Christentum und Politik. Die "Micah Challenge" als freikirchliche Initiative für soziale Gerechtigkeit


Diploma Thesis, 2008

147 Pages, Grade: 1,3


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Ziel der Arbeit
1.2 Einleitende Gedanken zum Verhältnis von Christentum und Politik
1.3 Idealtypische Beziehungsmuster zwischen Politik und Religion
1.4 Beschreibung der Micha-Initiative/ Micah Challenge
1.5 Aufbau der Arbeit

2 Historisch-Epochale Paradigmen im Verhältnis von Christentum und Politik - Von der Alternativkultur zur freundschaftlichen Kooperation
2.1 Urchristlich-Apokalyptisches Paradigma
2.2 Altkirchlich-Hellenistisches und orthodoxes Paradigma
2.3 Römisch-Katholisches Paradigma
2.4 Reformatorisch-Protestantische Paradigma
2.5 Modernes Paradigma
2.6 Exkurs zum Fundamentalismus:
2.7 Neuzeitlich-postmodernes Paradigma

3 Religion und weltanschauliche Neutralität - Die freundschaftliche Trennung von Politik und Religion und die Rolle religiöser Akteure
3.1 Voraussetzungen staatsbürgerlicher Solidarität und der Einfluss religiöser Orientierungen
3.2 Säkulare Öffentlichkeit und die Beteiligungsmöglichkeiten religiöser Akteure
3.3 Freundschaftliche Trennung aus christlicher Perspektive - Die Selbstpositionierung der Kirchen im säkularen Staat und der internationalen Zivilgesellschaft

4 Engel und Dämonen: Der gesellschaftspolitische Gehalt religiöser Orientierungen und die Einflussfaktoren für ihre Entwicklung
4.1 Die grundsätzliche Ambivalenz religiöser Orientierungen
4.2 Der Einfluss soziokultureller Bedingungen auf die historischen Ausprägungen des Christentums
4.2.1 Gesellschaftliche Makrostrukturen
4.2.2 Das kulturelle Umfeld
4.2.3 Strukturbedingungen religiöser Gemeinschaften
4.2.4 Individuelle Interessen und Charakterstrukturen
4.3 Die Voraussetzungen für sozialliberale und friedenspolitische Ausrichtung religiöser Organisationen
4.3.1 Strukturelles Autonomiepotential
4.3.2 Friedlichkeit der Lehre
4.3.3 Exkurs: Strukturmechanismen religiöser Orientierungen:
4.3.4 Verankerung der Lehre in den Strukturen der Gemeinschaft
4.3.5 Ausbildung in Friedenstechniken und Methoden sozialpolitischer Arbeit

5 Religion und Entwicklungszusammenarbeit
5.1 Staat und weltweite Gemeinschaft - Veränderte Strukturbedingungen und die Position der christlichen Kirchen
5.2 Die Voraussetzungen für einen positiven Beitrag religiöser Akteure in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit

6 Kriterien zur Beurteilung des politischen Engagements weltanschaulicher Organisationen
6.1 Gesellschaftspolitische Orientierungen
6.2 Arbeits- und Kooperationsweise
6.3 Interne Strukturen und strukturelle Verflechtungen
6.4 Religiöses Selbstverständnis
6.5 Reflektion kritischer Potentiale

7 Vorstellung der Micha-Initiative
7.1 Die evangelikalen Wurzeln der Micha-Initiative
7.1.1 Evangelikalismus und gesellschaftliches Engagement
7.1.2 Die Gründung des Micah-Networks und der Micha-Initiative
7.2 Motive und Vorrangige Ziele der Arbeit von Micah Challenge
7.3 Die Praktische Arbeit
7.3.1 Innerkirchliche Bildungsarbeit
7.3.2 Interkirchliche und zivilgesellschaftliche Netzwerkarbeit
7.3.3 Lobbying und Kampagnenarbeit
7.4 Einfluss der Micha-Initiative
7.4.1 Ihre Bedeutung innerhalb der evangelikalen Szene
7.4.2 Einfluss auf die Verwirklichung der Millenniumsentwicklungsziele
7.5 Die Micha-Initiative aus der Sicht externer Akteure

8 Gesellschaftspolitische Bewertung der Micha-Initiative
8.1 Gesellschaftspolitische Orientierungen
8.2 Arbeits- und Kooperationsweise
8.3 Interne Strukturen und strukturelle Verflechtungen
8.4 Religiöses Selbstverständnis
8.5 Reflexion kritischer Potentiale

9 Bewertung der Micha-Initiative

10 Zeitgeschichtliche Einordnung

11 Zur Rolle religiöse Akteure in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit

12 Anhang

1 Einleitung

„Religion ist ein faszinierendes Medium der Weltdeutung und Weltgestaltung. Sie vermag Konkurrenten in Brüder zu verwandeln, Solidarität mit den Schwächeren zu stiften und immer neu zur Akkumulierung des ‚sozialen Kapitals’ beizutragen. Sie kann aber auch aus Gegnern Todfeinde machen und selbst die Entfaltung der zerstörerischen, dämonischen Kräfte des Menschen als Gehorsam gegenüber Gottes Willen verklären.“ (Friedrich Wilhelm Graf) [1]

„Politik handelt von dem Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen.“ (Hanna Arendt) [2]

Islamischer Fundamentalismus, die martialisch christliche Rhetorik des US-Präsidenten, religiöse aufgeladene bürgerkriegsähnlicher Konflikte - einige Beispiele, die für ein verstärktes Interesse bezüglich des Verhältnisses von Religion und Politik gesorgt haben. Zahlreiche Publikationen wid-men sich empirisch und theoretisch der Erforschung des religiösen Fundamentalismus oder disku-tieren den gesellschaftlichen Beitrag, den religiöse Orientierungen im positiven Falle leisten können. Denn - und das ist die andere Seite der zitierten Negativbeispiele - religiöse Orientierungen können eine Grundlage für menschen-rechtliche und soziale Orientierungen sein. Religiöse Akteure enga-gierten sich in der Vergangenheit in kaum zu unterschätzender Weise in sozialer und sozialpoli-tischer Arbeit und zum Teil unter Einsatz ihres eigenen Lebens in religiösen Friedensbewegungen.

1.1 Ziel der Arbeit

Die vorliegende Arbeit diskutiert das Verhältnis von Christentum und Politik am Beispiel der Micha-Initiative (MI), einer evangelikalen Entwicklungsinitiative. Zu diesem Zweck erfolgt ein Überblick über die Geschichte des Christentums hinsichtlich seines Verhältnisses zur Politik und zu sozialpolitischem Engagement. Die MI wird daran anschließend als spezifische Ausprägung eines neuzeitlich-postmodernen Christentums näher erläutert und untersucht. Voraussetzung für diese Untersuchung bildet zum einen der politiktheoretische Diskurs über die Rolle des Religiösen in der säkularen Öffentlichkeit. Zum anderen werden in dieser Arbeit Faktoren angeführt und analysiert, die die Ausformung religiöser Orientierungen zwischen friedlich-sozialen und autoritär-dogma-tischen Werten bedingen.[3] Darauf aufbauend und ausgehend von dem spezifischen Kontext der Entwicklungszusammenarbeit in dem die MI agiert, werden Kriterien aufgestellt um die MI, bzw. religiöse Akteure im Allgemeinen im Hinblick auf ihre politiktheoretische Ausrichtung, gesell-schaftspolitischen Potentiale und untergründigen Normvorstellungen untersuchen zu können.

1.2 Einleitende Gedanken zum Verhältnis von Christentum und Politik

Grundsätzlich gibt es für das Christentum - wie für jede andere Religion - nicht die eine grund-legende Form politischer Ethik. Die christlichen Überlieferungen kennen sowohl weltablehnende Haltungen und das Diesseits transzendierende Sinnzusammenhänge als auch äußerst starke Auf-forderungen zur Weltgestaltung anhand christlicher Normen und Ideale.[4] Doch weder das Urchris-tentum noch die biblischen Überlieferungen bieten ein explizites Gestaltungsprogramm für die Organisation von sozialen und politischen Belangen, wie zum Beispiel bezüglich der Errichtung einer bestimmten Wirtschaftsordnung oder der Etablierung einer bestimmten Gesellschaftsstruktur. Derartige Themen wurden in der Kirchengeschichte erst nach und nach erschlossen und unterlie-gen kontroversen Diskussionen sowohl innerhalb einzelner Denominationen als insbesondere auch zwischen ihnen.[5]

Grundsätzlich bewegen sich religiöse Orientierungen immer in einer Ambivalenz zwischen liberalen und autoritären Ausprägungen. Einerseits können sie sozialmoralische Orientier-ungen fundieren, andererseits Macht und Unterdrückung rechtfertigen. Ihre spezifische Aus-formung ist weniger von dem abstrakten Bedeutungsgehalt religiöser Überlieferungen ab-hängig als von den Akteuren, die sie interpretieren.[6]

Für das wechselseitige Verhältnis zwischen Religion und Politik sind für die hier verfolgte Fragestellung insbesondere der Einfluss politisch-gesellschaftlicher Umstände auf religiöse Orientierungen sowie andererseits die religiös fundierte Sichtweise auf die gesellschaftlichen Verhältnisse interessant. Ausgehend von den drei Ebenen des Politischen (Polity, Politics und Policy)[7] ergeben sich vor allem folgende Fragekomplexe: Wie ist auf institutioneller Ebene das Verhältnis zwischen Politik und religiöser Gemeinschaft geregelt, welche Rolle spielen religiöse Akteure im politischen Prozess und in wie weit beschäftigen religiöse Fragen die offizielle Politik - beispielsweise im Fall der Beschränkung religiöser Symbolik auf den Privatbereich? Andererseits ist die Sichtweise religiöser Akteure auf das Verhältnis von Religion und Politik zu betrachten, sodann ihr Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Akteuren und schließlich die inhaltlichen Schwerpunkte, die von religiösen Akteuren öffentlich vertreten werden - also beispielsweise soziale oder eher autoritäre Werte.

1.3 Idealtypische Beziehungsmuster zwischen Politik und Religion

Grundsätzlich lassen sich vier Formen des Verhältnisses zwischen Politik und Religion unter-scheiden. Demokratische Staaten können sich einerseits nach dem Ideal einer (a) freund-schaftlichen oder (b) feindlichen, beziehungsweise laizistischen Trennung beider Bereiche organisieren. Während in den Formen der freundschaftlichen Trennung dem Religiösen ein eigener Wert - auch für die politische Gemeinschaft - beigemessen wird, werden religiöse Orientierungen in laizistischen Staaten strikt auf den Bereich des Privaten verwiesen. Aus Sorge um den gesellschaftlichen Zusammenhalt soll das Öffentliche nach rein rationalen Prinzipien gestaltet werden.[8] Laizistische Staatsformen gehen gewöhnlich einher mit der Etablierung einer Zivilreligion. Bestandteil einer solchen zivilreligiösen Orientierung sind insbesondere gemeinsame Werte, gemeinsame Mythen um die Gründung und die Aufgabe der Nation sowie eine gewisse Sakralisierung des gesellschaftlichen Kollektivs.[9]

Formen der politisierten Religion (c) spielen sich in einem breiten Spektrum ab, angefangen von der politischen Vertretung religiöser Interessen, über die Instrumentalisierung einer Religion zur politischen Machtstabilisierung, bis hin zur Ausformung theokratischer Herrschaftsstrukturen unter der Leitung einer Priesterkaste oder charismatischen Einzelperson.[10] Zuletzt lässt sich (d) die Politische Religion als genuin eigene Form der Verschmelzung politischer und religiöser Anteile verstehen. Im Wesentlichen handelt es sich bei ihr um eine säkulare Ideologie, die zur politischen Mobilisierung und Herrschaftslegitimation eingesetzt wird und dabei pseudoreligiöse Elemente - wie Massenfeiern und die Sakralisierung eines Kollektivs - entfaltet. Politisch ausgestaltet geht sie mit totalitären Herrschaftsformen einher.[11]

Für die folgenden Ausführungen gilt insbesondere der Idealtypus der freundschaftlichen Trennung als theoretischer Rahmen zur gegenwärtigen Verortung religiöser Akteure in der politischen Öffentlichkeit. Die übrigen Idealtypen finden darüber hinaus in der Skizzierung von spezifischen historischen Ausprägungen des Christentums Anwendung.

1.4 Beschreibung der Micha-Initiative/ Micah Challenge

“Micah Challenge is a global Christian campaign. Our aims are to deepen our engagement with impoverished and marginalised communities; and to challenge international leaders, and leaders of rich and poor countries, to achieve the Millennium Development Goals, and so halve absolute global poverty by 2015!”[12]

1999 gründeten evangelikale Entwicklungsorganisationen unter dem Titel Micah Network ein Netzwerk mit dem Ziel, eine „dynamische Partnerschaft“ untereinander zu etablieren. Im Einzelnen sollte die jeweilige Entwicklungsarbeit unterstützt werden, ein innerkirchlicher Austausch über die Bedeutung von sozialem Engagement für Christen angestoßen werden und das Netzwerk der gemeinsamen Lobbyarbeit für die Interessen der „Armen und Unterdrückten, (…) Schwachen und Bedürftigen“ dienen. Getragen wird das Netzwerk im Wesentlichen von Organisationen aus dem globalen Süden, die sich vorrangig um „community development“ und Empowerment der Bevölkerung in ihrem Arbeitsumfeld bemühen.[13]

2004 entstand die Zusammenarbeit mit der Internationalen Evangelischen Allianz (World Evangelical Alliance, WEA) und es kam zur Gründung der gemeinsamen internationalen Kampagne Micah Challenge, in Deutschland Micha-Initiative (MI).[14] Die Ziele der gemeinsamen MI orientieren sich an den Millenniumsentwicklungszielen (Millennium Development Goals, MDGs) der Vereinten Nationen. Diese im Jahre 2000 verabschiedeten Ziele drücken den Willen der globa-len Gemeinschaft aus, absolute Armut - in verschiedensten Ausprägungen - bis zum Jahr 2015 zu halbieren.[15] Daran anknüpfend strebt die MI an, das Engagement von Christen und christ-lichen Kirchen gegen Armut und für soziale Gerechtigkeit zu fördern; gleichzeitig ist es Ziel, als politische Lobbykraft die Verwirklichung der MDGs gegenüber Politik und gesellschaftlichen Verantwortungsträgern einzufordern.[16]

Das sozialpolitische Engagement der MI zeichnet sich durch eine starke Solidarisierung mit von wirtschaftlicher Armut und sozialer oder politischer Ausgrenzung betroffenen Menschen aus. Sie verbindet ausgesprochen soziale und antikapitalistische Orientierungen mit einer äußerst engen Bindung an biblische Überlieferungen. Sie versteht sich explizit als christliche Organisation und sieht die christliche Erlösungsbotschaft als zentrales Motiv für das eigene Streben nach sozialer Ge-rechtigkeit und Nächstenliebe an. Zum Ausdruck kommt diese Ausrichtung unter anderem in dem Leitmotiv der Kampagne, das - daher auch der Titel - aus dem Alttestamentlichen Buch Micha stammt: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist, und was der Herr von dir fordert, nämlich nach Gerechtigkeit streben und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott. (Micah 6,8)“ [17]

Neben den beiden Gründungsorganisationen wird die MI weltweit von verschiedenen freikirchlichen Dachverbänden und von christlich-freikirchlichen Organisationen, die in der Ent-wicklungszusammenarbeit tätig sind, getragen.[18] Daneben gibt es bislang rund 40 nationale Kam-pagnen, vor allem im globalen Süden, die sich in ihren Zielen an der weltweiten MI orientieren und eng mit dieser zusammenarbeiten. Prinzipiell stellen sie aber unabhängige Netzwerke dar, die vor allem auf die Initiative nationaler Entwicklungsorganisationen, einzelner Kirchen oder auch nationaler christlicher Dachverbände zurückgehen. In Deutschland gibt es die MI seit 2006. Sie wurde von der Deutschen Evangelischen Allianz initiiert und ist, trotz eigenem Leitungskreis, strukturell eng an diese angegliedert.[19]

Im dieser Arbeit dient die MI als spezifisches Beispiel für christliche Orientierungen im Kontext der Postmoderne. Vor dem Hintergrund von gesellschaftlichem Pluralismus und dem Aufkommen globaler Themen verbindet sie einen christlich-religiösen Wahrheitsanspruch mit einer explizit toleranten und auf gesamtgesellschaftliche Entwicklung ausgerichteten Arbeit. Ihre Entwicklung aus dem teils konservativ-autoritären Umfeld der WEA unter Einfluss von Kirchenvertretern aus dem globalen Süden wird als Teil einer idealtypischen Entwicklung im weltweiten Christentum begriffen, sich vermehrt mit sozialen und politischen Themen auseinanderzusetzen.

1.5 Aufbau der Arbeit

Am Ausgangspunkt dieser Arbeit steht ein historischer Überblick über das Verhältnis von Christentum und Politik (Kapitel 2). Sechs zentrale Epochen des Christentums werden dar-gestellt. Dieser Überblick dient im Wesentlichen der historischen Einordnung der MI als spezifisch neuzeitlicher religiöser Akteur.

Das darauf folgende dritte Kapitel konzentriert sich auf die Diskussion um die Rolle des Religiösen im weltanschaulich neutralen Staat. Diese Diskussion ist die zentrale Basis für die später erfolgende demokratietheoretische Verortung der MI. Daran anknüpfend diskutiert das vierte Kapitel die Faktoren, die für die Ausgestaltung religiöser Weltbilder bestimmend sind, insbesondere bezüglich der Voraussetzungen für die Entwicklung friedlicher religiöser Orientierungen. Das fünfte Kapitel leitet zur Untersuchung der MI über. Hier werden vor allem Problempotentiale und formale Voraussetzungen im Hinblick auf die Kooperation mit religiösen Akteuren in der Entwicklungszusammenarbeit benannt.

Im sechsten Kapitel werden schließlich Kriterien zur gesellschaftspolitischen Bewertung religiöser Akteure in der Entwicklungszusammenarbeit entwickelt. Diese Ausführungen basieren im Wesent-lichen auf der vorherigen drei Kapiteln, also der demokratietheoretischen Verortung von Religionen in der säkularen Öffentlichkeit, den skizzierten Bedingungen für eine soziale religiöse Orientierung und den spezifischen entwicklungspolitischen Anforderungen an religiöse Organisationen.

Das siebte Kapitel dient der näheren Vorstellung der MI vor allem im Hinblick auf ihre religiöse Motivation, ihre grundlegenden Ziele und die praktische Ausprägung ihrer Arbeit. Im achten Kapi-tel werden daraufhin die oben entwickelten Kriterien an die MI angelegt und es erfolgt ihre formale Bewertung im Hinblick auf demokratietheoretische und entwicklungspolitische Anforderungen.

In den drei abschließenden Kapiteln werden zuerst die Untersuchung der MI zusammengefasst (Kapitel 9), dann ihre zeitgeschichtliche Einordnung als neuzeitlich-postmoderne Form des Christentums diskutiert (Kapitel 10) sowie abschließend die Ergebnisse dieser Arbeit für das Verhältnis von Religion und Politik, sowie daran anknüpfende Fragen dargestellt. (Kapitel 11).

Im Folgenden ist häufiger von christlichen Werten oder von positiven sozialmoralischen Einflüssen des Christentums die Rede. Damit soll allerdings kein religiöser Ausschließlichkeitsanspruch vertreten werden. Vielmehr vertritt der Autor die Position, dass positive und negative Bedeutungsgehalte in allen religiösen Orientierungen enthalten sein können und ihre Ausprägung insbesondere von individuellen und soziokulturellen Faktoren abhängt.

Zur Untersuchung der MI wurden unter anderem zwei Interviews durchgeführt, zum einen mit dem deutschen Projektkoordinator der Initiative, Daniel Rempe; zum anderen mit Ralf Birkner, Pressereferent der Millenniumkampagne, die mit der MI zusammenarbeitet. Die Interviews finden sie im Anhang. Sie sind mit Zeilenangaben versehene; ebenso die zentralen Texte der MI, die im folgenden analysiert werden. Verweise in den Fußnoten mit kleinen römischen Ziffern bezeichnen die Seitenangaben im Anhang; arabische Ziffern dahinter die jeweilige Zeile.

Aus Gründen der Lesbarkeit werden im Folgenden nach Möglichkeit geschlechtsneutrale Begriffe gewählte, beziehungsweise, wenn dies nicht möglich ist, dann die männliche Form. Gemeint sind jedoch in allen Fäl­len sowohl Frauen als auch Männer.

A. Das Verhältnis von Politik und Religion am Beispiel des Christentums

2 Historisch-Epochale Paradigmen im Verhältnis von Christentum und Politik - Von der Alternativkultur zur freundschaftlichen Kooperation

Im Folgenden sollen historische Wechselwirkungen zwischen Christentum und Politik, dargestellt werden. Ich verfolge dabei eine kirchengeschichtliche Einteilung, die ausgehend von einem Ansatz Hans Küngs, sechs idealtypische Epochen der Kirchengeschichte unterscheidet. Für diese einzelnen Epochen wird im Anschluss an die Wissenschaftstheorie Thomas Kuhns der Begriff des Paradigmas gewählt. Der Paradigmabegriff geht davon aus, dass für eine einzelne Epoche eine „ganze Konstellation von Überzeugungen, Werten und Verfahrensweisen“ entscheidend ist,[20] das heißt also für das Thema dieser Arbeit eine Konstellation von politischen Wertorientierungen, Sichtweisen auf das Verhältnis von Christentum und Politik und Strukturgefügen im Wechselspiel zwischen beiden Bereichen. Für seine Übertragung in den kirchengeschichtlichen Kontext ist entscheidend, dass es sich bei den einzelnen Paradigmen nicht um abgeschlossene Epochen handelt, sondern vielmehr um Orientierungen die zum Teil auch parallel zueinander bestehen und als kleine Bewegung innerhalb vorherrschender Paradigmen existierten.[21]

Ich orientiere mich zwar an der geschichtlichen Einteilung Küngs, nutze aber vorrangig eigene Quellen und verfolge einen eigenen Zugang zum Thema, der sich durch die hier verfolgte Frage nach dem Verhältnis von Christentum und Politik ergibt.

So werden unter anderem die eingangs dargestellten idealtypischen Beziehungsmuster zwischen Politik und Religion den einzelnen Paradigmen zugeordnet. Das zuletzt dargestellte Paradigma, das neuzeitlich-postmoderne, wird Grundlage für die zeitgeschichtliche Einordnung der Micha-Initiative (MI) sein. Dem neuzeitlichen Paradigma entspricht die freundschaftliche Trennung zwischen Politik und Religion. Die MI stellt ein explizites Beispiel für ein Christentum unter diesen neuzeitlichen Bedingungen dar, gekennzeichnet durch einerseits religiösen Wahrheitsanspruch, andererseits aber ausgesprochen sozialliberale und tolerante Orientierungen. Neben der Einordnung der MI dient der historische Überblick der späteren Analyse von soziokulturellen Faktoren, die die Ausbildung religiöser Orientierungen bestimmen.

2.1 Urchristlich-Apokalyptisches Paradigma

Das Christentum verstand sich bis zu seiner gesellschaftlichen Etablierung im 3. Jahrhundert in erster Linie als Alternativgemeinschaft. Geprägt von einer apokalyptischen Weltsicht fand ein Rückzug aus den antiken Gesellschaftsverbänden statt. Endzeitliche Bedingungen vorwegnehmend zeichnete die frühchristliche Parallelgesellschaft eine weitgehend herrschaftsfreie und egalitäre Binnenstruktur aus.[22] Die Vorrangstellung des Gebotes der Nächstenliebe und das prinzipiell universalistische Gottesbild führten zu einem Ausbruch aus dem Ethnozentrismus und gesetzesethischem Monismus des zeithistorischen Judentums; wenngleich man sich zunächst als jüdische Bewegung verstand.[23]

Das Verhältnis zum römischen Recht und seinen Machtstrukturen gestaltete sich in ähnlicher Weise ambivalent. Einerseits widersprachen die christlichen Glaubensinhalte dem totalitären und quasi-religiösen Machtanspruch des römischen Kaisers. Auf Grund der apokalyptischen Weltsicht sowie ihres unaufgebbaren Monotheismus' fügten sich die frühen Christen zunächst nicht in die politisch-kulturelle Einheitswelt der römischen Antike. Sie übernahmen keine offiziellen Ämter und verweigerten sich öffentlichen heidnisch-politischen Ritualen. Zum Teil äußerten sie sich vehement kritisch gegenüber dem römischen Reich.[24] Ihre grundsätzlich antipolitische, aber unter den gegebenen totalitären Strukturen hochpolitische Einstellung trug zu ihrer eigenen gesellschaftlichen Ausgrenzung und Verfolgung bei.[25]

Andererseits ordneten sich die ersten Christen vorbehaltlos den römischen Gesetzen unter – sofern sie nicht wesentlichen Glaubensinhalten widersprachen - und wurden von ihren Leitern angewiesen, sich um das Wohl des Gemeinwesens zu sorgen. Darüber hinaus überschritten ihre sozialen Ideale die Grenzen der eigenen Gemeinde, so dass Christen in umfangreichem Maße soziale Arbeit leisteten und ihr Engagement für Kranke und Arme auch öffentliche Wertschätzung fand. Zum Teil setzten sie sich bei günstigen Gelegenheiten auch auf öffentlicher Ebene für eine Verbesserung der Situation marginalisierter Bevölkerungsgruppen ein.[26]

Gesellschaftspolitisches Protestpotential steckte insbesondere in den egalitären sozialen Idealen des Frühchristentums. Teil ihres Weltbildes und ihrer Gemeindestrukturen waren die gesellschaftliche Gleichberechtigung unterschiedlicher Volksgruppen, ein immenser - wenngleich immer noch beschränkter - Fortschritt in der Emanzipation von Frauen sowie eine gewisse Infragestellung von Sklaverei und Knechtschaft. Allerdings blieben diese Veränderungen auf das Gemeindeleben beschränkt und wurden nicht auf den gesellschaftlichen Bereich übertragen. Politische Strukturen wurden prinzipiell als unveränderbar angesehen - gerade auf Grund der Konfrontation mit einer einheitlichen und totalitären Staatsform. So konnte sich die gesellschaftspolitische Sprengkraft der christlichen Glaubensinhalte nicht voll entfalten, sondern blieb in ihrer Auswirkung auf den Vorbildcharakter und das soziale Wirken der christlichen Gemeinden an der gesellschaftlichen Basis beschränkt.[27]

2.2 Altkirchlich-Hellenistisches und orthodoxes Paradigma

Mit der gesellschaftlichen Ausbreitung des Christentums ging eine Verbürgerlichung der ursprünglich radikalen christlichen Ethik einher.[28] Gleichzeitig integrierte sich das Christentum mehr und mehr in die Strukturen des römischen Reiches, so dass es in der Folge zu einem wechselseitigen Prozess der Angleichung kam, also einer Christianisierung des römischen Reiches bei gleichzeitiger Hellenisierung des Christentums.[29]

Es entstanden vielfältige Überschneidunge zwischen Theologie und Philosophie sowie zwischen Kirche, Kultur und gesellschaftlichen Strukturen. Christen wurden zunehmend in der Verwaltung des römischen Reiches aktiv; eine eigene Kirchenhierarchie entwickelte sich parallel zu der des weltlichen Gesellschaftsverbandes. Schließlich wurde die christliche Kirche selbst in die Reichsverwaltung eingebunden. In der christlichen Theologie verlor das römische Reich entsprechend seinen ehemals antichristlichen Charakter und wurde, - spätestens mit der öffentlichen Einsetzung des Christentums als Staatsreligion im Jahr 380, - zu einer Bewahrerin und Verteidigerin der Christenheit.[30]

Vor allem kam es aber zu einer Übernahme der antiken Vorstellung eines einheitlichen Gesellschaftsverbandes. Im Sinne dieses Ideals wurden weltliche und geistliche Herrschaft aufeinander bezogen, jeweils betraut mit unterschiedlichen Ämtern im Dienst an dem ganzheitlich verstandenen Corpus Christianum.[31]

Damit war der Grundstein für den das ganze Mittelalter andauernden Streit zwischen Kaiser und Papst gelegt.[32] In der Alten Kirche und bis heute in den orthodoxen Kirchen wurde, beziehungsweise wird der christliche Auftrag auf das Seelenheil der Gläubigen beschränkt. Weltliche Macht wird weitgehend abgelehnt und eine politische Betätigung der Kirche ausgeschlossen. Ideell ist sie demweltlichen Partner übergeordnet, im Rahmen des innerweltlichen Herrschaftsgefüges aber von dessen Macht abhängig. Sie sieht sich zwar als moralische und spirituelle Basis der Gesellschaft, beschränkt sich jedoch in ihrem Engagement auf die Formulierung ethisch-moralischer Anforderungen.[33] Das altkirchlich-orthodoxe Paradigma stellt somit den Idealtypus der politisierten Religion im Sinne ihres politischen Gebrauchs zur Stabilisierung gesellschaftlicher Strukturen.

Das ganzheitliche Weltbild bringt die Annahme einer gottgewollten Einheit zwischen Religion, Herrschaft und Volk mit sich. Damit verbunden ist eine Betonung patriarchaler und antiliberaler Werte, die in den Orthodoxen Kirchen nach wie vor zu einer Ablehnung moderner Freiheitsrechte führen. Insbesondere werden die Aufwertung des Individuums gegenüber der Einheit von Volk und Kirche und die Auflösung des sozialmoralischen Einflusses der Kirche auf die politische Rechtssetzung kritisiert.[34] Die orthodoxen Kirchen kennen eine starke Betonung geschwisterlicher Solidarität und sozialer Hilfe an der gesellschaftlichen Basis, sozialpolitisches Engagement ist in ihnen aber eher schwach ausgeprägt. Dennoch hat es aus ihren Reihen durchaus Widerstand gegen die kommunistischen Systeme gegeben. In neuester Zeit entstehen zudem erste ausdifferenzierte Ansätze zur Entwicklung einer Synthese zwischen Orthodoxie und Aufklärung.[35]

2.3 Römisch-Katholisches Paradigma

Spiegelbildlich zum ostkirchlich-orthodoxen Paradigma entwickelte sich das Paradigma der römisch-katholischen Kirche. Obgleich ebenfalls durch ein ganzheitliches Weltbild und die gegenseitige Zuordnung von weltlicher und geistlicher Herrschaft bestimmt, lässt sich das katholische Paradigma auf einen theokratischen Idealtypus zuspitzen. Historischer Höhepunkt dieser Ausformung ist der Investiturstreit und die von Papst Gregor VII. gegenüber Heinrich IV. in Anspruch genommene Suprematie dar.

Wenngleich dieser Anspruch so nicht in allen Epochen ausformuliert wurde und das katholische Papsttum häufig von weltlichen Herrschern abhängig war, tauchte doch die römisch-mittelalterliche Weltsicht alle Belange „in die Farben der Theologie“.[36] Die irdische Herrschaft spielte sich unter den Bedingungen einer christlichen Kosmosordnung ab, so dass das mittelalterliche Kaisertum nicht selbstständig regieren konnte, sondern von der offiziellen Weihe durch die Kirche abhängig war.[37]

Neben dem ganzheitlichen Weltbild liegt ein Hauptgrund für die Entwicklung des katholischen Paradigmas in der zunehmenden Übernahme weltlicher Ämter durch die weströmische Kirche.[38] Insbesondere in Folge des Zusammenbruchs des römischen Reiches entwickelte die Kirche eine staatstragende Funktion in der öffentlichen Verwaltung und weitete gleichzeitig damit den eigenen Machtanspruch aus.[39] Darüber hinaus entwickelte sich eine zunehmend hierarchische Kirchenbürokratie - im Gegensatz zu der presbyterianisch verfassten Ostkirche.[40] Unter den Bedingungen eines wachsenden weltlichen Einflusses brauchte der innerkirchliche Machtanspruch des Papstes nur politisch gewendet zu werden, um sich in einen gesellschaftlichen Absolutheitsanspruch zu verwandeln.[41]

In der Neuzeit fand der mit dem römisch-katholischen Paradigma verbundene Machtanspruch Fortsetzung in der lange währenden Abwehr gegenüber modernen Freiheitsrechten im römischen Katholizismus. Auch die katholische Soziallehre übernimmt das Bild eines einheitlichen Sozialverbandes, in den das Individuum organisch eingegliedert ist. Erst seit dem 19., insbesondere aber erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts vollzieht sich ein Wandel in der katholischen Ethik von konservativen Normen hin zu demokratischen und menschenrechtlichen Prinzipien.[42]

2.4 Reformatorisch-Protestantische Paradigma

Gemeinsames Kennzeichen der reformatorischen Bewegungen ist eine subjektkonzentrierte Form des Glaubens bei gleichzeitig relativ hierarchiefreien Kirchenstrukturen. Die Bedeutung des persönlichen Glaubens wurde gegenüber der hierarchischen Heilsvermittlung der römisch-katholischen Kirche, das Priesterrecht aller Gläubigen gegenüber dem Machtanspruch des Papstes hervorgehoben. Die Zielrichtung war die Rückkehr zur eigentlichen christlichen Botschaft.[43] Die idealtypische Ausprägung des reformatorischen Paradigmas stellt eine christlich geprägte Zivilreligion dar.[44]

In ihren unterschiedlichen Formen brachte die Reformation eine Auflösung des ganzheitlichen antiken Weltbildes mit sich. Der Bereich staatlicher Macht wurde von der religiösen Sphäre freigesetzt und die protestantischen Reformatoren lösten sich von dem katholischen Anspruch auf religiöse Kontrolle der Politik. Dennoch blieb die ideelle Vorstellung eines kulturell-moralisch einheitlichen Gesellschaftsverbandes weiter bestehen. Idealbild war nicht mehr wie im Katholizismus die Errichtung religiös legitimierter Ordnungsstrukturen oder gar eines innerweltlichen Gottesreichs, sondern die christlich-moralische Fundierung des gesellschaftlichen Lebens.[45]

Die Haltung der reformatorischen Kirchen gegenüber der Politik lässt sich insbesondere durch die lutherische Zwei-Reiche-Lehre charakterisieren. Weltliches und geistliches Heil werden klar unterschieden. Dennoch hat das Weltliche einen von Gott gewollten Selbstzweck: die Stiftung von Frieden und Gerechtigkeit. Davon ausgehend ist auch der Christ aufgerufen, seinen Beitrag innerhalb dieser Ordnung zu leisten. Allerdings ist dies nicht mit dem Anspruch verbunden, das Reich Gottes in der Welt zu realisieren, sondern als eine Folge aus dem christlichen Gebot der Nächstenliebe und der von Gott geschenkten Freiheit zum moralisch guten Handeln zu verstehen.[46] Bis heute bezieht sich die protestantische Ethik auf diese Quellen. Insbesondere der Gedanke der Verantwortungsethik weist auf die Freiheit des Gläubigen vor Gott hin, stehend in einer Spannung zwischen absoluten christlichen Werten und konkreten, häufig ethisch unklaren Situationen.[47]

2.5 Modernes Paradigma

Die christliche Kirche unter dem Einfluss des modernen Paradigmas ist vor allem durch zwei konträre Entwicklungen gekennzeichnet: Erstens durch eine Akzeptanz der politischen und kulturellen Prämissen der Moderne. Diese Entwicklung beinhaltet die Übertragung des aufgeklärten Vernunftbegriffs auf die Theologie im Sinne einer rationalen Infragestellung christlicher Mythologie. Zum anderen galt es, sich mit dem neuzeitlichen Prinzip der Trennung von Staat und Religion zu arrangieren. Die Kirche zog sich von der öffentlichen Bühne zurück und beschränkte sich auf soziales und moralisches Engagement. Fluchtpunk des modernen Paradigmas ist die laizistische Trennung von Kirche und Staat, die Gestaltung des Öffentlichen nach rationalen Prinzipien, während das Religiöse auf den privaten Bereich verwiesen wird.[48] Beim christlichen Fundamentalismus, der zweiten spezifisch modernen Formung des Christentums, handelt es sich um eine eigene Form der politisierten Religion, mit deutlichen Parallelen zu den modernen politischen Religionen. Der hier anschließende Exkurs zum Fundamentalismusbegriff stellt für den weiteren Gang der Arbeit eine Grundlage für die Differenzierung zwischen autoritär-dogmatischen Frömmigkeitsformen gegenüber freiheitlichen religiösen Orientierungen.

2.6 Exkurs zum Fundamentalismus:

Der christliche Fundamentalismus entwickelte sich Anfang des 20. Jahrhunderts aus den evangelikalen Erweckungsbewegungen. Er bedeutete vor allem eine Abgrenzung von liberalen Frömmigkeitsstilen und eine Gegenbewegung zur wissenschaftlichen Infragestellung des biblisch-en Weltbildes.[49] Grundsätzliche Basis fundamentalistischer Anschauungen ist die existenzielle Ver-unsicherung eines traditionellen Kulturmilieus durch den gesellschaftlichen Pluralismus und den Bedeutungsverlust des Religiösen im Kontext der kulturellen Moderne. Darüber hinaus können enttäuschte Aufstiegs- und Statuserwartungen Anlass für den fundamentalistischen Rückgriff auf religiöse Traditionen sein. Aufgrund fehlender persönlicher Ressourcen, um diese Situationen so-zialer Anomie und relativer Deprivation zu verarbeiten, entwickelt sich das charakteristische fundamentalistische Orientierungsmuster. Es besteht im Wesentlichen aus der Kombination von Wahrheits- und Absolutheitsanspruch, wurzelnd in dem Versuch existenzielles Orientierungs- und Handlungswissen zurück zu gewinnen und gleichzeitig gesellschaftlichen Einfluss und Status zu legitimieren.[50]

Mit diesem bei gleichzeitigem Einfluss der rationalen Denkprinzipien der Moderne werden traditionelle Glaubensinhalte in ein System aus unhinterfragbaren Normen und Dogmen verwissenschaftlicht; insbesondere wird das urgemeindliche Vorbild idealisiert und als strikt zu befolgendes Lebensmodell entkontextualisiert in die Gegenwart übertragen.[51] Im eigentlichen Sinn bedeutet die fundamentalistische Orientierung dennoch kein b ack to the roots und sie entspricht auch nicht einer Traditionen bewahrenden konservativen Einstellung. Vielmehr stellt sie eine spezifische Neuschöpfung von Religiosität dar. Die Auslegung der religiösen Texte und der religiösen Traditionen ist höchst selektiv und interessengebunden. Das ideologische Denksystem betont vor allem dogmatische und autoritäre Elemente; die eher weichen Elemente, Aufforderungen zur Nächstenliebe und Toleranz beispielsweise, fallen dahinter zurück.[52]

Die fundamentalistische Ideologie strebt letztlich eine direkte Umsetzung der religiösen Vorstellungen und Normen in den gesellschaftlichen Strukturen an und durchbricht somit die Grenze zwischen Politik und Religion. Der Untermauerung dieses Herrschaftsanspruches dienen vor allem (a) die Berufung auf patriarchale und autoritäre Traditionen, (b) die Fixierung der Theologie auf manichäistische Sichtweisen und klare Freund-Feind-Bilder und (c) die Aufladung der Konfrontation mit der Umwelt mittels messianisch-apokalyptischer Begrifflichkeiten.[53]

Wesentlich für die fundamentalistische Verwissenschaftlichung religiöser Traditionen sind genuin moderne Denkprinzipien. Hierzu zu zählen vor allem die Entwicklung eines geschlossenen Denksystems nach rationalen Normen und die Idee einer umfassenden Gestaltungsmöglichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse. Auch die technischen Errungenschaften der Moderne werden vorbehaltlos zur Verwirklichung der eigenen Ziele genutzt.[54]

Fundamentalistische Vergesellschaftung ist durch eine hermetische Abgrenzung von der übrigen Gesellschaft gekennzeichnet und fühlt sich zugleich durch diese existenziell in Frage gestellt. Sie mündet insbesondere in: (a) den totalen sozialen Rückzug und die Etablierung einer Gegenkultur, (b) das missionarische Bemühen, kleine Inseln der eigenen Lebenskultur entstehen zu lassen, (c) den Versuch, transformierend und reformierend auf die Umwelt einzuwirken und schließlich (d) das aggressive Bestreben zur Eroberung und Beherrschung der Umwelt.[55] Wenngleich religiöse Absolutheitsansprüche nicht explizit ausformuliert sind, können sie dennoch latent vorhanden sein und möglicherweise erst unter geeigneten politischen Bedingungen zum Tragen kommen. Vor allem eine verstärkte Infragestellung durch die Umwelt kann zu einer Radikalisierung religiöser Ansichten führen. Aber auch ein wachsendes gesellschaftliches Ansehen kann zu einer zunehmenden Ausformulierung des eigenen Herrschaftsanspruches führen. Von kaum zu unterschätzender Bedeutung sind gleichzeitig die Interessen der religiösen Führungspersonen.[56]

Einige der hier skizzierten Ansichten sind ansatzweise in vielen religiösen Orientierungen vorhanden, ohne dass von Fundamentalismen zu reden ist. Entscheidend für den Fundamentalismusbegriff ist vor allem die Ausformulierung eines gesellschaftlichen Absolutheitsanspruchs auf Grund eines religiös-ideologischen Glaubenssystems. Hingegen treten in den meisten Religionen beispielsweise manichäistische Elemente hinter tolerante und dialogische Orientierungen zurück. Im Fundamentalismus stehen sie aber im Vordergrund und bestimmen Selbstkonzept und gesellschaftliches Verhalten.[57]

Die Einstellungsmerkmale fundamentalistischer Anschauungen sind das idealtypische Gegenbild zu freiheitlichen religiösen Orientierungen. Für die folgenden Ausführungen stellen sie deshalb einen theoretischen Hintergrund zur Bewertung religiöser Weltanschauungen dar. Sie lassen sich charakterisieren durch die Suche nach existenzieller Gewissheit und den Versuch, gesellschaftliche Absolutheitsansprüche zu rechtfertigen. Im Einzelnen sind sie geprägt durch: (a) die wortwörtliche Schriftinterpretation, (b) den Rekurs auf urgemeindliche Prinzipien, (c) den autoritären Herrschaftsanspruch an Hand patriarchaler Normen, (d) die manichäistische Gegenüberstellung von Gut und Böse, Freund und Feind sowie (e) die heilsgeschichtliche Aufladung der Gegenwart.

2.7 Neuzeitlich-postmodernes Paradigma

Das Christentum der Postmoderne ist bezüglich der Frage nach dem Verhältnis zur Politik vor allem durch vier Bedingungen geprägt: (a) ein zunehmender innerer Pluralismus, (b) eine Schwerpunktverlagerung in den globalen Süden und damit zusammenhängende Verschiebungen in Theologie und Weltsicht, (c) eine gesamtgesellschaftlich wachsende Bedeutung weltweiter sozialer Fragen sowie (d) ein gesamtgesellschaftlicher Pluralismus und die damit einhergehenden Notwendigkeit zu gesellschaftlicher Toleranz und interreligiösem Dialog. Unter Einfluss dieser Faktoren kann sich idealtypisch ein Christentum herausbilden, das religiöse Wahrheitsansprüche mit einer ökumenischen Grundorientierung, der Bereitschaft zu interreligiöser Zusammenarbeit und einem allgemeingesellschaftlichem Engagement verbindet. Bezüglich der institutionellen Ebene ist die freundschaftliche Trennung zwischen Politik und Religion Idealtypus dieses Paradigmas.[58]

Allerdings wird an dieser Stelle auch ein wesentlicher Schwachpunkt der hier verfolgten Epocheneinteilung deutlich. Sie neigt zu der Annahme eines linearen Geschichtsverlaufs sowie zur Konstruktion geschichtlich übergreifender Zusammenhänge und marginalisiert gleichzeitig gegenläufige Entwicklungen.

Die Entwicklung eines sozialliberal orientierten Christentums unter Einfluss der obigen Bedingungen stellt grundsätzlich nur eine Möglichkeit unter vielen anderen dar. Kulturelle und politische Offenheit bedingten gesellschaftlichen und innerkirchlichen Pluralismus. Jedoch erfolgt der Übergang von der Vielfältigkeit zur Toleranz und schließlich zur gesellschaftlichen Solidarität nicht zwangsläufig. Die Herausforderung sozialer Vielfalt kann auch zu starren Abgrenzungen, der Entwicklung von Gleichgültigkeit oder sogar gewalttätigen Formen kollektiven Hochmuts führen.[59] Zwar wird einerseits das innerkirchliche Bedeutungswachstum des globalen Südens als Faktor angeführt, der zu einer zunehmenden Thematisierung weltweiter sozialer Fragestellungen innerhalb der Kirchen führt. Andererseits ist gerade das Christentum im globalen Süden von einer ungeheuer großen Vielseitigkeit geprägt und spielen hier insbesondere dogmatisch-autoritäre Formen des Glaubens eine wichtige Rolle.[60] Darüber hinaus können soziale oder ökologische Probleme auch zu politischen Krisen und Auseinandersetzung führen; eine gemeinschaftliche und partnerschaftliche Orientierung zu deren Lösung ist, wie bereits gesagt, nicht zwangsläufig.

Faktoren, die gleichwohl für eine solche Entwicklung sprechen sind die grundsätzlich universale Perspektive des Christentums, die christliche Tradition eines Engagements für sozial Marginalisierte sowie die Möglichkeit, freiheitliche und solidarische Werte aus den biblischen Überlieferungen abzuleiten. Trotz zum Teil abweichender historischer Ausprägungen des Christentums bestehen diese Traditionslinien und ideellen Bedeutungsgehalte fort und stellen eine Ressource für sozialliberale Formen des Glaubens.[61] Gleichzeitig lässt sich durchaus ein Einfluss sozialer Problemlagen auf die innere Ausrichtung christlicher Kirchen wahrnehmen. Insbesondere wandelt sich ansatzweise der US-Amerikanische Evangelikalismus von der Betonung konservativer moralischer Werte hin zu einem zunehmenden Engagement für Fragen der Sozialen Gerechtigkeit.[62] Und auch die These von einem innerkirchlichen Einfluss der Südkirchen auf eine Thematisierung dieser Fragen entbehrt nicht empirischen Gehalts.[63] Grundsätzlich bedingt schon allein die globale Vernetzung der Kirchen einen veränderten Informationsfluss und eine größere Nähe gegenüber weltweiten sozialen Problematiken.[64]

Auch lässt sich gesamtgesellschaftlich ein wachsendes Interesse für Fragen nachhaltiger Entwicklung verzeichnen. Versteht man Kirche als einen rationalen Akteur, der auf die Nachfrage potentieller Kundschaft reagieren muss, dann lastet auf ihr ein Anforderungsdruck, eigene christliche Antworten auf das Spannungsfeld zwischen weltweiter wirtschaftlicher Entwicklung, Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen und der Suche nach humanen Formen des Wirtschaftens und Zusammenlebens zu finden. Dies ist vor allem deshalb der Fall, weil religiöse Akteure für ihr Umfeld attraktiver werden, wenn sie sich nicht in eine Parallelgesellschaft abkapseln, sondern eigene alternative Antworten auf gesellschaftliche Fragen entwickeln.[65]

Zuletzt spielen Faith-Based Organisations, um den international gebräuchlichen Ausdruck zu verwenden, eine wachsende Rolle für die internationale Entwicklungszusammenarbeit. Gerade von internationalen politischen Akteuren wird bewusst versucht, die moralischen und organisatorischen Potentiale religiöser Organisationen für gesellschaftliche Entwicklungsprozesse nutzbar zu machen.[66] Grundlage für eine solche Einbindung ist ein verstärktes Nachdenken über sozialpolitische Fragen in den beteiligten Kirchen und Religionsgemeinschaften.[67]

Zugespitzt würde sich eine christliche Orientierung nach dem hier dargestellten Paradigma um weltweite gesellschaftliche Entwicklung bemühen sowie, gerade auch in der Kooperation mit anderen Weltanschauungen, um eine kulturübergreifende Fundierung sozialliberaler Werte. Der eigene religiöse Wahrheitsanspruch müsste dazu nicht in falscher Toleranz aufgegeben werden, aber hinter übergreifenden gesellschaftlichen Interessen zurückstehen.[68]

Wie hier dargestellt, ist die Entwicklung einer solchen Form des Christentums zur weltweit prägenden Variante nicht zwangsläufig. Dem entgegenstehen unter anderem die Bedeutung partikularer Interessen, politische Instrumentalisierungsversuche und dogmatisch-autoritäre Formen des Christentums selbst. Neben dem Fortbestand der übrigen Paradigmen und weiterer Mischformen zwischen Politik und Christentum wird allerdings auf Grund der geschilderten Faktoren auch die hier skizzierte idealtypische Ausprägung eine weltweite Rolle spielen.

In welchem Maße wird dies der Fall sein? Das ist freilich eine Frage, die unbeantwortet von der Kontingenz der Zukunft an diejenigen, die sie stellen, zurückhallt.

Die bisherigen Ausführungen haben unterschiedlichste historische Ausprägungen des Christentums dargestellt. Der Schwerpunkt lag dabei auf den sozialpolitischen Orientierungen christlicher Akteure und ihrer Verhältnisbestimmung zwischen Christentum und Politik. In den folgenden Ausführungen werden die dargestellten soziokulturellen Umstände wieder aufgegriffen, um Faktoren zu analysieren, die die Ausgestaltung religiöser Weltbilder bestimmen.

Das letzte hier dargestellte Paradigma, das neuzeitlich-postmodere und sein Grundgedanken der freundschaftlichen Trennung zwischen Religion und Politik dient im Folgenden als zeithistorischer Rahmen zur Verortung der Micha-Initiative. Sie stellt ein Beispiel für das hier skizzierte sozialpolitisch aktiven Christentum dar. Insbesondere da ihr religiöser Wahrheitsanspruch hinter allgemeingesellschaftliche Interessen und eine tolerante Grundeinstellung zurücktritt, sie sich auf globaler Ebene für eine Überwindung von Armut einsetzt und vor allem in Kirchen des globalen Südens verankert ist.

Grundlage für die im zweiten Teil dieser Arbeit folgende Untersuchung der theologischen Grundlage und sozialpolitischen Ausrichtung der MI sind die folgenden drei Kapitel. Zunächst wird die Rolle des Religiösen im Säkularen Staat diskutiert, dann die Faktoren die friedliche religiöse Orientierungen fördern und abschließend die Voraussetzungen für die Einbindung religiöser Akteure in die Entwicklungszusammenarbeit.

3 Religion und weltanschauliche Neutralität - Die freundschaftliche Trennung von Politik und Religion und die Rolle religiöser Akteure

Für den neuzeitlichen Staat gibt es kein zurück mehr hinter die institutionelle Trennung von Politik und Religion. Seine Aufgabe sieht er vorrangig in der Sicherung eines friedlichen und freiheitlichen Zusammenlebens.[69]

Ausgehend von dem Grundgedanken der weltanschaulichen Freiheit soll zunächst die Frage diskutiert werden, wie der säkulare Staat den für seinen Bestand notwendigen gesellschaftlichen Zusammenhalt sichern kann. Dieser Punkt leitet zu der in diesem Kapitel zentralen Frage hin. Und zwar soll die Rolle des Religiösen in der säkularen Politik diskutiert werden, insbesondere im Hinblick auf die gesellschaftliche Verortung religiöser Akteure unter den Bedingungen einer freundschaftlichen Trennung von Religion und Politik.

Abschließend befasst sich dieses Kapitel mit der Selbstsicht der christlichen Kirchen in dieser Konstellation. Welche Aufgaben, welchen Stellenwert rechnen sich diese Kirchen zu, sofern sie denn die Bedingungen der neuzeitlichen Trennung zwischen Politik und Religion anerkennen oder sogar aus ihrer religiösen Quellen ableiten?

3.1 Voraussetzungen staatsbürgerlicher Solidarität und der Einfluss religiöser Orientierungen

Man kann wohl mit Recht davon ausgehen, dass das Böckenförde-Paradoxon in die Geschichte des modernen Staatsphilosophischen Denkens eingegangen ist[70]: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“[71] So also das Paradoxon. Demnach benötige der Staat ein „eine homogenitätsverbürgende Kraft“ und eine Quelle von Solidarität, die seinen Bestand gewährleistet.

„Wieweit können staatlich geeinte Völker allein aus der Gewährleistung der Freiheit des Einzelnen leben ohne ein einigendes Band, das dieser Freiheit vorausgeht?“[72] Diese Frage stellt Böckenförde gerade vor dem Hintergrund des neuzeitlichen Menschenrechtsgedankens, der im Wesentlichen auf die Autonomie und das Eigeninteresse des Individuums ziele. Auch rationale Erwägungen können aus seiner Sicht den Bestand des Staates nicht garantieren; gerade dann, wenn bürgerliche Glücksversprechen durch soziale oder wirtschaftliche Krisen in Frage gestellt werden. Der Staat selbst könne jedoch nicht moralisch tätig werden, ohne die Idee der Freiheit aufzugeben.[73]

Zum Teil wird der Ansatz Böckenfördes kritisiert, da er eine kulturelle Einseitigkeit enthalte. Er stelle insbesondere das Christentum als Quelle staatsbürgerlicher Solidarität dar und neige - ähnlich wie die Kampf-der-Kulturen These Huntingtons - zu einer Identifizierung von christlicher Kultur und modernen Menschenrechten.[74] Ohne Fragen können aber die verschiedensten religiösen Traditionen zu Legitimierung humaner Werte herangezogen werden. Empirisch und historisch gibt es zwar eine enge Verbindung zwischen dem christlich-westlichen Kulturraum und der demokratischen Verfasstheit von Staaten - als Faktoren werden hierfür historische Wechselwirkungen im Verhältnis von Kirche und Staat sowie die Rolle antiker Philosophiebestände, aber insbesondere auch von christlichen Wertvorstellungen angeführt.[75] Allerdings sind ähnliche Wertekerne, die Idee der Menschenwürde beispielsweise, in den meisten religiösen Vorstellungen enthalten. Somit ist für die Ebene der praktischen Politik eher nach spezifischen historischen Ausprägung einer bestimmten Religion und deren Vereinbarkeit mit Demokratie und Menschenrechten zu fragen, weniger nach einem abstrakten religiösen Bedeutungsgehalt.[76]

Auch Böckernförde vertritt aktuell diese Position. Aus seiner Sicht sollten zwar gerade auch Christen den freiheitlichen Staat aus theologischen Gründen für gut heißen. Gerade die Bekenntnisfreiheit des Staates verlange seine Offenheit für jegliche Weltanschauung und schließe aus, dass eine Religion gegenüber einer anderen aufgewertet wird. Auch die Verpflichtung zu einem zivilreligiösen Wertebekenntnis oder einer bestimmten Leitkultur schließt sich für Böckenförde damit aus.[77]

Daran anschließend verweist ein politiktheoretischer Kritikpunkt an Böckenfördes Paradoxon auf die Fähigkeit der modernen Demokratie, sich aus sich selbst heraus zu reproduzieren. Einer metaphysischen Wertefundierung bedarf es demzufolge nicht.[78] Auch wenn religiöse Orientierungen einen historischen Einfluss ausgeübt haben, sei die moderne Demokratie, einmal auf den Weg gebracht, nicht mehr auf diese angewiesen und erhalte sich aus sich selbst heraus. Selbst zweckrationale Überlegungen könnten ihren Bestand sichern.[79] Insbesondere durch die Attraktivität ihrer Werte und der Funktionalität ihrer Organisationsformen bewirke die Demokratie selbst ihre Verankerung in der Gesellschaft.[80] Letztlich entlasse sie nicht nur ihre Bürger in die politische Freiheit, sondern wurzelt gerade auf dieser. Auf Grund der existenziellen gegenseitigen Bezogenheit der Menschen sind Demokratie und Politik als Selbstzweck zu verstehen; die positive Erfahrung politischer Freiheit in einmal etablierten demokratischen Systeme reproduziere letztlich den für sie notwendigen Bestand an staatsbürgerlicher Moral und Solidarität.[81]

Wie sind dies Argumente aus zu bewerten? Grundsätzlich richtig ist, dass staatliche Gemeinschaft einen Minimalkonsens, einen Bestand an gemeinschaftlichen und solidarischen Werten benötigt.[82] Die Entstehung und Reproduktion dieser Orientierungen ist allerdings auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen anzusiedeln. Wie zu sehen ist können auch hier Religionen mit ihrem Wertebestand und religiöse Akteure, insofern sie eine freiheitliche Orientierung vertreten, einen positiven Einfluss ausüben.

In grundlegender Weise steht die Entwicklung individueller Wertorientierungen unter Einfluss von Erziehungs- und Sozialisationserfahrungen. Idealerweise vermitteln schon frühkindliche positive Formen des sozialen Miteinanders Ideale der Gemeinschaft und der gegenseitigen Verantwortung. Das Erleben von Werten führt demnach zu ihrer Reproduktion. Darüber hinaus wird die Entwicklung ethischer Orientierungen durch die persönliche Bildung und Reflektionsfähigkeit mitbestimmt und steht nicht zuletzt unter Einfluss der allgemeinen gesellschaftlichen Kultur und Struktur.[83] Wesentlich ist auch hier wiederum das Vorleben und Erleben von mitmenschlichen Werten und dialogischen Kooperationsformen auf den verschiedensten sozialen Ebenen. Eine besondere Bedeutung hat die Zivilgesellschaft als Ort aktiven bürgerschaftlichen Engagements, als Ort an dem Toleranz und Dialog erfahren und gelernt werden können und sich eine bürgerschaftliche Identität konstituieren kann.[84] Parallel dazu kann sich aber auch die offizielle Politik um eine Institutionalisierung dieser Wertorientierungen bemühen, können diese in den politischen Institutionen zum Ausdruck gebracht und durch die Form des politischen Prozesses gefördert werden. Entscheidend ist, ob sich der politische Raum tatsächlich als Raum der Freiheit erfahren lässt, beispielsweise auch, ob der Stil des politischen Diskurses der Identifikation mit der gesellschaftlichen Gemeinschaft förderlich ist.[85]

Die Entstehung demokratischer Orientierungen lässt sich zusammenfassend darstellen durch den Verweis auf ein Wechselspiel von institutionellen Arrangements, gesellschaftlich-kulturellen Bedingungen und individuellen Erziehungs- und Sozialisationserfahrungen.[86] Religionen haben in dieser Konstellation die Funktion von zivilgesellschaftlichen Akteuren. Sie können helfen, Werte zu vermitteln; einerseits durch religiös-kulturelle Bildung und andererseits indem sie Werte wie Mitmenschlichkeit und Toleranz erfahrbar machen und ihre organisatorischen Potentiale für deren gesellschaftliche Umsetzung nutzen. Ihre spezifische Bedeutung kann darüber hinaus in einem Welt- und Menschenbild liegen, das die instrumentelle Verfügbarkeit des Menschen einschränken, Solidarität über Gruppengrenzen hinweg stiften und Offenheit gegenüber Dialog und Toleranz schaffen kann. Religiöse Überlieferungen können hier durchaus als semantische Ressource begriffen werden, um Menschenwürde, soziale Verantwortung und soziale Offenheit immer wieder neu zu rechtfertigen - gerade auch um sie entgegen zweckrationalen gesellschaftlicher Prozesse zurück an die Öffentlichkeit zu holen.[87]

Zum Teil können religiöse Begründungszusammenhänge ein ungleich stärkeres Potential für ethische Orientierungen als andere philosophisch-ethischen Orientierungen entfalten, da sie eine Perspektive der Ganzheitlichkeit vertreten, in einem sozialen Rahmen vermittelt werden und der Bezug zu göttlich-absoluten Wesenseinheiten eine hohe emotionale Bindung bewirkt.[88] Entsprechend stellen die Leistungen religiöser Akteure in sozialen Diensten, die Bereitstellung ihres Organisationspotentials für menschliche Entwicklung einen schwerlich zu ersetzenden Faktor für die gesellschaftliche Wohlfahrt dar.[89] Diese positiven Potentiale sind jedoch von der Voraussetzung abhängig, dass religiöse Orientierungen eine Haltung der Toleranz und der Solidarität entwickeln.[90] Darüber hinaus stellen sie insbesondere dann eine positive Wertressource dar, wenn sie die modernen Grundwerte und damit die Ideale der Demokratie aus ihren religiösen Überlieferungen und Traditionen heraus ableiten.[91]

Nach den hier zitierten empirischen Ergebnissen vermögen vor allem die positiven Erfahrungen mit sozialer Gemeinschaft, das Vorleben und Erleben von Werten eigene Wertentwicklungen anzustoßen. Auf politischer Ebene ist eine institutionelle Ausformung von Demokratie und Zivilgesellschaft, die solche Erfahrungen fördert und stützt, eine zentrale Voraussetzung für die Reproduktion von Werten. Dies kann unabhängig von religiösen Akteuren unter zeitgleichem Einfluss verschiedenster Begründungszusammenhänge für Demokratie und Rechtsstaat geschehen. Zusammen mit religiösen Akteuren kann es insbesondere unter den obigen Bedingungen, der prinzipiellen Anerkennung moderner Rechte durch die Religionsvertreter, geschehen. Gerade weil religiöse Akteure humanen Werten immer auch praktischen Ausdruck verliehen und damit sozialpolitische Leerstellen gefüllt und einen wesentlichen Beitrag für das gesellschaftliche Zusammenleben geleistet haben, ist ihr Beitrag kaum zu unterschätzen.

3.2 Säkulare Öffentlichkeit und die Beteiligungsmöglichkeiten religiöser Akteure

Während in laizistischen Staaten religiösen Akteuren der Zugang zur öffentlichen Sphäre weitgehend versagt ist, wird in Staatsformen der freundschaftlichen Trennung dem Religiösen ein eigener Bedeutungsgehalt zugebilligt, der auch das gesellschaftliche Zusammenleben befruchten kann. Dem historischen Überblick am Anfang dieser Arbeit und politiktheoretischen Erwägungen folgend, stellt der Laizismus vor allem ein Idealtyp der kulturellen Moderne dar, die freundschaftliche Trennung einen Idealtyp der Postmoderne. Während der Laizismus gesellschaftliche Einheitlichkeit und die Herrschaft der Vernunft als allgemeine Ideale erhebt, gestattet die freundschaftliche Trennung gesellschaftlichen Pluralismus und Offenheit für verschiedenste Weltanschauungen.[92] Im Folgenden soll die Position religiöser Argumente und religiöser Akteure vor dem Hintergrund dieser weltanschaulich neutralen Organisation des öffentlichen beleuchtet werden. Diese Frage ist vor allem deshalb interessant, da Religionen neben ihren positiven auch extrem negative Potentiale entfalten können[93], der säkulare Staat sie aber, wie gesehen, nicht auf eine bestimmte Ausrichtung verpflichten kann.

Eine grundsätzliche Voraussetzung für die Beteiligung religiöser Akteure in der öffentlichen Sphäre ist zunächst ihre Selbstbeschränkung bezüglich der praktischen Wirksamkeit des religiösen Wahrheitsanspruches. Religiöse Gewissheit - auch bezüglich sozialer Normen und Werte - muss hinter die grundsätzliche Bereitschaft zu Toleranz zurücktreten, der demokratische Prozess grundsätzlich anerkannt werden. Dies verlangt die Bereitschaft die Säkularität der öffentlichen Ordnung und die rationalen Grundprinzipien des öffentlichen Diskurses zu achten. Idealer Weise sollen deshalb religiös inspirierte Argumente eine Übersetzung in eine rationale Semantik finden, bevor sie auf der politischen Bühne anerkannt werden.[94]

Praktisch ist diese Grenzziehung jedoch kaum aufrechtzuerhalten. Gerade in pluralistischen Gesellschaften sind selbst rationale Argumente nicht für alle Akteure gleichermaßen nachvollziehbar, fehlt es an einem äußeren, überparteilichen Fixpunkt, von dem aus vorgebrachte Argumente in neutraler Weise bewertete werden können.[95]

Dem entgegengesetzt ist es eine Schlussfolgerung aus der weltanschaulichen Neutralität des säkularen Staates, dass auch religiöse Bürger ihre Weltsicht vorbringen können. Die Trennung von Religion und Politik ist vor allem eine institutionelle. Sie lässt sich kaum auf die individuelle Lebenswirklichkeit übertragen, lassen sich doch Glaubensinhalte für den religiösen Menschen nicht aus seinem Denken ausklammern, bevor er die öffentliche Ebene betritt. Und nicht von allen Staatsbürgern und nicht unter allen Umständen kann man die oben geforderte Übersetzungsleistung erwarten. Ein absoluter Säkularitätsanspruch hätte vielmehr eine ideologische Einseitigkeit und beispielsweise auch den parteiischen Ausschluss von religiösen aber dennoch allgemein zugänglichen Argumenten zur Folge.[96]

Gleichzeitig - so wurde von Habermas argumentiert - würde durch einen Ausschluss für die säkulare Rechtsordnung eine potentielle Ressource der Sinnstiftung verloren gehen. Der möglicherweise verborgene Bedeutungsgehalt religiöser Argumente solle viel mehr auch säkulare Akteure motivieren, nicht nur religiöse Argumente zuzulassen, sondern auch deren Gehalt in eine rationale Sprache zu übersetzen.[97] Denn, das gelte weiterhin trotz dieser Argumentation, für die Begründung öffentlicher Entscheidungen können letztendlich nur rationale Argumente zählen. Ansonsten verliere der Staat seine weltanschauliche Neutralität und damit auch seine Integrationskraft unter der Bedingung des gesellschaftlichen Pluralismus.[98]

In ähnlicher, aber etwas weiterführender Weise, argumentier Michael Walzer, dass allein drei Punkte für die Funktionsfähigkeit der modernen Demokratie gesichert sein müssten: Das Gewaltmonopol des Staates, die rein säkulare Verfasstheit der öffentlichen Ordnung sowie die Zulassung jeglichen Argumentes, beziehungsweise die Anerkennung offener Diskursbedingungen.[99] Sofern diese Voraussetzungen gesichert sind, sei nach Walzer selbst gegen eine Staatskirche nichts einzuwenden. Und da Demokratien ihre freiheitliche Ordnung mehr durch den Ausschluss irgendeinen Arguments in Frage stellen würden, als beispielsweise durch das Zulassen fundamentalistischer Argumentationen, seien auch diese Akteure berechtigt, am öffentlichen Diskurs teilzunehmen. Erst wenn sich das Bestreben der weltanschaulichen Akteure nicht mehr nur auf einzelne Fragen bezieht, sondern sich gegen die demokratische Ordnung als ganze richtet und deren Bestand in Frage stellt, sei die Voraussetzung gegeben, sie aus der öffentlichen Gemeinschaft auszuklammern.[100]

Zusammenfassend ist nach der hier dargestellten Diskussion die institutionelle Trennung von Staat und Religion eine der zentralen Voraussetzungen der weltanschaulich neutralen Demokratie. Während aber zur Legitimierung politischer Entscheidungen nur rationale Argumente herangezogen werden können, ist es religiösen Akteuren grundsätzlich freigestellt, ihre Positionen auch aus einem religiösen Begründungszusammenhang heraus vorzubringen. Dies insbesondere, weil sich in religiösen Positionen eine Ressource sozialen Zusammenhaltes vermuten lässt. Diese Offenheit stellt darüber hinaus eine zentrale Schlussfolgerung aus der weltanschaulichen Freiheit des säkularen Staates und seines sozialen und kulturellen Pluralismus dar. Solange nicht der Bestand der säkularen Ordnung selbst in Frage gestellt wird, können selbst demokratisch fragwürdige Positionen vorgebracht werden. Die freundschaftliche Trennung zwischen Politik und Religion mit dem Kernelement der Respektierung der jeweils eigenen Sphären stellt den Idealtypus des in dieser Diskussion entwickelten Verhältnisses von Politik und Religion dar.

Für die Praxis lassen sich zum Teil die Grenzen zwischen religiöser Aufladung der öffentlichen Sphäre und legitimen persönlichen Bekenntnis nur bedingt ziehen. Einerseits entfällt die Möglichkeit, politische Entscheidungen mit religiösen Überlieferungen zu begründen, andererseits muss es Politikern freigestellt sein, sich gerade auch im Fall von Gewissensentscheidungen auf ihre religiösen Orientierungen zu berufen. Einerseits verlangt die prinzipielle Trennung von Politik und Religion keine institutionellen Abhängigkeiten. Andererseits lässt sich die finanzielle Förderung von beispielsweise sozialen religiösen Einrichtung mit dem Interesse der Gesamtgesellschaft rechtfer-tigen. So verlangt auch die zivile Offenheit der Gesellschaft den rein säkularen Charakter von Schulen und Ämtern. Öffentlich angebrachte religiöse Symbole oder auch religiöse Kleidung kön-nen dem widersprechen. Trotzdem erfüllen auch weltanschauliche Schulen den staatlichen Bildungsauftrag, so dass sie nicht nur zu tolerieren sind, sondern auch ihre finanzielle Unterstützung gerechtfertigt erscheinen mag. Die weltanschauliche Neutralität des Staates bedingt darüber hinaus seine Offenheit gegenüber religiösen Minderheiten. In Formen der freundschaftlichen Trennung stellt es eine Herausforderung dar, diese Gruppe in Dialogstrukturen einzubinden, gerade auch gegenüber organisatorisch stärkeren und gesellschaftlich-kulturell tiefer verankerten religiösen Gruppierungen. Letztlich spielen sich diese praktischen Fragen vor dem Hintergrund der kaum zu definierenden Grenze zwischen öffentlichen und privaten Anliegen ab. Es gibt auf sie keine prinzipiellen Antworten - solange die obigen drei Anforderungen gewahrt bleiben; entscheidend sind viel mehr kontextgebundene politische Erwägungen, nicht zuletzt in dem Bewusstsein der Vorläufigkeit und Revidierbarkeit aller politischer Entscheidungen.[101]

Zusammenfassend ist nach der hier dargestellten Diskussion die institutionelle Trennung von Staat und Religion eine der zentralen Voraussetzungen der weltanschaulich neutralen Demokratie. Während aber zur Legitimierung politischer Entscheidungen nur rationale Argumente herangezogen werden können, ist es religiösen Akteuren grundsätzlich frei-gestellt, ihre Positionen auch aus einem religiösen Begründungszusammenhang heraus vorzubringen. Dies insbesondere, weil sich in religiösen Positionen eine Ressource sozialen Zusammenhaltes vermuten lässt. Diese Offenheit stellt darüber hinaus eine zentrale Schlussfolgerung aus der weltanschaulichen Freiheit des säkularen Staates und seines sozialen und kulturellen Pluralismus dar. Solange nicht der Bestand der säkularen Ordnung selbst in Frage gestellt wird, können selbst demokratisch fragwürdige Positionen vorgebracht werden. Hintergrund des in dieser Diskussion entwickelten Verhältnisses von Politik und Religion ist der Idealtypus der freundschaftlichen Trennung. Staat und Religion respektieren sich in ihren jeweiligen Handlungssphären, dringen aber nicht auf eine scharfe Abgrenzung, sondern eher auf Ergänzung. Ausgehend davon - und auch im Hinblick auf die zu analysierende MI - ist nach den Voraussetzungen von religiöser Seite für eine solche partnerschaftliche Form der Kooperation zu fragen. Nach einer Skizze der Selbstsicht christlicher Kirchen unter der Leitbild der freundschaftlichen Trennung erfolgt dazu im nächsten Kapitel eine Diskussion der Faktoren, die die Ausformung religiöser Orientierungen zwischen liberalen und autoritären Werten bedingen.

3.3 Freundschaftliche Trennung aus christlicher Perspektive - Die Selbstpositionierung der Kirchen im säkularen Staat und der internationalen Zivilgesellschaft

In idealtypischer Weise gehe ich im Folgenden von einer christlichen Weltanschauung aus, die den Gedanken der freiheitlich-pluralistischen Verfasstheit der öffentlichen Verhältnisse integriert hat und aus den eigenen religiösen Hintergründen ableitet.[102]

Ein theologisches Äquivalent zu dem politischen Gedanken der Trennung von Religion und Politik ist die protestantische Zwei-Reiche-Lehre. Aus ihrer Perspektive hat der politische Bereich eine genuin eigene Legitimation. Christen können und sollen sich innerhalb seiner Strukturen unter Anleitung christlicher Werte engagieren, aber das politische hat keine grundsätzliche Heilsbedeutung. Sozialpolitisches Engagement wird legitimiert durch den Gedanken der Nächstenliebe und dem Gedanken, dass eine Botschaft spiritueller Erlösung und spirituellen Heils letztlich auch soziale Implikationen haben muss. Das öffentliche Eintreten für christliche Werte wird vor diesem Hintergrund als prophetischer Auftrag und damit als Teil christlicher Verkündigung begriffen.[103]

Zum Teil positioniert sich die Kirche hier außerhalb der übrigen Gesellschaft und bildet eine Institution sui generis. Dies wird mit einem überparteilichen Anspruch und der Idee begründet, dass weniger technische Fragen politischer Machbarkeit und Umsetzung im Auftrag der Kirche liegen, sondern das grundlegendere Engagement für eine allgemeine Werteorientierung. Sie halte sich deshalb aus dem politischen Alltagsgeschäft heraus und konzentriere sich als gesellschaftliches Gewissen auf die allgemeine Ausrichtung von Politik und Gesellschaft.[104]

Im Zentrum eines nach freiheitlichen Werten ausgerichteten kirchlichen Engagements stand historisch die Unterstützung sozial Schwacher und marginalisierter Gruppen, beispielhaft in den vielfältigen Formen christlicher sozialer Arbeit. Hinzu kam das Eintreten für auf politische Einzelfälle herunter gebrochene christliche Wertvorstellungen, wie dem Prinzip der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, also seiner unverlierbaren Würde. Zu vergleichen ist hier zum Beispiel die aktuelle Stammzellendebatte. Eingefordert wurden und werden zum Teil aber auch christliche Moralbestände, die aus säkularer Sicht eher dem privaten Bereich zuzurechnen sind. Insbesondere in Fragen sexualmoralischer Maßstäbe provozieren kirchliche Akteure bis heute starke Kritik von säkularer Seite.[105]

Wie im Folgenden zu zeigen ist, lässt sich soziales Engagement von Kirchen aber auch aus einer integralistischen Perspektive denken, nach der Religion und Politik enger aneinandergeknüpft sind, als nach Maßgabe der Zwei-Reiche-Lehre. Im Vordergrund dürfen dann allerdings nicht religiöse Moralvorgaben, sondern allgemein menschenrechtliche Interessen stehen, weniger Leitfäden zu individuellen Lebensgestaltung, als der allgemein nachvollziehbaren ethische Gehalt der religiösen Tradition. Eine solche integralistische Perspektive bedarf darüber hinaus einer ausgeprägten weltanschaulichen Offenheit und ausgeprägten Toleranz im zivilgesellschaftlichen Umgang. Unter diesen Bedingungen können integralistische Perspektiven eine sehr starke Motivation für soziales Engagement auch gegen politische Widerstände entfalten.[106] Vor allem religiöse Friedensbewegungen werden von ihnen geprägt. In der Geschichte des Christentums ließe sich das beispielhaft deutlich machen an der christlichen Basis der US-Bürgerrechtsbewegung gegen die Rassentrennung oder auch an dem christlichen Engagement gegen die Apartheid in Südafrika.[107]

Im Folgenden sollen die Bedingungen für die Friedlichkeit religiöser Orientierungen und für die Entfaltung ihres positiven Potentials näher analysiert und ausgeführt werden.

4 Engel und Dämonen: Der gesellschaftspolitische Gehalt religiöser Orientierungen und die Einflussfaktoren für ihre Entwicklung

Nach den bisherigen Ausführungen besteht in säkularen Staaten, die einer freundschaftlichen Trennung zwischen Religion und Politik folgen, eine grundsätzliche Offenheit für religiöses Engagement. Selbst wenn religiöse Akteure beispielsweise eher autoritäre Einstellungen vertreten, werden sie nicht grundsätzlich aus dem Bereich des Öffentlichen ausgeschlossen. Allerdings können religiöse Orientierungen auch ausgesprochen positive Wert- und Motivationszusammenhänge entfalten und beispielsweise eine starke Ressource für soziales Engagement sein. Dieser Gedanke über die grundsätzliche Ambivalenz des Religiösen wird in dem einleitenden Abschnitt zu diesem Kapitel näher ausgeführt.

Daran anschließend werden die Bedingungen dargestellt, die die Ausformung religiöser Weltbilder bestimmen. Schließlich sollen - im Hinblick auf die im zweiten Teil analysierte MI - die Faktoren analysiert werden, die in zentraler Weise für eine sozialliberale und friedenspolitische Ausrichtung religiöser Organisationen verantwortlich sind.

4.1 Die grundsätzliche Ambivalenz religiöser Orientierungen

Im Zentrum religiöser Selbstverortung und Sinngebung stehen religiöse Überlieferungen und Traditionen. Die Identitätsbildung der religiösen Akteure bezieht sich auf diese Traditionen. Wie setzt sich aber ihr Bedeutungsgehalt zusammen; welche Werte sind in ihnen enthalten und was für gesellschaftspolitische Vorstellungen lassen sich aus ihnen heraus entwickeln? Insbesondere lässt sich fragen, ob religiöse Denksysteme und bestimmte religiöse Traditionslinien per se ein negatives oder positives Potential enthalten - unabhängig von ihrer zeithistorischen Ausbildung.[108]

Journalistische und wissenschaftliche Veröffentlichungen üben wiederholt eine harsche Kritik an religiösen Orientierungen, vorwiegend gegenüber monotheistischen Glaubensinhalten. Ihrer Argumentation nach folgen aus religiösen Wahrheitsansprüchen generell dogmatische Unterscheidungen zwischen richtig und falsch sowie In-Group vs. Out-Group-Haltungen. Selbst friedfertige religiöse Orientierungen würden dieses Gefahrenpotential latent enthalten. Insbesondere wenn der politische Einfluss religiöser Akteure wachse, käme auch ihr gesellschaftlicher Absolutheitsanspruch zum Vorschein.[109] Auch lassen sich religiösen Überlieferungen heranziehen, um autoritäre gesellschaftliche Strukturen zu rechtfertigen, andere Menschen zu dämonisieren und selbst Gewalt als ein Mittel der Erlösung zu legitimieren.

"Alle großen Gotteserzählungen kennen Traditionen, die Zwangsmittel unter bestimmten Umständen legitimieren, Opfer im Kampf für den eigenen Glauben fordern und Andersdenkende verteufeln. Gleichzeitig finden sich aber Quellen, die eine Unvereinbarkeit von Gewalt und Glauben verkünden, Opfer für den Frieden verlangen und Respekt vor Andersgläubigen einklagen."[110]

Dem zweiten Teil des Zitates und anderen Autoren folgend, lässt sich gleichzeitig auf die positiven Bestände in religiösen Überlieferungen verweisen. Insbesondere, so wird argumentiert, sind in moralische Bedeutungsgehalte zur Fundierung menschenrechtlicher Orientierungen verborgen. Diese Bedeutungsgehalte beständen unabhängig von zeithistorischen Ausprägungen der jeweiligen Religiosität[111] und zum Teil würden sie sich erst „ on the long run“ auswirken.[112]

Unter anderem, wird die Frage nach positiven Potentialen von religiösen Orientierungen diskutiert, hinsichtlich des Einflusses des Christentums auf die Entwicklung der Menschenrechte und der modernen Demokratie. Neben verschiedenen strukturellen Bedingungen und anderen philosophischen Traditionen[113] wird auch die religiöse Fundierung der Menschenwürde herausgestellt. Zudem wird der christlichen Tradition die Entsakralisierung des Politischen zugeschrieben. Demnach führt der Schöpfungsgedanke und der Gedanke der Gottesebenbildlichkeit des Menschen zu einer Gleichzeitigkeit von individueller Freiheit und menschlichem Aufeinanderbezogensein. Diese sich ergänzenden Pole waren so in den demokratischen Ansätzen der Antike nicht angelegt.[114] Gleichzeitig habe das christliche Denken die Idee der Dualität ins politische Denken gebracht, indem die irdische Ordnung durch den Bezug zum Überweltlichen relativiert wurde. Hiermit sei eine Perspektive verbunden gewesen, politische Herrschaft zu hinterfragen, vor eine äußere moralische Instanz zu stellen und das Individuum vor politischen Zugriffsrechten zu schützen.[115]

Aus neuzeitlicher Perspektive sind die individuelle Würde des Menschen und die menschliche Solidarität Kernelemente des christlichen Glaubens.[116] Andererseits lassen gerade Ausprägungen des Christentums, die diesen Werten entgegenstehenden, nach Bedingungen fragen, die zu einer eine friedlichen und sozialliberalen, oder eher autoritären Ausrichtung des christlichen Glaubens führen.

Grundsätzlich ist von einer genuinen Ambivalenz religiöser Orientierungen auszugehen. Einerseits, können religiöse Quellen zwar tatsächlich einen moralischen Wertekern aufweisen. Andererseits, ist die historische Ausprägung religiöser Tradition immer von der Schwerpunktsetzung ihrer Interpreten abhängig. So taucht Religion niemals abstrakt auf, sondern immer nur in den Köpfen und im Leben konkreter Menschen. Spezifische Interessen, das Selbstverständnis der Gläubigen, aber auch kulturell geprägte Sichtweisen sind häufig entscheidender, als ein in den religiösen Überlieferungen schlummernder Bedeutungskern.[117] Zwar sind negative oder positive Potentiale schon in den religiösen Quellen angelegt. Aber erst ihre individuelle oder kollektive Interpretation formt sie explizit aus und spitzt sie entweder in einer liberale oder eine autoritäre Richtung zu.[118] Die Frage nach der Ambivalenz religiöser Orientierungen zwischen liberalen und autoritären Werten ist somit weniger eine Frage nach dem genuinen Wesen bestimmter Religionen. Sie verweist vielmehr auf die prinzipielle Ambivalenz menschlicher Einstellungsmerkmale, zwischen friedfertigen und gewalttätigen Orientierungen. Allerdings können diese Orientierungsmuster durch Religionen wesentlich verstärkt werden, vor allem durch ihren Bezug zu letzten Werten und Wahrheiten, durch die emotionale Bindung der Gläubigen und den sozialen Einfluss der religiösen Gemeinschaft.[119]

Gerade darin wurzelt ihr immenses Potential, ihre Fähigkeit einerseits Gewalt sakral zu rechtfertigen und andererseits zu Friedensaktivismus, auch unter Einsatz des eigenen Lebens, zu motivieren. Sowie einerseits andere Menschen als Feinde zu stilisieren und andererseits eine Wertebasis für soziales Engagement zu legen.[120]

Aufbauend auf den obigen historischen Überblick sollen im Folgenden soziokulturelle Bedingungen vorgestellt werden, die zeitgeschichtliche Ausprägungen des Christentums bestimmt haben. Daran anschließend wird der wissenschaftliche Diskurs zu den Voraussetzungen für friedliche religiöse Orientierungen aufgegriffen und auf vier Bedingungen verwiesen, die die gesellschaftspolitische Ausrichtung religiöser Organisationen bestimmen.

4.2 Der Einfluss soziokultureller Bedingungen auf die historischen Ausprägungen des Christentums

Aus den Ausführungen im zweiten Kapitel dieser Arbeit, über die historischen Ausformungen des Christentums, lassen sich vier wesentliche Faktoren herauslösen, die die gesellschaftspolitische Ausrichtung des Christentums beeinflusst haben: (a) Gesellschaftliche Makrostrukturen, (b) das kulturelle Umfeld, (c) die Strukturbedingungen religiöser Gemeinschaften sowie (d) individuelle, bzw. kollektive Interessen.[121]

4.2.1 Gesellschaftliche Makrostrukturen

Autoritäre gesellschaftliche Makrostrukturen haben in den Anfängen des Christentums eine Abwendung von der Gesamtgesellschaft und die Bildung einer Alternativkultur mitbedingt. Auch die totalitären Verhältnisse im Deutschland der NS-Zeit lassen sich hier als ein Beispiel anführen. Kirche wurde entweder in den Untergrund und den Bereich des Privatlebens gedrängt und gezwungen sich aus den öffentlichen Belangen herauszuhalten. Oder sie wurde in Form der „Deutschen Christen“ gleichgeschaltet und in das Herrschaftssystem integriert. In begrenztem Maß entstand mit der „bekennenden Kirche“ ein Christentum, das sich im Angesicht der eklatanten Antihumanität des NS-Systems, in bewusste Opposition zum Dritten Reich stellte.[122]

Geradezu beispielhaft, für den Einfluss gesellschaftlicher Strukturen Verflechtungen, ist jedoch die Einbindung des Urchristentums in das Herrschaftsgefüge des römischen Reiches. Die zunehmende politische Offenheit gegenüber der christlichen Religion führte zu einer theologischen Idealisierung des römischen Reiches durch die Kirche. Gerade aber die Übernahme staatstragender Funktion der Kirche, ab Ende des 3. Jahrhunderts, bedingte einerseits ihre zunehmende innere Hierarchisierung und Bürokratisierung. Andererseits entstanden und verstärkten sich hierdurch Ansprüche der Kirche auf gesellschaftliche Macht; es entwickelte sich verstärkt die Vorstellung, das ersehnte christliche Friedensreich, im römischen Herrschaftsbereich verwirklichen zu können.[123]

4.2.2 Das kulturelle Umfeld

Grundsätzlich ist Religion als abhängig von kulturellen Verstehenszusammenhängen und Semantiken zu betrachten. Ihre historische Ausformung ist damit auch abhängig von der Vorstellungswelt und den Lebenszusammenhängen ihres kulturellen Umfeldes.[124]

Beispielhaft lässt sich hier die Rolle der antiken Vorstellung eines ganzheitlichen Gesellschaftsverbandes anführen. Dieses Bild wurde mit der zunehmenden Inkulturation der Kirche in das römische Reich auch von den Christen übernommen. Insbesondere der römische Katholizismus spitzte es heilsgeschichtlich zu, vermischte christliche Kirche und gesamtgesellschaftliche Strukturen und rechtfertigte somit die Reichweite der eigenen Herrschaftsansprüche.[125] Unter anderen Vorzeichen, aber in ähnlicher Weise, beeinflussten die Prämissen und Folgen der Moderne die christliche Theologie. Einerseits bewirkten sie im christlichen Fundamentalismus die Entstehung einer Gegenbewegung zu Aufklärung und gesellschaftlichem Pluralismus. Andererseits wurde von vielen Kirchen die Bedeutung der kritischen Vernunft übernommen. Biblische Überlieferungen wurden zunehmend historisch-kritisch untersucht und auch auf gesellschaftlicher Ebene fand ein Arrangement mit dem in Frage gestellten religiösen Wahrheitsanspruch statt. Christliche Kirchen integrierten zunehmend die sozialen und politischen Werte der Aufklärung in ihre Theologie[126] und nicht zuletzt betonten sie gegenüber der eigentlichen Verkündigung soziales Engagement als einen Schwerpunkt ihres Wirkens.[127]

Sozialer Pluralismus, die Konkurrenz der Kirchen untereinander und die wachsende Bedeutung weltweiter sozialer Fragen, sind die aktuellen kulturellen Bedingungen unter denen sich Kirche heute entwickelt. Bedingungen, die zur Entwicklung toleranter Einstellungen und sozialliberaler Orientierungen, aber auch zu Prozessen der Abgrenzung und Intoleranz führen können. Denn wie eingangs argumentiert bedeutet die Ausdifferenzierung des religiösen Marktes einen Druck auf die Kirchen, sich als Anbieter von Spiritualität gegenüber religiösen Konkurrenten zu positionieren. Der Druck eine eigene religiöse Marke, ein eigenes Image zu entwickeln, kann zu ausgeprägten sozialen Orientierungen führen. Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass, als Alternative zum Pluralismus, gerade strenge und dogmatische Kirchen erfolgreich darin sind, ihre Anhänger an sich zu binden.[128]

[...]


[1] Graf (2004: 225)

[2] Arendt (1993: 9)

[3] Friedlich und sozial werden in dieser Arbeit als äquivalente Adjektive gebraucht, um religiöse Orientierungen zu beschreiben, die sich durch eine Anerkennung der freiheitlichen Grundwerte und gleichzeitig einem solidarischen Verhältnis zur übrigen Gesellschaft auszeichnen. Demgegenüber stehen idealtypisch religiöse Orientierungen die Machtverhältnisse legitimieren und einen inhaltlichen Schwerpunkt auf religiöse Normvorstellungen legen.

[4] Vgl. Ottmann (2006: 29ff.); Roth (2003: 264ff., 302f.).

[5] Vgl. Graf (2006: 80ff.), Müller (2007: 123f., 128).

[6] Vgl. Graf (2006: 89)

[7] Vgl. Schmidt (2004: 535f.).

[8] Linz (1996: 135); Vgl. a. Böckenförder (1976: 61), Schiele (2000: 7ff.).

[9] Gentile (2000: 172ff.), Linz (1996: 135).

Der Begriff der Zivilreligion ein breites Bedeutungsspektrum. Zum Teil wird er auf historische Kontinuitäten zwischen Religion und staatlicher Gemeinschaft bezogen; in dem Sinne wäre von Zivilreligion zu sprechen, wenn nationale Werte und Bedeutungsgefüge in einer expliziten, damit aber säkularisierten, Religiosität fußen. Andererseits lässt sich der Begriff auf die Grundwerte einer Gesellschaft beziehen, die sakralisiert und zu quasi-religiösen Normen erhoben werden. Darüber hinaus ließe sich eine mythologische Aufwertung des Gemeinwesens, der Vollzug kollektiver Riten, die Etablierung nationaler Herkunftsmythen oder dergleichen unter Zivilreligion fassen. Generell wird der Begriff jedoch nur auf Gesellschaftsformen bezogen die eine grundsätzlich demokratische und freiheitliche Ausrichtung verfolgen. Vgl. Schieder (2001: 17ff.), Schieder (2007: 17), Lübbe (2001: 28ff.).

[10] Vgl. Hildebrandt (2007: 12ff.), Linz (1996: 130ff.), Meyer (2003: 54ff.), Walther (2005: 98f.).

[11] Vgl. Gentile (2000: 169, 174f.), Linz (1996: 130), Maier (1996: 305), Rensmann (2004: 371), Voegelin (1996).

[12] Micah Challenge, Home.

[13] Bradbury (2002: 13f.).

Gegenwärtig zählt das Micah Network rund 300 - eher kleinere - Mitgliedsorganisationen, die vor allem aus dem globalen Süden stammen. Vgl. Micah Network, About Micah.

[14] Micah Challenge, Overview; Micha-Initiative, Kontext.

Im Folgenden wird die Abkürzung MI durchgängig für die Micha-Initiative als internationales Netzwerk verwendet. Der international gebräuchliche Name Micah Challenge wird hingegen benutzt, um die internationale Ebene der Initiative gegenüber ihren einzelnen nationalen Kampagnen abzugrenzen.

[15] Vgl. Millenniumcampaign, Millenniumsziele; UNRIC, Millenniumserklärung.

Im Anhang findet sich eine Liste der MDGs, wie sie auf der Homepage von Micah Challenge veröffentlicht wird. MDGs (xxii).

[16] Micah Challenge, Overview.

[17] Vgl. Micha-Initiative, Es ist dir gesagt.

[18] So zählen die Baptist World Alliance oder der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden ebenso zu den Unterstützern wie die US-Amerikanische Organisation Bread for the World und die Entwicklungsorganisation World Vision. Vgl. die vollständige Liste der Unterstützer und Mitglieder im Anhang, zitiert nach Micah Challenge, Patrons.

[19] Vgl. Micah Challenge, Overview; Micha-Initative, über Micha.

[20] Kuhn (1969: 186); Vgl. Küng (1984: 22).

[21] Küng (1984: 21ff.), Küng (1994: 88, 90ff.).

Die Paradigmaeinteilung nach Küng wurde insbesondere von dem südafrikanischen Missionstheologen David Bosch aufgegriffen und auf die christliche Missionsgeschichte übertragen. Vgl. Bosch (1991: 181ff.). Zur Bedeutung des Konzeptes des Paradigmawechsels in der Theologie und seiner Anwendung vergleiche Gibellini (1995: 488ff.), Prudhomme (2002a: 331ff.).

[22] Roth (2003: 264ff., 291ff.).

[23] Mühlenberg (1999: 45f.), Roth (2003: 265f., 285ff.).

[24] Bosch (1991: 150), Roth (2003: 274, 297).

[25] Roth (2003: 275f.).

[26] Pietri (2003: 34ff.), Stark (1996: 74, 84).

[27] Stark (1996: 84, 161f.), Roth (2003: 278f.).

Die solidarische und fürsorgliche Gemeinschaftsstruktur der Urchristenheit dürfte eines der wesentlichen Kriterien gewesen sein, die zu seiner rasanten Ausbreitung geführt haben. So kümmerten sich Christen während der immer wiederkehrende Krankheitsepidemien nicht nur um die eigenen Kranken und erregten damit großes Aufsehen, in einem kulturellen Umfeld, in dem Kranke aus Angst vor Ansteckung häufig allein gelassen wurden. Vgl. Stark (1996: 74, 209f.).

[28] Vgl. Roth (2003: 277f.).

[29] Betz (1999: 198f.), Küng (1994: 148ff.).

[30] Betz (1999: 199f.), Mühlenberg (1999: 84ff.).

[31] Klein (1988: 604ff.), Roth (2003: 329ff.).

[32] Vgl. Mühlenberg (1999: 105ff.).

[33] Vgl. Klein (1988: 614ff.), Roth (2003: 350ff.).

[34] Vgl. Kłoczowski (2002: 378), Uertz (2007: 37).

[35] Uertz (2007: 36ff.).

[36] Roth (2003: 355f.).

[37] Roth (2003: 365ff., 373ff.).

[38] Mühlenberg (1999: 84ff.).

[39] Zum Teil wurden im Verlauf dieser Prozesse ganze Regionen insbesondere in Unteritalien von kirchlicher Rechtssprechung und Verwaltung geprägt. Vgl. Müller (1997a: 14), Roth (2003: 355f.).

[40] Vgl. Bosch (1991: 219), Böckenförde (2006: 186), Klein (1988: 612f.).

[41] Vgl. Mühlenberg (1999: 118ff.)

[42] Mayeur (2002: 297ff.), Uertz (2007: 32ff.), Uertz (2006: 128).

[43] Mühlenberg (1999: 186ff.); Uertz (2007: 34).

[44] Die Zuspitzung des protestantischen Paradigmas auf zivilreligiöse Orientierungen findet sich so nicht in der Literatur. Diese Arbeit ist nicht der Ort, um diesen Gedanken näher zu vertiefen. Eine nähere Ausführung dazu findet sich aber im Anhang. Sie entfaltet insbesondere die Zuspitzung zivilreligiös-protestantischen Paradigmas im amerikanischen Puritanismus.

[45] So kannte der lutherische Protestantismus keine der individuellen Glaubensfreiheit entsprechende öffentliche Bekenntnisfreiheit, hier obsiegte viel mehr die Sorge um „äußere Observanz“ und kulturelle Einheitlichkeit. Mühlenberg (1999: 256f.); vgl. Böckenförde (2006: 423).

[46] Böckenförde (2006: 426ff.), Münkler (1993: 636ff.).

[47] Uertz (2007: 35f.), Williame (2002: 280ff.)

[48] Küng (1994: 773ff.).

[49] Vgl. Armstrong (2000: 248), Meyer (1998: 54f.), Riesebrodt (1990: 12).

[50] Vgl. Prutsch (2007: 95ff.), Riesebrodt (1990: 226ff., 241), Riesebrodt (2000: 78ff.).

[51] Hildebrandt (2007: 6), Riesebrodt (2000: 53f.).

[52] Armstrong (2000: 508f.), Hildebrandt (2007: 5), Riesebrodt (2000: 53ff.).

Psychologische Studien zeigen eine hohe Korrelation zwischen fundamentalistischen Anschauungen und autoritaristischen Persönlichkeitsstrukturen. Zum Teil wird Fundamentalismus als religiöser Autoritarismus verstanden, seine Erforschung als Anhängsel der auf Adorno (et al.) zurückgehenden Theorie der autoritären Persönlichkeit. Vgl. Adorno (1973: 40ff.), Grom (1992: 382f.), Krauss (2006: 344ff.).

[53] Hildebrandt (2007: 6), Marty (1996: 26), Riesebrodt (2000: 80ff.).

[54] Vgl. Armstrong (2000: 136f., 316ff.), Hildebrandt (2007: 5), Marty (1996: 41ff.).

Vergleiche zur kritischen Betrachtung der Moderne die Ausführungen zur Dialektik der Aufklärung in Horkheimer (2004: 12ff.) und daran anschließend Baumann (1992: 28ff.) und Gentile (2000: 174f.). Kritisiert werden an der Moderne insbesondere der Anspruch auf totale Berechnung und Systematisierung der Welt, die Unterordnung von Individualität unter abstrakte Maßstäbe und der totale Herrschaftsanspruch einer ökonomischer Rationalität. Demnach stellten die totalitären und ideologisch fundierten Herrschaftsformen des 20. Jahrhunderts eine Zuspitzung der verabsolutierten Prinzipien der Aufklärung dar. Der Fundamentalismus bildet zu diesen eine parallele Bewegung mit ähnlichen Strukturbedingungen.

[55] Almond (2003: 147f.).

[56] Almond (2003: 149ff., 170ff.), Appleby (2000: 283f.).

[57] Vgl. Almond (2003: 149ff., 218f.), Appleby (2000: 283f.), Riesebrodt (2000: 55f.). Vgl. zu der Gefahr einer übermäßigen Ausweitung des Fundamentalismusbegriffs sowie seiner Verwendung als populistischen Kampfbegriff gegenüber Vertretern anderer Religionen Appleby (2000: 11ff.), Hasenclever (2007: 13), Kienzler (2001: 27, 35).

[58] Vgl. Bosch (1991: 352ff.), Küng (1994: 880ff.), Prudhomme (2002b: 542f.), Robertson (2002: 588).

[59] Baumann (1992: 313ff.).

[60] Berger (1999: 8f.), Jenkins (2007: 7f.).

[61] Vgl. Graf (2004: 193ff.), Müller (2007: 128f.), Schwan (2007: 78ff.), Stein (2008).

Zum ideellen Gehalt religiöser Überlieferungen vergleiche insbesondere Stein (2007: 23f., 336f.).

[62] Vgl. Moll (2008), Pally (2007).

Auch viele lateinamerikanische Pfingstkirchen suchen angesichts schwerwiegender sozialer Probleme, nach alternativen Lebensformen gegenüber marktwirtschaftlichen und kapitalistischen Strukturen. Vgl. Almond (2003: 171f.).

[63] Die Entwicklung der sozialliberalen Orientierung der Micha-Initiative stellt ein Beispiel für einen solchen Einfluss von Kirchenvertretern aus dem globalen Süden dar. Vgl. darüber hinaus Hardmeier (2006: 27ff.), Jenkins (2007: 165ff.).

[64] Robertson (2002: 588).

[65] Vgl. Graf (2004: 23ff., 193ff., 201).

Gleichzeitigen zeigen sich die häufig gerade religiöse Orientierungen erfolgreich, die eine dogmatische und strenge Lehre vertreten. Offenbar können sie ihre Anhänger besonders stark binden, da mit den klaren moralischen Vorgaben auch ein hohes Maß an emotionaler Sicherheit verbunden ist. Vgl. Berger (1999: 4), Graf (2004: 29).

[66] BMZ (2006: 79f.), Marshall (2007: 20f., 68ff.), Ponti (2005).

[67] Almond (2003: 12, 132).

[68] Vgl. Gabriel (2007: 220ff.), Stein (2008) sowie vor allem das etwas idealistische Projekt Weltethos von Hans Küng, das die Entwicklung einer gemeinsamen und globalen Wertebasis aus den Quellen der großen Weltreligionen anstrebt. Küng (1994: 890ff.) Kritik an diesem Projekt findet sich unter anderem bei Graf (2007: 12). Graf kritisiert insbesondere die Tendenz zur weltweiten Verschmelzung religiöser Traditionen. Der moderne Gedanke der weltanschauliche Freiheit und des weltanschaulichen Pluralismus verlange hingegen die Fähigkeit Unterschiede auszuhalten und sie nicht in falscher Einheitlichkeit aufzulösen, sondern gerade auch schätzen zu können.

[69] Graf (2006: 87), Marx (2007: 62).

[70] Vgl. Habermas (2005a: 22f.), Haus (2002: 48).

[71] Böckenförde (1976: 60).

[72] Böckenförde (1976: 59).

[73] Böckenförde (1976: 59ff.), Böckenförde (2004: 229f.); Vgl. Graf (2004: 80f.).

Zum Teil wurde dieses Angeführt in ähnlicher Weise von Vertretern der Aufklärung angeführt und gefragt ob es der säkularen Staatskonstruktionen nicht an einer äußeren Autorität fehle. Voltaire beispielsweise stellte die Bestandsmöglichkeiten einer atheistischen Gesellschaft grundsätzlich in Frage, da es ihr an einer Quelle von Moral mangele, die über das individuelle Nutzendenken hinausgehe. Müller (1997a: 44f.)

[74] Vgl. Minkenberg (2002: 10).

[75] Vgl. Stein (2006: 7ff.), Stein (2007: 336ff.).

[76] Vgl. Graf (2004: 210ff.), Schwan (2007: 78f.), Stein (2008).

[77] Bahners (2008).

[78] Vgl. Minkenberg (2002: 10).

[79] Haus (2002: 47, 50), Müller (1997a: 31ff.).

[80] Vgl. Haus (2002: 47).

[81] Habermas (2005a: 20ff.), Haus (2002: 47, 49).

[82] Vgl. Klein (2000: 30, 35), Willems (2002a: 24). Die Rangfolge von Werten und moralischen Orientierungen im Hinblick auf die demokratische Gesellschaft lassen sich in Form einer Zwiebel darstellen. Im Kern stehen (a) Freiheit und Menschenwürde, darauf folgen (b) die Werde der Toleranz, der Fairness, der Loyalität und des Rechtsgehorsams und (c) über das rational notwendige hinausgehende Ideale der Solidarität, Mitmenschlichkeit, sozialen Hilfe. Vgl. Klein (2000: 42f.)

[83] Schiele (2000: 8ff., 14f.). Schiele verweist unter anderem auf empirische Ergebnisse der Deutschen Shell-Studie 2000 bezüglich der Entwicklung von Wertorientierungen Jugendlicher.

[84] Klein (2000: 50ff.).

[85] Klein (2000: 49f.), Schiele (2000: 4).

[86] Vgl. Klein (2000:31f.), Schiele (2000: 14f.).

[87] Habermas (2005a: 32f.), Haus (2002: 50,63), Marx (2007: 67f.).

[88] Vgl. Heimbrock (2005: 36f.), Kamphaus (2007).

[89] Walzer (1998: 299ff., 302).

[90] Vgl. Graf (2004: 111ff.), Graf (2007: 11), Kamphaus (2007).

[91] Habermas (2005b: 268).

[92] Vgl. Bahners (2008).

[93] Vgl. Beck (2007), Hildebrandt (2007: 4), Toynbee (2007).

[94] Habermas (2005b: 134, 268), Müller (2007: 127).

[95] Reder (2007: 45f.), Willems (2002b: 106).

[96] Graf (2006: 87), Habermas (2005b: 134ff., 145), Willems (2002b: 106).

[97] Graf (2006: 65f.), Habermas (2005a: 34ff.), Habermas (2005b: 137).

[98] Habermas (2005b: 140f.).

[99] Letzteres setzt ein Bewusstsein für die Vorläufigkeit, zeitliche Revidierbarkeit und den kontingenten Charakter sowohl der eigenen Position als auch der politischen Entscheidungen selbst. Eine solche Haltung steht im Gegensatz zu absolutistischen Argumentationen und beispielsweise zu einem messianisch-apokalyptischen Politikansatz mit dem Ziel, ewig gültige Verhältnisse zu institutionalisieren. Walzer (1998: 295f.); vgl. Meyer (2000: 9), Willems (2002a: 27).

[100] Walzer (1998: 302ff, 306.), Willems (2002b: 109).

[101] Vgl. Graf (2006: 86f.), Walzer (1998: 303ff.).

[102] Auf Grund des Leitbildes der freundschaftlichen Trennung erfolgt im Folgenden keine nähere Darstellung zivilreligiöser Orientierungen. Auch diese enthalten eine starke Betonung demokratischer Werte, gehen aber von dem Grundgedanken einer laizistischen Trennung Religion und Politik aus. Gleichzeitig verfolgen zivilreligiöse Orientierungen ein Idealbild gesellschaftlicher Einheitlichkeit das dem Gedanken der weltanschaulichen Neutralität und den Bedingungen des modernen Pluralismus zumindest tendenzielle entgegengesetzt ist. Vgl. Bahrens (2008), Lübbe (2001: 29).

[103] Vgl. Böckenförde (2006: 184f., 407ff.), Hauschild (1999: 311ff.), Mühlenberg (1999: 204ff.), Uertz (2007: 34ff.).

[104] Vögele (2006: 141), Vgl. Böckenförde (2004: 259ff., 305).

[105] Maier (2006: 19ff.), Pally (2007), Stark (1997: 74, 82ff.), Stein (2008).

[106] Appleby (2000: 277f., 285f.), Galtung (1998 220)

[107] Vgl. Gibellini (1995: 377ff., 452ff.)

[108] Vgl. Kaufmann (2000: 30f.), Linz (1996: 131, 151), Stein (2007b: 23f.).

[109] Beck (2007), Hildebrandt (2005: 17ff.), Reder (2007: 45), Toynbee (2007).

[110] Hasenclever, Andreas 2003: Kriegstreiber und Friedensengel. Die Rolle von Religionen und Glaubensgemeinschaften in bewaffneten Konflikten, in: epd-Entwicklungspolitik 14/15/2003, S. 60-64, zitiert nach Holenstein (2006).

[111] Marx (2007: 67).

[112] Stein (2007: 24, 336f.); Vgl. auch Habermas (2005b: 137), Linz (1996: 131, 151). In der Geschichte des Christentums lässt sich die Wiederentdeckung urgemeindlicher Orientierungen, während der Reformation, als ein Beispiel hierfür anführen. Die ursprüngliche Herrschaftsfreiheit innerhalb der christlichen Gemeinde, die Maßgabe des Liebesgebotes und individueller Glaubensfreiheit wurden gegen die autoritären und dogmatischen Strukturen der katholischen Kirche vorgebracht. Vgl. Bosch (1999: 241ff.), Uertz (2007: 34).

[113] Vgl. Graf (2006: 22, 70), Roth (2003: 90ff.).

[114] Vgl. Maier (2006: 19ff.), Schwan (2007: 76f.), Stein (2007: 336f., 340f.), Uertz (2007: 38).

[115] Vgl. Maier (2006: 24ff.), Ottmann (2006: 29f.), Uertz (2007: 38).

[116] Marx (2007: 62f.); vgl. auch Habermas (2005b: 137).

[117] Graf (2004: 208), Graf (2006: 80f.), Holenstein (2006: 3f.), Ottmann (2004: 80ff.).

[118] Tatsächlich können auch säkulare Weltdeutungssysteme für politische Zwecke instrumentalisiert werden; auch säkulare Anschauungen können enorm destruktive Elemente, wie den Zwang zur Rationalisierung, enthalten und politische Allmachts- und Herrschaftsvorstellungen stützen. Vgl. Bielefeld (1998b: 474f.), Habermas (2005a: 32f.), Ottmann (2004: 75).

[119] Hildebrandt (2007: 3f.), Müller (2007: 128ff.)

[120] Appleby (2000: 129f., 146ff.), Holenstein (2006: 3), Marshall (2007: 20f., 271ff.) Vgl. beispielsweise auch die Ausführungen von Desmond Mpilo Tutu über Vergebungsbereitschaft und religiös fundierte Werte für die Antiapartheidbewegung in Südafrika und den gesellschaftlichen Versöhnungsprozess. Tutu (1999: 263ff.)

[121] Für die folgenden Ausführungen und historischen Angaben wird das zweite Kapitel dieser Arbeit vorausgesetzt. Darüber hinaus wurden für die jeweiligen Punkte die jeweils zentralen Quellen angegeben.

[122] Gibellini (1995: 103, 109), Thadden (2004: 652ff.), Uertz (2007: 35).

[123] Pietri (2003: 267), Roth (2003: 356f., 372).

[124] Müller (2007: 128f.), Vgl. Jenkins (2007: 126ff.).

[125] Marx (2007: 61), Roth (2003: 360f.), Schieder (2002: 26).

[126] Durchaus in einem Wechselspiel, in dessen Rahmen auch christliche Quellen das Nachdenken der Aufklärung über Menschenrechte und politische Freiheit befruchtet haben. Vgl. Müller (2007: 128f.), Reder (2007: 52).

[127] Vgl. Appleby (2000: 267f.), Mühlenberg (1999: 303), Uertz (2006: 114, 128), Uertz (2007: 33).

[128] Vgl. Berger (1999: 8f.), Graf (2004: 23, 26), Robertson (2002: 588).

Excerpt out of 147 pages

Details

Title
Christentum und Politik. Die "Micah Challenge" als freikirchliche Initiative für soziale Gerechtigkeit
College
Free University of Berlin  (Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft)
Grade
1,3
Author
Year
2008
Pages
147
Catalog Number
V143784
ISBN (eBook)
9783668305014
ISBN (Book)
9783668305021
File size
1305 KB
Language
German
Keywords
christentum, politik, micah, challenge, initiative, gerechtigkeit
Quote paper
Oliver Wnuck (Author), 2008, Christentum und Politik. Die "Micah Challenge" als freikirchliche Initiative für soziale Gerechtigkeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/143784

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