Grenzerfahrung als Kunst. Die Performances der Marina Abramovic

Körpererfahrung im Kunstunterricht


Examination Thesis, 2009

45 Pages, Grade: 2,0


Excerpt


Inhalt

Einleitung

1. Marina Abramovic
1.1 „Keep body and soul together – remain alive“
1.2 Befreiung des Körpers von kulturellen Einschreibungen
1.2.1 Befreiung von der westlichen Ratio
1.2.2 Befreiung von Sprache und Symbolen
1.2.3 Geschlechtlichkeit – Zusammenarbeit mit Ulay
1.3 Geografische und innere Reisen
1.4 Trennung von Ulay und Arbeiten nach 1988
1.5 Schmerz und Meditation als bewusstseinserweiternde Mittel. Zusammenfassung
1.6 Vom gegenwärtigen Handeln
1.6.1 Vom gegenwärtigen Handeln. Kunst und Leben
1.6.2 Vom gegenwärtigen Handeln. Das Publikum
1.7 Abramovics Werk im Kontext der Kunst

2. Abramovics künstlerische Strategien und deren Potenzial für einen körperorientierten Kunstunterricht
2.1 Performance
2.1.1 Beispiel: Arbeit am Körpergedächtnis
2.1.2 Chance der Performance-Arbeit für die Schule
2.2 Vom Gebrauch der Sinne
2.2.1 Beispiele für elementarpraktische Übungen
2.2.2 Erkenntnisse und Erfahrungen durch elementarpraktische Übungen
2.2.3 Die Bedeutung des Widerstands
2.2.4 Der Bezug zu Abramovic
2.2.5 Bezug zur kunstpädagogischen Praxis

3. Unterricht
Einstieg
Phase 1: Vertrauensübungen
Phase 2: Den Körper spüren
Phase 3: Handlungen ausführen und reflektieren – Performances zum Phänomen „Körpergedächtnis“
Phase 4: Performance vor Publikum
Phase 5: Interaktion mit dem Publikum
Phase 6: Vergleich der eigenen Aktionen mit den Werken Abramovics

Fazit

Literatur

Einleitung

Im Zentrum dieser Arbeit steht die Untersuchung des Potenzials unseres Körpers für wahrnehmungs- und bewusstseinsverändernde Prozesse und die Frage, wie dieses erweiterte Körperverständnis Schülerinnen und Schülern mit Hilfe der Kunstpädagogik vermittelt werden kann. Der Körper und seine Erfahrungswerte wurden in den von Logos und Ratio dominierten westlichen Kulturen der Moderne und Postmoderne stetig weiter an den Rand des Erfahrungshorizonts verbannt. Die unmittelbare Kraft, die die Wahrnehmung des eigenen Körpers birgt, liegt aber meiner Meinung nach zu Unrecht brach und sollte in der Gesellschaft allgemein und im Unterricht im Besonderen zu einer ganzheitlichen Welterfahrung mit einbezogen werden. Ich erörtere in dieser Arbeit mögliche Herangehensweisen, mit denen Schülerinnen und Schüler zu einer individuellen Körpererfahrung angeregt werden können. Besonders sinnvoll erscheint es, diese Erfahrungen mittels angeleiteter Performances zu stimulieren. Künstlerinnen und Künstler der 70er Jahre haben den Wert von Performances für grenzgängerische Körpererfahrungen eindrucksvoll aufgezeigt. Ich beschäftige mich im Rahmen meiner Examensarbeit besonders mit den außergewöhnlichen Performance-Werken der bosnischen Künstlerin Marina Abramovic. Inspiriert und angelehnt an ihre Arbeiten wird gezeigt, wie der Körper im Kunstunterricht neu erlebt werden kann.

Im Zuge der fortschreitenden technischen Entwicklungen wird der Körper zunehmend marginalisiert und auf wenige Eigenschaften reduziert. Zwar gilt er allgemein als Statussymbol und wird dementsprechend trainiert, geschmückt und gepflegt. Darüber hinaus erwarten wir von ihm jedoch, möglichst reibungslos zu funktionieren und entwickeln erst dann ein intensives Körperbewusstsein, wenn er krank wird. Ein ähnlich distanziertes Verhältnis zum Körper wird auch in der Schule gepflegt. Hier ist der menschliche Körper in erster Linie ein inhaltliches Thema, das laut Lehrplan im Biologieunterricht behandelt werden muss und mit welchem genauso theoretisch umgegangen wird, wie mit allen anderen Themen. Ziel der Schule ist es, den Geist zu prägen, die konkreten SchülerInnenkörper werden dabei eher als hinderlich empfunden. Anstatt das Potenzial der Kinder und Jugendlichen zum „Weltverstehen in Aktion“ (Funke-Wieneke, 2002, S.103) in der Schule aufzugreifen, müssen die Schülerinnen und Schüler die eigenen Bedürfnisse und Bewegungsvorzüge den Verhaltenweisen von Erwachsenen anpassen. Alles, was nicht zu einem ruhigen Unterrichtsverlauf beiträgt, gilt als Störung und wird unterbunden, reglementiert oder sogar medikamentös behandelt (vgl. Funke-Wieneke, S. 13f.). Sofern die körperlichen Fähigkeiten – wie zum Beispiel im Sportunterricht – überhaupt einbezogen werden, geschieht dies meist in auf bestimmte Funktionen reduzierte Weise, wie auf die Schnelligkeit beim Laufen oder die Geschicklichkeit beim Turnen. Hier geht es in erster Linie um eine nach bestimmten Leistungsmaßstäben bewertete Ausführung von vorgegebenen Bewegungsabläufen, nicht um die individuelle Körpererfahrung der SchülerInnen. Der Antrieb der Schüler und Schülerinnen, sich selbständig mit ihrem Körper zu beschäftigen, ist häufig auf seine äußere Gestaltung begrenzt. Schon Grundschulkindern ist bewusst, welche sozialen Vorteile mit einem attraktiven Äußeren verbunden sind (vgl. Millhoffer, 2002).

Sowohl in der Schule als auch gesamtgesellschaftlich hat sich statt des archaischen Gefühls, ein Körper zu sein, in den westlich orientierten Ländern die Vorstellung, einen Körper zu haben, durchgesetzt. Doch der Körper besitzt verborgene Fähigkeiten, die durch seine Reduzierung darauf, Hülle des Geistes zu sein, immer mehr in Vergessenheit geraten. Er ist nicht nur „Haut und Haar“, sondern auch Ort sinnlicher Erfahrung und Wahrnehmung. Mit ihm orientieren wir uns in der Welt und finden einen Zugang zu ihr. Äußere Einflüsse prägen sich unserem Körper ein, während wir unser Innenleben gleichsam mittels unseres Körpers nach außen bringen. An die Phänomenologie angelehnte Theorien gehen außerdem davon aus, dass Erfahrungen, die wir in unserem Leben gemacht haben, im Leib gespeichert sind. In einer Welt voller Unsicherheiten dient der Leib so als eine Art Identitätscontainer, in dem sich alle Ebenen unseres Lebens verbinden.

„Der Leib muss aushalten, was an unterschiedlichen Zumutungen im Umgang mit Patchwork und Brüchen auf ihn einstürmt. Er markiert Grenzen der Belastbarkeit und Möglichkeitsentwürfe, er muss Identität in einem existentiellen Sinn auch dann ‚repräsentieren’, wenn Identität brüchig und widersprüchlich wird“ (Duncker, 2005, S. 102).

Auch nach Marie-Luise Lange bildet der Körper die zentrale Instanz, auf den sich der Mensch Zeit seines Lebens zurückbesinnt und der gleichzeitig seinen Kontakt zur Außenwelt darstellt:

„Jenseits aller wissenschaftlichen Zuschreibungen bleibt dem einzelnen Menschen sein eigener Körper als permanenter Mittelpunkt der Orientierung. Als sein Körper, als Subjekt, ist der Körper einfach da. Er ist zugleich Aktivposten als auch intimer Rückzugsraum vor den Erwartungen und Ansprüchen der anderen [...].“ Der Körper ist es, „mit dem jeder Mensch im Wechselspiel mit der Umwelt sich selbst und seine Welt erlebt“ (Lange, 2002, S. 313).

Mit der hier anklingenden „Wiederkehr des Körpers“ (Kamper & Wulf, 1982) im Gegensatz zu seiner Verdrängung, wird dem Körper mit all seinen Sinnen, Wahrnehmungsfähigkeiten und seinem Ausdrucksvermögen nun erneut ein Podium geboten. Nach Lange wird der Körper so zum Ort unbekannter Spiel- und Ausdrucksräume und erfährt neue Bewegungsfreiheit im Sinne eines „Experimentierfeld[s] schöpferischer Selbsterfahrung“ (Lange, 2002, S. 313). Er ist dann in der Lage „ gegenwärtige, eigene Wirklichkeit wahrzunehmen“ (ebd.). Ein solches Vermögen verlangt, der häufig verdrängten Aufmerksamkeit für den Leib Raum zu geben. Für Lange stellt sich in diesem Moment erneut und aus anderer Perspektive die Frage nach der Natur des Leibes und seines vielschichtigen Verhältnisses zur Umwelt:

„Leiblichkeit hat mit Empfinden und Wahrnehmen wie dem Spüren des Selbst zu tun. In einer zunehmend ästhetisierten Welt voller Inszenierungen und Oberflächendesign ist es wichtig, sich nicht orientierungslos zu verlieren, sondern sich des leibhaften Spürens von Atmosphären bestimmter räumlicher, gestaltbesitzender oder energetischer Zusammenhänge sowie der eigenen Befindlichkeiten zu vergewissern, um dieses Maß affektiver Betroffenheit in ein ››emanzipatorisches Urteilen über die Dinge‹‹ einfließen zu lassen“ (ebd., S. 314).

Mit ihrem Konzept des Lernens „mit Herz und Hand“ hat die Reformpädagogik zu Beginn des letzten Jahrhunderts bereits einen wesentlichen Schritt zur Annäherung an einen Umgang mit dem Körper im oben genannten Sinne getan. Die Umsetzung dieser Kritik an der „übergangenen Sinnlichkeit“ (Rumpf, 1981) bekommt zwar bis heute auf theoretischer Ebene viel Resonanz, wird jedoch praktisch kaum umgesetzt. Eine Ausnahme bildet hier die Kunstpädagogik. Anzeichen für ein zunehmendes Interesse am Körper lassen sich in der Kunstpädagogik seit Beginn der 80er Jahre ausmachen. Eröffnet wurde die Diskussion 1979 mit dem Sonderheft „Denken und Machen“ des Friedrich Verlags. Darin wurde die Trennung von Geist und Körper als Produkt der Geschichte von Vertretern der Fächer Ästhetische Erziehung, Sport und Musik thematisiert und versucht, die rationale Anspannung mit emotionaler Entspannung sinnvoll zu verbinden (vgl. Sievert-Staudte, 2000, S. 73; Peters, 2009, S. 66). Tendenzen in der Kunstpädagogik waren zu dieser Zeit zum Beispiel Entspannungs- und Konzentrationsübungen in den Unterricht einzubeziehen, um damit zu einer neuen Aufmerksamkeit und Disziplin zu finden. Auch der Einbezug anderer Sinneswahrnehmungen über den reinen Gesichtssinn hinaus, wie beispielsweise den Tastsinn, wurde gefordert. In Folge der Veröffentlichung von Adelheid Staudtes Artikel „Mit allen Sinnen Lernen...“ in der kunstpädagogischen Zeitschrift Kunst+Unterricht (vgl. Staudte, 1984; Sievert-Staudte, 2000) diskutierte man ab Mitte der achtziger Jahre auf welche Weise meditative und körperbezogene Übungen zugleich verantwortlich und fördernd in kunstpädagogische Konzepte einbezogen und wie die sinnlich-körperlichen Sensibilisierungs- und Erkenntnisprozesse in Verbindung zu anderen Lernzusammenhängen gestellt werden können (vgl. Sievert-Staudte, S. 78). 1988 stellte Gert Selle in seinem Buch „Gebrauch der Sinne. Eine kunstpädagogische Praxis“ ein Konzept für individuelle und subjektbezogene Leiberfahrungen in pädagogischen Prozessen vor. 1996 thematisierte Barbara Wichelhaus – ebenfalls in Kunst+Unterricht – die leiblichen Erkenntnispotenziale einer Verbindung von Körpererfahrung und Identitätsbildung und verwies in diesem Zusammenhang insbesondere auf die Wirksamkeit von performativen und multimedialen Prozessen bezüglich ästhetischer Körpererfahrung (vgl. Peters 2009, S. 67; Wichelhaus, 1996). Die pädagogische Arbeit mit Performances wird bis heute von den Kunstpädagoginnen und Künstlerinnen Marie-Luise Lange und Hanne Seitz proklamiert und entfaltet (vgl. Lange, 1999, 2001, 2004, 2006; Seitz, 2006).

Auf extreme Weise wurden Körpererfahrungen und Wahrnehmungserweiterungen von Künstlern und Künstlerlinnen der 70er Jahre wie Gina Pane, Vito Acconci, Chris Burden, Sterlac und Marina Abramovic praktiziert, deren lebende Körperbilder vielschichtige Körpererfahrungen provozierten. Um einen tiefen Einblick in ihre Kunst zu ermöglichen, konzentriere ich mich in meiner Arbeit auf das Werk Marina Abramovics und dabei insbesondere auf ihre Performances der 70er Jahre. Ich beschreibe die Intentionen der Künstlerin für ihre Aktionen und leite künstlerische Strategien aus ihren Performances ab, die mögliche Impulse für körperorientiertes Arbeiten mit Schülerinnen und Schülern darstellen. Anschließend zeige ich, dass sowohl in den Konzepten bezüglich pädagogischer Performance-Arbeit von Marie-Luise und Hanne Seitz, als auch in Selles Buch „Gebrauch der Sinne. Eine kunstpädagogsiche Praxis“ Theorien und Überlegungen zu finden sind, die Parallelen zum künstlerischen Arbeiten Abramovics aufweisen. Auf Basis der Ergebnisse meiner Untersuchungen eröffne ich schließlich einen Ausblick auf Unterricht, der SchülerInnen zu einem bewussteren Körpererleben mittels Performances anregt.

1. Marina Abramovic

Freeing the Body[1]

1976, Berlin, Galerie Mike Steiner

In einem kahlen Raum tanzt eine nackte Frau mit einem eng um den Kopf gewickelten schwarzen Tuch wild zu den Trommelschlägen eines Afrikaners. Blind wie sie ist, stampft sie mit den Füßen und wirbelt herum, ihre Arme sausen durch die Luft, sie dreht sich im Kreis, wird schneller und schneller. Unermüdlich verbiegt sie ihren Körper, malträtiert ihn, fordert ihn. Sie keucht vor Anstrengung. Menschen kommen und gehen. Einige bleiben stehen und sehen ihr zu, sie sind irritiert und fasziniert, andere wenden sich kopfschüttelnd ab. Stunden vergehen, die Frau tanzt weiter. Dann knickt sie ein, fällt auf den Boden und bleibt regungslos liegen (vgl. Meschede, 1993, S. 106-109).

Rhythm 0

1974

Auf einem langen Tisch sind ein Spiegel, eine Kerze, ein Wischmopp, eine Rose, Messer, Nagellackentferner, Werkzeug und andere Alltaggegenstände sowie eine Pistole mit einer einzigen Kugel ausgebreitet. Eine Frau mit ausdruckslosem Gesicht steht daneben und verkündet, dass die 72 Objekte auf dem Tisch nach Wunsch an ihr verwendet werden dürfen: „Ich bin das Objekt. Ich übernehme die volle Verantwortung während dieser Zeit“ (Abramovic zitiert nach Meschede, 1993, S. 68). Die vorher lockere Vernissage-Atmosphäre ist plötzlich angespannt. Einige der Umstehenden kichern nervös, niemand weiß, was er tun soll. Dann tritt jemand vor und greift nach dem Lippenstift. Er wendet sich zu der Frau und schreibt groß und deutlich „END“ auf ihre Stirn. Nun fühlen sich auch die anderen ermutigt und beginnen, die Gegenstände auf dem Tisch an der Frau auszuprobieren. Jemand bindet ein weißes Tuch um ihren Hals, ein anderer klebt ihr Pflaster ins Gesicht. Die Stimmung löst sich, Witze und Vorschläge zu besonders ausgefallenen und lustigen Aktionen werden gemacht. Plötzlich wird die Frau hochgehoben, in Packpapier gehüllt und auf eine Liege gelegt. Dann wieder heruntergenommen und aufgestellt. Sie wird geschminkt und geküsst, doch dann wird die Stimmung aggressiver: Jemand zieht ihre Bluse aus und entblößt ihre Brust, ein anderer drückt die Dornen der Rose in ihren Bauch, sie weint, jemand tröstet sie, dann setzt ihr einer die Pistole an den Hals...

(vgl. Meschede, 1993, S. 68-85)

„Einige Anwesende trieben das Spiel bis zum Exzess. Sie verletzten die Akteurin mit einem Messer, bedrohten sie mit einer geladenen Pistole und hantierten an ihrem Körper herum“ (Behme & Meyer, 1998, S. 28).

Die Performance dauert genau sechs Stunden. Nach genau dieser Zeit steht die Künstlerin auf und beginnt auf das Publikum zuzulaufen. Dieses nimmt erschreckt Reißaus – es will der Konfrontation entkommen (vgl. http://rhythm0.pw-net.de/).

Thomas Lips

1975, Innsbruck, Galerie Krinzinger

Die Künstlerin zieht ihre gesamte Kleidung aus. Dann befestigt sie an der Rückwand des Raumes eine Fotografie von sich selbst und umrahmt sie mit einem fünfzackigen Stern. Nicht weit entfernt von der Wand steht ein Tisch, der mit einem weißen Tischtuch, einer Flasche Rotwein, einem großen Glas Honig, einem Silberlöffel, einem Kristallglas und einer Peitsche gedeckt ist. Sie setzt sich und beginnt den Honig auszulöffeln. Nachdem sie das Kilo Honig verzehrt hat, trinkt sie die Flasche Wein aus dem Kristallglas. Ihre Bewegungen sind langsam aber unbeirrt. Sie zerbricht das Glas mit der rechten Hand, die zu bluten beginnt. Die Künstlerin steht auf und geht zu der Wand, an der die Fotografie hängt. Mit dem Rücken zum Publikum ritzt sie sich mit einer Rasierklinge einen ebenfalls fünfzackigen Stern um ihren Bauchnabel. Eine blutende Wunde entsteht. Anschließend greift sie zur Peitsche, kniet, noch immer mit dem Rücken zu den Zuschauern, nieder und beginnt sich selbst zu geißeln. Mit blutigen Striemen bedeckt, legt sie sich auf ein Kreuz aus Eisblöcken, das von oben durch Heizstrahler erwärmt wird, die ihre Wunde erneut zum Bluten bringen. Abramovic bleibt reglos auf dem Eis liegen. Dreißig Minuten vergehen, doch die Künstlerin macht noch immer nicht den Eindruck, als wolle sie ihren Qualen bald ein Ende bereiten. Da halten einige Zuschauer es nicht mehr aus: Sie dringen vor, heben sie vom Eis und tragen sie fort. Die Performance Thomas Lips ist zu Ende (vgl. Fischer-Lichte, 2004, S. 9).

Balkan Baroque

1997, Biennale von Venedig

Die Künstlerin sitzt drei Nachmittage lang inmitten eines Berges von Rinderknochen, von denen sie mit Hilfe einer Bürste die noch immer daran klebenden Fleisch- und Blutreste entfernt. Beißender, süßlicher Geruch steigt auf, während sie einen klagenden Singsang anstimmt. Um sie herum stehen drei Wannen mit Wasser, vorne läuft ein Video, in welchem die Künstlerin mit weißem Ärztekittel bekleidet „an old method of successfull killing rats in the Balkan which is the way to create a Wolf-Rat“ erläutert. Links und rechts an den Seitenwänden wohnen eine älterer Mann und eine ältere Frau, ebenfalls über Videobänder, der Künstlerin und ihrem Tun als stille Zeugen bei. Es sind ihre Eltern. Plötzlich zieht die Frau im Video die weiße Schürze aus und tanzt mit schwarzem Kleid zu serbischer Volksmusik. Der Vater lässt die erhobenen Arme sinken und hält nun eine Pistole. Die Mutter nimmt ihre zuvor demutsvoll gekreuzten Arme vors Gesicht (vgl. Bianchi, 1997, S. 368).

Freeing the Body, Rhythm 0, Thomas Lips und Balkan Baroque sind vier Beispiele aus dem umfangreichen Oeuvre der Künstlerin Marina Abramovic. Alle vier sind schockierend, alle vier machen sprachlos und alle vier gehen nicht nur der Künstlerin, sondern auch ihrem Publikum buchstäblich durch „Mark und Bein“. Bei den ersten drei Performances bringt Marina Abramovic ihren Körper bis an seine Grenzen, in Balkan Baroque inszeniert sie den Tod in erschütternd eindrücklicher Weise. Den Performances beizuwohnen ist so überwältigend, dass das Publikum den Ort des Geschehens physisch und psychisch anders verlässt, als es gekommen ist. Mit ihren Perfomances erschafft Marina Abramovic Köperbilder, die gleichzeitig Körpererfahrung sind und zwar sowohl für die Künstlerin selbst, als auch für ihr Publikum. Ihre Aktionen kreisen um den von kulturellen und biografischen Einschreibungen unterworfene Körper und die Überwindung dieser Prägungen durch Schmerz- und Erschöpfungserfahrungen. Mit Hilfe von körperlichen Grenzsituationen bündelt Abramovic die Energie, welche ihr die Kraft verleiht, sich in einen Zustand innerer Leere zu versetzten, die Trennung von Körper und Geist zu überwinden und mit der Gegenwart einszuwerden. Hierzu bedient sie sich neben eigenen Erfindungen auch extremer Körperpraktiken nichtwestlicher Kulturen. Ein wesentlicher Aspekt bei Abramovics Aktionen ist außerdem die wechselseitige Verbindung zwischen der Künstlerin und ihrem Publikum. Allein die Präsenz der Zuschauenden versetzt sie in die Lage, das Energiefeld aufzubauen, welches ihr ihre Aktionen ermöglicht. Andererseits übernimmt Abramovic in ihren Aktionen die Rolle eines Mediums, durch welches das Publikum Formen der Bewusstseinsveränderung auch selbst erfahren kann.

Marina Abramovics Performances sind vor dem Hintergrund ihrer Biografie zu sehen. Die Künsterlin wurde 1946 in Belgrad, Jugoslawien geboren. Sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter waren Partisanen, ihre Kindheit und Jugend von täglicher Gewalt und der Allgegenwart der kommunistischen Partei geprägt. Nach einigen Experimenten mit Klanginstallationen beruht ihre künstlerische Karriere seit den 70er Jahren auf Perfromances, mit denen sie ihre persönlichen physischen Grenzen und ihr mentales Potenzial erforscht. Dabei verwendet sie ihren Körper als Rohstoff, mit dem sie künstlerische, ästhetische und ethische Erfahrungen macht. Insbesondere ihre frühe Kunst sieht die Künstlerin als Rebellion gegen ihre biografische Prägung:

„All my work in Yugoslavia was very much about rebellion, not against just the family structure but the social structure and the structure of the art system there, and I was always accused of being traitor in regard to art. My whole energy came from trying to overcome these kinds of limits“ (Abramovic zitiert nach McEvilley, 1998, S. 15).

1997 erhielt sie bei der Biennale in Venedig für Balkan Baroque den Internationalen Großen Preis, die höchste Auszeichnung im Bereich der Bildenden Künste.

1.1 „Keep body and soul together – remain alive“

Die Vereinigung von Körper und Geist stellt für Marina Abramovic den Kern des Lebens, ja eine Form des Überlebens überhaupt dar (vgl. Stooss, 1998, S. 9f.):[2]

„I want to develope a new consciousness and approach the idea of unitiy between body and soul, between body, soul and the cosmos...I want to demonstrate the unbelievable construction of our planet, point out it’s sources of energy and how, with a new consciousness, we can learn to rearrange our body and soul within this structure“ (Abramovic zitiert nach Stooss, 1998, S. 9).

„I realized that the subject of my work should be the limits of my body. I would use performance to push my mental an physical limits beyond consciousness“

(Abramovic zitiert nach Mc E, 1998, S. 15).

Der menschliche Körper ist für sie dabei sowohl Voraussetzung und Möglichkeit als auch Hindernis und damit ein existentieller Ausgangspunkt für jede spirituelle Entwicklung (vlg. Stooss, 1998, S. 10). Bei ihren Performances stellt die Künstlerin Marina Abramovic keinen Körper dar, sondern benutzt ihren eigenen Körper als ihr Material, das, zusammen mit dem Raum, in den sie ihn stellt, ihr „Performing Field“ bildet und den Ausgangspunkt ihrer Aktionen darstellt“ (vgl. Löffler, S. 23). Die Vorstellung eines Körpermaterials suggeriert dabei, „dass der Körper etwas sei, das ›vollendet‹, mit anderen Worten – erst gebaut werden muß“ (Pejic, 1993, S. 14). Genau dieser Herausforderung stellt sich die Künstlerin, indem sie sich aktiv von den Einschreibungen, die ihren Körper bisher konditionierten, befreit und sich für die Bewusstseinserweiterung öffnet. Der Raum, der dabei entsteht, entspricht insofern einer rituellen Zeremonie, dass er sich genau wie diese für eine bestimmte Zeit zugleich außer- und innerhalb der Gesellschaft konstituiert und eine Möglichkeit der körperlich-geistigen Transformation bietet.

1.2 Befreiung des Körpers von kulturellen Einschreibungen

Phänomene mit deren Einschreibungen Marina Abramovic sich in ihren Performances auseinandersetzt, sind die Rationalität westlicher Kulturen und die damit verbundene Entfernung des Menschen von der Natur, die Macht von Sprache und Symbolen sowie Geschlechterrollenzuschreibungen.

1.2.1 Befreiung von der westlichen Ratio

Abramovic zufolge hat der Mensch mit der Erfindung der Agrikultur angefangen, die Natur als Hindernis zu begreifen. Eine Zuspitzung dieser Situation fand und findet mit der technologischen Entwicklung statt, in deren Zusammenhang der Mensch sich auch selbst als Hindernis zu begreifen beginnt. Einen Ausweg aus dieser körper- und sinnenfernen Einstellung zu Leben und Tod findet Abramovic in der Auseinandersetzung mit nichtwestlichen Kulturen. So beschäftigt sie sich beispielsweise mit Traditionen der Tibeter oder der Aborigines, in denen der Körper an seine äußersten physischen Grenzen getrieben wird, um einen „mentalen Sprung“ (Meyer & Behm, 1998, S. 28) zu vollziehen und die Todesfurcht, die Angst vor Schmerzen und vor allen körperlichen Einschränkungen, mit denen wir leben, zu eliminieren.

Unter anderem in Auseinandersetzung mit diesen Kulturen erkannte sie, dass sie mit der Performance eine Form gefunden hatte, die es ihr ermöglichte, in einen anderen Raum und eine andere Dimension zu springen. Sie wagte daraufhin immer neue Aktionen, in denen der Prozess des Übergangs „vom Zustand des Bewußten, Kontrollierten, des ›Gesetzes‹, zu einem Zustand, in dem der Körper von den ›Tabus‹ der Ratio befreit wird, in ritueller Form gezeigt wurde“ (Pejic, 1993, S. 14).

In der bereits erwähnten Performance Freeing the Body thematisiert sie den Körper als durch die Kultur geformt und von diversen Schichten überlagert, die sich im Laufe unserer logozentrischen Tradition, entwickelt haben. Dadurch, dass sie zu dem Trommeln des Afrikaners tanzt und sich damit zu Rhythmen bewegt, die einer „als ›anders‹ markierten Kultur entstammen, de-instrumentalisiert sie ihren Körper, der gelernt hat, zum Takt der Melodie zu tanzen“ (ebd. S. 11). Gleichzeitig schaltet sie bei dieser Performance die in unserer Kultur als privilegierte Sinneswahrnehmung geltende Gabe des Sehens aus, denn während der gesamten acht Stunden trägt die Künstlerin ein schwarzes Seidentuch über Kopf und Gesicht (vgl. ebd. S. 10f.).

„Ich versuche, das Künstlerische mit dem Meditativen zu vereinen. Mir ist das gelungen, als ich meinen Kopf und meinen Körper bis zu den äußersten Grenzen bewegte. Nur wenn man die Grenzen überschreitet, kann man dabei erfolgreich sein. Bei dieser Art von Extremsituation kann man einen sogenannten mentalen Sprung in einen anderen Zustand vollziehen“ (Abramovic zitiert nach Behme & Meyer, 1998, S. 28).

1.2.2 Befreiung von Sprache und Symbolen

Auch Sprache und Symbole sind Phänomene, die die Unterwerfung der Körper unter die Kultur entscheidend mitbestimmen. Ohne dass uns dies bewusst ist, konstruieren Sprache und Symbole Wirklichkeiten, indem sie unsere Umwelt kategorisieren und so bestimmte Bedeutungen festschreiben. Nach der bereits zitierten Kunsthistorikerin Bojana Pejic betrachtet Marina Abramovic den Körper als Boot, „das man im Laufe zahlreicher physischer oder geistiger Abreisen und Umwegen gerade von der Sprache, vom Symbolischen“ und damit von all dem, was eine „sprachzentrierte Gesellschaft in ihm kulturell kodiert hatte“ (Pejic, 1993, S. 10), leeren muss. In ihren Performances versuche sie deshalb, einen Zustand ohne Sprache und jenseits der Subjektivität zu realisieren, der für sie einen Zustand des im „Im-eigenen-Körper-Seins“ (ebd.) darstellt.

Die „›Entleerung des Bootes‹ ist ein Zustand, in dem ihr Geist nicht mehr woanders und ›anderswann‹ ist, sondern ›hier‹ und ›jetzt‹“ (ebd. S. 10).

In Freeing the Voice von 1975 befreit sich die Künstlerin durch Schreien von der Stimme. In Freeing the Memory, ebenfalls 1975, distanziert sie sich von der Sprache als ständigem Zitat der Rede, die jedem gehört. In dieser Performance spricht sie alle Wörter aus, an die sie sich erinnert. Durch die intensive Wiederholung der Wörter verlieren diese allmählich ihren Sinn (ebd. S. 11 und S. 15).

1.2.3 Geschlechtlichkeit – Zusammenarbeit mit Ulay

Von 1976-1988 lebt und arbeitet Marina Abramovic mit Ulay (eigentlich Frank Uwe Laysiepen, geboren 1943 in Solingen, Deutschland) zusammen. Auch in diesen sogenannten „Relation Works“ ist Abramovic weiterhin daran interessiert, ihr Bewusstsein durch Grenzerfahrungen in einen Zustand innerer Leere und Stille zu versetzen. In diesem Sinne macht das Paar seine symbiotische Beziehung zur Grundlage existenzieller Experimente. Alle Performances zwischen 1976 und 1980 beschäftigen sich zwar einerseits mit ihrer Zweierbeziehung, beinhalten andererseits jedoch stets Formen körperlicher Erschöpfung. In der Performance Breathing in / Breathing out, 1978, pressen sie ihre Münder wie beim Kuss aufeinander und tauschen ihre Atemluft solange aus, bis sie keinen Sauerstoff mehr enthält. Ihre Nasenlöcher haben sie zuvor mit Zigarettenfiltern abgedichtet. In Interruption in Space, 1977, rennen die Künstler bis zur Erschöpfung gegen eine Wand, in Light / Dark, 1977, schlagen sie sich solange ins Gesicht, bis einer der beiden aufhört. Der Körper soll in physische Extremzustände versetzt, bis an seine Grenzen gebracht und von kulturellen Einschreibungen befreit werden.

[...]


[1] In Ermangelung ausführlicher beschreibender Texte habe ich den Ablauf von Freeing the Body und Rhythm 0, nach Sichtung von Bildmaterial und unter Einbezug kurzer Erläuterungen der Künstlerin, selbst beschrieben, so, wie ich sie mir vorstelle.

[2] Abramovic zitiert nach Löffler, 2001, S. 21.

Excerpt out of 45 pages

Details

Title
Grenzerfahrung als Kunst. Die Performances der Marina Abramovic
Subtitle
Körpererfahrung im Kunstunterricht
College
University of Bremen  (Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik)
Grade
2,0
Author
Year
2009
Pages
45
Catalog Number
V143589
ISBN (eBook)
9783640541232
ISBN (Book)
9783640541713
File size
573 KB
Language
German
Keywords
Grenzerfahrung, Kunst, Performances, Marina, Abramovic, Körpererfahrung, Kunstunterricht
Quote paper
Berit Eichler (Author), 2009, Grenzerfahrung als Kunst. Die Performances der Marina Abramovic, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/143589

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