Die Wahrnehmung des „Anderen“ bei Alfred Holzbrecher und Paul Mecheril

Gegenüberstellung zweier Konzepte zum Umgang mit Diversität im pädagogischen Handeln


Seminararbeit, 2009

20 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Wahrnehmung des Anderen nach Alfred Holzbrecher
2.1 Historische Entstehung unserer Wahrnehmung des Anderen
2.1.1 Konstruktion des „Anderen“ in der Geschichte der Neuzeit
2.1.2 Wahrnehmung des „Anderen“ heute
2.2 Wahrnehmung und Weltbild
2.3 Modi des Fremderlebens
2.4 Das Fremde im Eigenen

3. Paul Mecherils Migrationspädagogik
3.1 Der Andere in der Migrationspädagogik
3.1.1 Natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit
3.2 Der natio-ethno-kulturelle Andere: Von der Ausländerpädagogik zur Interkulturellen Pädagogik
3.2.1 Ausländerpädagogik
3.2.2 Interkulturelle Pädagogik
3.3 Der Migrationsandere: Vier diskursive Felder
3.4 Die migrationspädagogische Perspektive

4. Gegenüberstellung der Wahrnehmung des Anderen bei Holzbrecher und Mecheril

5. Zusammenfassung

6. Quellenangaben
6.1 Literatur
6.2 Internet

1. Einleitung

Deutschland ist eine Migrationsgesellschaft. Seit der Wende zum 20. Jahrhundert ist Deutschland eines der wichtigsten Einwanderungsländer in Europa. Hunderttausende von Menschen immigrierten - und immigrieren noch - aufgrund von Aussiedlung, Arbeitsmigration und Flucht.[1]

Das Vorliegen einer heterogenen oder „interkulturellen“ Gesellschaft führt auch in der Pädagogik seit einiger Zeit zur Reflexion über veränderte oder speziell zugeschnittene pädagogische Maßnahmen, um dieser gerecht zu werden. Eine wichtige und grundlegende Frage ist hierbei, wie „Andere“ überhaupt wahrgenommen und definiert werden.

Zwei Autoren, die sich mit dieser Thematik auseinandergesetzt haben, sind Alfred Holzbrecher und Paul Mecheril. In dieser Arbeit werden die Theorien der beiden Pädagogen zur Wahrnehmung des und dem pädagogischen Umgang mit dem Anderen skizziert und gegenübergestellt.

Hierzu wird zunächst die Wahrnehmung des Anderen nach Holzbrecher vorgestellt. Dies beinhaltet seine Erklärung zur Entstehung unserer Wahrnehmung von „Anderem“, Annahmen zu Wahrnehmung und Weltbild sowie Konzepte zum Umgang mit Anderen. Daraufhin wird Mecherils Perspektive auf die Wahrnehmung des Anderen vorgestellt, wobei zunächst auf die Sicht und Behandlung von Anderen in Ausländer- und Interkultureller Pädagogik eingegangen wird. Dann werden grundlegende diskursive Richtungen zur Betrachtung und Behandlung des Anderen vorgestellt und schließlich Mecherils Konzept der „Migrationspädagogik“ skizziert, welches Vorschläge zum pädagogischen Handeln in einer heterogenen Gesellschaft anbietet.

Zum Schluss werden beide Konzepte gegenübergestellt und deren Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede herausgearbeitet.

2. Die Wahrnehmung des Anderen nach Alfred Holzbrecher

2.1 Historische Entstehung unserer Wahrnehmung des Anderen

Laut Holzbrecher ist es ein grundlegendes Wahrnehmungsmuster des Menschen, in Eigen- und Fremdgruppe zu trennen. Ethnologische Befunde bewiesen, dass Identitätsarbeit auf Abgrenzung ziele und Ein- und Ausgrenzung der Unterscheidung zwischen Ordnung und Chaos dienten.[2]

2.1.1 Konstruktion des „Anderen“ in der Geschichte der Neuzeit

Die Ursprünge für den Umgang mit Fremden in Westeuropa verortet Holzbrecher in der Epoche der Neuzeit. Das Denken der Menschen sei damals von diversen Ängsten beherrscht gewesen, wie der Angst vor dem Tod durch Hunger und Krankheit, Angst vor dem Unglauben oder vor dem Ende der Welt. Um die Welt weniger bedrohlich erscheinen zu lassen, habe man begonnen, alles zu kategorisieren und zu schematisieren, um die Welt zu ordnen. Als problematisch betrachtet der Autor dies, da, wenn man eine Kategorie schafft, es immer auch etwas gibt, das aus dieser herausfällt, quasi das „Negative der Kategorie“. Gebe es das Eigene und Vertraute, so sei alles, was nicht vertraut sei, automatisch das Nicht-Eigene, und somit das Fremde und „Andere“.[3]

Laut Holzbrecher war die Neuzeit geprägt durch die Ambivalenz von Angst vor Fremdem und Andersartigem einerseits sowie Faszination und Anziehung andererseits. Dies habe sich beispielsweise in der Kolonisierung niedergeschlagen: Zwar habe man Angst vor dem Seeweg und all seinen Gefahren gehabt und davor, was Einen am Ziel erwartete, doch hätten fremde Länder und Kulturen von jeher anziehend und faszinierend gewirkt (Beispiel: Kolumbus‘ Suche nach Indien). Ein Mittel zur Reduzierung der Angst, so auch im Beispiel der Kolonisierung, sei die Beherrschung des Fremden gewesen, um die Gewalt des Anderen erträglicher zu machen. Das Andere sei somit als das „zu Beherrschende“ gesehen worden. Ein anderes Mittel sei die Verteufelung beziehungsweise die „Verengelung“ des Andersartigen gewesen. Im Katholizismus beispielsweise sei alles Nicht-Katholische, Nicht-Christliche in der Figur des Teufels verkörpert gewesen. Als ein Beispiel für Verengelung nennt Holzbrecher die Vorstellung vom „edlen Wilden“, dem Idealbild des von der Zivilisation unverdorbenen Naturmenschen, die mit dem Kolonialismus einhergegangen sei.[4]

Das „Andere“ sei in der Neuzeit jedoch nicht nur auf Äußeres, wie Menschen mit unterschiedlichem ethnischen Hintergrund oder fremde Länder, bezogen, sondern habe sich auch im Inneren des Menschen niedergeschlagen. Nach der Kopernikanischen Wende, so argumentiert Holzbrecher, stand der Mensch nicht mehr im Mittelpunkt der Welt – was ihn in eine tiefe Krise stürzte. Die „Rettung“ kam laut dem Autor durch Immanuel Kant, der sich auf den Menschen als Vernunftwesen berief und die Vernunft zur wichtigsten Tugend des Menschen machte. Zum „Anderen“ sei in diesem Fall zwangsläufig das „Andere der Vernunft“ geworden – nämlich alles Nicht-Rationale, also das Unbewusste, das sinnlich Erfahrbare, das „Chaos der Leidenschaften“. Dieses Andere sei ebenfalls verteufelt und als zu beherrschen betrachtet worden, da es als eine Kraft angesehen worden sei, die tendenziell Grenzen auflöst und Chaos schafft. Unmittelbar sinnliche Erfahrung sei zum „Fremden“ schlechthin geworden. Der Mensch habe sich schließlich selbst nicht mehr als Teil der Natur gesehen, sondern als ihr überlegen: Das Interesse des neuzeitlichen Menschen an der Natur war laut Holzbrecher das Interesse am Kuriosen oder Monströsen. Der Mensch habe sich die Natur erobert und in zoologische und botanische Gärten geholt, um sie zu katalogisieren, vermessen und zu sezieren.[5]

Zur Illustration des oben Gesagten bringt der Autor folgende Geschichte an: Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel liebte Chinoiserien und ließ im 18. Jahrhundert in seinen Parkanlagen verschiedene Häuschen im chinesischen Stil erbauen. Um die Idylle perfekt zu machen, bemühte er sich um echte Chinesen. Da diese jedoch schwer zu bekommen waren, siedelte er dort Neger [sic] an, die sich um den Milchausschank kümmern sollten:

„Zu Objekten europäischer Schaulust gemacht, bestätigen die dem ‚Panoptikum‘ zugeordneten Fremden einerseits die eigene Überlegenheit und Subjekthaftigkeit, andererseits läßt der ‚Gang durch das Spiegelkabinett (..) am eigenen Leib die Monströsitäten erkennen, die in den Ausstellungsräumen zu betrachten waren und eine unheimliche Atmosphäre verbreitet hatten. Es zeigt sich eine Korrespondenz zwischen den „Wundergestalten“ der Ausstellung und den „monsters of the mind“. Die Ängste, Sehnsüchte und Phantasien, dem eigenen Unterbewußtsein verhaftet, gerinnen hier zu Wachsfiguren. In diesen Dunkelkammern werden Träume fixiert, die im hellen Licht verdrängt bleiben müssen‘ (Goldmann 1985, S.260).“[6]

2.1.2 Wahrnehmung des „Anderen“ heute

Das Fremde, so Holzbrecher, ist ein Gegenüber, welches als Risiko wie auch als Chance wahrgenommen werden kann, als befremdlich oder faszinierend. Es erscheine tendenziell als chaotisierende Kraft, das heißt als etwas, das ein vertrautes Weltbild in Frage stelle. Es tritt uns laut dem Autor in verschiedenen Formen gegenüber: In Gestalt von fremden Subjekten (wie Menschen mit einen anderen ethnischen Hintergrund), Objekten beziehungsweise Medien einer fremden Kultur (wie Filme oder Theaterstücke) als auch als das „Andere der Vernunft“, das Nicht-Rationale. Das Andere verkörpere das Ambivalente, Nicht-Eindeutige, welches als solches Angst mache. Es stelle das Eigene und Vertraute potentiell in Frage, weil es dazu auffordere, sich auf eine Beziehungs- und Entwicklungsgeschichte mit offenem Ausgang einzulassen.[7]

2.2 Wahrnehmung und Weltbild

Laut Holzbrecher können wir nicht die Realität „an sich“ erkennen. Das eigene Bild vom Anderen sei von biographisch und gesellschaftlich vermittelten Wahrnehmungsmustern geprägt. Er bringt das Modell der „Brille“ an, um sein Konzept des Weltbildes zu erläutern. Die Brille besteht aus einer Fassung, Gläsern sowie der Tönung der Gläser.[8]

Die Fassung beschreibt der Autor als den „Rahmen“ für die Wahrnehmung. Jeder Mensch verfüge über kulturhistorisch bedingte Denkmuster, die als Voraussetzung der Interpretation und Bewertung von Gegenständen dienten. Diese seien ganz allgemeine Wirklichkeitsauffassungen, von denen die meisten Leute gar nicht wahrnähmen, dass sie solche allen ihren Urteilen zugrunde legten. Diese Denkmuster bildeten ein Deutungssystem, mit dem wir die Welt bewerteten – unser Weltbild.[9]

Die Gläser bestimmen nach Holzbrecher die Art und Weise, wie wir wahrnehmen. Der Sinn der Dinge sei ein Konstrukt unseres Geistes. Wir seien ständig dabei, Wirklichkeiten zu konstruieren und wählten immer diejenige aus, die mit den aktuellen Sinnesdaten am besten vereinbar sei. Holzbrecher beruft sich hier auf den Radikalen Konstruktivismus und prominente Vertreter desselben wie Humberto Maturana und Francisco J. Varela. Stimmig erscheinende Sinnmuster würden subjektiv zu Ganzheiten, als Wirklichkeit konstruiert. Als wirklich erscheine, was in das Konzept passe, so wie ein Schlüssel der in ein Schloss passe (Vergleich von Ernst von Glasersfeld).[10]

[...]


[1] vgl. Mecheril (2004). Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim/Basel: Beltz Studium, S.27ff.

[2] vgl. Holzbrecher (1997). Wahrnehmung des Anderen. Zur Didaktik interkulturellen Lernens. Opladen: Leske + Budrich, S.7.

[3] ebd., S.18ff.

[4] vgl. Holzbrecher 1997 a.a.O., S.29ff.

[5] ebd., S.36ff.

[6] vgl. Holzbrecher 1997 a.a.O., S.46f.

[7] vgl. Holzbrecher. Die Wahrnehmung des Anderen als pädagogische Herausforderung:
Zur Gestaltung interkultureller Zwischenräume.
In: Zeitschrift der DVPB NW: Politisches Lernen 17. Jg. (1995) H. 3-4, S.47f.

[8] vgl. Holzbrecher 1997 a.a.O., S.73.

[9] vgl. Holzbrecher 1997 a.a.O., S.73ff.

[10] ebd., S.84ff.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Die Wahrnehmung des „Anderen“ bei Alfred Holzbrecher und Paul Mecheril
Untertitel
Gegenüberstellung zweier Konzepte zum Umgang mit Diversität im pädagogischen Handeln
Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Veranstaltung
Diversity - Unterschiedlichkeit als Grundlage interkulturellen Lernens
Note
1,3
Autor
Jahr
2009
Seiten
20
Katalognummer
V143680
ISBN (eBook)
9783640539383
ISBN (Buch)
9783640540068
Dateigröße
466 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Interkulturelle Pädagogik, Pädagogik, Erziehungswissenschaft, Interkulturelles Lernen, Diversität, Diversity, Unterschiedlichkeit, Anderer, Alfred Holzbrecher, Paul Mecheril, Migrationspädagogik, Ausländerpädagogik
Arbeit zitieren
Friederike Knoblauch (Autor:in), 2009, Die Wahrnehmung des „Anderen“ bei Alfred Holzbrecher und Paul Mecheril, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/143680

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