Auf den Spuren von Lucy & Co. - Der lange Weg zum Homo sapiens


Livre Spécialisé, 2009

516 Pages


Extrait


Inhalt

Einleitung

I. Die Suche nach den ersten Menschen - Von Forschern und Funden
„Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde...“ -Wissenschaft oder Bibel
Der Mensch als Affe? - Darwin und die Folgen
Die ersten Funde: Der Neandertaler und der Cro-Magnon-Mensch
Auf der Suche nach dem „missing link“ - Eugène Dubois, der „Java-Mensch“ und die „Drachenknochen“
Scherz oder Betrug? - Die Piltdown-Fälschung
Der Weg nach Afrika - Dart, Broom, Leakey und „Lucy“

II. Die Evolution des Menschen - Der Weg zum Homo sapiens
Vormensch, Frühmensch, Jetztmensch - Wann ist der Mensch ein Mensch?
Mensch oder Affe? - Die ältesten Fossilien
Sahelanthropus tchadensis - „Hoffnung auf Leben“
Orrorin tugenensis - Der „Millenium-Man“
Ardipithecus ramidus - Ein Vorfahre der Menschenaffen?
Ardipithecus kadabba - Der Affe vom „Roten Hügel“
Die Australopithecinen - Frühe Hominiden auf dem Weg zum Homo sapiens
Australopithecus anamensis - Der „Südaffe vom See“
Australopithecus afarensis - „Lucy“ und ihre Familie
Australopithecus bahrelghazali- Ein „Südaffe“ aus dem Herzen Afrikas
Kenyanthropus platyops - Das „kenianische Flachgesicht“
Australopithecus africanus - Das „Taung-Kind“ und seine Verwandten
Australopithecus garhi - Eine Überraschung
Extreme Spezialisierung als evolutionäre Sackgasse - Die robusten
Australopithecinen
Paranthropus/Australopithecus aethiopicus - „Black Skull“
Paranthropus/Australopithecus boisei - „Zinj“, der Nussknackermensch
Paranthropus/Australopithecus robustus
Nur noch ein kleiner Schritt zum Menschen - Späte Hominiden vor dem Homo sapiens
Noch „Vormensch“ oder doch „Frühmensch“? - Der Homo rudolfensis
Vorfahre oder Sackgasse? - Der Homo habilis
Homo erectus - Ein Afrikaner erobert die Welt
Eine frühe afrikanische Form - Der Homo ergaster
Der älteste Europäer - Der Homo georgicus
Ein asiatischer Homo erectus - Der Homo erectus pekinensis
Die spanischen Funde - Der Homo antecessor
Homo heidelbergensis - Der (nicht mehr) erste Europäer
Der Neandertaler - Vom Vorfahren zur evolutionären Sackgasse
Homo floresiensis - Der „Hobbitmensch“ von Flores
Die Eroberung der Welt - Der Siegeszug des Homo sapiens
Ausblick - Fragen ohne Antwort?

III. Die Archäologie des frühen Menschen - Wie lebten unsere Vorfahren?
Die Lebenswelt des frühen Menschen
Die technische Revolution - Werkzeuge und Waffen
Auf Prometheus' Spuren - Der Mensch entdeckt das Feuer
Vom Windschutz zur Hütte - Die Behausungen der frühen Menschen
Jenseits des Feigenblattes - Die Kleidung der späten Hominiden
Bestattungen - Die Sorge für die Toten
Kunst und Kult

Anhang

Chronologie wichtiger Funde und Ereignisse

Glossar

Literaturverzeichnis

Einleitung

Im Jahr 2006 jährte sich einer der ersten und sicher berühmtesten Funde der Paläoanthropologe zum 150. Mal: die Entdeckung des „Neandertalers“. Dieser Fund, der damals die Gemüter erregte und zu wildesten Spekulationen führte, war der An­fang einer faszinierenden Reise zu den Anfängen unserer Existenz, der Geschichte der Menschwerdung.

Auch heute noch, nach anderthalb Jahrhunderten Forschung, gibt es mehr Fragen als Antworten. Inzwischen hat sich mit der Paläoanthropologie eine eigen­ständige Wissenschaft zur Erforschung der menschlichen Ursprünge entwickelt und heute ist es für viele zur Selbstverständlichkeit geworden, dass der Mensch nicht plötzlich als fertiges Individuum auf der Bildfläche erschien, sondern sich langsam entwickelte. Viele sensationelle Funde beleuchten diesen langen Weg, der von den prähistorischen Tropenwäldern Afrikas bis zur Eroberung der Welt führte.

Doch neue Funde haben gerade im letzten Jahrzehnt einige sicher geglaubte Theorien der Paläoanthropologie zu Staub zerschlagen, denn auch unsere frühsten Vorfahren sind immer für eine Überraschung gut. Aber vielleicht ist es auch gerade das, was die Beschäftigung mit ihnen so spannend macht. Die Rätsel, die ein Haufen versteinerter Knochen mit sich bringt und die die Fantasie der Betrachter zu er­wecken vermögen. Ein aktuelles Beispiel ist „Ida“, eine 47 Millionen Jahre alte Lemurin, deren Fossilien lange in einer Sammlung schlummerten und die nun einen Medienhype verursachte, bei dem sie natürlich gleich zum „missing link“ avancierte. Mal wieder, muss man leider sagen, und sehr zum Erstaunen der Fachwelt, die so einen Crashkurs in der aktuellen Medienlandschaft bekam. Der Fund als das, was er ist - ein wichtiges Glied in der Evolutionsgeschichte der Lemuren -, hätte wohl kaum ein solches Aufsehen erregt, dafür musste „Ida“ erst zu unserer Vorfahrin mutieren.

Wenig blieb von „Ida“ übrig. Auch von vielen frühen Hominidenarten besitzen wir nicht mehr, nur eine Hand voll Knochen, meist sogar nur ein paar Zähne. Die von ihren Entdeckern oder Bearbeitern mit Argusaugen bewachten Reste ganzer Arten würden mühelos in einem Schuhkarton Platz finden - und einige könnten sogar noch untervermieten. Dennoch bekommt der interessierte Laie, der sich mit dem Thema der menschlichen Evolution beschäftigt, den Eindruck, die Archive der Museen würden nur so überquellen von den Überresten unserer Vorfahren. Wie sonst könnten solch ausführliche Beschreibungen der verschiedenen menschlichen Spezies zustande kommen, einschließlich der komplexen Rekonstruktionen ihrer je­weiligen Lebensräume?

Es ist einfach erstaunlich, was Fachleute aus den spärlichen Funden heraus­zulesen vermögen - und wenig erstaunlich, dass so manche Interpretation eines Fundes heftigen Widerspruch erregt. Tatsache ist: Die fossile Überlieferung vieler Hominidenarten ist erschreckend dürftig und wird es wohl immer bleiben, und je weiter man in der Zeit zurück geht, desto spärlicher werden die Überreste.

Diese Feststellung sollte nicht überraschen. Es gehört enormes Glück dazu, Millionen Jahre alte Knochenfragmente zu finden. Zunächst einmal mussten ideale Verhältnisse bestehen, damit die Knochen überhaupt fossilierten (= versteinerten) und damit die Chance erhielten, bis heute zu überdauern. Jeder organische Körper vergeht normalerweise recht schnell und vollständig, der menschliche Körper ist da­bei keine Ausnahme. Aber selbst wenn die Knochen in Form von Fossilien erhalten blieben, müssen sie immer noch entdeckt und richtig gedeutet werden. Und gerade bei Letzterem geht bei manchem hartgesottenen Wissenschaftler durchaus ein wenig die Fantasie durch.

Doch in den heftigen Diskussionen spiegelt sich auch etwas anders wider: Die Erforschung der menschlichen Evolution war und ist tief verbunden mit der Frage nach uns selbst, was wir in uns und unseren Mitmenschen sehen. Deshalb wurde auch kaum ein wissenschaftliches Fachgebiet so von Vorurteilen und Intoleranz be­einflusst wie die Paläoanthropologie, weil oftmals nicht sein konnte, was nicht sein durfte oder Funde schlichtweg bestehenden Theorien angepasst wurden. Leider hat man immer noch das Gefühl, dass es einigen Wissenschaftlern mehr um persönliche Empfindlichkeiten als um wissenschaftliche Erkenntnisse geht.

Nichtsdestotrotz ist die Geschichte der Menschwerdung spannend. Wie wurden wir, was wir heute sind und warum? Warum war letztendlich der Homo sapiens das Erfolgsmodell der Evolution und keine der Hominidenarten, die aus­starben? Wie sah überhaupt der menschliche Stammbaum aus? Welche Arten gab es, welche waren unsere direkten Vorfahren und welche starben als Seitenlinien aus? Ab wann kann man eigentlich vom „Menschen“ sprechen?

Um es vorweg zu nehmen, es gibt wie erwähnt keine abschließenden Ant­worten auf diese Fragen. Es ist auch nicht das Ziel dieses Buches, etwas anderes vorzutäuschen. Vielmehr sollen hier auch durchaus kontroverse Theorien vorgestellt und auf Fragen und Widersprüche aufmerksam gemacht werden, auch wenn dies verwirren mag und vieles dabei nur angeschnitten werden kann. Die Entscheidung, welche These mehr Überzeugungskraft besitzt, bleibt letztendlich dem Leser über­lassen - und den zukünftigen Entdeckungen bzw. Ergebnissen der Wissenschaft. Denn man darf gespannt sein, was sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten dort tun wird, welche Fragen beispielsweise durch neue Möglichkeiten der DNA- Analyse geklärt werden können.

Wer sich mit der Evolution des Menschen befasst, sollte dabei die Geschichte ihrer Erforschung nicht vernachlässigen. So einiges wird nur verständlich, wenn man die wissenschaftsgeschichtlichen Hintergründe kennt. Zudem besitzen die Erfolge und Niederlagen der ersten Paläoanthropologen, wenn man sie denn so nennen mag, ihre ganz eigene Dramatik. Daher beschäftigt sich der erste Teil mit der Geschichte der Paläoanthropologie, den Forschern, ihren Träumen, Hoffnungen und Niederlagen, und mit Funden und vermeintlichen Funden.

In einem zweiten Teil folgt ein Überblick über die bekannten Hominidenarten und ein Versuch ihrer Einordnung in die menschliche Evolution, beginnend mit den ältesten Arten, bei denen die Zuordnung in den menschlichen Stammbaum kontro­vers diskutiert wird, bis schlussendlich zum modernen Menschen, zum Homo sapiens.

Im abschließenden dritten Teil werfen wir einen kurzen Blick auf die archäo­logischen Hinterlassenschaften unserer Vorfahren. Einer der bedeutendsten Paläo­anthropologen, der Kenianer Louis Leakey, war der Meinung, dass erst das Werk­zeug den Menschen mache. Ob man diese Ansicht teilt oder nicht, die archäo­logische Geschichte der Menschheit beginnt mit dem Auftauchen der ersten von (Vor-) Menschenhand gefertigten Steinwerkzeuge vor über zwei Millionen Jahren. Für die Zeit davor haben wir nur die Überreste der Individuen als solches und die Rückschlüsse, die sie auf ihr Leben erlauben. Aber auch für den langen Zeitraum danach ist die archäologische Überlieferung viel zu oft rudimentär und zufällig. So vieles ist für immer verloren oder wird immer rätselhaft bleiben, wie z.B. die relativ junge Eiszeitkunst, die beeindruckenden Wandmalereien in den südfranzösischen und nordspanischen Höhlen. Was in den Menschen vorging, als sie diese Kunst­werke schufen, werden wir nie erfahren.

Aber vielleicht waren unsere Vorfahren uns ähnlicher als wir glauben und vielleicht finden wir darum die Antwort auf einige Fragen letztendlich in uns selbst.

I. Die Suche nach den ersten Menschen - Von Forschern und Funden

„Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde ..." - Wissenschaft oder Bibel?

26. Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht.

27. Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib.

28. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan, und herrscht über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.

(1. Buch Mose, Kap. 1, Vers 26-28)

Mit diesen Worten, der Schöpfungsgeschichte, beginnt das wichtigste Werk der Christenheit: die Bibel. Damit waren über Jahrhunderte auch alle Fragen nach dem Ursprung des Menschen und seiner Stellung innerhalb der Welt klar und eindeutig beantwortet. Gott hatte danach den Menschen nach seinem Vorbild in einem einmaligen Schöpfungsakt geschaffen, wie er vor ihm schon die Welt mit all ihren Pflanzen und Tieren erschaffen hatte. Und Gott hatte dem Menschen auch seinen Platz in dieser Welt zugewiesen, als Krone der Schöpfung, als Herrscher über alle anderen Geschöpfe in ihr.

Das Christentum ist nicht die einzige Religion, die eine Antwort auf die Frage nach dem Beginn bzw. dem Entstehen der Welt gesucht hat. Schöpfungsmythen gibt es in jeder Religion, wenn auch in einigen von ihnen die Erschaffung des Menschen eher nebenbei erwähnt wird. In einem der ältesten Werke der Menschheit, dem sumerischen Weltschöpfungsepos Enuma Elisch, wird beispielsweise berichtet, der Mensch sei von einer Gottheit namens Marduk erschaffen worden und zwar aus dem Blut und Fleisch einer anderen Gottheit, die Marduk zuvor im Kampf erschlagen hatte[1]:

„Dann ruht derHeld von seinem Kampf, von seinem Schöpfungswerk, Und danach spricht er: „Gebein will ich bilden und ein Gewebe aus Fleisch und Blut.

Ein neues Wesen soll entstehen: Mensch soll der Name sein.

Es soll uns dienen, uns, den Göttern.

Aus Xingus Blut erschafft Marduk den Menschen.“

Die Ägypter kannten verschiedene Schöpfungsmythen, die in den jeweiligen religiösen Zentren des Reiches entstanden waren. Nach einem Text aus Heliopolis war es der Schöpfergott Atum, der Götter und Menschen erschuf:

„Und Atum vergisst von seinem Schweiß.

Da entstehen andere Götter.

Und Atum vergießt von seinen Tränen.

Da entstehen die Menschen der Welt.“

In einem Hymnus aus der Zeit der 18. Dynastie ist es der Weltenschöpfer Ptah, der die Menschen erschuf:

„Du hast die Erde geschaffen nach deinem Wunsche mit Menschen, allem Großvieh und Kleinvieh, mit allem, was auf der Erde ist und auf seinen Füßen geht, was in der Höhe ist und mit seinen Flügeln fliegt. “

Die ägyptische Mythologie kannte auch die Erschaffung des Menschen durch einen Schöpfergott namens Chnum, der sie aus Ton auf einer Töpferscheibe formte. Das Motiv der Erschaffung des Menschen aus Ton findet sich wiederum auch in der Bibel:

7. Und Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenkloß, und er blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele.

(1. Buch Mose, Kap. 2, Vers. 7)

Auch in anderen Schöpfungsmythen wurden die Menschen aus Ton geformt. Beim griechischen Philosophen Platon steht zu lesen:

„Es war einst eine Zeit, in welcher es zwar Götter gab, sterbliche Wesen aber noch nicht. Als nun aber auch für diese die vom Schicksal bestimmte Zeit ihrer Er­zeugung gekommen war, da bilden die Götter sie in der Erde Schoß aus einer Mischung von Erde und Feuer und allem dem, was sich mit beiden verbindet. Und als sie diese nun ans Licht zu fördern gedachten, da trugen sie dem Prometheus und Epimetheus auf, sie auszustatten und einem jeden von ihnen seine Kräfte zuzuteilen nach Gebühr. “[2]

Nach anderen griechischen Autoren war es Prometheus selbst, der den ersten Menschen aus Ton formte:

„Prometheus, ein Sohn des erdgeborenen Japetos, wusste, dass im Boden unter seinen Füßen der Same des Himmels vielfältig schlummerte. Er nahm deshalb vom Ton auf, befeuchtete und knetete ihn und formte daraus den Menschen nach dem Ebenbild der Unsterblichen, der Herren der Welt. Um seinen Erdenkloß aber auch zu beleben, entlehnte er von den Tieren gute und böse Eigenschaften und senkte sie in die Brust der Irdischen ein. Unter den Göttern hatte er eine Freundin, Athene. Sie bewunderte die Schöpfung des Titanensohnes und blies dem halb beseelten Bilde den Geist, den Atem ihrer Weisheit ein. “[3]

Auch Pandora, die erste Frau, die Hephaistos auf Befehl des Göttervaters Zeus erschuf, um Prometheus und die von ihm beschützten Menschen zu bestrafen, wurde bekanntlich aus einem Tonklumpen geschaffen.

In den Mythen der Maya und Azteken dagegen wurden die Menschen von den Göttern aus Maismehl erschaffen, womit auch die Verbindung zu ihrem wichtigsten Nahrungsmittel geschlagen wurde. In einem aztekischen Schöpfungsmythos heißt es beispielsweise:

„Und er [der weiße Gott Quetzalcoatl] machte sich ans Werk. Er knetete aus weißem und gelbem Mais eine Masse und schnitt sich in den kleinen Finger, damit sich sein Blut mit der Masse vermische. Dann modellierte er sorgfältig den Rumpf, den Kopf und alle Glieder. Der Mensch war fertig. Nun hauchte ihm sein Schöpfer das Leben ein, und Morgenröte strahlte am Himmel, der neue Tag begann.“

Diese Beispiele ließen sich noch weiter fortsetzen. Allen Schöpfungsmythen ist gleich, dass eine göttliche Macht die Welt aus dem herrschenden Chaos erschuf und schließlich auch alles Leben auf ihr. In ihnen findet sich auch die den Göttern ähnliche oder aus den Göttern selbst - ihrem Blut oder Fleisch - entstandene Gestalt des Menschen, wodurch seine Vorrangstellung gegenüber den anderen Geschöpfen begründet wird. In den Mythen spiegelt sich somit das Verlangen der Menschen wider, die Welt und ihre eigene Existenz zu verstehen und zu erklären, dem Unbe­kannten und Unerklärlichen zu begegnen, wenn auch auf mythische Weise.

In Europa, allen voran in Frankreich und Italien, beförderten Humanismus und Aufklärung an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert die Wissenschaften vom Mittelalter in die Neuzeit. Man entdeckte antike Schriften neu und ließ sich von ihnen inspirieren, auch in Richtungen, die der Kirche nicht unbedingt recht waren. Der Durst nach Wissen ließ sich nicht mehr aufhalten, wenn auch damit in Verbindung gebrachte Forderungen nach „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ das Establishment ängstigten.

Das durch die Bibel definierte Weltbild ließ sich jedoch nicht so leicht ver­drängen, es beeinflusste bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die Forschungs­diskussion. Besonders bei der Frage nach der Entstehung des Menschen blieb das Wort Gottes lange oberstes Gesetz, dem zuwiderlaufende Erkenntnisse konnten ein äußerst gefährliches Wissen sein. Daher bewegten sich Überlegungen über die Entwicklung des Menschen - wenn sie denn überhaupt angestellt wurden - zunächst in den engen Grenzen, die die christliche Religion den Gelehrten der frühen Neuzeit setzte.

Den Ersten von ihnen, der eine Vermutung über die Herkunft des Menschen anstellte, brachten seine Erkenntnisse noch auf den Scheiterhaufen. Der italienische Philosoph Giulio Cesare Vanini (1585-1619) vermutete 1616, dass der Mensch möglicherweise mit dem Affen verwandt sei.4 Drei Jahre später wurde er unter anderem deswegen in Toulouse als Ketzer verbrannt. Seinen Nachfolgern, die in späteren Jahrhunderten ähnliche Mutmaßungen äußerten, drohte zwar nicht mehr [4]
der Feuertod, trotzdem hatten dem christlichen Weltbild zuwiderlaufende Theorien einen überaus schweren Stand. Die Bibel galt vielen als absolute Wahrheit und zwar in wortwörtlicher Auslegung, sie wurde nicht als Allegorie verstanden. Daher wurde sie auch als Grundlage für die Berechnung des Alters der Erde herangezogen.

Nach Ansicht der Theologen waren seit der Erschaffung der Welt, die ja inner­halb der sieben Tage der Schöpfungsgeschichte von statten gegangen war, weniger als 6.000 Jahre vergangen. Schon der britische Benediktinerabt und Geschichts­schreiber Beda hatte im 8. Jahrhundert den Beginn der Menschheitsgeschichte in das Jahr 3952 v. Chr. gelegt und damit auch gleichzeitig die christliche, noch heute verwendete Zeitrechnung mit Bezugnahme auf die Geburt Christi eingeführt.[5]

Auf die Zeitspanne kam man, indem das Alter sämtlicher Geschlechter, die das Alte Testament erwähnt, zusammengezählt wurde. Teilweise errechneten Ge­lehrte sogar den genauen Tag und die Stunde der Schöpfung, so zum Beispiel der spätere Vizekanzler der Universität Cambridge, John Lightfoot (1602-1675). In einem Werk über die Genesis kam er 1642 zunächst zu dem Ergebnis:

„Man was created by the Trinity about the third houre of the day, or nine of the docke in the morning.“[6]

Zwei Jahre später legte er sich auch auf Jahr und Tag der Erschaffung der Welt fest und zwar sei dies am 12. September 3928 v. Chr. geschehen:

„And now, he that desireth to know the year of the world, which is now passing over us, - this year, 1644, - will find it to be 5572 years just finished since the creation; and the year 5573 of the world's age, now newly begun, this September, at equinox.[7] [...] That the world was made at equinox, all grant, - but differ at which,whether about the eleventh of March, or twelfth of September; to me in September, without all doubt“[8]

Der Erzbischof von Armagh, James Ussher (1581-1656), veröffentlichte 1650 seine Berechnungen, nach denen der 23. Oktober 4004 v. Chr., ein Sonntag, der erste Tag der Schöpfung gewesen sei, beginnend schon mit dem Sonnenuntergang des vorherigen Tages.[9]

Mit der beginnenden Lösung der Wissenschaften von ihrer Bibelgläubigkeit im Zuge der Aufklärung wurde teilweise das recht junge Alter der Erde dann doch angezweifelt, erstmalig von dem französischen Privatgelehrten Georges-Louis Leclerc de Buffon (1707-1788). Er stellte 1778 die Behauptung auf, die Erde sei vor ca. 75.000 Jahren durch den Zusammenstoß eines Kometen mit der Sonne entstanden[10] - eine These, die auf den Widerstand der Kirche stieß und von Leclerc zurückgezogen werden musste.

Auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Wissenschaft noch fest in den Händen des im religiösen Weltbild verwurzelten „Kreationismus“. Danach wären alle Tier- und Pflanzenarten individuell und unveränderbar von Gott erschaffen worden, wie es eben in der Genesis geschrieben steht. Die Erschaffung des Menschen war dabei keinerlei Diskussion unterworfen. Es stand fest, dass, egal wie lange die Schöpfung der Welt als solches gedauert haben mag, der Mensch schlussendlich als Ebenbild Gottes in einem einmaligen Schöpfungsakt erschaffen und als Herrscher über die Welt eingesetzt worden war.

Die meisten Wissenschaftler dieser Epoche, die vielfach selbst kirchliche Positionen innehatten, formulierten ihre Thesen innerhalb dieser religiösen Vorgaben und beharrten auf der absoluten Richtigkeit der biblischen Schöpfungsgeschichte. Dies hatte nicht nur religiöse Gründe. Die Gelehrten der Zeit gehörten den oberen Klassen an und sowohl die Wissenschaften als auch die Kirche lieferten ein Weltbild, das den Menschen klar machte, wo ihr Platz im Leben war. Ein Abweichen davon könnte nur in Aufruhr und Chaos enden.

Trotzdem setzte auch in diesem Bereich ein Wandel im Denken durch immer neue Erkenntnisse ein. Als die Europäer begannen, die restliche Welt zu entdecken und zu erobern, stießen sie dabei auf immer mehr bis dahin unbekannte Tiere und Pflanzen. Die Gelehrten wurden verstärkt auf unsere nächsten Verwandten auf­merksam, die Menschenaffen, und auch auf deren große, anatomische Ähnlichkeit mit dem Menschen und schließlich - was noch wichtiger war - dass die Arten nicht unveränderlich waren. Ein klarer Widerspruch zu den Aussagen der Bibel.

Der englische Arzt und Zoologe Edward Tyson (1650-1708) verglich die Anatomie eines Pygmäen, den er als Orang-Utan bzw. als Homo Sylvestris bezeichnete - der jedoch in Wirklichkeit ein Schimpanse war -, mit der eines niederen Affen, eines Menschenaffen und eines Menschen. Dabei stellte er fest, dass der „Pygmäe“ kein Mensch sei - was in diesem Fall ja durchaus stimmte -, aber auch kein Affe, sondern eine eigenständige Art zwischen diesen beiden Arten, sowie dass eine große Ähnlichkeit seiner Anatomie mit der des Menschen bestünde. Die Gemeinsamkeiten mit dem niederen Affen wären dagegen deutlich geringer.[11] Eine solche Erkenntnis mochte nicht jedem gefallen, sie konkurrierte aber nicht unbedingt mit den Aussagen der Bibel, konnte man darin doch immer noch den Willen Gottes sehen.

Auch der schwedische Mediziner und Botaniker Carl Nilsson Linnaeus bzw. - wie er sich nach seiner Adelserhebung nannte - Carl von Linné (1707-1778), der in seinem Werk „Systema Naturae“ erstmalig das bis heute in den Grundzügen gültige System der Klassifikation von Pflanzen und Tieren erstellte, ordnete nur „Gottes Schöpfung“, er stellte sie nicht in Frage.

Linné sollte eigentlich wie sein Vater eine theologische Laufbahn einschlagen, bewies aber in den nötigen Fächern nur wenig Talent und Begeisterung, sodass er stattdessen in Lind und Uppsala Medizin studierte.[12] Zum Medizinstudium gehörte im 18. Jahrhundert auch der heute eigenständige Wissenszweig der Botanik und auf­grund seiner Erkenntnisse in diesem Bereich erarbeitete Linné das Klassifikations­system, mit dem die Grundlagen der modernen Taxonomie, der Einteilung von Orga­nismen in festgelegte Gruppen, gelegt wurden.

Linné brachte alle ihm bekannten Tier- und Pflanzenarten in eine hierarchische Ordnung. Als größte Gruppen richtete er drei „Reiche“ {regna) für Mineralien, Pflanzen und Tiere ein. Die „Reiche“ unterteilte er weiter in „Klassen“ (classes), „Ordnungen“ {ordines), „Gattungen“ {genera) und schließlich als kleinste Gruppe die „Arten“ {species). Die einzelnen Ordnungseinheiten werden als „Taxa“ bezeichnet. Linné war es auch, der die so genannte „binominale Artenbenennung“, die Bezeichnung aller Arten mit konstanten Doppelnamen, durchsetzte. Bis dahin waren die wissenschaftlichen Bezeichnungen von Pflanzen und Tieren eher eine recht unhandliche Kurzbeschreibung in lateinischer Sprache. Linné dagegen benannte konsequent alle Arten mit einem Gattungsnamen und einer Artbe­zeichnung, wie beispielsweise bei der von ihm eingeführten Bezeichnung Homo sapiens, wobei Homo die Gattung bezeichnet und sapiens die Art. Der „wissende Mensch“ war geboren oder besser: benannt.

In der ersten, nur zehn Seiten umfassenden Ausgabe von 1735 ordnete Linné den Homo sapiens in die Ordnung der „Primaten“ ein. Ebenfalls in die Gattung Homo ordnete er zudem auch eine zweite „menschliche“ Art ein, den Homo troglodytes, was „Höhlenmensch“ bzw. „Nachtmensch“ heißt und mit dem er den damals gerade bekannt gewordenen Orang-Utan bzw. Schimpansen meinte. Bei all dem zweifelte Linné aber niemals an der göttlichen Erschaffung der Welt. Er war vielmehr der An­sicht, „Es gibt so viele Arten, als am Anfang vom unendlichen Wesen verschiedene Formen erschaffen worden sind“[13] und der Zweck der Welterschaffung bestehe darin, dass der Mensch die Herrlichkeit Gottes im Werk der Natur erkenne. Vielleicht erhob sich auch deshalb wenig bzw. nur wissenschaftlicher Protest gegen seine Einteilung.

Doch spätestens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sollten ernsthafte Zweifel an der absoluten biblischen Wahrheit aufkommen und damit wurde letzt­endlich auch der Weg zu einer neuen Herangehensweisen an die frühste Mensch­heitsgeschichte ermöglicht.

Die Grundlagen, auf denen Darwin später seine Erkenntnisse in Bezug auf die Evolution aufbaute, wurden im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert gelegt. Im Be­reich der Biologie gab es zu dieser Zeit zwei bedeutende wissenschaftliche Strömungen, die Naturtheologie und den so genannten „Funktionalismus“.

Die vor allem in Großbritannien vorherrschende Naturtheologie entstand im 17. Jahrhundert und wurde von John Ray (1627-1705) mit seinem Werk „The Wisdom of God manifested in the work of Creation“ begründet. Ihr bekanntester Ver­treter war jedoch der schottische Theologe und Philosoph William Paley (1743-1805). Die Anhänger der Naturtheologie suchten die Beweise für die göttliche Schöpfung direkt in der Natur. Paley prägte in seiner 1802 erschienen Monografie „Natural Theology, or Evidences of the Existence and Attributes of the Deity, collected from the Appearances of Nature“ den berühmten Uhrmachervergleich. Danach zeige die Zweckmäßigkeit einer Uhr deutlich, dass dort ein schöpferischer Handwerker am Werke gewesen sei und an dessen Existenz zweifle niemand, auch ohne zu wissen, wer es gewesen sei. Die Zweckmäßigkeit und Komplexität aller Organismen sei da­her Beweis genug, dass auch hier eine schöpferische, eine göttliche Kraft am Werke gewesen seien müsse.

Das Werk Paleys hatte zu Darwins Zeiten große Bedeutung, es gehörte noch bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts zur Pflichtlektüre an britischen Universitäten. Darwin selbst war zunächst sehr beeindruckt davon, erkannte aber bald die schwachen Argumente, auf denen Paleys Thesen aufgebaut waren.

Die zweite wissenschaftliche Richtung war der Funktionalismus, der in seinen Grundzügen auf die Lehren des Aristoteles zurückging. Ein Organismus erhielte dieser Lehre zufolge genau die Gestalt, die für seine Lebensumwelt bzw. Lebens­weise am zweckdienlichsten sei. Allerdings war damit nicht generell das Wirken Gottes ausgeschlossen, es wurde nur anders interpretiert. Nach Ansicht der Funk­tionalsten wies Gott einem Lebewesen eine bestimmte Lebensweise zu und diese Lebensweise führte dann zum zweckbestimmten Aufbau des Organismus.

Kurz gesagt gingen die Anhänger der Naturtheologie davon aus, dass sich in der Natur der Wille und die unveränderliche Schöpfung Gottes widerspiegle, während die Funktionalisten davon ausgingen, dass Gott die Welt zwar nach einem be­stimmten Plan erschaffen habe, sie aber dann mehr oder weniger sich selbst über­ließ. Letzteres war zumindest eine plausible Erklärung für so manche Grausamkeit in der Natur.

Wichtig für diese Bereiche der Wissenschaften war jedoch vor allem, dass immer mehr Gelehrte danach strebten, das, was sie sahen, zu erklären und zu ver­stehen und nicht mehr nur zu beschreiben. Man suchte nach Gesetzmäßigkeiten, wie es sie zum Beispiel in der Physik schon gab.

Während dieser Zeit waren drei Wissenschaftler maßgeblich, die unter­schiedlicher kaum sein konnten: Die beiden Franzosen Jean-Baptiste de Lamarck (1744-1829) und Georges Cuvier (1769-1832) sowie der britischen Geologe Charles Lyell (1797-1875).

Jean-Baptiste Lamarck - sein vollständiger Name lautete: Jean-Baptiste Pierre Antoine de Monet, Chevalier de Lamarck - erkannte schon vor Charles Darwin einen evolutionären Wandel, dem alle Arten unterworfen seien, doch seine Erkennt­nisse wurden entweder missachtet oder sogar abgelehnt und bekämpft.[14]

Auch Lamarck war eigentlich für das Priesteramt vorgesehen, wenn dies auch mehr durch die prekäre finanzielle Lage der Familie bedingt war. Doch nach dem Tod seines Vaters trat er stattdessen lieber in die Armee ein. Nach einigen Jahren musste er jedoch aus gesundheitlichen Gründen aus dem Militärdienst ausscheiden und be­gann, in Paris Medizin zu studieren, ohne allerdings ein Examen abzulegen. Eines seiner Steckenpferde war die Botanik, wodurch er schließlich zum Kurator im königlich-botanischen Garten in Paris wurde, dem Jardin du Roi, und, nach der Fran­zösischen Revolution, Professor für Zoologie am neu gegründeten Muséum National d’Histoire Naturelle.

Wie die meisten anderen Gelehrten seiner Zeit, beschäftigte sich Lamarck aber nicht nur mit der Zoologie und Botanik, sondern er forschte auch im Bereich der Physik, Chemie, Meteorologie und Paläontologie. Er war ein für die Zeit durchaus typischer Universalgelehrter. Auf dem Gebiet der Zoologie wurde er zum Begründer der modernen „Zoologie der Wirbellosen“, die grundlegende Unterscheidung in Wirbeltiere und Wirbellose stammt von ihm.

Beim Studium der umfangreichen Molluskensammlung[15] des Museums er­kannte er unter anderem, dass sich einzelne Molluskenarten in eine sich ver­ändernde Reihe einordnen ließen, die sich stufenweise von den ersten fossilen Arten bis zu heute existierenden fortsetzen ließ. Daraus schloss Lamarck, es müsse sich um zusammenhängende, lineare Stammlinien mit Vor- und Nachfahren handeln und dass die Arten sich, entgegen der allgemeinen Ansicht von der Unveränderbarkeit der Arten, doch langsam veränderten und weiterentwickelten.

Aber auch Lamarck dehnte seine Behauptungen nicht bis zur letzten Konsequenz aus, denn zunächst lehnte er die seit 1790 in Paris heftig diskutierte Hypothese über das Aussterben von Arten, die so genannte Extinktionshypothese, ab. Um aber das von ihm verneinte Aussterben von Arten und die Fossilfunde in Einklang zu bringen, entwickelte er seine Theorie über die Veränderlichkeit der Arten, die sog. Transmutationslehre.

Zudem glaubte er nicht, wie später Darwin, dass alles Leben einen gemeinsamen Ausgangspunkt habe. Er ging vielmehr - trotz widersprüchlicher

Aussagen in seinen Werken - davon aus, dass es ständig zu einer Art göttlich bedingter Selbstzeugung (Generatio spontanea) käme und alle so entstandenen Arten einen identischen, in der gleichen Geschwindigkeit ablaufenden Entwicklungs­zyklus durchliefen, von recht primitiven Urformen zu den weiterentwickelten, komplexen Organismen hin. Der Mechanismus, der dahinter stecke, sei eine An­passung des Verhaltens der Organismen an Umweltveränderungen, wodurch neue Bedürfnisse im Organismus entstünden. Dabei könne Bedarf an einem neuen Organ entstehen und durch diesen Bedarf und die Bewegungen „unwägbarer Flüssig­keiten“, die durch das veränderte Verhalten ausgelöst würden, würde neues Ge­webe, also ein neues Organ geschaffen werden. Organe, die vermehrt gebraucht würden, vergrößerten sich, während Organe, die nicht mehr gebraucht würden, ver­kümmern.

Die neu erworbenen Eigenschaften vererbten sich dann an die Nachkommen. Die Veränderungen würden also sozusagen durch einen aktiven, inneren Prozess ablaufen, während man heute weiß, dass dies durch das Zusammenspiel von zufälligen Mutationen und äußeren Umständen, eben einen natürlichen Auswahl­prozess geschieht. Als Beispiel für seine Evolutionstheorie sei hier der Versuch Lamarcks genannt, aus einer Antilope eine Giraffe zu machen.

Die Giraffe war damals noch wenig bekannt - 1827 kam das erste Exemplar nach Paris - und Lamarck benutzte sie als Beweis für seine Thesen. Er war der Ansicht, dass eine Antilope sich zur Giraffe weiterentwickelte, indem sie die Blätter von Bäumen abweide und dabei ihren Nacken stets mit aller Kraft nach oben recken müsse. Auch Zunge und Beine müssten dabei ständig gestreckt werden, was wiederum dazu führe, dass diese Körperteile mit der Zeit länger würden. Diese Verlängerung vererbe sich dann auf die nächste Generation, die nächste „Antilopen“- Generation hätte also von Beginn an längere Beine, Zungen und Hälse, müsse diese dann aber wiederum weiter strecken, sodass am Ende irgendwann die Giraffe dabei herauskäme.[16] Dieser Teil der Lamarck'schen Evolutionstheorie, die Vererbung erworbener Eigenschaften, wurde später als Lamarckismus bezeichnet und erlebt heute im genetischen Bereich ein Revival, doch seine Zeitgenossen reagierten vornehmlich negativ auf seine Erkenntnisse.

Lamarck war außerdem der Überzeugung, der Mensch in seiner Komplexität müsse ein sehr altes Lebewesen seien, während primitivere Organismen, von denen wir heute wissen, dass sie die ältesten Lebensformen darstellen, recht jung wären. Den größten Kritikpunkt lieferte Lamarck jedoch mit der Behauptung, jeder Organis­mus habe eine angeborene, unabänderliche Tendenz zur Vervollkommnung.

Bei Lamarck strebten alle Individuen beständig aus einem inneren Drang heraus nach Verbesserung, es war für ihn geradezu ein Naturgesetz. Aber gerade diese, heute recht harmlos klingende Überlegung, barg enorme politische Sprengkraft. Wenn jedes Individuum aus eigenem Antrieb nach Höherem streben konnte, warum dann nicht auch der Mensch, die unteren Schichten, der Pöbel? Wohin so ein Denken führen konnte, hatte dem Rest Europas die Französische Revolution gerade drastisch vor Augen geführt und genau diese Angst erweckten die Thesen Lamarcks zum Beispiel beim britischen Establishment. Solch eine Behauptung konnte in ihren Augen nur zu sozialen Unruhen führen.

Dass seine Erkenntnisse, die Lamarck 1809, im Geburtsjahr Darwins, in seinem Werk „Philosophie zoologique“ veröffentlichte, keinen großen Zuspruch in Wissenschaftskreisen fanden, lag aber auch daran, dass es ihm nicht gelang, eine glaubwürdige Erklärung für den kontinuierlichen Wandel der Organismen zu finden, was wiederum seinen Kritikern eine leichte Angriffsfläche bot.

Zu Lamarcks größten Kritikern zählte sein Landsmann und Kollege am Muséum National d’Histoire Naturelle, Georges Cuvier, der als „Vater der Paläonto­logie“ gilt und ein einflussreicher Vertreter des Funktionalismus war.[17] Cuvier hatte vergeblich ein Theologiestudium in Tübingen angestrebt, erhielt dann auf Em­pfehlung der Prinzessin von Württemberg einen Studienplatz an der Karlsschule in Stuttgart. 1786 wurde er nach Beendigung seines Studiums Hauslehrer beim Grafen d’Héricy in der Normandie. Während seines Aufenthaltes hatte er Zeit und Muße, die Meerestiere an der Kanalküste zu erforschen. Er begann mit Studien zur ver­gleichenden Anatomie von Mollusken, Würmern und Seesternen, die er sezierte und zeichnete.

Seine Zeichnungen zeigten seine Begabung für die vergleichende Anatomie und führten schließlich zu seiner Berufung als Professor für Zoologie im Bereich ver­gleichende Anatomie am Muséum National d’Histoire Naturelle. Auch er erarbeitete eine systematische, heute noch weitgehend gültige Klassifikation des Tierreiches, das er in vier grundlegende Typen unterteilte: Wirbeltiere (Vertebrata), Weichtiere (Mollusca), Gliedertiere (Articulata) und Strahltiere (Radiata).

Ein Ergebnis seiner Forschungen war die Erkenntnis, dass das anhand der Bibel errechnete Erdalter von fast 6.000 Jahren nicht stimmen konnte. Während er die Erdschichten rund um Paris auf der Suche nach Fossilien erforschte, hatte er das Vorhandensein unterschiedlicher Ablagerungsschichten bemerkt, bestehend aus Meeressedimenten im Wechsel mit terrestrischen Ablagerungen. Er erkannte dabei auch, dass die Ähnlichkeit der Fossilien mit den heutigen Arten immer mehr abnahm, je tiefer sie gefunden wurden, also je älter sie waren.

Allerdings war Cuvier ein entschiedener Vertreter der Konstanz der Arten und lehnte Lamarcks Hypothese der Artentransformation vehement ab: wenn sich die Arten graduell verändert haben, müßte man [im Fossilbeleg] Spuren dieser graduellen Veränderungen finden [...] Bis heute ist dies nicht gelungen [...] In den Eingeweiden der Erde sind deswegen keine Überreste einer derart seltsamen Genealogie erhalten geblieben, weil die Arten vergangener Zeiten ebenso unveränderlich waren wie die unsererZeit.“n[18]

Somit konnten seine Fossilfunde dafür als Beweis herhalten, waren die Unter­schiede zwischen den Funden doch so gravierend, dass sich in ihnen kein kontinuierlicher Wandel zeigte. Es war das Problem, mit dem noch die heutige Paläontologie zu kämpfen hat: Man findet selten alle Fossilien, um die komplette Entwicklungslinie einer Art zu rekonstruieren.

Doch für Cuvier blieb die Tatsache zu erklären, dass Fossilien gefunden wurden, die nicht mit heute lebenden Tieren vergleichbar waren. Bei Fossilien von Meerestieren hätte man - wie einige der Gelehrten es auch taten - durchaus ver­muten können, es gäbe noch heute existierende Vertreter dieser vermeintlich ausge­storbenen Arten, die einfach noch nicht entdeckt seien, da sie nur in den Tiefen des Meeres vorkämen. Cuvier stützte sich jedoch bei seinen Überlegungen auf die fossilen Überreste von Säugetieren, zum Beispiel denen des Mammuts, die mit den heutigen Arten keinerlei Ähnlichkeit hatten und auch von zeitgenössischen Forschern kaum „übersehen“ worden sein könnten, hätten sie noch existiert. Dies führte ihn zu der Überzeugung, es müsse tatsächlich ein Aussterben von Arten stattgefunden haben.

Jetzt musste Cuvier nur noch eine Erklärung für das Aussterben finden. Er kam zu dem Schluss, die geologische Entwicklung der Erde könne nicht kon­tinuierlich vonstatten gegangen seien. Es sei vielmehr zu gewaltigen Katastrophen gekommen, die um ein Vielfaches gewaltiger gewesen seien als jede der heute vor­kommenden Naturkatastrophen:

„Der Gang der Natur hat sich geändert, und keine der Wirkursachen, die sie heute benutzt, hat ihr ausgereicht, ihre früheren Werke zu vollbringen.“[19]

Diese gewaltigen Katastrophen hätten dann zum Aussterben von Lebewesen oder sogar ganzer Arten geführt, was als „Katastrophentheorie“ bezeichnet wird. Beim erwähnten Mammut wurde gleich eine logische Erklärung mitgeliefert, denn man fand die Überreste der Tiere im Permafrost und die logische Schlussfolgerung war für Cuvier, dass die Tiere bei einem plötzlichen Kälteeinbruch erfroren seien. Die Ablagerungen von Meeressedimenten ließen Cuvier vermuten, dass zu diesen Katastrophen auch Überflutungen gehört hätten.

Cuviers Bedeutung in der heutigen Wissenschaftsgeschichte leidet sehr unter der Polemik des Streikes mit seinem schärfsten Kritiker, Charles Lyell. Dieser unterstellte ihm, er habe nach jeder der von ihm angenommenen Katastrophen eine Neuschöpfung durch Gott vorausgesetzt und die letzte vermutete Katastrophe sei die biblische Sintflut vor 6.000 Jahren gewesen. In den Schriften Cuviers findet sich jedoch nichts davon, als Vertreter der französischen Aufklärung ist eine solche theo­logische Verbrämung seiner Thesen auch eher unwahrscheinlich.

Dennoch sehen viele moderne Forscher in ihm einen Hemmschuh, der durch sein großes Ansehen den Fortgang der wissenschaftlichen Forschung aufhielt, da er immer noch einem veralteten Weltbild verpflichtet gewesen sei. Andere sehen in Cuvier einen bedeutenden Wissenschaftler, der versuchte, mit den Erkenntnissen und innerhalb der Denkweisen seiner Zeit durchaus neue Wege zu beschreiten. So wird sein berühmter Ausspruch J’homme fossile n’existe pas“, (dt. „der fossile Mensch existiert nicht“) entweder als absolute Verneinung jeglicher Existenz fossiler Menschen (= „vorsintflutliche“ Menschen bzw. mit einem Alter von mehr als 6.000 Jahren) durch Cuvier gedeutet oder nur als - für diese Zeit durchaus zutreffende - Aussage, dass noch keine Beweise für die Existenz fossiler Menschen vorlagen.

Auch Cuviers Katastrophentheorie blieb letztlich nicht unwidersprochen. Charles Lyell, einer der führenden britischen Geologen der damaligen Zeit und später Anhänger und enger Freund Darwins, griff die Thesen in seiner dreibändigen Monografie „Principles of Geology“ heftig an.

Lyell war das älteste von zehn Kindern.[20] Sein Vater, ein leidenschaftlicher Botaniker, weckte bei ihm schon in jungen Jahren die Begeisterung für die Natur­wissenschaften. Auch wenn er zunächst in Oxford Jura studierte, entdeckte Lyell bald seine Begeisterung für die Geologie und wurde 1819 Mitglied der Geological Society. Schließlich gab er die juristische Karriere ganz auf und widmete sich allein der Geologie. Sein wichtigstes Betätigungsfeld war dabei die so genannte Stratigrafie, die Schichtenkunde, bei der die Erdschichtungen und ihre zeitliche Zuordnung untersucht werden.

Dieses Prinzip der Schichtenfolge, nach der die weiter oben liegenden Schichten jünger sein müssen als die darunter liegenden, hatte bereits im 17. Jahr­hundert der dänische Naturforscher Niels Stensen (oder Nicolaus Stenonis; 1638­1686) entdeckt, der im Übrigen auch erstmalig Fossilien als versteinerte Überreste einstmals lebender Tiere und Pflanzen erkannte.[21] Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden Gesteinsschichten dann erstmalig von Geologen kartographiert, wodurch eine Chronologie der Erdgeschichte erarbeitet werden konnte. 1815 erkannte der britische Ingenieur und Landvermesser William Smith (1769-1839) beim Bau eines Kanals, dass bestimmte Fossilien nur in bestimmten Schichten zu finden waren. So konnte mithilfe der in den Gesteinsschichten eingelagerten Fossilien die Verbindung zwischen verschiedenen Formationen hergestellt werden.

Seine Erkenntnisse brachten Smith den bezeichnenden Spitznamen „Strata- Smith“ („Schichten-Smith“) ein und lieferten die Grundlagen für die Formulierung des so genannten Leitfossilprinzips.[22] Durch die einzelnen Ablagerungsschichten erhält man die geologische Zeitenfolge einer Region, die eingeschlossenen Fossilien geben Aufschluss darüber, wann die jeweiligen Lebewesen auftraten bzw. wieder ausstarben. Die Leitfossilien ermöglichen dabei eine relative Altersbestimmung ver­schiedener Gesteinsschichten. Schichten, in denen man diese Fossilien findet, müssen ungefähr gleich alt sein.

Charles Lyell war während seines Studiums von William Buckland (1784­1856) auf die Schichtenfolgen aufmerksam gemacht worden, der auch sein Interesse für die Geologie insgesamt geweckt hatte. Später war es dann Lyell, der die grund­legende Chronologie der letzten 65 Millionen Jahre der Erdgeschichte, heute als Tertiär bezeichnet, erstellte, die er in die Phasen Eozän, Miozän, Pliozän und Pleistozän unterteilte. Damit beendete er endgültig die Zeit der biblischen Zeit­rechnung in den Wissenschaften, auch wenn vorerst das Alter der Menschheit immer noch anhand der in der Bibel genannten Generationen berechnet wurde, also auf 6.000 Jahre bestimmt wurde.

In seinem Hauptwerk, den „Principles“, widersprach Lyell, ein Anhänger des Aktualismus und Uniformitarismus, vehement der Cuvier'schen Katastrophentheorie, indem er behauptete, es habe keine weltweiten, gewaltsamen Umbrüche gegeben, sondern die Erdoberfläche verändere sich dauernd durch natürliche Kräfte, jedoch sehr langsam. Es gäbe zwar einzelne lokale Katastrophen, aber gemäß den Vor­gaben des Aktualismus dürften nur Ereignisse, die auch heute noch zu beobachten seien, zur Erklärung der vergangenen Vorgänge herangezogen werden. Lokal be­grenzte Ereignisse, wie Vulkanausbrüche oder Erdbeben, wurden von Lyell akzep­tiert, eine globale Katastrophe, die zum Aussterben ganzer Arten führte, nicht.[23]

Gerade Lyells Ausführungen dürften auch Darwin beeinflusst haben, denn er hatte dessen Werk mit auf seiner fünfjährigen Forschungsreise an Bord der „H.M.S. Beagle“.

Lyell war, wie die meisten seiner Zeitgenossen, ein entschiedener Gegner der Lamarck'schen Thesen. Seiner Meinung nach starben einzelne Arten aus, wenn sich ihre Umwelt durch geologische Prozesse zu stark veränderte, als dass sie noch darin leben könnten, oder wenn sie durch diese Veränderungen von einwandernden, von Natur aus besser angepassten Arten verdrängt würden. Er bestritt den Artenwandel und war der Meinung, dass bei Bedarf eine neue Art geschaffen würde. Nach seiner Theorie entstanden Arten plötzlich, ohne dass er weiter ausführte, wie dies geschah, und waren entweder perfekt an ihre Umwelt angepasst oder starben aus.

Auch wenn sich seine Ansichten in entscheidenden Punkten stark von Darwins späterer Evolutionstheorie unterschieden, ebnete doch gerade Lyell den Weg für Darwin, gab ihm entscheidende Anstöße. Doch Lyell selbst sollte es zeit­lebens schwer fallen, die Ansichten seines Freundes vor allem über die Entwicklung des Menschen voll und ganz zu teilen. Denn wie viele seiner Zeitgenossen fürchtete er eine Verrohung der Menschheit, den Verlust der Errungenschaften der Zivilisation, sollten Darwins Thesen stimmen.

In die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts fiel auch die Entdeckung der Eiszeiten durch den Schweizer Geologen und Zoologen Louis Agassiz (1807-1873), einen Schüler Cuviers, der im Gegensatz zu Lyell ein vehementer Gegner Darwins wurde.[24] Der britische Geologe und Paläontologe Hugh Falconer (1808-1865) erkannte, dass die letzte dieser Eiszeiten mit dem von Lyell eingeführten Pleistozän zusammenfiel, sodass man die zuvor als „diluvial“, also sintflutzeitlich, angesehenen Geschiebe nun als Resultat einer Ausdehnung der polaren Eiskappen während einer Phase starker klimatischer Abkühlung erkannte. Von einer Eiszeit war aber in der Bibel nicht die Rede, ein weiterer Todesstoß für die bibelgläubige Wissenschaft.

Im 18. und 19. Jahrhundert lagen schließlich auch die Anfänge der prä­historischen Archäologie. Die griechische und römische Antike war durch die antiken Schriftsteller und die sichtbaren Hinterlassenschaften ihrer Kultur schon lange ein Begriff. Und auch noch ältere Artefakte, wie beispielsweise Steinwerkzeuge oder Tongefäße, waren nicht völlig unbekannt, doch konnte man mit ihnen wenig an­fangen, geschweige denn, dass man ihr tatsächliches Alter erahnte.

Einer der Begründer der prähistorischen Archäologie und Initiator des be­rühmten Dänischen Nationalmuseums, der Däne Rasmus Nyerup (1759-1829), sagte über vorgeschichtliche Funde, es handle sich dabei um:

„Gegenstände, die zwar für den Altertumsforscher unermesslich sind, aber für eine zusammenhängende Geschichte keinen hinreichenden Stoff abgeben. Denn alles, was aus der älteren, heidnischen Zeit stammt, schwebt für uns gleichsam in einem dichten Nebel, in einem unermesslichen Zeitraum. Wir wissen, dass es älter ist als das Christentum, doch ob es ein paar Jahre oder ein paar Jahrhunderte, ja vielleicht um mehr als ein Jahrtausend älter ist, darüber lässt sich mehr oder weniger raten.“[25]

Nyerups Nachfolger als Leiter der Altertümersammlung, Christian Jürgensen Thomsen (1788-1865), begann, den „Nebel“ ein wenig zu lichten, indem er die Ob­jekte der Sammlung, die in der Dachkammer der Heiligen Dreifaltigkeitskirche in Kopenhagen untergebracht war, ordnete. Er fasste die Stücke systematisch nach funktionalen Kriterien wie etwa Tongefäße, Waffen, Schmuck usw. zusammen und begann dann auch den Versuch einer chronologischen Ordnung. Das Ergebnis war die Einteilung der Vorzeit in die Epochen Steinzeit, Bronzezeit und Eisenzeit, das so genannte „Dreiperiodensystem“. Die Bezeichnung der einzelnen Perioden ergab sich für Thomsen aus den Materialien, die jeweils hauptsächlich für Werkzeuge und Waffen verwendet wurden.[26]

Schon bald wurde Thomsens System weiter unterteilt. Durch den fran­zösischen Geologen und Archäologen Edouard Lartet (1801-1873) und den bri­tischen Bankier und Hobbyarchäologen Henry Christy (1810-1855) erfolgte eine erste Verfeinerung. Lartet erforschte, finanziell gefördert und tatkräftig unterstützt von Henry Christy, die Höhlen im südlichen Frankreich. Er erkannte dabei, dass sich in den Höhlen anhand der eingelagerten Kulturschichten eine Chronologie entwickeln ließ, was man als „stratigrafische Methode“ bezeichnet, entsprechend der aus der Geologie bekannten Methodik. 1861 gliederte Lartet die Vorzeit anhand dieser Funde in eine ältere Periode, die er als „Mammutzeit“ bezeichnete, und eine jüngere, die er „Rentierzeit“ nannte. Er erkannte zudem, dass die Fundschichten mit „geschliffenen Steinen“ über denen mit „geschlagenen Steingeräten“ lagen, also jünger sein mussten. Auf diese Weise definierte Lartet erstmalig eine Art „archäologischer Leitfossilien“.

Der Brite Sir John Lubbock (1834-1913; später Lord Avebury) erkannte, dass es sich bei Thomsens „Steinzeit“ nur um die Spätphase eines viel umfassenderen Zeitraumes handelte und er unterteilte ihn weiter in Paläolithikum (= Altsteinzeit) und Neolithikum (= Jungsteinzeit). Die Benennungen setzten sich aus den griechischen Bezeichnungen palios für „alt“ bzw. neos für „neu“ sowie lithos für „Stein“ zusammen. Hierbei muss man natürlich berücksichtigen, dass die zugrunde liegenden Funde relativ jung waren, denn die ältesten Funde, die später in Afrika und inzwischen auch in Europa entdeckt wurden und ein Alter von bis zu 2,5 Millionen Jahre aufweisen, waren ja noch nicht bekannt.

Damit waren auch die archäologischen Voraussetzungen für die Erforschung der frühsten Menschheitsgeschichte geschaffen, wenn es auch von den Ältesten unserer Vorfahren keine archäologisch fassbaren Hinterlassenschaften gibt, außer ihren fossilierten Knochen, wie die Forschungen der kommenden Jahrzehnte zeigen sollten.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts kam es dann auch zu den ersten bedeu­tenderen Entdeckungen fossiler, menschlicher Überreste. Was möglicherweise in den Jahrhunderten zuvor bereits gefunden worden war, aber nicht erkannt wurde und deshalb verloren ist, werden wir wohl nie erfahren. Der berühmte Fund aus dem Neandertal fällt genau in die heiße Phase der Debatte um die Evolution des Menschen und je nach Einstellung des jeweiligen Gelehrten wurde auch über das Alter und die Zugehörigkeit der Knochen entschieden, wie noch zu zeigen sein wird. Doch zunächst standen mehr Darwin und seine Thesen im Blickpunkt des Interesses.

Der Mensch als Affe? - Darwin und die Folgen

Auch wenn viele Tatsachen nicht mehr völlig neu oder unantastbar waren, musste Charles Darwin (1809-1882), der als „Vater der Evolutionsbiologie“[27] ange­sehen werden kann, 1859 bei der Veröffentlichung seines Werkes „On the origin of species by means of natural selection“ herbe Kritik vor allem von kirchlicher Seite einstecken. Weil er sich dessen bewusst war, hatte er lange mit der Veröffentlichung seiner in jahrzehntelanger, akribischer Forschung erlangten Erkenntnisse gezögert. Erst als er glaubte, Erklärungen für alle strittigen Punkte gefunden zu haben und unter dem Druck, dass möglicherweise ein anderer vor ihm ähnliche Thesen ver­öffentlichen und ihn um die Anerkennung seines Lebenswerkes bringen könnte, präsentierte er schließlich seine Ideen der Öffentlichkeit.

Darwins Weg in die Wissenschaften war nicht gradlinig, entsprach aber in vielem dem üblichen Werdegang eines jungen Gentlemans aus der gehobenen, eng­lischen Mittelschicht.[28] Charles Robert Darwin wurde 1809 als fünftes Kind eines wohlhabenden Landarztes im mittelenglischen Shrewsbury geboren. Sein wenige Jahre vor seiner Geburt verstorbener Großvater, Erasmus Darwin (1731-1802), war ein sehr bekannter - und ebenfalls nicht unumstrittener - Naturforscher und Bon­vivant. Er hatte Ende des 18. Jahrhunderts eine Art Evolutionstheorie formuliert und veröffentlichte sie in einem Werk mit dem Titel „Zoonomia, or, The Laws of Organic Life“. Wenn Charles Darwin seinen Großvater auch niemals kennen lernte, scheinen Ideen, die schon den alten Herrn bewegten, auch seinen Enkel inspiriert zu haben, wie z.B. der Gedanke eines gemeinsamen Vorfahrens oder die Bedeutung von Kon­kurrenz und geschlechtlicher Selektion, die zur Veränderung von Arten führen könnten. So formulierte bereits Erasmus Darwin:

„The final course of this contest among males seems to be, that the strongest and most active animal should propogate the species which should thus be improved.,29

Aber nicht nur die Gedanken von Erasmus Darwin, auch das ganze intellek­tuelle Umfeld, das durch solch eine Persönlichkeit geschaffen wurde und das dessen Tod überdauerte, dürfte letztendlich für die Entwicklung von Charles Darwins Interessen und Ansichten von großer Wichtigkeit gewesen sein. Sein Vater Robert W. Darwin galt als politisch liberal und stand der Religion eher skeptisch gegenüber. Die früh verstorbene Mutter, Susannah Wegdwood, entstammte einer wohlhabenden Industriellenfamilie, ihr Vater Josiah Wedgwood war Besitzer einer Porzellan­manufaktur.

Darwins eigene Karriere begann jedoch wenig vielversprechend. Da er erst acht Jahre alt war, als seine Mutter starb, kam er in ein örtliches Privatinternat, doch in der Schule erwies sich der junge Darwin nicht als große Leuchte und auch sein Medizinstudium, das er mit sechzehn Jahren in Edinburgh begann, stand unter keinem guten Stern. Robert Darwin hatte Charles zusammen mit seinem fünf Jahre älteren Bruder Erasmus an die Universität geschickt, an der schon er und sein Vater studiert hatten. Keiner der beiden jungen Darwins sollte jedoch die Mediziner­laufbahn ergreifen und Charles musste nach nur zwei Jahren das Studium ab­brechen.

Zu Darwins Entschuldigung sollte man allerdings berücksichtigen, dass die Medizin zur damaligen Zeit noch ein überaus blutiges Handwerk war. Operationen wurden ohne jede Betäubung durchgeführt, die Auswirkungen auf den Patienten kann man sich lebhaft vorstellen. Bei Operationen kam es daher vor allem auf die Schnelligkeit des Chirurgen an, dennoch dürfte eine solche Behandlung nur etwas für robustere Charaktere gewesen sein, als es offenkundig Charles Darwin war. Aller-[29] dings brachten die zoologischen Exkursionen mit dem Anatom Robert Grant (1793­1874) das naturwissenschaftliche Interesse des jungen Darwin endgültig zum Aus­bruch und der junge Forscher hielt seine ersten wissenschaftlichen Vorträge.

Für Darwin stellte sich nach seinem Scheitern in Edinburgh indes die Frage, wie sein weiterer Lebensweg aussehen sollte. Sein intensives Interesse an den Naturwissenschaften hatte sich deutlich gezeigt, doch zu dieser Zeit gab es keine Ausbildung zum Naturwissenschaftler, keine Berufswissenschaftler, auch wenn wir heute wie selbstverständlich die damaligen Gelehrten als Biologen oder Geologen bezeichnen. Man musste genug Geld haben, um sich dem Studium der Natur­geschichte zu widmen, die wenigen Stellen an den Universitäten waren dünn gesät und nicht von Fachgelehrten heutiger Vorstellung besetzt. Also benötigte Darwin einen angesehenen Beruf, der ihm genug Zeit und Muße ließ, seinen Studien nach­zugehen. Er entschied sich für ein Studium der Theologie und klassischen Sprachen in Cambridge, um Landgeistlicher zu werden.

Was für den heutigen Betrachter wie ein Widerspruch erscheint, war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus nicht ungewöhnlich. Viele wissen­schaftlich interessierte junge Männer wählten den Weg in ein kirchliches Amt, um auf diese Weise ihren Forschungen nachgehen zu können, abgesichert durch kirchliche Pfründe. Und wie die Naturtheologie zeigt, gab es auch durchaus eine direkte Ver­bindung von Religion und Wissenschaft, die aber nicht nur positive, sondern auch negative, hemmende Auswirkungen auf die Forschung hatte - und die nun bald von einer neuen Generation Gelehrter bekämpft werden sollte.

Charles Darwin trat also im Jahre 1828 ins Christ’s College in Cambridge ein, um dort anglikanische Theologie zu studieren. In Cambridge lernte er zwei für seinen weiteren Lebensweg wichtige Persönlichkeiten kennen. Einer davon war der Geo­loge Adam Sedgwick (1785-1873), der zu dieser Zeit das Lehramt für Geologie in Cambridge innehatte, ebenfalls ohne spezielle geologische Ausbildung.[30]

[...]


[1] Die folgenden Texte sind - soweit nicht anders angegeben - zitiert nach: Steinwede, D./Först, D. (Hrsg.): Die Schöpfungsmythen der Menschheit; siehe zu der Thematik auch: Eliade, M.: Die Schöpfungsmythen: Ägypter, Sumerer, Hurriter, Hethiter, Kanaaniter und Israeliten; Hetmann, F.: Die Göttin der Morgenröte. Schöpfungsmythen aus aller Welt.

[2] Platon: Protagoras, S. 28-29.

[3] Zitiert nach Schwab, G.: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums, S. 21.

[4] Vanini, I.C.: De admirandis naturae reginae deaeque mortalium arcanis libri quartor. Zur Thematik siehe auch: Blum, P.R.: Philospophen der Renaissance. Eine Einführung; Russell, B.: Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit der politischen und sozialen Entwicklung, Boas, M: Die Renaissance der Naturwissenschaft 1450-1630.

[5] Siehe dazu Beda: De temporisbus und De temporum ratione.

[6] Lightfoot, J.: The whole works of the Rev. John Lightfoot II., S. 335.

[7] Ebd. IV., S. 112.

[8] Ebd. VII, S. 372.

[9] Ussher, J.: Annales veteris testamenti VIII, S. 13.

[10] Leclerc, G.L.: Les époques de la nature, S. 84ff.; siehe auch: Rieppel, O.: Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon, S. 46. Auch Leclerc befasste sich mit Evolutionstheorien und stand mit einigen Ansichten im Gegensatz zu Koryphäen wie Georges Cuvier.

[11] Siehe Tyson, E.: Orang-Outang, sive Homo Sylvestris, or the anatomy of a Pygmie Compared with that of a Monkey, an Ape and a Man; zu Edward Tyson siehe auch: Ashley, M.: Edward Tyson, M.D., F.R.S. 1650-1708, and the Rise of Human and Comparative Anatomy in England.

[12] Zu Leben und Werk von Carl von Linné siehe: Goerke, H.: Carl von Linné. Arzt, Naturforscher, Systematiker; Schwede, K.O.: Carl von Linné. Der Blumenkönig des Nordens; Jahn, I./Schmitt, M.: Carl Linnaeus (1707-1778).

[13] Linné, C. von: Fundamenta Botanica, S. 18.

[14] Zum Folgenden siehe: Lefévre, W.: Jean Baptiste Lamarck (1744-1829); Delange, Y.: Jean-Bapiste Lamarck. Biographie; zur Thematik der zeitgenössischen Evolutionstheorien in Frankreich siehe: Corsi, P.: The Age of Lamarck. Evolutionary Therories in France 1790-1830; Burkhardt, R.: The Spirit of System. Lamarck and Evolutionary Biology.

[15] Mollusken sind wirbellose Tiere mit weichem Körper.

[16] Nach Darwin ist der längere Hals dagegen ein Mutationszufall, der einen Evolutionsvorteil bot und den Giraffen mit längerem Hals - und damit einem leichteren Zugang zu ihrem Futter - eine größere Überlebens- und Fortpflanzungschance brachte.

[17] Zum Folgenden siehe: Rieppel, O.: Georges Cuvier (1769-1832); Outram, D.: Georges Cuvier. Vocation, Science and Authority in Post-Revolutinary France.

[18] Cuvier, G.: Discours sur les Révolutions de la Surface de Globe, S. 59; zitiert nach Rieppel, O.: Georges Cuvier, S. 154.

[19] Ebd., S. 151.

[20] Zu Leben und Werk von Charles Lyell siehe: Bonney, T.G.: Charles Lyell and Modern Geology.

[21] Stenonis, N.: De solido intra solidum naturaliter contento dissertationis prodromus.

[22] Siehe dazu: Winchester, S.: Eine Karte verändert die Welt. William Smith und die Geburt der modernen Geologie.

[23] Heute weiß man, dass beide Forscher teilweise Recht hatten, dass es neben einem kontinuierlichen Wandel auch Katastrophen gab, die entscheidenden Einfluss auf das Leben auf der Erde hatten. Als Beispiel mag hier das Massensterben der Dinosaurier und der darauf folgende Triumphzug der Säugetiere vor ca. 65 Millionen Jahren dienen, das wahrscheinlich durch den Einschlag eines Meteoriten verursacht wurde, möglicherweise aber auch den Ausbruch eines Supervulkans.

[24] Agassiz, L.: Etude sur les Glaciers; siehe dazu auch: Blair Bolles, E.: Eiszeit. Wie ein Professor, ein Politiker und ein Dichter das ewige Eis entdeckten; sowie zur Person Agassiz: Lurie, E.: Louis Agassiz. A life in science.

[25] Zitiert nach Müller, S: Nordische Altertumskunde, S. 217/8.

[26] Thomsen, C.J.: Leitfaden zur nordischen Altertumskunde.

[27] Eine sehr gute Einführung in Darwins Evolutionstheorie bietet: Weber, T.P.: Darwinismus.

[28] Siehe zur Lebensgeschichte Charles Darwins: Desmond, A./Moore, J.: Darwin; daneben auch: Junker, T.: Charles Darwin (1809-1882).

[29] Darwin, E.: Zoonomia, or, The Laws of Organic Life, 1794-1796, zitiert nach King-Hele, D. (Hrsg.): The essential writings of Erasmus Darwin, S. 5.

[30] Zu Adam Sedgwick siehe: Speakman, C.: Adam Sedgwick - Geologist and Dalesman, 1785-1873. A Biography in Twelve Themes.

Fin de l'extrait de 516 pages

Résumé des informations

Titre
Auf den Spuren von Lucy & Co. - Der lange Weg zum Homo sapiens
Auteur
Année
2009
Pages
516
N° de catalogue
V137596
ISBN (ebook)
9783640457205
ISBN (Livre)
9783640456963
Taille d'un fichier
4689 KB
Langue
allemand
Mots clés
Spuren, Lucy, Homo
Citation du texte
M.A. Martina Kleinau (Auteur), 2009, Auf den Spuren von Lucy & Co. - Der lange Weg zum Homo sapiens, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/137596

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