Attention-Deficit-Disorder (ADD, Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom): Phänomenologie - Diagnostik - Therapie


Epreuve d'examen, 2000

159 Pages, Note: 1,0 (sehr gut)


Extrait


Gliederung

Einleitung

Vorwort

Aufbau der Arbeit

1.0. Begriffsdefinition und -entwicklung

2.0. Fallbeispiel
2.1. Fazit

3.0. Symptomatik
3.1. DSM-IV : Diagnostic and Statistical Manual of the American Psychiatric Association, 1994
3.2. Impulsivität, Unaufmerksamkeit und Konzentrations­unbeständigkeit
3.3. "Sekundärsymptome"
3.4. Der Verlauf der ADD in den verschiedenen Lebens­phasen
3.4.1. ADD im Säuglings-und Kleinkindalter
3.4.2. ADD bei Schulkindern
3.4.3. ADD in der Pubertät
3.4.4. ADD im Erwachsenenalter

4.0. Ursachen
4.1. Ursachen in Familie, Erziehung und Lebenswelt des Kindes
4.1.1. Umweltverschmutzung
4.2. ADS als Folge von Nahrungsmittelunverträglich­keiten, Ernährungsfehlern und Allergien
4.3. Biologische Ursachen
4.3.1. Neuro-physiologische Grundlagen
4.3.1.1. Nervenzellen
4.3.1.2. Entwicklungs- und Funktionsstörungen des Gehirns
4.3.1.3. Das Zentralnervensystem
4.3.1.4. Funktionsweise des ZNS
4.3.1.5 Bereiche der Sensorischen Integration und ihre neuro-physiologischen Grundlagen
4.3.1.6. Reizfilterung
4.3.1.7. Erregungslevel im ZNS
4.3.2. Biologische Ursachen im Bereich des Gehirns und Nervensystems
4.3.2.1. Neuroanatomische Hypothesen
4.3.2.2 Biochemische Hypothesen
4.3.2.3. Weitere biologische Hypothesen
4.4. Vererbte genetische Merkmale
4.5. Zusammenfassung und Fazit
4.5.1. Das funktionelle Verstehen der Symptomatik

5.0. Diagnostik
5.1. Anamnese der Krankheits- und Lebensgeschichte des Kindes
5.1.1. Leistungen in der Schule
5.1.2. Beobachten des Kindes im Alltag
5.2. Tests, Skalen und Fragebögen
5.3. Psychologische Beurteilung
5.4. Klinische und ärztliche Untersuchung

6.0. Therapieformen
6.1. Medikamentöse Behandlung des ADD
6.1.1. Stimulantien
6.1.2. Antidepressiva
6.1.3.. Ausblick
6.2. Ergotherapeutische und mototherapeutische Behandlungskonzepte
6.2.1. Vom Problem zur Therapie
6.2.2. Sensorische Integrationstherapie nach Ayres
6.2.2.1. Beispiel: Verbesserung der Bewegungs- und Körper­ wahrnehmung
6.2.2.2. Sensorische Integration im Dialog
6.2.3. Alertprogramm nach Sue Williams
6.2.4. Somationstechnik mit Gelenkapproximation nach Zisi
6.2.5 Zusammenfassung und Relativierung
6.3. Umstellen der Ernährung
6.4. Psychotherapeutische Behandlungsverfahren
6.4.1. Verhaltenstherapie
6.4.1.1. Konzentrationstrainingsprogramm (KTP) nach Ettrich
6.4.1.2. Training mit aufmerksamkeitsgestörten Kindern nach Lauth /Schlottke
6.4.2. Spieltherapie
6.5. Therapieziele

7.0. Pädagogische Interventionen
7.1. Der Umgang mit dem ADD-Kind zuhause
7.1.1. Verbesserte Eltern-Kind-Interaktion nach THOP
7.2. Der Umgang mit dem ADD-Kind in der Schule
7.3. Sensorische Diät nach Pat Willbarger
7.4. Individuelle Förderung
7.4.1. Die Hunter und Farmer -Theorie nach Thom Hart­mann
7.4.2. ADS- Kinder - rechtshemisphärisch?

8.0. Schlußbetrachtung

Literaturliste

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.1

Wenn der Hans zur Schule ging,

Stets sein Blick am Himmel hing.

Nach den Dächern, Wolken, Schwalben

Schaut er aufwärts allenthalben:

Vor die eignen Füße dicht,

Ja, da sah der Bursche nicht,

Also daß ein jeder ruft:

"Seht den Hans Guck-in-die-Luft!"

Aus "Der Struwwelpeter"

H. Hoffmann

Einleitung

Vorwort

Während eines Praktikums an einer Schule für Erziehungshilfe in einer 1./2. Klasse, welches ich im Rahmen meines Studiums absolvierte, erlebte ich zum ersten Mal haut­nah sogenannte "hyperaktive Kinder". Ich hatte zuvor zwar ein Seminar zur Hyper­aktivität belegt und konnte deshalb auf ein Grundwissen zurückgreifen, was es jedoch bedeutet, mit diesen Kindern zu arbeiten und vor allem, was es für diese Kinder be­deutet, mit uns arbeiten zu müssen, wurde mir erst nach und nach im realen Zu­sammensein mit ihnen bewußt. Da sich das Praktikum insgesamt über einen Zeitraum von mehr als eineinhalb Jahren hinzog, erlebte ich die Schüler innerhalb verschiedener Perioden. Ich bemerkte unter anderem, wie sich die Einnahme von Ritalin auf ihr Ver­halten auswirkte.

Besonders bei einem Schüler empfand ich die Wirkung des Medikaments als un­glaublich heftig. Der sonst lebhafte und deshalb für Eltern und Lehrer an­strengen­de Junge war die ersten Stunden des Morgens wie weggetreten, wirkte völlig apa­thisch und wie paralysiert.

Der Zustand dieses Jungen hat mich sehr entsetzt und ich verstand nicht, was ihm die Einnahme dieses Medikament eigentlich Positives geben sollte?

Aus diesem Grund fing ich an, mich mehr mit dem Hyperkinetischen Syndrom und seinen Therapieformen zu befassen. Durch Zufall stieß ich dabei auf ein Buch der Ergotherapeutin Rega Schaefgen: "Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom - Eine Form der sensorischen Integrationsstörung"[1].

Beim Lesen dieses Buches erfuhr ich zum ersten Mal von der Attention-Deficit-Dis­order (ADD), wobei Schaefgen hier den Begriff Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS) ohne Hyperaktivität[2] benutzt. Bei der Symptombeschreibung fielen mir spon­tan ein Schüler aus meiner Praktikumklasse und auch zwei Kinder aus dem Be­kan­ntenkreis ein, auf die eine solche Diagnose möglicherweise zutreffen könnte.

Diese Tatsache machte mich sehr nachdenklich.

Ich hatte bisher weder im Rahmen meines Studiums noch anderswo jemals etwas von der ADD gehört und wenn ich mich nicht näher mit Hyperaktivität befaßt hätte, wäre dies so rasch sicherlich auch nicht geschehen- und doch fielen mir spontan drei Kinder ein, die möglicherweise ADD haben könnten?

Die auffälligen, lebhaften Störenfriede und Zappelphilippe waren es, die meine Auf­merksamkeit erregt hatten, ihretwegen hatte ich mich näher mit dem ADS befaßt und über ihre Störung hatte ich mehr erfahren wollen.

Es existieren unzählige Bücher über die sogenannte Hyperaktivität und unzählige El­tern suchen Rat und Hilfe, weil ihre Kinder so unruhig und voll von überschüssiger Energie sind.

Was aber ist mit den stillen, in sich gekehrten, träumenden Kindern, die im Grunde das gleiche Problem haben könnten wie die Kinder, die ständig in Bewegung sind?

Der Schüler, von dem ich spontan annahm, er könne ADD haben, ist z.B. ebenso un­konzentriert wie die hyperaktiven Schüler, er bearbeitet seine Aufgaben nur selten länger als fünf Minuten, steht während des Unterrichts auf, geht umher, schaut aus dem Fenster oder fängt an, mit etwas zu spielen. Da er nicht umher rennt und weder Tische noch Stühle umwirft, fällt er uns viel weniger auf, tatsächlich ist es sogar so, daß er uns nicht auffällt, weil er uns oder andere Schüler nicht stört. Er ist einfach für sich.

Aber das bedeutet nicht, daß seine Probleme kleiner wären oder daß er unsere Hilfe weniger brauchen würde.

Trotzdem die Kindererziehung in unserer heutigen Gesellschaft einen hohen Stel­lenwert hat, ist die ADD als eine Erscheinungsform des ADS ohne Hyperaktivität in Deutschland bisher wenig be­kannt.

Heißt das, daß wir uns vorrangig mit den Problemen der Kinder beschäftigen, wenn die Kinder uns Probleme machen?

Da, wie ich im Weiteren noch erläutern werde, davon ausgegangen werden kann, daß durchschnittlich etwa 1,5-10% aller Kinder unter dem ADS leiden und vielleicht wiederum 50% von ihnen, besonders Mädchen, unter der ADD, halte ich es für sehr wichtig, daß mehr über dieses Symptombild oder wie immer man es nennen mag, in der Öffentlichkeit bekannt wird.

Vielen Kindern, die unter der ADD und ihrer Symptomatik leiden, bei denen sie aber nicht diagnostiziert wurde und die aufgrund ihres von der Norm abweichenden Ver­haltens stigmatisiert werden, die als Dummköpfe, Tolpatsche, hoffnungslose Träumer und Faulpelze gelten, könnte durch die richtige Therapie sicherlich geholfen werden. Vorallem aber würde man ihr Verhalten verstehen und nicht verurteilen.

Dies waren meine Beweggründe, mich ausführlich mit der ADD zu befassen und meine wissenschaftliche Hausarbeit zu diesem Thema zu schreiben.

Nachdem ich mich dazu entschlossen hatte, mußte ich feststellen, daß ich mir keine sehr leichte Aufgabe gestellt hatte. Bei der Suche nach Literatur und Informationen zum Thema ADD stieß ich auf - nahezu nichts.

Lediglich in Bezug auf die Ursachen der ADD und teilweise auch in Bezug auf die Behandlung dieses Symptombildes konnte ich auf Literatur zum ADS zurückgreifen, da es sich bei der ADD ja um eine Erscheinungsform des ADS handelt.

Das Störungsgsbild der ADD findet jedoch nur bei wenigen Autoren mehr Erwähnung als ein paar Sätze zu der Tatsache, daß es im allgemeinen wenig Beachtung fände, ihm mehr Beachtung geschenkt werden müsse und vorallem Mädchen von dieser Symptomatik betroffen seien.

Obwohl sich seit einiger Zeit viele Autoren mit dem ADS im Erwachsenenalter befas­sen, in dem Hyperaktivität größtenteils nicht mehr zum Symptombild gehört, scheint die so häufig erwähnte Tatsache der massiven Vernachlässigung der ADD bisher noch nicht zu einer intensiveren Beschäftigung mit diesem Erscheinungsbild geführt zu ha­ben.

Dies verstärkt meine Vermutung, daß das Bestreben zum Ausgleichen eines für Er­wachsene störenden Verhaltens auch innerhalb der wissenschaftlichen Fachdisziplinen von sehr viel größerem Interesse zu sein scheint als das Bestreben zum Ausgleichen von Schwierigkeiten, die Kinder tatsächlich belasten.

Lediglich in den Veröffentlichungen der Diplompsychologin und Heilpädagogin Cor­dula Neuhaus findet sich sehr viel mehr als an allen anderen Stellen zur speziellen Problematik der ADD. Pionierarbeit auf dem Gebiet der ADD hat meiner Meinung nach die selbst vom ADS betroffene Psychotherapeutin Sari Solden geleistet, die in ihrem Buch Die Chaosprinzessin auf das Erscheinungsbild der ADS bei Frauen eingeht und die Entwicklung zweier fiktiver Frauen vom Kleinkind- bis ins Erwachs­enenalter beschreibt. Dabei befaßt sie sich gleichermaßen mit dem ADS mit Hyperaktivität sowie mit dem ADS ohne Hyperaktivität, der ADD.

Zum einen aufgrund der Vernachlässigung der speziellen Symptomatik der ADD in­nerhalb der Fachdisziplinen und Medien, zum anderen aber auch aufgrund der Tat­sache, daß die ADD, wie ich im Weiteren erläutern werde, letztlich eine Er­scheinungsform des ADS und dadurch untrennbar mit dem ADS verbunden ist, werde ich mich im Rahmen meiner Arbeit in verschiedenen Bereichen auch mit dem ADS auseinandersetzen müssen.

Hauptsächlich möchte ich jedoch in der vorliegenden Arbeit auf die ADD bei Kindern eingehen, da ich mir aufgrund der aus meiner Arbeit erworbenen Kenntnisse und der kritischen Auseinandersetzung mit diesem Phänomen einen kompetenteren Umgang mit betroffenen Kindern im Rahmen meiner späteren Tätigkeit als Sonderschullehrerin erhoffe.

Mir ist es sehr wichtig, schon an dieser Stelle zu erwähnen, daß ich nicht damit ein­verstanden bin, ADS als Behinderung, Störung oder Krankheit zu etikettieren.

Wie im Laufe meiner Arbeit zu erkennen sein wird, handelt es sich vielmehr um eine andere Art, die Welt wahrzunehmen, auf sie zu reagieren und in ihr zu leben, als es die gesellschaftliche Norm vorschreibt.

Da die Kinder mit dem ADS jedoch in dieser Gesellschaft leben, sollte meines Erachtens letztlich das Ziel aller beteiligten Fachdisziplinen sein, Möglichkeiten und Wege zu finden, die es ihnen leichter machen, sich in die heutige Gesellschaft zu integrieren und zugleich der Gesellschaft Wege aufzuzeigen, mit ihnen umzugehen.

Ich werde im Folgenden die Begriffe Störungsbild, Störung, Symptome etc. nur unter Vorbehalt benutzen und in Ermangelung von Begriffen, die in einer wissen­schaft­lichen Arbeit adäquat verwendet werden können. Durch die Verwendung der Begriffe möchte ich keine Wertung vornehmen.

Ich denke, daß es wohl nötig ist, gewisse Phänomene zunächst unter einer Bezeichnung zusammenzufassen, um sie dann untersuchen zu können, man gibt den Dingen Namen, denn man benötigt Begriffe, um sich etwas vorstellen und darüber reden zu können. Wenn ein von der Norm abweichendes Verhalten nicht in irgendeiner Form klassifiziert und als Störung oder Krankheit bezeichnet wird, sind die Chancen für ein allgemeines Verständnis gegenüber diesem Verhalten leider sehr gering.

Ich bin gleichwohl trotzdem nicht sicher, ob die Diagnose ADS oder ADD für die Betroffenen Etikettierung oder gar Stigmatisierung bedeuten muß.

Wahrscheinlich fühlt der eine sich stigmatisiert, während der andere froh ist, anderen und sich selbst für sein individuelles Symptombild und die daraus entstehenden Pro­bleme eine Erklärung bieten zu können. Was die Diagnose ADD speziell für Kin­der bedeutet, werde ich im Rahmen meiner Arbeit zu erläutern versuchen.

Auf jeden Fall kann eine solche Diagnose bedeuten, daß individuell gezielte medi­zinische und/oder andere therapeutische Maßnahmen ergriffen werden können.

Aufbau der Arbeit

Die vorliegende Arbeit ist im wesentlichen in sechs Bereiche gegliedert.

Der erste Teil befaßt sich mit der Begriffsdefinition- und -entwicklung des ADS und der ADD.

Um zunächst eine Vorstellung von der speziellen Problematik der ADD zu vermitteln, habe ich mich dazu entschlossen, diese anhand eines Fallbeilspiels schon im zweiten Teil meiner Arbeit darzustellen. Im Anschluß daran gehe ich auf die Symptomatik der ADD ein.

Die verschiedenen Hypothesen zu den Ursachen des ADS und eine reflektive Aus­einandersetzung mit diesen sind das Thema des dritten Teils meiner Arbeit.

Im vierten Teil befasse ich mich mit der Diagnostik der ADD.

Im fünften Teil der vorliegenden Arbeit stelle ich die unterschiedlichen Therapie­formen, die bei der ADD eingesetzt werden können, dar.

Der sechste Teil meiner Arbeit befaßt sich mit Maßnahmen und Interventions­möglichkeiten innerhalb der Familie und der Schule, die einem ADD -Kind den Um­gang mit seiner speziellen Symptomatik erleichtern.

In diesem Teil meiner Arbeit werde ich auch auf die positiven Aspekte des Symptom­bildes und auf die spezielle Förderung der besonderen Fähigkeiten von Kindern mit der ADD eingehen.

1.0. Begriffsdefinition und -entwicklung

Eine klare und allgemeingültige Begriffsbestimmung der von mir verwendeten Be­griffe Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom = ADS und Attention- Deficit- Disorder = ADD findet sich bis zum jetzigen Zeitpunkt weder in der Literatur zu diesem Thema noch bei den beteiligten Fachdisziplinen.

Das ist nicht verwunderlich, da in der deutsch - und englischsprachigen Literatur für das Erscheinungsbild, für welches ich hier den Begriff ADS verwende, 135 ver­schiedene Begriffe existieren und verwendet werden.[3]

In meiner Einleitung habe ich vorab schon einen groben Einblick in die Thematik gegeben und deutlich gemacht, daß die ADD als eine der Erscheinungsformen des ADS zu betrachten ist, aber aufgrund des weniger häufigen Auftretens von für die Umwelt störenden Verhaltensanteilen sehr viel weniger Beachtung findet als die Erscheinungsform des ADS mit Hyperaktivität.

Das Erscheinungsbild des ADS ist momentan in Deutschland hauptsächlich unter dem Begriff Hyperkinetisches Syndrom (HKS) oder schlicht unter Hyperaktivität be­kannt. Die schon in der Begrifflichkeit erkennbare starke Hervorhebung des hyper­aktiven Verhaltens innerhalb eines sehr viel komplexeren Symptombildes ist wiederum meiner Meinung nach damit zu begründen, daß eben dieses Verhalten für die Umwelt so auffällig und störend ist.

Die verschiedenen Bezeichnung für ein und das selbe Symptombild drücken einerseits die unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansichten zu den Ursachen aus und verändern sich andererseits gleichsam auch immer wieder durch die neuesten Forschungsergebnisse.

Das Erscheinungsbild des unaufmerksamen, zerstreuten, impulsiven und teilweise überaktiven Kindes ist schon sehr lange bekannt.

Schon 1845 beschrieb der Kinderarzt Heinrich Hoffmann in Versen für Kinder die verschiedenen Symptome des HKS / ADS im Bilderbuch "Struwwelpeter".

Die Geschichte vom "Hans Guck-in-die-Luft" beschreibt z.B. eindrucksvoll, wie schwer es Hans fällt, darauf zu achten, wohin seine Füße laufen. Er kann seine Auf­merksamkeit nicht auf seine Schritte lenken, weil er in der Luft die Wolken und Vögel betrachtet.

Kinder, wie Hoffmann sie beschreibt, wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Dr. George F. Still als willensschwach und nicht fähig, ihr Verhalten zu kontrollieren betitelt und galten in England allgemein als ungezogen, unmoralisch, emotional aus­ufernd oder idiotisch[4].

Still vermutete genetische Ursachen, stellte aber in den betroffenen Familien auch vermehrt Alkoholmißbrauch, Depressionen und auffälliges Sozialverhalten fest.

1934 wurde mangelhafte Impulskontrolle, übertriebene Aktivität und reduzierte Aufmerksamkeitsspanne bei Erwachsenen nach Abklingen einer Gehirnhautent­zünd­ung mit organischer Getriebenheit benannt.[5]

1937 beschrieb das Forscherpaar Bradley die Symptome eines hyperaktiven Kindes, das Syndrom wurde von ihnen als Unruhesyndrom bezeichnet. Durch Experimente mit Stimulantien-Präperaten (Benzedrin) erlangten sie therapeutische Erfolge, ohne jedoch deren Wirkungsweise erklären zu können. Die Forschungen der Bradleys trugen dazu bei, daß das Symptombild vorallem Kindern zugeschrieben wurde.[6]

Bis Lauffer 1957 die Ursachen des Symptombild einer Filterschwäche im Stammhirn zuwies und die Hirnfunktionen des Kindes untersuchte, schrieb man auffälliges Ver­halten von Kindern hauptsächlich ungenügender Erziehung zu. Erst seit den 60er Jahren wird nach anderen Ursachen, Erklärungen und Begründungen für dieses norm­abweichende Verhalten von Kindern gesucht.[7]

Im Laufe der Zeit entstanden die unterschiedlichsten Theorien. Verschiedene Diagnosebezeichnungen wurden geprägt von der Tatsache, daß Unklarheit über die möglichen Ursachen bestand, jedoch die unterschiedlichsten Vermutungen angestellt wurden. Berger prägte 1977 in den USA den Begriff minimale cerebrale Dys­funktion (MCD), während in Deutschland zunächst der Begriff der leichten früh­kindlichen Hirnschädigung, dann der Begriff kindlich exogenes Psycho­syndrom benutzt wurde.[8] In der Schweiz wird auch heute noch die Bezeichnung Psycho­organisches Syndrom (POS) verwendet.

Erst seit den 70er Jahren nehmen Experten größtenteils von der Überzeugung Abstand, daß die Ursache des Symptombildes eine wenn auch noch so geringe Hirn­schädigung sei. Zudem entdeckte man, daß das Symptombild zwar wandelbar ist, jedoch entgegen der vorherigen Überzeugung im Erwachsenenalter nicht ausheilen oder verschwinden muß.

Seit dieser Zeit entstanden neben den schon bestehenden neue Begriffe und Bezeich­nungen.

Bei ADD-ONLINE[9] findet sich eine Tabelle der wichtigsten Begriffe, die mehr oder weniger ein und dasselbe Phänomen beschreiben:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab.1

Gemäß DSM IV, dem weltweit verwendeten diagnostischen und statistischen Manual für psychische Störungen wird seit 1994 die Bezeichnung Attention-deficit-hyper­activity-disorder (ADHD) verwendet, teilweise auch in der Schreibweise AD/HD [10]. Diese Schreibweise soll darauf hinweisen, daß es, wie schon 1980 im Wissen­schaftslexikon DSM III (noch unter dem Begriff ADD) beschrieben, die Störung in (mindestens) zwei unterschiedlichen Ausprägungen gibt:

Eine Ausprägung der Aufmerksamkeitsstörung mit Hyperaktivität und eine Ausprä­gung der Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität.

Neuhaus bemerkt, daß der Begriff im Nachfolgemanual des DSM III, dem DSM III-R, zunächst wieder verschwand, da es nicht genügend Forschungsergebnisse zur Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität gab.

In Deutschland wurde der Begriff Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität (AD/HD, ADD) zunächst abgelehnt, aufgrund der Gefahr einer vorschnellen Diag­nose dieser Störung bei Kindern, die aus anderen Gründen nicht aufmerksam seien.

Hier hatte zunächst der Begriff Hyperkinetisches Syndrom (HKS) Bestand (1991, ICD-10[11] ). Unter der Diagnosenummer mit der Überschrift "Andere näher bezeich­nete Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend" taucht im ICD-10 der Begriff Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität je­doch trotzdem auf.

Die Bezeichnung HKS für das vorliegende Erscheinungsbild birgt den Vorteil, daß sie "im Umgang mit Krankenkassen, Behörden, Schulen und Kindergärten nachhaltigen Eindruck macht "[12], da sie aber nur auf die Hyperaktivität hinweist und die Auf­merksamkeitsstörung nicht beschreibt, wird gemäß DSM in den USA heute die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung mit drei Untertypen beschrieben:

- Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, vorwiegend unaufmerksamer Typ

- Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, vorwiegend hyperaktiv-

impulsiver Typ

- Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kombinierter Typ.[13]

Gemäß der Weltgesundheitsbehörde WHO lautet der korrekte Begriff ADDS für Attention Defizit Disorder Syndrom mit und ohne Hyperaktivität.

Der AÜK (Arbeitskreis überaktives Kind e.V.) verwendet neben der Bezeichnung Hyperkinetisches Syndrom für das Symptombild die Abkürzung ADD/H [14].

ADD = Attention-Deficit-Disorder steht hierbei für die Ausprägung der Störung ohne Hyperaktivität.

Ich halte diese Lösung im allgemeinen Wirrwarr um Begriffe und Begriffsdefinitionen für am sinnvollsten.

Das Symptombild des Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms ohne Hyperaktivität ist so komplex, daß es eine eigene Bezeichnung sicherlich nötig hat, um allgemein mehr Be­achtung zu finden.

"Das ADS ´ohne´sieht von außen anders aus als das ADS ´mit´. Auch im Inneren der Person unterscheidet es sich von vom ADS ´mit´. Dennoch ist dies keine leichte Form der ADS. Beide Formen weisen zwar die gleichen Grundschwierigkeiten auf, diese allerdings artikulieren sich unterschiedlich, werden unterschiedlich empfunden und haben auf das Alltagsleben der Betroffenen unterschiedliche Auswirkungen. Diese sind ebenso extrem"[15]

In der Literatur zum Thema werden, wie oben erwähnt, auch heute noch aus den verschiedensten Gründen unterschiedliche und teilweise sogar nach neuesten Erkennt­nissen unangemessene Begriffe bevorzugt, was teilweise sehr irritierend ist und auch meine Zitate betreffen wird. Da es keine allgemeingültige Bezeichnung oder einen generellen Begriff gibt, werde ich in meiner Arbeit die Begriffe wie folgt verwenden:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab.2

In der Literatur zum Thema wird die Bezeichnung ADD von einigen Autoren auch für alle Ausprägungen der Störung verwendet.

Ich werde die Begriffe teilweise, hauptsächlich aufgrund der Verpflichtung zur wort­wörtlichen Wiedergabe von Zitaten, auch parallel verwenden müssen.

Festzuhalten ist, daß es sich grundsätzlich nicht um Diagnosen, sondern um Sammelbegriffe handelt, die alle nur Teilaspekte beschreiben und aus unterschied­lichen Gründen zumeist eine eigene Legitimation besitzen.[16]

2.0. Fallbeispiel

Irina[17] lernte ich über das Internet kennen. Ich schrieb bei den Hypies unter der Rubrik "Kontakt" eine Nachricht ins Pinboard, daß ich über ADD ohne H meine Examens­arbeit schreiben würde und deshalb gerne mit Eltern über ihre ADD - Kinder sprechen würde.

Eine andere Möglichkeit sah ich nicht, da sich, trotzdem ich vieles versuchte, um Kontakt zu finden, generell nur Eltern hyperaktive r Kinder bereit erklärten, mit mir zu sprechen. Bei den Kindern, bei denen ich persönlich eine ADD vermutete, war eine solche Diagnose (noch) nicht gestellt worden.

Irina (21 Jahre) rief mich an, als ich schon glaubte, auf ein Fallbeispiel verzichten zu müssen.

Sie sagte, sie hätte glücklicherweise selbst noch kein Kind, aber vor einem knappen Jahr hätte ihr Psychotherapeut in Zusammenarbeit mit einem Neurologen bei ihr selbst ADD oder, wie sie sagte, ADS ohne Hyperaktivität diagnostiziert.

"Also für mich war das wie ein Wunder, alles hat plötzlich gepaßt, das kann man sich gar nicht vorstellen. Aber meine Eltern, nee.meine Eltern sind beschissen drauf, was das betrifft, mein Vater mag den ganzen Psychoscheiß sowieso nicht und meine Mutter glaubt auch nicht so richtig dran. Es war ihnen schon immer alles peinlich mit mir, also die würden da nie mit ´ner Fremden drüber reden. Obwohl sie sich ja langsam doch ein paar Gedanken machen, weil da doch auch neulich in der Bild am Sonntag[18] so ein Artikel war."

Irina selbst war jedoch bereit, sich mit mir zu treffen.

Da sie seit Jahren in psychotherapeutischer Behandlung ist und sich seit der Diagnose intensiv mit dem ASD befaßt hat, war sie vertraut damit, ihre Symptomatik zu be­schreiben und mein Gespräch mit ihr war sehr aufschlußreich.

Möglicherweise würde ihre Geschichte, was die Diagnostik betrifft, zum heutigen Zeitpunkt anders verlaufen, da die beteiligten Fachdisziplinen heute schon etwas mehr über das ADS ohne Hyperaktivität wissen.

Dennoch ist das, was sie mir erzählt hat, bezeichnend für den Leidensweg einer Fa­milie mit einem ADD -Kind vor der Diagnose.

Wenn Irinas Aufmerksamkeitsstörung und ihre Impulsivität schon in ihrer Kindheit als ADD diagnostiziert und sie dementsprechend behandelt worden wäre, hätte ihr Leben sicherlich anders verlaufen können. Ich habe mit ihr ein langes Gespräch geführt, was ich im Folgenden wiedergeben möchte:

Irina, geboren am 13.05.79; Diagnose ADD

Ich glaube, es ist am besten, wenn Du mir einfach erzählst, wie Deine Kindheit verlaufen ist- soweit Du Dich daran erinnerst.

Von meinen Eltern weiß ich, daß ich als Baby eigentlich ziemlich normal war. Ich habe noch eine zwei Jahre ältere Schwester, die war viel anstrengender als ich, ich war immer Mamas Engel, brav, lieb und alles. Mama hat mir viel vorgelesen oder ich habe so auf dem Boden rumgesessen, mit Legos und Puppen gespielt oder sie beobachtet. Heute gibt sie auch zu, daß ich schon, als ich noch echt sehr klein war, zwei Jahre oder so, viel bloß irgendwie rumsaß, aus dem Fenster schaute oder woanders hin. Und

daß sie sich manchmal gefragt hat, was ich da eigentlich so entdecke, daß es mich so sehr fesselt. Sie findet es aber furchtbar, daß ich eine Störung haben soll und schämt sich, daß sie da nicht schon früher was gemacht hat dagegen. Mama ist da etwas an­ders als Papa, der meint, ich würde spinnen und mein Arzt auch und ich hätte da jetzt

durch die Diagnose und die Bezeichnung ADS sowas wie eine Legitimation dafür, mich so unmöglich aufzuführen, ich wäre ein ganz normales Kind gewesen und hätte alle Voraussetzungen gehabt, aber ich wollte eben nicht und basta. Ich war nämlich auch Papas Engelchen anfangs, muß ich dazu sagen.

Naja, Mama meint jedenfalls, daß ihr das eigentlich meist ganz recht war, daß ich so brav gewesen bin und sie so wenig Arbeit mit mir hatte, weil Karin haufenweise Zeit in Anspruch nahm. Karin war immer total frech und hat viel kaputt gemacht, umgeschmissen und angemalt, außerdem hatte sie einen Sprachfehler, irgendwie, da­mals, und Mama mußte mit ihr zu einer Logopädin gehen. Ziemlich oft in der Woche.

Ich war da fast nie mit dabei, man konnte mich immer sorglos bei Oma abgeben, ich habe nie Ärger gemacht.

Soweit ich weiß, war ich normal entwickelt, etwas klein und dünn allerdings, ich war auch erst sehr spät sauber, aber das hat Mama nicht gestört. Sie sagt, ich habe im Kindergarten noch oft in die Hose gemacht, da wollten sie mir keine Windeln mehr ummachen, ist ja auch verständlich, deshalb hatte ich da immer ein Höschen extra mit. Anfangs war ich im Kindergarten auch sehr beliebt, ich war ein niedliches und halt noch besonders kleines Mädchen, ich hing immer bei den Kindergärtnerinnen rum, auf dem Schoß oder neben ihnen mit was zum Malen oder Legos oder so. Mama meint, die konnten gar nicht fassen, daß ich Karins Schwester wäre, sie nannten mich ein rei­zendes, süßes Mädchen. Karin war damals in der B-Gruppe dieses Kindergartens und Mama und Papa mußten ständig wegen ihr kommen. Ich würde mal sagen, daß ich damals nicht wirklich hypoaktiv war, ich war aber sehr schüchtern und still, aber da­mals dachten eben alle, das läge an Karin, weil sie immer alles bestimmt hat und ich mich von ihr unterdrücken ließ und dieses Muster auch bei anderen Kindern übernehmen würde. Das liegt ja auch nahe, bei so einer Schwester, daß das alle gedacht haben.

Ich habe wohl oft ihretwegen geheult und mich nie wehren wollen, ich habe immer alles gemacht, was sie gesagt hat und wenn sie mir was wegnahm oder so, dann habe ich nur geheult, aber empfindlich war ich bei ihr wirklich nicht, die Karin hat mich nämlich manchmal richtig gequält, ist auf mir rumgehüpft oder hat mir einmal die Wimpern abgeschnitten und kam dabei mit der Schere ins Auge.

Hast Du auch Probleme mit anderen Kindern gehabt?

Erst später. Mit anderen Kindern habe ich sowieso wenig gespielt, ich habe gerne gemalt und mit Mama Geschichten erfunden, ich war eben schüchtern.

Papa hat mich gerne mitgenommen, er ist Vertreter, und obwohl das eigentlich nicht erlaubt war, durfte ich oft mit ihm mitfahren, besonders an die Ostsee, da habe ich im Auto gewartet und dann haben wir den ganzen Tag am Strand verbracht. Karin hat er fast nie mitgenommen, weil sie schon auf der Hinfahrt genörgelt hat und es ihr zu langweilig war, einmal ist sie aus dem Auto gestiegen, als Papa Geschäfte abwickelte und er hat sie nicht wiedergefunden, sie ist einfach alleine zum Strand gegangen. Sowas hätte ich nie getan -damals. Also Papa hat mich gerne hergezeigt, auch im Fußballverein, ich war oft mit beim Training und im Vereinsheim, ich habe dann da im Sand gespielt, stundenlang oder Bilderbücher angeschaut mit Papas Kumpels. Ich fand das total toll, ich erinnere mich noch genau daran, wie stolz ich war, weil sie mich alle sooo süß fanden und dauernd lobten, das war ein richtig schönes Gefühl. Karin hat da so einen richtigen Haß aufgebaut. Wir haben uns damals schon nicht gut vertragen, obwohl ich sie ja furchtbar geliebt habe und ihr versucht habe, alles nachzumachen.

Später habe ich sie dann aber auch richtig gehaßt. Es hat sich nämlich alles geändert, und vielleicht war das eben deshalb so furchtbar für alle, weil ich immer so ein Engel war davor.

Was hat sich denn genau verändert damals?

Ne´Menge. Es hat so gar nicht zu mir gepaßt, was dann alles passiert ist, fünf Jahre lang war ich der reinste Engel und alle hatten mich sofort lieb und kuschelten mit mir, meine Verwandten und Freunde meiner Eltern. Mit Karin ging das nicht, die hat den Leuten die Zunge rausgestreckt.

Seit ich das mit dem ADS weiß und da viel gelesen habe, ist mir das alles klar ge­worden. Als ich noch klein war, da wollte ja niemand was besonderes von mir, außer vielleicht, daß ich artig bin, und das war ich. Da hat keiner darüber nachgedacht, ob ich mir eigentlich wirklich Bilder anschaue, wenn ich in ein Bilderbuch sehe oder wieso ich nicht mit anderen Kindern spielte, da durfte ich ja tun, was ich wollte und ich wollte immer nur Sachen, die niemanden gestört haben, genau wie Du das sagst, meiner Mama war das total recht. Aber es hat sich sofort alles um 180 Grad gedreht, als das erste Mal jemand etwas von mir forderte.

Als ich im Kindergarten in die B-Gruppe kam, da hatte ich nur noch eine Kinder­gärtnerin, die sollten wir auch nicht Tante nennen, sondern Kerstin, das weiß ich von Mama, ich erinnere mich bloß so an sie und daß sie mir immer gesagt hat, ich solle mit den anderen Kindern spielen. Zu Mama hat sie gesagt, die Karin, das wäre so ein Wirbelwind und sie wäre so beliebt bei den anderen Kindern, ich wäre immer nur alleine und das ginge so nicht, nicht in ihrer Gruppe. Ich durfte nie bei ihr auf dem Schoß sitzen und auch nicht alleine spielen, ich mußte immer mit den anderen etwas machen, Gruppenspiele und sowas, da habe ich nur noch geheult. Mama mußte mich dann öfter abholen und hat mich dann getröstet. Kerstin sagte, ich wäre viel zu still und hätte autistische Züge, irgendwas würde da nicht stimmen. Mama sagt heute, daß sie auf Kerstin sehr sauer war, und daß sie das sehr verletzt hat mit dem Autismus, sie hatte ja keine Ahnung von sowas, wußte nur, daß das schlimm wäre, wenn, ist dann sofort mit mir zu unserem Kinderarzt gegangen. Aber ich war ja nun nicht autistisch, ist ja Quatsch, der Kinderarzt hat da wohl gelacht und gesagt, das wäre oft bei Ge­schwistern so, daß die halt verschieden wären und sich nicht strichgleich entwickeln und daß Eltern sich dann sorgen würden. Und ob Mama denn nicht froh wäre, daß ich nicht so ein agiles Kind wie Karin sei. Also war Mama dann total ärgerlich, weil Ker­stin ihr und Papa so einen Schreck eingejagt hat. Sie sagt, daß sie sich nicht getraut hat, mich aus der Gruppe zu nehmen, auch dann nicht, als ich plötzlich so anders wurde. Weil es ja bei uns im Ort keine Vorschule oder einen anderen Kindergarten gab. Wo ich ja schon soviel alleine war und Zuhause nicht mit anderen Kindern spielen wollte, sollte ich wenigstens im Kindergarten bleiben.

Und was war es, was sich bei Dir oder an Dir so verändert hat?

Ich habe angefangen, die anderen Kinder zu verprügeln und anzuspucken und Wut­anfälle bekommen. Warum, weiß ich natürlich heute nicht mehr, aber da fingen die Probleme mit mir an. Zudem hat der Schulpsychologe dann auch noch gesagt, ich wäre nicht schulreif und ich kam dann noch mal ein Jahr in die B-Gruppe, weil es in unserem Ort ja nur diesen Kindergarten gab. Ich glaube, diese Kerstin war gar nicht mal so blöd, nur Mama und Papa haben ihr einfach an allem die Schuld gegeben, dabei hatte sie ja eigentlich irgendwie doch recht, Kinder können doch nicht immer bloß rumsitzen und alleine durch die Gegend streifen, sie müssen ja auch mit anderen Kindern spielen können und dann nicht gleich ausflippen. Ich kam damit aber nicht zurecht, mir war alles zu anstrengend oder zu doof und ich habe auch vor anderen Kindern immer Angst gehabt. Ich war total empfindlich, ich hatte nie Spaß dabei, mit den anderen zu spielen, und wenn ich gezwungen wurde, mit denen zu spielen, flippte ich irgendwann immer aus.

Hast Du da ein Beispiel?

Einmal habe ich Spielzeug im Sand vergraben und ein Junge hat das dann ausgegraben und da habe ich seinen Kopf ganz fest in den Sand gedrückt. Mein Gott, da war ich wohl so fünf Jahre alt, aber die haben da ein Theater gemacht, als hätte ich den vor­sätzlich töten wollen. Kerstin hat zu meinen Eltern wohl gesagt, ich würde ihr Angst machen, weil ich so lächelnd dasitze und scheinbar ganz versunken mit etwas spiele und dann plötzlich wie ein Dämon auf andere Kinder losgehe, die doch nur mit mir spielen wollen.

Ich weiß von der Zeit ja nicht mehr soviel, klar, aber ich weiß, daß mich andere immer gestört haben, ehrlich, ich wollte das nie, das mir jemand was wegnimmt oder so, ich konnte nicht einmal Ball spielen, ich wollte den Ball immer behalten, für mich. Ich bin dann total wütend geworden, wenn ich werfen sollte. Wahrscheinlich habe ich diese Kerstin zur Verzweiflung gebracht. Meine Eltern konnten das alles gar nicht verstehen und glaubten, daß ich alles für mich behalten wollen würde, weil Karin Zuhause so dominant war. Ich habe übrigens einen eigenen Ball bekommen, wie wir ihn im Kindergarten hatten, hab´ich heute noch, mit dem Karin dann nicht spielen durfte.

Es ging immer nur um dieses Geschwisterverhältnis, das ist wirklich bescheuert, oder?

Der Kindergarten hat dann jedenfalls entschieden, ich sei untragbar und müsse in einen Sonderkindergarten, da war ich aber nur drei Monate. Papa mußte mich da immer hinfahren und Mama hat mich abgeholt und sie konnten natürlich wieder überhaupt nicht verstehen, was an mir untragbar sein könnte.

Naja, dann wurde ich aber ganz normal eingeschult, weil die im Sonderkindergarten das so empfohlen haben und ich da wohl auch sehr gut klar kam.

Wie ging es denn dann mit Dir in der Schule weiter?

In der Schule lief alles wieder total gut, jedenfalls in der ersten Klasse und auch noch in der zweiten, ich war bei meiner Klassenlehrerin Frau Heise total beliebt und kam auch ganz gut mit, meine Zeugnisse waren okay, meine Eltern wollten auch nicht unbedingt ein Wunderkind haben, außerdem waren sie ja von Karin einiges gewohnt. Ich erinnere mich noch gut an Frau Heise, die war wirklich ganz lieb, wie eine Omi, mit weißen Haaren und einer ganz lieben Stimme.

Bloß beim Lesen und Schreiben hatte ich Probleme, dafür war ich klasse in Mathe, darauf war Papa immer sehr stolz. Meine Klassenlehrerin kannte Karin auch und hat meinen Eltern anfangs auch immer eingeredet, das mit dem Sonderkindergarten und meiner Schüchternheit, das käme durch Karin, wir wären so verschieden und meine Wut auf sie hätte ich gegen die anderen Kinder rausgelassen. Sie sollten sich da nur keine Sorgen machen, ich wäre wirklich ein bezauberndes Mädchen und sehr intel­ligent. Irgendwie hat meine Familie die ganze Sonderkindergartengeschichte total ver­drängt und es war dann wieder so ein Schlag für sie, was dann kam.

Frau Heise ist pensioniert worden und wir bekamen in der dritten Klasse einen Lehrer, den Herrn Müller, der war noch total jung, ein Referendar glaub´ich, und der stellte sofort fest, daß ich eigentlich gar nicht richtig lesen konnte und auch nicht richtig schreiben und es gab damals wieder ein Riesentheater. Weil ich eigentlich bei meinen Leistungen hätte die Klasse wiederholen müssen oder so und es keiner verstand, wie ich mich bei Frau Heise so durchgemogelt hatte. Meine Eltern fielen damals aus allen Wolken, Mama sagt, ich hätte doch zuhause ständig ein Buch in der Hand, natürlich könne ich lesen, wieso sollte ich sonst immer mit einem Buch in der Ecke sitzen. Meine Eltern mußten zum Direktor und ich wurde dann bald noch mal vom Schul-psychologen und vom Schularzt und Kinderarzt untersucht und getestet, das kannte ich alles schon, ich fand das immer gar nicht schlimm, ich war sogar stolz, weil sich alle mit mir befaßt haben, das weiß ich noch. Naja, Herr Müller hatte natürlich recht. Papa übte dann immer mit mir Schreiben und Lesen und ich durfte in meiner Klasse bleiben, bestimmt nicht wegen Papa, aber es wurde so entschieden.

An diese Zeit erinnere ich mich noch genau, weil Papa mich wahnsinnig machte und ich ihn auch. Aber ich konnte mir die Buchstaben nicht merken und habe sie dauernd verdreht, obwohl ich mich noch heute auch daran erinnere, daß er ganz süße Ideen hatte, das b hatte zum Beispiel den B auch vorne, so sollte ich mir das merken, und das d d en Hintern hinten. Es hat aber nix gebracht. Ich war definitiv nicht mehr sein und auch nicht mehr Mamas Engel. Wegen der ganzen Tests wußten meine Eltern ja, daß ich eine normale Intelligenz hatte und sie konnten sich nicht vorstellen, warum ich das hätte nicht begreifen sollen. Mama hat immer gejammert und Karin brüllte, daß ich doof sei und sonst gar nichts.

Papa schrie mich am Ende nur noch an, er glaubte, ich würde ihn verarschen, ehrlich, und einmal, als ich mit einem Buch in meinem Zimmer saß, das weiß ich noch, da fragte er, was ich da bitte mache, und ich sagte, ich lese, da ist er richtig ausgerastet. Er hat mir mit dem Buch eine geknallt, das war das erste Mal, daß er sowas gemacht hat. Er war so wütend, weil ich ja gar nicht lesen konnte. Er hätte sich vielleicht auch freuen können, daß ich übe, aber er wußte schon, daß das nicht stimmt. Er sagte zu Mama, ihre Tochter sei faul oder dumm oder dermaßen raffiniert, daß es einen aus den Socken hauen würde. Und Mama sagte, ach nee, jetzt auf einmal ist sie meine Tochter, wo sie sich seltsam verhält. Ich schämte mich echt schrecklich. Natürlich habe ich wieder geheult und rumgebockt.

Also gab es Zuhause dann doch öfter Probleme aufgrund Deiner Schulleistungen?

Ich weiß noch, daß ich damals ständig geheult habe und mich im Klo eingeschlossen habe, weil es da dunkel war und mich niemand gestört hat. Es war schrecklich, Papa wollte mir helfen und ich wollte mir auch helfen lassen, aber es führte immer dazu, daß er brüllte und ich heulte.

Ich fand damals übrigens trotzdem, ich würde lesen, ich habe das nämlich immer gemacht, mir ein Buch geholt und mich in eine Ecke gesetzt und dann nachgedacht, das war lesen für mich. Vorher fragte auch nie wer, was ich da mache. Bis Papa damals so ausrastete.

Komm doch noch mal auf die Schule zurück.

Am Ende der dritten Klasse konnte ich immer noch nicht richtig lesen und nur sehr dürftig schreiben. Mama hörte irgendwo von der IGS und daß man da lesen und schreiben erst gar nicht brauchen würde und wollte mich da anmelden. Sie hatte Angst, daß ich sitzen bleiben würde und Angst, daß Papa komplett ausflippen würde. Wir sprachen dann alle drei mit Herrn Müller wegen der Versetzung. Ich sollte dabei sein. Ich erinnere mich noch genau daran, wie wir in die Schule fuhren und ich mir vorkam, als ob jemand gestorben wäre. Es war wirklich eine Grabesstimmung im Auto.

Herr Müller wollte dann auch nicht, daß Papa weiter mit mir übt, er sagte, ich hätte einfach LRS, das würde uns doch den ganzen Familienfrieden ruinieren, wenn mein Vater das nicht einsehen könnte. Er hat mir auch erklärt, daß ich deswegen nicht dumm sei, und Papa hat er gesagt, Legastheniker, den Begriff würde man nicht mehr verwenden, er solle sich darüber bitte nicht so aufregen, es wäre nur eine Schwäche. Papa jedenfalls wollte das nicht wahrhaben, daß ich irgendeine Schwäche hätte, er sagte, ich würde einfach nicht aufpassen, nicht zuhören, woanders hinschauen und ich wäre einfach nicht bereit, das zu lernen. Eigentlich hatte er ja recht, ich habe nie aufgepaßt, ich wußte selbst nicht, wie ich das erklären sollte. Es ging eben nicht. Herr Müller sagte, jeder hätte irgendwelche Dinge, die er nicht so gut können würde und wenn Papa sich da so sicher wäre, daß ich nicht aufpassen würde, dann gäbe es da andere Möglichkeiten, die Schule sollte ja den Kindern eigentlich was beibringen, nicht der Vater nach Feierabend, da wäre es vielleicht auch zu spät für mich und meine Konzentration, da könne ein Kind auch nicht mehr aufpassen. Ich wurde immer kleiner auf meinem Stuhl und Papa bekam einen ziemlich roten Kopf. Herr Müller redete Mama das mit der IGS aus, weil er fand, ich wäre sowieso kontaktscheu und ich sollte lieber in eine Schule in der Nähe gehen. Ich weiß nicht, irgendwie waren meine Eltern immerzu sauer auf Lehrer oder Psychologen, aber dann haben sie doch meist getan, was die gesagt haben. Papa hat niemals wieder mit mir irgendwas geübt, wirklich nicht.

Ich kam kurz vor den Ferien irgendwie in eine Sonderschule zur Überprüfung. Da hieß es dann auch, ich hätte LRS und wäre aber ansonsten intelligent, ich müßte nicht auf diese Schule gehen. Sie steckten mich noch mal in die dritte Klasse, weil ich das in der vierten nicht geschafft hätte und ich bekam extra Förderunterricht. Karin war ja nur knapp zwei Jahre älter als ich, aber sie war schon in der siebten Klasse, das war damals ganz schön hart für mich. Karin lernte da schon Französisch, sie war nämlich im Gymnasium, und ich konnte noch nicht einmal richtig schreiben.

Karin hat sich schrecklich über mich lustig gemacht und auch die anderen Kinder in meiner Klasse, weil ich damals dann auch gar nicht mehr so klein war, ich war ja viel älter und kam mir echt dumm vor. Mama wachte über meine Hausaufgaben, weil ich die sonst bestimmt niemals gemacht hätte, ich hatte damals schon zu nix mehr Lust, es ist echt so, wie man das sagt, ich fand mich total dumm, weil ich mich so angestrengt habe, ich wollte wirklich wieder ein Engel sein, aber ich konnte mich noch so bemühen, ich vergaß ständig alles wieder. Dann fing das auch an, daß Mama mir nicht mehr den Ranzen packte, wir sollten das ja auch selbst lernen und die viel jüngeren Kinder hatten das voll drauf, aber ich natürlich nicht. Ich mußte ganz oft auf der Bank sitzen im Sportunterricht und den anderen zusehen, weil ich mein Sportzeug nicht dabei hatte. Herr Müller war dann nicht mehr mein Klassenlehrer, und der neue Lehrer kümmerte sich nicht besonders um mich. Mir war das recht, soweit ich weiß. Ich hatte Förderunterricht in Deutsch und Mathe machte ich ja anfangs noch in der vierten Klasse mit. Da war ich aber noch weniger gerne als bei den Kleinen, weil ich mich schämte, ich war ja eine Sitzenbleiberin. Ich habe die Schule allgemein gehaßt. Ich konnte gar nix besonders gut, es klappte gar nix mehr bei mir, als ich dann selbst in der vierten Klasse war, da war ich in Mathe auch schlecht. In Sport war ich schlecht, weil ich nie mitmachte. Es gab bei uns kein Werken, wir haben darum in Kunst immer viel gebastelt und sowas, damit konnte ich mich stundenlang be­schäftigen, das hat mir Spaß gemacht. Der Kunstlehrer hat auch immer zu meinen Eltern gesagt, daß ich begabt sei und auch motiviert und er würde meine Probleme nicht verstehen, sie könnten auch andere Ursachen haben, sie sollten mich mal richtig in einer Klinik untersuchen lassen. Aber für Papa war der Schulpsychologe echt schon das höchste der Gefühle, ansonsten gab es da nur unseren Kinderarzt, und der stellte nix fest, der kannte mich von klein auf und mochte mich sehr, bei ihm war ich auch immer ganz reizend. Bei ihm habe ich mich auch immer mit allem total angestrengt, ich wollte ja unbedingt, daß mit mir alles in Ordnung war. Ich war ja nicht blöd, ich habe schon gemerkt, wie enttäuscht meine Eltern immer waren und wie erleichtert nach Tests oder Untersuchungen, wenn dann doch eigentlich alles in Ordnung war. Es kam immer nur dasselbe heraus, leichte motorische Defizite oder sowas, aber durchaus nicht intensiv förderungsbedürftig, LRS, zu still, zu sensibel, zu schüchtern. Meinen Eltern wurde immer wieder geraten, ich solle mehr mit anderen Kindern spie­len und in einen Turnverein gehen. Also meldeten sie mich im Turnverein an und Mama zwang Karin immerzu, mich mitzunehmen. Aber das erzähle ich nachher. Erstmal geht es ja um die Schule.

Das fing dann irgendwie in der zweiten Runde dritte Klasse wieder an, daß ich andere Kinder verprügelt habe und bockig war zu den Lehrern, eine Lehrerin habe ich sogar mal angespuckt.

Weißt Du, Dr. Weber, der meint, das wäre eigentlich eher untypisch für das ADS ohne Hyperaktivität, weil die meisten da nicht so impulsiv sind, ich war das aber immer. Wenn man mich so bedrängt hat, dann konnte ich mich einfach nie beherrsch­en, ich habe geheult, gekratzt, gebissen und getreten, egal, wer das war, auch wenn es Papa war. Vielleicht hat sich das auch erst so entwickelt, weil ständig alle nur auf mir rumhackten, aber mir sind echt die Sicherungen durchgeknallt, total, hinterher war ich totunglücklich, weil ich ja immer so unheimlich gerne ein Engel gewesen wäre.

Ich konnte dann natürlich irgendwann auch lesen und schreiben, aber ich war immer nur so durchschnittlich und dann gab es ja auch so viele Probleme mit Lehrern, und ich habe im Unterricht nie aufgepaßt, obwohl ich das wollte, aber das ging einfach nicht, ich mußte immer an andere Sachen denken und mich hat auch jedes Geräusch irre gemacht. Einmal habe ich meiner Tischnachbarin eine gescheuert, weil sie immer so geschmatzt hat. Oh je!

Ich habe manchmal auch Zuhause gelernt und wußte dann trotzdem nichts. Aber ich hatte dann halt auch keinen Bock mehr drauf. Es war alles so zwecklos, ich habe mich angestrengt und mir ganz fest vorgenommen, es diesmal gut zu machen, aber es hat fast nie geklappt. Schule war Scheiße.

Hast Du da auch konkrete Beispiele, oder ist das zu lange her?

Wie? Ach so, was nicht geklappt hat? Ja. Wenn ich vorlesen mußte z.B., hab ich manchmal zum Beispiel die Buchstaben tanzen sehen und dann mußte ich lachen. Ich meine nicht tanzen vor den Augen, sondern ich habe mir vorgestellt, sie würden sich anfassen und tanzen und dann habe ich vergessen, an welcher Stelle ich gerade gelesen habe und das war immer peinlich. Ich mußte auch oft vor der Tür stehen und es hat meine eine Lehrerin ganz krank gemacht, daß ich nie wie die anderen fragte, ob ich wieder rein dürfe. Ich wollte aber nie wieder rein, wieso hätte ich dann darum bitten sollen?

Eine Situation werde ich nie vergessen, das war bei einem Schulausflug, da waren wir im Zoo in Hannover und Mama war auch mit, also es war ein toller Sommertag und wir sollten auch jeder besondere Aufgaben erfüllen. Ich war da in der Gruppe, die die Pinguine beobachten sollten und wir hatten auch Bücher darüber, die Mama dann beim Picknick mit uns gemeinsam anschaute und durchging.

Ich hatte total gut aufgepaßt und wollte Mama beeindrucken, also arbeitete ich in der Gruppe richtig mit und alle haben dann einstimmig beschlossen, daß ich später da­rüber den anderen erzählen sollte. Mann, war ich stolz. Mama hielt die ganze Zeit meine Hand und wir durften dann noch auf den Spielplatz und zu den Affen, tja, und während wir auf dem Spielplatz waren, hat Mama meiner Lehrerin und den anderen Müttern von unserer Gruppe und von mir berichtet, sie war natürlich auch total stolz. Aber als es dann soweit war, als ich unsere Ergebnisse vortragen und von den Pinguinen sprechen sollte, da fiel mir gar nix mehr ein, ich wußte nichts, ich stotterte und fing dann an zu heulen, wie immer, und als mich ein Mädchen aus meiner Gruppe boxte, eigentlich eher freundschaftlich, da ging ich auf sie los. Es war ganz furchtbar. Mama hat auf dem Nachhauseweg auch geweint, ganz leise und gesagt, sie könne mich einfach nicht verstehen, ich wäre wirklich teuflisch, sowas könne es gar nicht geben, sie so zu blamieren, vorsätzlich, wo ich doch alles gewußt hätte.

Und in der Schule mußte ich am nächsten Tag eine Strafarbeit schreiben - über Pinguine. Dummerweise habe ich das gut hingekriegt, ich habe mich natürlich extra bemüht, und als ich Mama Zuhause diese Arbeit zeigte, hat sie natürlich wieder geweint, weil sie erst recht dachte, ich hätte sie mit Absicht blamiert.

Solche Sachen sind oft passiert. Mamas Schwester Karla sagte manchmal, ich wäre richtig boshaft und niederträchtig und würde meine Eltern bestimmt immer und ewig daran erinnern, daß sie mich als kleines Kind verzogen hätten. Glücklicherweise hätten sie es bei Karin nicht auch verdorben, sie hätte aber wohl eindeutig auch einen besseren Charakter als ich. Das ist echt kraß, wenn man sowas hört, ich meine, da war ich so zehn oder elf, stell Dir das mal vor.

Irgendwann habe ich mal die Bundys im Fernsehen gesehen, da war so eine Quizshow mit Kelly, und Al hat sie darauf vorbereitet. Es war aber so, daß nur eine bestimmte Anzahl Informationen in ihrem Kopf Platz hatte, und die letzte Frage konnte sie dann nicht mehr beantworten, obwohl es da um ihren Vater ging, dieses Wissen war einfach hinten rausgerutscht, als sie vorne neue Informationen bekam. Ich fühlte mich dann auch so wie Kelly. Als ob immer nur wenige Dinge in meinem Kopf Platz hätten. Ich habe mich damit richtig identifiziert. Und das auch akzeptiert. Ich wollte auch gar nichts mehr lernen, es klappte ja sowieso nicht. Eine Zeitlang habe ich mir dann eingebildet, wenn ich was neues lernen würde, würde ich vielleicht meinen Namen danach nicht mehr wissen. Da hatte ich richtig Angst. Zum Glück war das aber nur eine Phase. Später habe ich mich dann wieder angestrengt, aber wenn ich mich be­mühte und dann etwas schaffte, dann hagelte es nur Vorwürfe, daß ich nicht immer so viel erreichte.

In der fünften, sechsten Klasse habe ich angefangen, die Schule zu schwänzen und dann Zuhause fern gesehen. Ich habe mich für gar nix richtig interessiert, eigentlich habe ich auch gar nicht richtig ferngesehen, ich habe immer nur meinen Gedanken nachgehangen, geträumt halt, mir tolle Sachen vorgestellt, was ich alles machen könnte und wozu ich dann doch nie lange Lust hatte. Ich war auch im Turnverein und später im Schwimmverein, aber da bin ich auch einfach nicht mehr hingegangen, weil ich mich mit den anderen Kindern nicht verstanden habe.

Wie war es denn bei Euch Zuhause?

Furchtbar natürlich dann. Mama mußte tatsächlich aufhören, zu arbeiten, obwohl sie ge­rade erst wieder angefangen hatte, nur meinetwegen, weil gar nichts mehr lief. Sie haben sehr viel versucht mit mir, ich hatte ja auch viele Ideen, ich wollte Gitarre lernen und Ballett und ich wollte auch oft Gesellschaftsspiele haben, die ich in der Werbung sah, aber ich wollte das alles immer nur eine kurze Zeit und meine Eltern fanden mich schrecklich undankbar. Weil sie mich überall angemeldet haben und mich dann nichts mehr interessiert hat. Ich hatte auch ein Fahrrad, ein ziemlich teures Mountainbike, das habe ich ganz oft einfach irgendwo stehen lassen, nicht mit Absicht, ich vergaß es eben. Irgendwann war es weg. Das gab ein Megatheater.

Ich mußte auch zu einem Psychologen, weil ich angeblich depressiv war, ich habe meinen Eltern auch oft mit Selbstmord gedroht damals, ich bin gar nicht sicher, ob ich das ernst meinte, aber ich habe es eben einfach gesagt.

Diese erste Psychotherapie war dann auch der Punkt, an dem Papa mich wohl prak­tisch aufgegeben hat, er wollte auch die vorgeschlagene Familientherapie nicht, er hat sich da ganz ausgeklinkt, er ist da gar nicht mit fertig geworden. Sein eigen Fleisch und Blut geistesgestört, das hat ihm sehr zugesetzt

Ich mußte dann in der siebten Klasse in eine Schule für Verhaltensgestörte gehen, das fand ich ganz schön kraß. Aber in der Schule gab vorher es nur Ärger, ich bin sogar durch den Hinterausgang abgehauen, obwohl Mama mich vorne abgeliefert hat.

Meine Eltern waren total fertig, weil ich auf dieser Schule auch noch zusätzlich in eine Klasse für Lernbehinderte kam, klar, so selten wie ich vorher überhaupt in der Schule war, fehlte mir sehr viel Stoff. Ehrlich gesagt, war es da auf dieser Schule aber nicht schlecht. Da waren nur wenig Mädchen, in meiner Klasse sogar nur eins, und deshalb war ich ziemlich beliebt bei den Jungs. Ich lebte da so richtig auf, weil sich endlich mal wieder wer für mich in­teressierte. Ich hatte dauernd einen neuen Freund und Marie, das Mädel aus meiner Klasse, war meine erste richtige Freundin.

Aber natürlich habe ich da nichts gelernt, weil ich mich ja sowieso nicht für den Unterricht interessierte. Ich hatte aber trotzdem gute Noten in diesem einen Jahr, aber bei der Überprüfung stellten sie dann fest, daß ich da nicht hingehörte. Ich frage mich, wieso ich dann überhaupt jemals hingehen mußte. Obwohl es mir ja damals gut gefal­len hat, klar, aber da war ich mitten in der Pubertät, da findet man lauter schräge Sachen toll.

Es macht sich nicht wirklich gut in einem Lebenslauf und obwohl ich Marie manchmal immer noch sehe, waren das da auch wirklich krasse Leute auf dieser Schule. Mit diesen Jungs würde ich heute wohl nicht mehr losziehen.

Aber da ich auch zu viele Lücken hatte, um zur Hauptschule zu gehen oder in die gleiche Klassenstufe auf dieser Schule, wußten sie auch nicht, was mit mir geschehen sollte. Ich hatte dann das Glück, daß eine Praktikantin ganz viel Einzelunterricht mit mir gemacht hat. Sie hat sich da richtig viel Mühe mit mir gegeben. Sie hieß Patricia. Ich habe die unwahrscheinlich bewundert. Es hat auch sehr gut geklappt mit uns beiden. Ich glaube, daß sie mich wirklich gerne hatte. Das war bestimmt gar nicht so einfach, mich zu mögen, so schrecklich, wie ich damals war, aber sie mochte mich, das hat mir wirklich gut getan, denke ich.

Ab da ging es ein bißchen aufwärts, ich kam dann auch auf die Hauptschule und habe einen ziemlich guten Abschluß gemacht, ich wollte das dann unbedingt schaffen, auch wegen Patricia. Ich denke, auch weil ich ja schon fast achtzehn war, hatte ich da noch mal einen Motivationsschub. Also strengte ich mich total an, manchmal habe ich sogar heimlich im Bett noch was gelernt.

Ehrlich gesagt, war das erste Mal, daß ich überhaupt irgendwas so richtig wollte und das dann auch gemacht habe.

Es war dann aber trotzdem irgendwie total unbefriedigend und ich war am Ende auch überhaupt nicht stolz. Im Gegenteil, es war ganz komisch, ich hatte es ja doch geschafft und meine Eltern fühlten sich auch bekräftigt in ihrer Meinung, daß ich eben einfach nur faul sei. Wie sonst hätte ich es denn so schnell und plötzlich schaffen kön­nen, doch noch was zustande zu bringen?

Karin fing dann zu dem Zeitpunkt bald an, zu studieren und mein Hauptschulabschluß, also, wer konnte da schon stolz drauf sein?

Dann mußte ich mir überlegen, was ich lernen möchte und ich hatte überhaupt keine Ahnung. Ich schrieb dann trotzdem eine Menge Bewerbungen, ich ließ mich von Mama bequatschen, Friseuse zu werden, und dann bekam ich eine Lehrstelle.

Ich wollte auch unbedingt von Zuhause weg. Meine Eltern konnten die paar Freunde, die ich hatte, nicht leiden und es gab nur Streß, jeden Tag. Karin hier, Karin da. Ich konnte das nicht mehr ertragen.

Erzähl doch noch mal genauer, wie Du Dich Zuhause gefühlt hast und welche Probleme Ihr hattet.

Zuhause ist es eigentlich immer noch schlimmer gewesen als in der Schule. Die Karin war immer und überall besser als ich. Es war sogar so, daß ich irgendwie für dieselben Dinge mehr angemeckert wurde. Karin hat zum Beispiel einen Teller zerbrochen und Mama war sauer und ich hab einen zerbrochen und sie ist ausgeflippt. Die Karin ist so hektisch, da kann sowas schon mal passieren, aber du bewegst dich doch in Zeitlupe, du machst das doch extra, mußt du alles nachmachen, es reicht mir, wirklich, es ist unerträglich, wie kann man nur so dermaßen bescheuert sein ?

Oder auch die Sache mit dem Zimmer. Karin war immer unordentlich, aber da war Mama nie wütend darüber, aber sie schrie mich dauernd an, ich würde doch sowieso nur Zuhause rumhängen und nichts machen, es sei doch pure Faulheit, daß ich keine Ordnung halten würde. Manchmal hat sie dann in Rage mein Zimmer aufgeräumt und Dinge weggeschmissen, die ich total gerne mochte, ich glaube, nur, weil sie sich irgendwie an mir rächen wollte. Sie sagte oft, ich sei ihr unheimlich. Ich habe meinen Eltern richtig Angst gemacht! Sie sind einfach nie durch mich durchgestiegen. Manchmal, an unseren besseren Tagen, die gab es nämlich auch, da sagte Mama, ich sei ihre rätselhafte Prinzessin aus 1001 Nacht. Bestimmt hat sie dann immer daran denken müssen, wie es war, als wir uns noch zusammen Geschichten ausgedacht haben. Aber eigentlich gab es immer nur Streit und Krach und Theater.

Karin hat sich ständig nur aufgespielt, sie nannte mich immer in einem sehr ironischen Tonfall Engel, ich glaube, sie kannte meinen Namen gar nicht mehr. Wir haben uns überhaupt nicht verstanden, heute habe ich mit ihr überhaupt nix mehr zu tun. Eigent­lich schade, aber meine Eltern haben uns wirklich immer gegeneinander ausgespielt, vielleicht nicht extra, aber das war so. Erst war ich das Vorbild und dann sie, da kann man ja kein gutes Verhältnis haben.

Karin hat sich dann ja auch ganz normal entwickelt, sie hat ihr Abi gemacht und studiert, meine Eltern sind echt stolz auf sie, weil es anfangs ja auch nicht so aussah bei ihr. Papa hat sich auch mal Intelligenztests besorgt, weil er dem Schulpsychologen ja nicht getraut hat, der war ihm unsympathisch, naja, und ich hatte da einen Wert von 131 und die Karin bloß 119, das hält er mir heute noch vor. Dabei hatte ich bei den Tests in den Schulen beim Psychologen auch immer so um die 120, aber für Papa zählt das nicht.

Also, wie gesagt, Zuhause war es schlimm, meine Eltern waren fast immer nur sauer auf mich, ich machte alles falsch und vergaß alles, ich wußte manchmal im Supermarkt einfach nicht mehr, was ich einkaufen sollte und auch nicht mehr, daß Mama mir deshalb extra einen Zettel mitgegeben hatte, dann bin ich wieder nach Hause gegangen und habe dann gesagt, Mama hätte mir keinen Zettel gegeben. Karin lachte sich über mich halb tot und Mama hat auch manchmal gelacht, es sei denn, sie ärgerte sich zu sehr über mich.

Das waren alles so Kleinigkeiten, und ich habe dann auch angefangen, zu lügen wegen solchen Sachen, es war mir immer so peinlich, daß ich mir nichts merken konnte.

Was waren denn das z.B. für Kleinigkeiten?

Einmal, da sollte ich unsere Katzen füttern und habe das vergessen und als Mama sich aufregte deshalb, habe ich einfach gesagt, ich hätte den Katzen selbst Futter gekauft, weil ich das, was ich geben sollte, nicht gefunden hätte. Und dann taten mir die Katzen so leid, die hatten ja Hunger, weil Mama ihnen dann ja nichts mehr gab. Einmal, als ich zu spät nach Hause kam nach der Schule, weil ich vergessen hatte, daß Oma zu Besuch war, behauptete ich sogar, man hätte mich überfallen.

Manchmal ging es gut, meist allerdings nicht, man denkt sich ja als Kind echt idiotische Lügen aus. Der angebliche Überfall brachte mir zwei Wochen Hausarrest, weil ich den so ausschmückte wie ich es im Tatort gesehen habe.

Papa meinte damals, das sei ja wirklich ein Knaller, daß jemand mit soviel Phantasie so schlechte Aufsätze schreiben würde und ich sollte meine Energie mal lieber in die Schule stecken und nicht ins Lügen.

Besonders schlimm war es, wenn Mama Karin zwang, mich mitzunehmen oder mit mir zu spielen, da war sie schon von Anfang an sauer, weil sie mich am Hals hatte. Dann nervte ich natürlich auch ihre Freundinnen und dann dachten sie sich ganz oft Sachen aus, von denen sie wußten, daß ich die nicht hinkriege. Kinder haben das voll schnell raus. Also zum Beispiel war ich ja so richtig peinlich ungeschickt, ich konnte nicht gut balancieren, da machten sie immer Reiterkampf mit mir, da verlor ich auch gegen Miriam, obwohl die wesentlich kleiner war als ich. Oder diese ganzen Klatschspiele, darin war ich wirklich der Loser überhaupt, ich konnte mir die Reihen­folge nicht merken. Sie haben mich immer nur gehänselt, das war schlimm.

Ich weiß, Mama wollte mir damit was Gutes tun, weil ich immer nur alleine war, ich hatte nur ganz selten eine Freundin, aber ich fand es immer schrecklich, mit Karin zu spielen. Auch sonst gab es Zuhause immer nur Streß, weil ich nie getan habe, was ich sollte, ich habe es eben immer vergessen, manchmal habe ich mir dann schon selbst Zettelchen geschrieben und die dann aber auch vergessen. Karin sagte immer, ich hätte Alzheime r.

Mit meiner Oma habe ich mich sehr gut verstanden, ihr Engel bin ich immer noch, aber das liegt sicher daran, weil sie auch so zerstreut ist, und eher eine ruhige Frau und wir viel ferngesehen haben bei ihr und sie mich nie gezwungen hat, irgendwas zu machen. Sie hat auch immer zu meinen Eltern gesagt, ich sei nicht faul, und ich würde bestimmt nie vorsätzlich unartig sein, ich wäre eben nun mal anders als Karin. Nicht so tatkräftig.

Aber meine Eltern haben darüber nur lachen können, weil ich nämlich durchaus manchmal sehr tatkräftig war, besonders wenn es ums Streiten und Prügeln ging.

Das mit dem Engel, das habe ich heute noch, echt. Ich habe heute noch das Gefühl, daß ich an sich ein Engel wäre, wenn ich mich mal etwas zusammenreißen würde und daß alles meine Schuld ist.

Obwohl ich ja jetzt eigentlich auch eher wieder ein Engel bin. Aber da haben jetzt nur noch meine Oma, mein Freund und meine Freunde was von, weil ich mit dem Rest meiner Familie nicht mehr so viel zu tun habe. Da ist zuviel beschissen gelaufen. Papa war enttäuscht, weil ich es in der Schule nicht schaffte und Mama bekam Zuhause eine Krise mit mir. Ich war auch sowas von schmuddelig und habe Dreck förmlich angezogen. In meinem Zimmer lagen überall Essenreste rum. Weil ich so oft zu spät zum Essen kam und dann in meinem Zimmer essen mußte, zur Strafe, und dann habe ich nie daran gedacht, daß ich das wegräumen muß, oder ich habe eine Scheibe Brot einfach nicht mehr finden können. Mama sagt, daß sie, als wir ganz klein waren, immer versucht hat, einzukaufen, wenn Karin im Kindergarten war oder bei irgendjemandem, weil sie ständig Tüten aufgerissen hat. Ich durfte aber immer mit zum Einkaufen, weil ich total lieb war und vorne im Wagen saß wie auf einem Thron. Später hat Mama es vermieden, mich mitzunehmen. Da nahm sie nur Karin mit. Besonders im Supermarkt hatte sie das Gefühl, ich sei geistig weggetreten, bekloppt oder sowas, sagt sie. Es war ihr unangenehm, weil ich so völlig versunken durch die Regale ging, über meine eigenen Füße stolperte oder mir Flaschen runterfielen.

Das ist heute immer noch ein bißchen so. Erst neulich, vor ein paar Tagen ist mir, ausgerechnet mir mal wieder, bescheuerterweise und sehr peinlich im Supermarkt

ein Netz mit Orangen gerissen und die kullerten dann auf dem Boden herum und alle Leute starrten mich an. Grobmotoriker nannte Papa mich immer.

Mit mir sind ständig so unangenehme Dinge vorgefallen, egal, wo wir waren. Jetzt paß doch mal auf; schau gefälligst hin, wo Du langläufst; Hallo, Erde an Irina; mußt Du so dämlich starren; kannst Du nicht aufpassen; Fräulein Alzheimer;Herr Professor Irina solche Sprüche haben mich schon immer verfolgt.

Aber Deine Eltern haben doch bestimmt nicht nur auf Dir herumgehackt, sie haben doch auch versucht, Dir zu helfen?

Ich weiß nicht, ich denke, anfangs waren meine Eltern auch geduldig und zuver­sichtlich. Aber es hat sich eben nie etwas wirklich geändert. Sie konnten an mir herumerziehen, wie sie wollten, im entscheidenden Moment habe ich dann doch entweder um mich geschlagen, geheult oder bockig geschwiegen. Sie kamen nie an mich heran, aber sie wußten ja auch nicht, was los ist. Und ich wußte, es macht sie traurig, wenn ich so bin, wie ich bin, also muß ich anders sein, aber es hat einfach nie so klappen wollen, wie ich es mir ausmalte. Darüber mußte ich viel in der Therapie reden, über Schuldgefühle, über Erwartungen und sowas. Psychoscheiß e, wie Papa sagt. Klar habe ich einige Sachen mit der Zeit doch geschafft, aber es war immer alles so furchtbar anstrengend, so frustrierend.

Mein erstes Lehrjahr war ganz genauso. Es hat zwar Spaß gemacht, ich mochte meine Meisterin und Kolleginnen gerne. Aber die haben auch oft über mich gelacht, weil ich so zerstreut war und sie mir vieles tausendmal sagen mußten.

Und nach einem Jahr mußte ich aufhören, weil ich eine Allergie hatte. Das war so schlimm, daß meine Hände an einigen Stellen aufgerissen sind.

Da fiel ich dann wieder in ein Loch. Ich hatte da so einen Freund damals, der fand mich zu fett, naja, und der hat viel Koks gezogen und Pillen genommen und da habe ich das auch getan, und nichts mehr gegessen, ich wollte ihn eben nicht verlieren. Das war alles heftig. Jedenfalls mußte ich dann erstmal fast ein halbes Jahr in eine psychosomatische Klinik wegen der Eßstörung und da haben meine Eltern irgend­wann aufgehört, sich mit mir zu treffen, weil ich uneinsichtig war und ihnen nur Vorhaltungen gemacht habe, weil ich da nicht bleiben wollte. Nach der Klinik bin ich zu meiner Oma gezogen und ich sollte weiterhin eine Psychotherapie machen, mein Arzt überwies mich dann an Dr.Weber, und als ich da vier oder fünf Sitzungen hinter mir hatte, hat er gleich gesagt, er ist sich sicher, daß ich ADS habe.

Das wurde dann auch mit von einem Neurologen diagnostiziert, er hat verschiedene Tests gemacht und so und seitdem nehme ich Ritalin, allerdings nicht immer, aber ich habe da wohl auch Glück, weil ich ziemlich niedrig dosiert bin und einen tollen Arzt habe. Ich habe gehört, daß das hier in Niedersachsen schwierig ist, einen guten Arzt zu finden, der richtig dosiert, die fangen meist schon zu hoch an. Dann wäre ich bestimmt wirklich komplett weggetreten, dann hätten meine Eltern endlich mal eine richtige Bestätigung für all das, was sie immer schon vermuteten.

Nein, das war nur ein Scherz. Meine Mutter hätte am liebsten, daß ich nur so tue und mein Vater weiß das ja sowieso ganz sicher. Papa sagt, ich verstelle mich, weil ich nicht will.

Aber Dir selbst geht es jetzt besser, sagst Du?

Es hat sich sehr viel geändert, so bescheuert das klingt, aber ich kann mich halt mit Ritalin sehr gut konzentrieren und durch Dr. Weber geht es mir auch sonst viel besser. Das mit den ewigen Schuldgefühlen ist auch weniger geworden. Ich bin jetzt dabei, den Realschulabschluß zu machen und ich denke, daß ich auch mein Abi noch machen werde. Ich bin zwar immer noch ziemlich wirr, aber es ist besser. Meiner Oma geht es nicht mehr so gut, aber ich habe durchgesetzt, daß ich bei ihr bleibe und ich kümmere mich auch um sie, ich habe jetzt sehr viel eigene Systeme, wie ich alles regele und organisiere, es ist mir auch mit Oma nicht zuviel. Es ist ja auch nicht so, daß sie krank wäre, aber sie hat schon mit einigen Dingen Probleme, wenn sie ganz alleine wäre, könnte das schon schwierig werden. Meine Eltern waren da erst dagegen, sie trauen mir natürlich nichts zu, mit uns funktioniert es einfach nicht.

Das war alles zu kraß, glaube ich. Karin habe ich schon seit Weihnachten nicht mehr gesehen. Vielleicht klappt es ja irgendwann. Papa glaubt zwar nicht an das ADS, aber er ist schon stolz, daß ich jetzt wieder zur Schule gehe, das hat er echt nicht mehr erwartet. Aber er denkt halt immer noch, ich hätte mich nie richtig angestrengt. Und daß ich Ritalin nehme, das ist meinen Eltern ein Dorn im Auge, wegen der Drogensache, sie verstehen einfach nichts davon. Aber meine Oma hat ihnen neulich das Hallowell Buch geschenkt. Könnte mir schon vorstellen, daß sie es lesen und noch mal ein paar Aha-Erlebnisse haben.

2.1. Fazit

Da Irina sehr vertraut ist damit, ihre Probleme darzustellen, konnte sie mir durch ihre Schilderungen einen ersten Einblick in die Problematik eines Kindes mit der ADD verschaffen.

Anhand des Beispiels dieser Familie läßt sich zudem ersehen, wie zwiespältig eine Diagnose auf ADD aufge­nommen werden kann. Während sie für Irina selbst zunächst Erleichterung bedeutet, liegt für ihren Vater darin nur eine Rechtfertigung für ihr normabweichendes Verhal­ten.

Es ist sehr schade, daß sie und ihre Familie im Laufe der Zeit so viel negative Erlebnisse hatten, daß es momentan noch nicht möglich zu sein scheint, nur durch diese Diagnose und Irinas Verhaltensänderung wieder zueinander zu finden

Ich möchte Irina an dieser Stelle noch einmal für ihre Bereitschaft, mir so viel von sich zu erzählen, danken und ihr für ihre Zukunft alles Gute wünschen.

Trotzdem dieses Fallbeispiel einen Einblick in die Symptomatik bietet, kann es doch nur die Aspekte des Erscheinungsbildes beschreiben, die Irina individuell betreffen oder betroffen haben. Das Erscheinungsbild der ADD umfaßt jedoch eine große Anzahl der unterschiedlichsten Symptome.

Im folgenden Kapitel meiner Arbeit werde ich mich deshalb eingehender mit der Symptomatik der ADD befassen.

3.0. Symptomatik

Das ADS als Verhaltensdiagnose eines medizinischen Zustands umfaßt eine große Anzahl der unterschiedlichsten Symptome. Jedes betroffene Kind kann ein anderes Symptombild aufweisen[19].

"Die Verhaltensmuster haben viele Ursachen und Wirkungen, ihre Merkmale gehen nahtlos in normales Verhalten über. AD/HS heisst die ärztliche Diagnose, wenn diese Verhaltensmuster Schwierigkeiten für das Kind in den folgenden Bereichen mit sich bringen:

- Entwicklung
- Verhalten und Leistung
- Familienbeziehungen
- soziale Interaktion"[20]

Die drei typischsten Merkmale des ADS lassen sich benennen mit Impulsivität, Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität. Diese Merkmale sind als Verhaltensweisen zu betrachten, die auch bei Kindern ohne ADS vorkommen können. Erst das wieder­holte und konzentrierte Auftreten dieser Symptome sowie der Grad ihrer Ausprägung entscheiden letztlich darüber, ob eine Diagnose auf ADS gestellt wird.[21]

Da ich mich in meiner Arbeit auf die Beschreibung der ADD ohne Hyperaktivität be­schränken möchte, lasse ich die Symptome der Hyperaktivität weitgehend außer acht.

Bezüglich der Auftretenshäufigkeit des Erscheinungsbild des ADS variieren in der Fachliteratur die Vermutungen von 1,5% bishin zu 10% der Bevölkerung. Aus diesem Grund kann ich zum heutigen Zeitpunkt hier keine gültigen Zahlen nennen, gehe aber aufgrund der Vermutungen vage von einer durchschnittlichen Wahrscheinlichkeit von etwa 5% aus.

3.1. DSM-IV : Diagnostic and Statistical Manual of the American Psychiatric Association, 1994

Die Klassifikationssysteme psychischer Störungen definieren das ADS als eine Stö­rung im Kleinkindalter, der Kindheit und Adoleszenz mit dem Beginn im Klein­kindalter. Für eine ADS -Diagnose nach DSM IV[22] müssen folgende Kriterien zutreffen:

A1: Unaufmerksamkeit:

Sechs (oder mehr) der folgenden Symptome von Unaufmerksamkeit sind während der letzten sechs Monate in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu ver­einbarenden und unangemessen Ausmaß vorhanden gewesen:

- beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schul­arbeiten, bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten
- hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder beim Spielen aufrechtzuerhalten
- scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere ihn/sie ansprechen
- führt häufig Anweisungen anderer nicht vollständig durch und kann Schular­beiten, andere Arbeiten oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht zu Ende bringen (nicht aufgrund oppositionellem Verhaltens oder Verständigungs­schwie­rig­keiten)
- hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren
- vermeidet häufig, oder hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich häufig nur widerwillig mit Aufgaben, die länger dauernde geistige Anstrengungen er­for­dern (wie Mitarbeit im Unterricht oder Hausaufgaben)
- verliert häufig Gegenstände, die für Aufgaben oder Aktivitäten benötigt wer­den (z.B. Spielsachen, Hausaufgabenhefte, Stifte, Bücher oder Werkzeug)
- läßt sich oft durch äußere Reize leicht ablenken
- ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergeßlich

A2: Hyperaktivität und Impulsivität:

Sechs (oder mehr) der folgenden Symptome der Hyperaktivität und Impulsivität sind während der letzten sechs Monate beständig in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß vorhanden gewesen:

Hyperaktivität:

- zappelt häufig mit Händen oder Füßen oder rutscht auf dem Stuhl herum
- steht in der Klasse oder in Situationen, in denen sitzen bleiben erwartet wird, häufig auf
- läuft herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen oder Erwachsenen kann dies auf ein subjektives Unruhe­gefühl beschränkt bleiben)
- hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich mit Freizeitaktivitäten ruhig zu beschäftigen
- ist häufig "auf Achse" oder handelt oftmals, als wäre er/sie "getrieben"
- redet häufig übermäßig viel
Impulsivität:
- platzt häufig mit Antworten heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist
- kann nur schwer warten, bis er/sie an der Reihe ist
- unterbricht und stört andere häufig (platzt z.B. in Gespräche oder Spiele an­de­rer hinein)

B:

Einige Symptome der Hyperaktivität-Impulsivität oder Unaufmerksamkeit, die Beeinträchtigungen verursachen, treten bereits vor dem Alter von sieben Jahren auf

C:

Beeinträchtigungen durch diese Symptome zeigen sich in zwei oder mehr Bereichen (z.B. in der Schule bzw. am Arbeitsplatz und zu Hause)

D:

Es müssen deutliche Hinweise auf klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen vorhanden sein

E:

Die Symptome treten nicht ausschließlich im Verlauf einer sog. tiefgreifenden Ent­wicklungsstörung, einer Schizophrenie oder einer anderen psychotischen Störung auf und können auch nicht durch eine andere psychische Störung besser erklärt werden (z.B. Affektive Störung, Angststörung, Dissoziative Störung oder eine Persönlich­keitsstörung).

[...]


[1] Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom -eine Form der sensorischen Integrationsstörung,

R. Schaefgen, ãRega Scheafgen 1999

[2] siehe 1.0. Begriffsdefinition

[3] siehe J.Hartmann: Zappelphillipp, Störenfried-Hyperaktive Kinder und ihre Therapie, Verlag C.H.Beck, München, 1988,S.86

[4] siehe C.Neuhaus: Das hyperaktive Kind und seine Probleme, Ravensburger,Berlin 1998, S.47

[5] siehe C.Neuhaus,a.a.O.,S.47

[6] siehe C.Neuhaus,a.a.O., S.48

[7] siehe C.Neuhaus, a.a.O.,S.48

[8] siehe C.Neuhaus,a.a.O., S.49

[9] add-online, Elternratgeber ADD, www.psychologie-online.ch.add

[10] siehe add-online, a.a.O.

[11] in Deutschland gebräuchliches Klassifikationssystem psychischer Störungen der Weltgesundheitsorganisation

[12] Krause/Krause, MCD,MCS,POS,HKS,ADD,ADS,ADHD oder ADHS?, in: Aufmerksamkeitsstörung! Was nun? Bundesverband der Elterninitiativen zur Förderung hyperaktiver Kinder e.V., Forchheim 1999, S.21f

[13] C.Neuhaus, a.a.O.,S.15f

[14] Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität, ADD/H, AÜK, SYNANON e.V., Berlin 1997

[15] S.Solden, Die Chaosprinzessin, BV-AH e.V. (Hrsg.), Forchheim, 1999, S.29

[16] siehe K.Skrodzki, in:Was nun?, Bundesverband Aufmerksamkeitsstörung/Hyperaktivität e.V. (Hrsg.), bei add-online, a.a.O.

[17] Alle Namen und Orte habe ich auf Wunsch meiner Interviewpartnerin geändert

[18] Wirksame Therapien für Kinder mit ADS-Syndrom, BaS, 13.08.00

[19] siehe H.Holowenko, Das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, Beltz Verlag, Weinheim und Basel 1999, S.19

[20] H.Holowenko,a.a.O., S.19

[21] siehe H.Holowenko,a.a.O. ,S.20

[22] Die Kriterien des in Deutschland gebräuchlichen klassifikationssystems ICD -10 stimmen weitgehend mit den Kriterien des hier angeführten DSM überein.

Fin de l'extrait de 159 pages

Résumé des informations

Titre
Attention-Deficit-Disorder (ADD, Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom): Phänomenologie - Diagnostik - Therapie
Université
University of Hannover  (Institut für Sonderpädagogik)
Note
1,0 (sehr gut)
Auteur
Année
2000
Pages
159
N° de catalogue
V14143
ISBN (ebook)
9783638196277
Taille d'un fichier
1191 KB
Langue
allemand
Annotations
ADS mit Schwerpunkt auf Kinder ohne Hyperaktivität
Mots clés
Attention-Deficit-Disorder, Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom), Phänomenologie, Diagnostik, Therapie
Citation du texte
Corinna Uhde (Auteur), 2000, Attention-Deficit-Disorder (ADD, Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom): Phänomenologie - Diagnostik - Therapie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14143

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