'un fichier
401 KB
Langue
allemand
Mots clés
Traum, Reisen, Tourismus
Citation du texte
Jessica Moritz (Auteur), 2003, Der Traum vom Reisen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/13718

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