Der Weg zum Selbst: psychoanalytische und fernöstliche Elemente in Hermann Hesses Individuationsthematik


Examination Thesis, 2009

75 Pages, Grade: 1,3


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Der Begriff der Individuation
1. C.G. Jungs Begriff der Individuation
2. Individuation im Hinduismus: Der Glaube an Atman
3. Individuation im Buddhismus: Der Weg zur Erleuchtung
4. Individuation im Taoismus: Die Erlangung des Tao
5. Versuch einer Synthese

III. Die Individuationsthematik im Werk Hermann Hesses
1. Demian
1.1 Der Individuationsprozess
1.2 Der Schatten
1.3 Demian: der Archetyp des Selbst
1.4 Die Anima
1.5 Frau Eva: der Archetyp der Grossen Mutter
1.6 Die Wiedergeburt des Selbst
2. Siddharta
2.1 Die verstandesmäßige Auseinandersetzung mit der Welt
2.2 Die Auseinandersetzung mit dem Sinnesleben
2.3 Siddharthas Vollendung
2.4 Siddharthas Individuation: Eine Kreisbewegung

IV. Schlussbetrachtung

V. Literatur
Primärliteratur
Sekundärliteratur
Weitere Quellen und Nachschlagewerke

I. Einleitung

Es gibt für Jeden keinen anderen Weg der Entfaltung und Erfüllung als den der möglichst vollkommenen Darstellung des eigenen Wesens. „Sei du selbst“ ist das ideale Gesetz…“[1]

Der SPIEGEL-Leitartikel „Im Gemüsegarten“ aus dem Jahre 1958, der das Hessebild in Deutschland bis in die 70er Jahre hinein entscheidend mitgeprägt hat, schreibt über Hermann Hesse: „Der Dichter [Hesse] bleibt in seiner Subjektsphäre verfangen. Es will ihm nicht gelingen eine Objektwelt hinzustellen und in ihr Fuß zu fassen. […] In immer erneuten Ansätzen und Abwandlungen macht er den Leser zum Mitwisser einer Entwicklung, die mit dem Versagen von den Aufgaben des Lebens beginnt…“. Hesse, so heißt es weiter, lasse „seine Leser unentwegt gleichsam die Pubertätszeit repetieren, für die der schmerzhaft empfundene Gegensatz von Trieb und reinem Geist charakteristisch ist.“[2] Ist Hesse ein ewiger Pubertant und weltfremder Eskapist, der lediglich Resonanz bei Jugendlichen findet? Angesichts der Tatsache, dass es sich bei Hesse nicht nur um einen deutschen Nobelpreisträger für Literatur (1946), sondern auch um den weltweit meistgelesenen deutschen Schriftsteller handelt, muss dieses Bild eher befremden. Doch noch im Jahre 1997 schreibt P.Petropoulou: „Hesse ist unbeliebt in akademischen und intellektuellen Kreisen. Die deutsche Intelligenz betrachtet seine Werke als anspruchsvolle Jugendlektüre.“[3] Und auf Calwer Hesse Symposium, das im Jahre 2003 stattfand, vertritt der Germanistikprofessor Dr. Philippi die Meinung, Hesses viel zitierter „Weg nach innen“ sei nicht viel mehr als eine „narzisstische Selbstdarstellung“ und als Dichter habe Hesse „an der Moderne vorbeigeschrieben“.[4]

Tatsächlich ist Selbstfindung, Selbstverwirklichung, kurz, Individuation, ein zentrales Motiv in Hesses umfangreichem epischem Werk, was von Hesses Kritikern offensichtlich als Indiz für die Überbetonung pubertärer Identitätssuche aufgefasst wurde. Auch handeln Hesses vor allem frühere Erzählungen und Romane von der Entwicklung eines jungen Menschen, der durch Konflikte mit seinem Umfeld ein Gefühl des Ausgeliefertseins und der Unfreiheit entwickelt, dem der Wunsch nach Selbstbestimmung und Befreiung von gesellschaftlichen und familiären Zwängen gegenübersteht. Thematisiert also Hesse mit dem, was er ‚Menschwerdung‘ und ‚Erwachen‘ nannte, lediglich pubertäre Krisen? Wie verhält es sich mit der Individuationsthematik in Hesses Werk und worauf zielt sie ab?

Individuation als psychologisches Konzept wurde vor allem von C.G. Jung geprägt und meint einen innerseelischen Prozess, der der Selbstverwirklichung des Menschen dient und dadurch gekennzeichnet ist, dass sich überpersönliche Inhalte des kollektiven Unterbewussten mit den persönlichen Inhalten des individuellen Bewusstseins vereinigen. Es geht bei der Jungschen Individuation nicht um die Pubertät, sondern um die intraindividuelle Integration von Archetypen einerseits und verdrängten Triebanteilen andererseits, wobei die Erkenntnis des eigenen Selbst angestrebt wird.[5] Jung betrachtete also den Individuationsprozess als einen lebenslangen, unvollendeten Prozess mit einer stetigen Annäherung an das Ziel des „Ganzwerdens“.[6]

Hesses Beziehung zur Jungschen Psychoanalyse wurde mehrfach untersucht und es gilt als unumstritten, dass Hesse psychoanalytische Elemente in seinem Werk verarbeitet hatte.[7] Dies gilt besonders für seinen Roman Demian, jener Roman, der in der Hesse-Forschung als „literarisierte Jungsche Theorie“[8] schlechthin gilt, ist der Roman doch unmittelbar unter dem Eindruck Hesses eigener Analyse entstanden. Doch wird man dem Schriftsteller Hermann Hesse nicht gerecht, würde man sein zentrales Thema – die Selbstfindung, die Selbstverwirklichung und die Identitätssuche – allein auf seine Erfahrungen mit der Psychoanalyse zurückführen. So bemerkt der Hesse-Biograph Joseph Mileck:

Hesses Werk trägt den unauslöschlichen Abdruck der Psychoanalyse, aber nur ihren Abdruck. Hesses Erzählungen wurden nie zum bloßen angewandten Jungiansimus […]. Auf seine übliche eklektische Weise entlehnte er von beiden Analytikern und von andern, was immer ihn reizte und ihm von Nutzen sein konnte […] er integrierte die Psychoanalyse einfach in sein Werk, wie er mit allen Erfahrungen tat.[9]

Die Einwirkung der Psychoanalyse darf zwar nicht unterschätzt, doch auch nicht als die einzige Komponente im Bezug auf Hesses Schaffen angesehen werden, denn wie jede Wissenschaft, basiert auch die Psychoanalyse auf einem rationalen, bzw. bewussten Zugang zur Wirklichkeit und stößt so an ihre Grenzen.[10] Die psychische Ganzheit ist ja auch nach Jung lediglich ein „unerreichbares Ideal“[11] und bleibt, wie Karalaschwili bemerkt, insofern „immer relativ“, weil „das Selbst nichts anderes als ein transzendentes Postulat“ sei.[12] Hesse war sich der Einseitigkeit der rein seelisch-psychischen Betrachtungsweise der Psychoanalyse durchaus bewusst und kritisierte ihre ästhetisch-künstlerische Ignoranz, ohne ihr jedoch ihre inspirierende Wirkung auf sein Werk abzusprechen.[13]

Die geistige Komponente, die Hesse bei der Psychoanalyse bemängelte, fand er in den fernöstlichen Religionen und Philosophien, wodurch sein Begriff der Individuation erweitert und vertieft wurde. Den Schlüssel dazu gab ihm ausgerechnet C.G. Jungs Religionspsychologie, die ja bekanntlich selbst aus älteren Quellen schöpfte. C.G. Jung hat nämlich früh erkannt, dass die chinesischen und die indischen Philosophen mit ihrem Interesse für die eigene Seele frühzeitig auf dem Gebiet der Psychologie zu Erkenntnissen durchgedrungen sind, die sich die Psychoanalyse erst in neuerer Zeit zunutze gemacht hat. Die Funktionen des Unbewussten, so Jung, führen zur „Ideenbildung des Ostens […], die sich in Indien zur Atman-Brahmanlehre verdichtet hat, in China aber ihren philosophischen Vertreter in Lao Tse fand.“[14]

Individuation (lat.“individuare“: sich unteilbar/untrennbar machen) im philosophischen Sinne strebt Individualität und somit Identität an; nur das, was mit sich selbst identisch ist, was es selbst ist, ist ein Individuum.[15] Diesen Gedanken fand Hesse in der religiösen Vorstellung der Einheit, wie sie in Bhagavad Gita, den Upanishaden oder von Lao Tse entwickelt wurde. Danach offenbart sich das ewige, unvergängliche Absolute („Brahman“) als der innerste Kern jedes Lebewesens („Atman“). Diese Korrelation des Individuellen und Absoluten entsprach Hesses Vorstellung vom „Gott in sich“[16] so vollkommen, dass er sie in allen seinen Werken auf unterschiedlichste Art verarbeitet hat.

Psychologisch betrachtet, vermittelt das Selbst als der komplexeste aller Archetypen, so Jung, die Erfahrung des tiefsten innersten Kerns der Psyche und gleichzeitig von deren Einheit und Ganzheit.[17] Dieses Erlebnis wird vom Ich als eine Art Gotteserfahrung empfunden:

Einheit und Ganzheit stehen auf der höchsten Stufe der objektiven Wertskala, denn ihre Symbole lassen sich von der imago dei nicht mehr unterscheiden. Alle Aussagen über das Gottesbild gelten ohne weiteres für die empirischen Symbole der Ganzheit.[18]

Man könnte sagen, Jungs Religionslehre lieferte Hesse die theoretische Legitimation für die zentrale Botschaft in praktisch allen seinen Werken: die Identität von Selbsterfahrung und Gotteserfahrung. So schreibt er: „Seit vier Jahren habe ich… als Dichter keinen anderen Gedanken so stark und vielfach in mir bewegt und vielfältig auszudrücken gesucht wie den vom Gott im Ich und dem Ideal der Selbstverwirklichung.“[19]

Diese Identität von Gott und Ich ist in unserem Zeitalter jedoch nicht mehr gegeben und so versucht Hesse dem Problem entgegenzuwirken, indem er eine totale Neueinstellung, eine Umstrukturierung unseres Denkens fordert. Die Anregung bietet ihm dabei die Synthese aus Psychoanalyse und asiatischen Religionen:

Und die Wege, die … zur Heilung führen, sind eben jene, auf welchen die erkrankte Geistigkeit unserer Welt schon lange suchend geht: Asiatische Philosophie und Psychoanalyse, aus deren Zusammenklang sich die Sehnsucht nach einer Synthese aus östlicher Entselbstungslehre und abendländischer Aktivität ergibt. … Auf dem Wege indischer Denkübungen wird zwar die buddhistische Einsicht in die Wesenlosigkeit des Ich erreicht, nicht aber der buddhistische Erlösungswille, sondern ein Darüberstehen, das zum Leben Ja sagt und nicht Nirwana, sondern Dauer wünscht. Wie sehr dieser Gedanke unserer Zeit angehört, wurde mir klar, als ich plötzlich bemerkte, dass die hier geschilderte Synthese nichts anderes ist als der Kerngedanke einer indischen Dichtung, an der ich selbst seit anderthalb Jahren arbeite.[20]

Diese für Hesse charakteristische Synthese aus asiatischer Weisheit und der Psychoanalyse fand im Siddhartha erstmal ihren Ausdruck.

In lebenslanger Auseinandersetzung mit all diesen Quellen entwickelte Hesse schließlich sein eigenes Bild von der Individuation. Der Mensch ist nach Hesse nicht von Geburt an „fertig“, sondern nur ein ungestaltetes Material, „ein Wurf der Natur nach dem Menschen hin“, wie Hesse im Vorwort zu Demian schreibt. Dieses Material strebt jedoch danach, einmal feste Form zu gewinnen und zur vollwertigen Persönlichkeit zu werden, die jedem Menschen von vornherein potentiell mitgegeben wird. Die „Menschwerdung“ ist Hesse etwa mit dem Ende des Ersten Weltkrieges zum vorrangigen Anliegen geworden und so machen alle seine Protagonisten den Prozess des inneren Wachstums durch. Die Etappen dieses Wachstumsprozesses hat Hesse in seinem Aufsatz „Ein Stückchen Theologie“ (1932) festgehalten:

Der Weg der Menschenwerdung beginnt mit der Unschuld (Paradies, Kindheit, verantwortungsloses Vorstadium). Von da führt er in die Schuld, in das Wissen um Gut und Böse, in die Forderungen der Kultur, der Moral, der Religionen, der Menschheitsideale.

Bei jedem, der diese Stufe ernstlich und als differenziertes Individuum durchlebt, endet sie unweigerlich mit Verzweiflung, nämlich mit der Einsicht, dass es ein Verwirklichen der Tugend, ein völliges Gehorchen, ein sittsames Dienen nicht gibt, dass Gerechtigkeit unerreichbar, dass Gutsein unerfüllbar ist. Diese Verzweiflung führt nun entweder zum Untergang oder aber zu einem dritten Reich des Geistes, zum Erleben eines Zustandes jenseits von Moral und Gesetz, ein Vordringen zu Gnade und Erlöstsein, zu einer neuen, höheren Art von Verantwortungslosigkeit, oder kurz gesagt, zum Glauben. Einerlei welche Formen und Ausdrücke der Glaube annehme, sein Inhalt ist jedes Mal: dass wir wohl nach dem Guten streben sollen, soweit wir vermögen, dass wir aber für die Unvollkommenheit der Welt und für unsere eigene nicht verantwortlich sind, dass wir uns selbst nicht regieren, sondern regiert werden, dass es über unserem Erkennen einen Gott oder sonst ein „Es“ gibt, dessen Diener wir sind, dem wir uns überlassen dürfen.[21]

Da jeder Mensch sich zuerst in dem Stadium der kindlichen Unschuld befindet, ist die Individuation für Hesse die erste und die wichtigste Aufgabe des Menschen. Nach Hesses Auffassung bedeutet die Individuation die Herausbildung eines individuellen Ich, einer einmaligen und unverwechselbaren Persönlichkeit, wie sie Hesse in seinen Romanfiguren gestaltet hat. So schreibt Hesse:

Ich glaube, hier haben wir den Anfang des roten Fadens gefunden, der durch mein ganzes Werk geht. Ich bin zwar nicht bei der etwas kauzigen Eremitenhaltung Camenzinds geblieben, ich habe mich im Lauf meiner Entwicklung den Problemen der Zeit nicht entzogen und nie, wie meine politischen Kritiker meinen, im elfenbeinernen Turme gelebt – aber das erste und brennendste meiner Probleme war nie der Staat, die Gesellschaft oder die Kirche, sondern der einzelne Mensch, die Persönlichkeit, das einmalige, nicht normative Individuum.[22]

In der vorliegenden Arbeit möchte ich diesen „Faden“ aufnehmen, ihn betrachten, wie er die Richtung wechselt und doch immer den gleichen Weg – den Weg nach innen, den Weg der Individuation – geht. Mein Hauptanliegen ist dabei aufzuzeigen, wie Hesse in seinem Werk fernöstliche und psychoanalytische Inhalte zu einem Grundgedanken der Individuation verknüpft.

Im ersten Teil der Arbeit wird der Individuationsbegriff aus der Sicht C. G. Jungs vorgestellt. Anschließend soll gezeigt werden, dass die für Hesse maßgeblichen fernöstlichen Religionen – das sind vor allem der Hinduismus, der Buddhismus und der Taoismus – trotz aller Verschiedenheiten ein gemeinsames Bild vom Menschen und seinen Entwicklungsmöglichkeiten haben, das in ihrem Konzept der „Realisierung des Selbst“ mit dem von C. G. Jung entworfenen Individuationsprozess übereinstimmt. Ebenfalls wird Hermann Hesses Drei-Stufen-Modell der menschlichen Entwicklung in den Kontext der Archetypenlehre C.G. Jungs eingebunden.

Im zweiten Teil wird untersucht, wie Hesse diese Anschauungen in seinem Werk zusammengefügt und sie dichterisch umgesetzt hat. Es soll vor allem auf die Werke eingegangen werden, die meiner Meinung nach die Individuation besonders exemplarisch und von den unterschiedlichen Ansätzen her thematisieren: Demian und Siddhartha. Durch die Gegenüberstellung dieser beiden Werke, soll vor allem der inhaltliche Wandel in der Individuationsthematik Hesses gezeigt werden: während Demian noch einen „exemplarischen Jungschen Individuationsprozess“[23] darstellt, wird der ‚Weg zum Selbst‘ im Siddhartha durch die Synthese fernöstlicher Religionen und Philosophien ergänzt.

Hesses Stellung als autobiographischer Autor soll im Rahmen dieser Arbeit weniger Beachtung geschenkt werden, als in der Sekundärliteratur getan wird; stattdessen sollen die in zahlreichen Essays und Briefen geäußerte Stellungnahmen des Schriftstellers zu der hier zu behandelnden Thematik und Hesses eigene Aussagen über sein Werk herangezogen werden.

II. Der Begriff der Individuation

1. C.G. Jungs Begriff der Individuation

Der Jungschen Psychologie liegt ein tiefenpsychologisches Persönlichkeitsmodell zu Grunde, d.h. sie geht davon aus, dass die Seele aus bewussten und unbewussten Anteilen besteht. Die gesamte Psyche, also das Ganze des menschlichen Wesens, das sowohl das Bewusste als auch das Unbewusste umfasst, nennt Jung „das Selbst“. Den Vorgang, unbewusste Vorgänge, in Form von Phantasien oder Träumen allmählich ins Bewusstsein übertreten zu lassen, nennt Jung „Individuationsprozess“.[24] In dessen Verlauf werden bestimmte archetypische Vorstellungen und Erlebniskomplexe, die zunächst entweder im Unbewussten ruhen oder in die Außenwelt projiziert sind, vom Ich-Bewusstsein als Anteile der eigenen Psyche anerkannt („assimiliert“), wodurch ein höherer Grad an innerer Ganzheit realisiert wird.[25]

Im Zusammenhang mit dem Bewussten erwähnt Jung „das Ich“ und „die Persona“. Das Ich ist „das Subjekt aller persönlichen Bewusstseinsakte“[26], in anderen Worten, das Ich ist das Zentrum des Bewussteins. Jung betont jedoch, dass das Ich trotz seiner bedeutenden Stellung „nicht mehr und nicht weniger als das Bewusstsein“[27] ist, während das Gesamtbild der Persönlichkeit auch das Unbewusste einschließt.

Die Persona ist „die Maske, die wir der Welt zeigen“[28], also ein Bild, das wir unserer Umwelt präsentieren (möchten). Sie entspricht einerseits unserem Ideal von uns selbst, andererseits unserer Vorstellung davon, wie unsere Umwelt uns sehen will. Die Persona, so persönlich sie auch zu sein scheint, ist zum überwiegenden Teil von der Gesellschaft und ihren Normen geschaffen. Die Gefahr sieht Jung darin, dass man „mit der Persona identisch wird“[29], d.h. dass man sich allzu intensiv in seine Rolle einlebt und seine eigene Natur vergisst:

Je zivilisierter, das heißt je bewusster und komplizierter der Mensch aber ist, desto weniger vermag er dem Instinkte zu folgen. Seine komplizierten Lebensumstände und der Einfluss der Umgebung sind so laut, daß sie die leise Stimme der Natur übertönen. Dann treten Meinungen und Überzeugungen, Theorien und Kollektivtendenzen an deren Stelle und unterstützen alle Abwegigkeiten des Bewußtseins.[30]

Das was außerhalb des Ichs und der Persona steht, ist das „unbekannte“ Unbewusste, „der Zustand verdrängter oder vergessener Inhalte“[31]. Das Unbewusste kann laut Jung in „das persönliche Unbewusste“ und das „kollektive Unbewusste“ eingeteilt werden. Die erste Gruppe betrifft Inhalte, welche integrierende Bestandteile der individuellen Persönlichkeit darstellen und daher ebenso gut auch bewusst sein könnten; diese ruhen aber auf einer tieferen Schicht, dem „kollektiven Unbewussten“, welches nicht mehr individueller, sondern allgemeiner Natur ist, d.h. „überall und in allen Individuen cum grano salis [das] gleiche ist“[32]. Somit bildet das kollektive Unbewusste die in jedem Menschen vorhandene, allgemeine seelische Grundlage überpersönlicher Natur, unabhängig von verschiedenen kulturellen und geographischen Voraussetzungen. Die Inhalte des kollektiven Unbewussten sind die sogenannten Archetypen – Urbilder, die in symbolischen Bildern, Träumen, Mythen und Märchen erfahrbar sind. Die Ähnlichkeit zwischen den Mythen und Märchen unterschiedlichster Völker ist somit darauf zurückzuführen, dass sie psychische Manifestationen der „allgemeinen“ Seele sind.[33] Diese beeinflussen oft unser Tun, ohne dass es uns bewusst ist. Unbewusste Phänomene werden vom Bewusstsein verdrängt, weil sie „die schlimmen Blutgeister, raschen Zorn und sinnliche Schwäche“[34] enthalten:

Wer in den Spiegel des Wasser [=das Unbewusste] blickt, sieht allerdings zunächst sein eigenes Bild. Wer zu sich selber geht, riskiert die Begegnung mit sich selbst. Der Spiegel schmeichelt nicht, er zeigt getreu, was in ihn hineinschaut, nämlich jenes Gesicht, das wir der Welt nicht zeigen, weil wir es durch die Persona, die Maske des Schauspielers, verhüllen. Der Spiegel aber liegt hinter der Maske und zeigt das wahre Gesicht.[35]

Die Archetypen, die am meisten unser Tun beeinflussen und oft das Ich „stören“ sind der Schatten, Anima und Animus.

Das Gegenteil der Persona ist der Schatten. Der Schatten drückt alle Eigenschaften aus, die zur Persönlichkeit eines Menschen gehören, die von seiner bewussten Seite aber verdrängt werden. Der Schatten aber ist ein lebendiger Teil der Persönlichkeit und will darum in irgendeiner Form mitleben. Zu Begegnungen mit dem eigenen Schatten kommt es also, weil das Unbewusste die Tendenz hat, nach Ganzheit zu streben, also alle Anteile – und auch den Schatten – mit einzubeziehen. Die negative Bewertung des Schattens findet nur durch den Menschen statt, der die ungeliebten Inhalte am liebsten verbannen möchte. Für Jung ist die Anerkennung der dunklen Aspekte der Persönlichkeit jedoch ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Selbsterkenntnis.[36]

Anima ist ein Archetyp weiblicher Art und weiblicher Form, d.h. er beschwört archetypische Bilder des Weiblichen im Unbewussten eines Mannes. Anima tritt in Träumen, Visionen und Phantasien personifiziert auf und ist, so Jung, „keine Erfindung des Bewußtseins, sondern eine Spontanproduktion des Unbewußten“.[37] Die Anima entspringt dem Eros und

ist ein Faktor von höchster Wichtigkeit in der Psychologie des Mannes, wo immer Emotionen und Affekte am Werke sind. Sie verstärkt, übertreibt, verfälscht und mythologisiert alle emotionalen Beziehungen zu Beruf und Menschen beiderlei Geschlechts. Die darunter liegenden Phantasiegespinste sind ihr Werk. Wenn die Anima in stärkerem Maße konstelliert ist, so verweichlicht sie den Charakter des Mannes und macht ihn empfindlich, reizbar, launisch, eifersüchtig, eitel und unangepaßt. Er ist im Zustande des „Unbehagens“ und verbreitet Unbehagen im weitesten Umkreis.[38]

Wie das Unbewusste eines Mannes durch die weibliche Anima kompensiert wird, so wird das Unbewusste einer Frau durch das Männliche – den Animus – kompensiert. Während die Anima dem mütterlichen Eros entspricht, entspricht der Animus dem väterlichen Logos. Beide, Anima und Animus, so Jung, sind als Personifikationen des Unbewussten zu betrachten aber auch als Vermittler zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein. Beide haben eine gleich starke Wirkung auf das Ich, jedoch auf unterschiedliche Art; während die Anima dem Eros entspricht und somit dem männlichen Bewusstsein Sinnliches beibringt, verleiht der Animus, der dem Logos entspricht, dem weiblichen Bewusstsein Erkenntnis und Nachdenklichkeit.[39] Beide Archetypen wurden in der Vorzeit als Götter, die ja für unbewusste Mächte stehen, aufgefasst, oft als Götterpaar (z.B. als Shiva und Parvati im Hinduismus oder als Christus und Maria im Christentum).

Die Anima und der Animus treten häufig als Mittler zum komplexesten und bewusstseinsfernsten aller Archetypen, nämlich zum Selbst, auf. Das Selbst ist nach Jung am tiefsten im kollektiven Unbewussten vergraben und manifestiert sich deshalb erst nach der Auseinandersetzung mit den übrigen Archetypen. Die Integration des Selbst wird vom Ich-Bewusstsein meist als Wiedergeburtserlebnis oder eine Gotteserfahrung erlebt.[40]

2. Individuation im Hinduismus: Der Glaube an Atman

Was Hinduismus von den anderen Weltreligionen unterscheidet, ist, dass er keine fest umrissene Dogmatik besitzt, d.h. es gibt keine allgemein verbindlichen Theorien über die Entstehung der Welt oder den Glauben an einen überweltlichen Gott. Die Hindus glauben an die Ewigkeit der sich immer wieder erneuernden Welt, weswegen sie keinen Weltanfang, keinen Schöpfungsmythos und keinen einmaligen geschichtlichen Weltprozess kennen. Der Hinduismus geht jedoch davon aus, dass alle Vielfalt aus einer ursprünglichen Einheit, Brahman genannt, hervorgegangen ist, die den Urgrund von allem existierenden bildet und in allem verborgen ist (diese Anschauung ist mit der platonischen Ideenlehre vergleichbar). In den Upanishaden („Geheimlehren“) finden wir den Gedanken, dass das Brahma, das göttliche All-Eine, mit dem „Atman“, dem „Selbst“, als innerstem Kern jedes Einzelwesens identisch ist, weil jedes Einzelwesen aus dem Allwesen hervorging.[41] Atman ist also auch der Kern des Menschen, was als der Gott im Menschen oder die Identifikation der Einzelseele mit Gott verstanden werden kann (Atman und Brahman bedeuten somit das gleiche). Dieses integrale Verständnis menschlicher Existenz wohl am deutlichsten in der upanishadischen Identitätsformel tat tvam asi („Das bist du“) zum Ausdruck gebracht.

Im Gegensatz zum Brahman ist das Selbst nicht ewig frei, sondern durch die Materie (also den Verstand-Sinne-Leib-Komplex) gebunden. Die Ursache dieser Gebundenheit ist nicht die bloße Anwesenheit der Materie, sondern die falsche Identifikation mit ihr, die aufgrund der Unwissenheit besteht. Wenn das richtige Wissen im Selbst aufsteigt, verschwindet die falsche Identifikation und das Selbst erscheint tatsächlich als körperlos. Von einer solchen Person, die schon im Leben, obwohl immer noch im Körper, vom Körper befreit ist, wird gesagt, dass sie während des Lebens erleuchtet wurde.[42]

Welches Wissen und welche Philosophie ist es, die einem helfen kann, die eigene Materie zu überwinden? „Das Ziel der Selbstverwirklichung [also der Realisierung des Selbst]“, schreibt Balasubramanian, „kann nur durch Mittel eines neuen Denkens erreicht werden, ein radikales Fragen nach dem Gegebenen, eine rigorose Prüfung der Lebenswelt, was zwangsläufig zu einer Neubewertung der Werte führen muss.“[43]

Dass der einzelne immer auch ein Teil des Ganzen ist, bildet die Voraussetzung für die totale Verkettung alles Seins. Was der einzelne vollzieht, hat zugleich kosmische Auswirkungen. Umgekehrt heißt es, die Erlösung besteht in einem völligen aufgehen der Einzelseele in der Allseele,[44] d.h. das Heil wird durch die Erfahrung des Ganzseins erreicht. Da der Hinduismus von der Seelenwanderung (Sansara) ausgeht, ist das Ziel jedes religiösen Menschen, sich durch gute Taten eine gute Wiedergeburt zu sichern (Karma). Alles, was der Mensch tut und denkt, wirkt sich auf spätere Leben aus und bestimmt sein Schicksal. Jeder trägt die Verantwortung für sein Leben und sein Geschick.

Hesse gefiel dieses Konzept:

An etwas wie eine Seelenwanderung glaube auch ich, ich halte das eigentlich für selbstverständlich, sobald man anfängt zu denken. Dieser Glaube hat manches Beruhigende, aber er enthält auch die Erkenntnis, dass alles, was wir erleben, von uns selbst gewollt und herbeigerufen ist, und dann gibt es keine Ausflüchte und keinen Trost mehr gegen das bittere Schicksal, als sich damit einverstanden erklären und ja dazu zu sagen, und das ist immer schwer.[45]

Es gibt jedoch keine allgemeinmenschlichen ethischen oder rituellen Pflichten, weil der Hinduismus davon ausgeht, dass alle Menschen verschieden sind. Deswegen muss jeder seinen Weg und seinen Glauben selbst finden, womit der Hinduismus seinen Bekennern in allen Glaubensdingen eine so große Bewegungsfreiheit gewährt, wie keine andere Religion. Es existiert im Hinduismus die Überzeugung, dass viele Wege zum Heil nebeneinander möglich sind, weil sie alle nur individuelle Hilfsmittel darstellen für die Erreichung eines Zieles, dessen wahres Wesen über das menschliche Begreifen hinausgeht.

Auch das Tun des einzelnen unterliegt nicht festen, für alle geltenden Vorschriften: es gibt daher Hindus, die Fleisch essen, und solche, die Vegetarier sind, solche, die wolllustige Orgien feiern, und andere, die sich der höchsten Askese hingeben.[46] Die einzige gemeinsame Grundlage der Hindus ist das Wissen um Dharma – ein Weltgesetz, das den Kosmos im Großen wie im Kleinen ordnet.

Diese Ordnung offenbart die Fähigkeit jedes Lebewesens, seien es Tiere oder Menschen und somit ihre Aufgaben. Hieraus entstand das Kastenwesen als soziale Ordnung, die die Menschen nach dem Prinzip, das sich Gleiche zueinander gesellen, in verschiedene Klassen einteilt. Das Kastenwesen soll ein „funktionierendes soziales Organismus“[47] schaffen.

3. Individuation im Buddhismus: Der Weg zur Erleuchtung

Der Buddhismus ist eine Lehre, dessen Begründer mit dem Ehrentitel „Buddha“ bezeichnet wird. Das Wort Buddha bedeutet der „Erwachte“ und impliziert, dass jemand, der diesen Namen trägt, „aus der Nacht des Irrtums zum Lichte der Erkenntnis“[48] erwacht ist. Als Buddha wird zum einen der historische Buddha (mit dem Vornamen Siddhartha und dem Familiennamen Gautama) bezeichnet, zum anderen aber auch grundsätzlich jeder Mensch, „der die zur Erlösung aus dem Kreislauf der Existenzen (Sansara) führende vollkommene Erleuchtung verwirklicht und damit die vollkommene Befreiung (Nirwana) erreicht hat“.[49] Buddhismus geht grundsätzlich davon aus, dass prinzipiell jeder Mensch in der Lage ist, einen Erleuchtungszustand zu erreichen.

Das Wesen eines Buddha besteht darin, dass er aus eigener Kraft sein Wissen erlangt hat, dieses also weder durch die Offenbarung eines Gottes noch durch das Studium heiliger Schriften oder durch die Unterweisung eines Lehrers gewann.[50] Hiermit ist einer der wichtigsten Punkte der buddhistischen Lehre benannt: Die „Erweckung“ kann nicht durch eine von außen kommende Belehrung herbeigeführt werden, sondern ist das Ergebnis eines im Menschen selbst stattgefundenen Erkennungsprozesses; jeder hat also an seiner eigenen „Erleuchtung“ selbst zu arbeiten. Der Mensch kann jedoch nicht von sich allein den Weg zum Heil finden; vielmehr braucht es einer Unterweisung durch einen anderen, der den Prozess in Gang setzen kann.

Der Buddha selbst kann den äußeren Anstoß, der ihn schließlich zur Erleuchtung führte, von außen nicht empfangen haben, da es keinen anderen Buddha gab. Er kann also nur in einer seiner früheren Daseinsformen einmal den Buddha eines früheren Zeitalters gehört haben. Der historische Buddha ist somit weder der erste noch der letzte Buddha. Er wurde durch diesen Eindruck, der ihn unbewusst durch alle seine Wiedergeburten begleitete, Stufe für Stufe zu seiner eigenen Buddhaschaft geführt.[51]

Buddha ist kein Heiland, der andere ohne deren Zutun erlöst, sondern lediglich ein Wegweiser, der den Pfad zum Heil nur zeigen, nicht aber die Unterwiesenen dazu führen kann. In allen Formen des Buddhismus ist Buddha ein „vervollkommnter Mensch, der Hass, Gier und Verblendung von sich abgetan und ich höchster Leidenschaftslosigkeit und Weisheit alles Irdische überwunden hat.“[52]

Dem buddhistischen, in seiner Größe und Ausbreitung kaum überschaubarem Denken liegen zwei „Urkategorien“ zugrunde, die zusammen mit der dazugehörigen Praxis der Meditation die Grundlage des Buddhismus als solchen bilden: Anatta („Nicht-ich-heit“, „Selbstlosigkeit“) und Sunyata („Leere“).[53] Ähnlich wie im Hinduismus geht es im Buddhismus um die Verwirklichung des wahren Selbst. Um zum Selbst zu werden muss der Mensch sich von seiner Ich-Fesselung befreien, in welcher der Buddhismus den Grund alles Leidens erblickt. Die Ich-Fesselung bewirkt die Blindheit gegen sich selbst, den Hass gegen die anderen und die Habgier nach Besitzen. Hermann Hesse formulierte es so:

Vier Dinge sind es, von welchen die meisten Menschen abhängen, welche sie allzu sehr begehren: Langes Leben – Ruhm – Rang und Titel – Geld und Gut. … Die Menschen, welche diesen vier Abhängigkeiten unterliegen, leben wie Unsinnige. Einerlei, ob man sie totschlage oder am Leben lasse: das Schicksal kommt diesen Menschen von außen her!

Wer aber sein Schicksal liebt und sich mit ihm eins weiß – was fragt der nach langem Leben, nach Ruhm, nach Rang, nach Reichtum?!

Die Menschen dieser Art haben den Frieden in sich. Nichts in der Welt kann sie bedrohen, nicht kann ihnen feind werden. Im eigenen Innern tragen sie ihr Schicksal.[54]

Der buddhistische Weg zum wahren Selbst führt über das „Nichts-tun, nichts-sehen, nichts-denken“ der Meditation. Wenn sich der Mensch, sich selbst lassend, in seinem Nichts befindet, erschließt sich ihm die Dimension Gottes.[55]

Der Weg führt also von der Ich-bin-Ich-Identifikation zum selbst-losen Selbst, was als „Erwachen“ oder „Erleuchtung“ bezeichnet wird. Die Selbstlosigkeit des Selbst bedeutet für den Menschen auch die Offenheit für andere Wesen, d.h. der Mensch im Buddhismus unterscheidet nicht wesentlich zwischen sich selbst und anderen Wesen. Folglich sind die drei Größen Gott-Mensch-Welt untrennbar eng und tief miteinander verbunden.

Dieser Gedanke faszinierte Hermann Hesse besonders. So schreibt er:

Sie sagen, das Suchen des Ich sei weniger wichtig als das Finden des rechten Verhältnisses zu den andern. Aber dies ist gar nicht zweierlei. Wer jenes echte Ich sucht, der sucht zugleich die Norm alles Lebens, denn dies innerste Ich ist bei allen Menschen gleich, es ist Gott, es ist der „Sinn“. Darum sagt der Brahmane zu jedem fremden Wesen „tat twam asi“ – das bist du! Er weiß, dass er keinem andern Wesen schaden kann, ohne sich selbst zu schaden, und dass Egoismus keinen Sinn hat.

Der historische Buddha, also Siddhartha Gautama, erreichte die Erleuchtung im siebenten Jahr seines Asketentums unter dem Baum der Erleuchtung. Die Erleuchtung beinhaltete (1) die Erinnerung an seine eigenen früheren Daseinsformen, (2) die Erkenntnis der Wiedergeburt der anderen Wesen und (3) das Wissen um die vier edlen Wahrheiten und die Vernichtung der drei Grundübel: Sinneslust, Werdelust und Nichtwissen.[56] Was ist aber diese Erleuchtung, die der Buddha erlangte? Nach der buddhistischen Auffassung ist das Wesen der Erleuchtung nicht mitteilbar, doch für die Außenstehenden durchaus sichtbar. In der Zusammenfassung der Buddha-Legende im „Lexikons der östlichen Weisheiten“ steht:

Da dem Erwachten klar war, dass der wesentliche Gehalt seiner Erleuchtungserfahrung weder in Worte zu fassen noch in irgendeiner Form anderen zu übermitteln war, verharrte er weiter in schweigender Meditation unter dem Bodhi-Baum. Als er seinen früheren Gefährten wieder begegnete, sahen sie, dass er völlig verwandelt war. Seine Ausstrahlung war derart, dass sie, die ihm im ersten Augenblick mit Misstrauen gegenübergetreten waren, überzeugt waren, er müsse die Befreiung gefunden haben, nach der auch sie auf dem Weg der Askese bisher vergeblich gestrebt hatten. Sie baten ihn um Unterweisung, und von Erbarmen mit dem Leid aller Lebewesen bewegt, brach der Buddha sein Schweigen. Er begann, den Weg aufzuweisen, der zur Erfahrung des Erwachens und damit der Befreiung führt.[57]

Nach Buddhas Lehre ist die Vergänglichkeit der Grund alles Leides. Das Leid kann nur verschwinden, wenn die Gier und die anderen Leidenschaften vernichtet werden, was aber nur allmählich im Verlauf vieler Wiedergeburten möglich ist. Buddhas Lehre sieht daher ein stufenweises Vorwärtsschreiten zum Heil vor, wobei das Einzelwesen sich durch viele Existenzen hindurch läutert und so bessere Vorbedingungen für eine Wiedergeburt schafft. Hat ein Wesen am Ende seiner unendlich vielen Daseinsformen, nach vielen Rückfällen und Wiederaufstiegen die völlige Leidenschaftslosigkeit erreicht, so wird damit seiner Seelenwanderung ein Ende gesetzt. Mit dem Tode geht der Heilige in die ewige Ruhe des Nirwana ein – „die einzige wahre selige Realität, die bestehen bleibt, wenn alle vergänglichen Dharmas [Daseinsfaktoren] geschwunden sind.“[58] Hier unterscheidet sich der Buddhismus vom Hinduismus dadurch, dass er keinerlei ewige, beharrende, durch sich selbst existierende Substanzen (Atman, Brahma, usw.) hinter den Erscheinungen annimmt, sondern alle Phänomene als in funktioneller Abhängigkeit voneinander gesetzmäßig entstehende und vergängliche „Daseinsfaktoren“ betrachtet. Somit besteht das größte Heil in der Aufhebung aller Möglichkeiten zu einem neuen individuellen Dasein in einem Nirwana. Das Nirwana ist also im Gegensatz zum hinduistischen Brahma nicht ein einheitliches Absolutes, aus welchem alles hervorgegangen ist, wohl aber ein solches, in welches alles Erlöste eingeht.[59]

Nach indischer (buddhistischer und hinduistischer) Auffassung führen „unendlich viele Stufen von dem Zustand, in welchem ein Mensch das Dasein restlos bejaht, weil ihm noch nicht die Problematik desselben aufgegangen ist bis zu demjenigen, in welchem er sein wahres Wesen erkennt, aber noch zu schwach ist, die praktischen Konsequenzen daraus zu ziehen und schließlich weiter zu dem Endpunkt, wo die Erlösung aus dem Sansara zur Tatsache geworden ist.“[60] Die Zahl der Wesen nimmt jedoch mit jeder höheren Stufe ab, so dass die Erlösten schließlich nur eine kleine Elite ausmachen. Naturgemäß ist die Mehrheit aller Lebewesen, nicht nur Tiere, sondern auch Menschen, noch nicht in der Lage über ihr materielles Dasein hinauszudenken. Eine Stufe höher stehen diejenigen, welche an Karma und Wiedergeburt glauben und hoffen, durch gute Taten in immer neuen irdischen Existenzen die Voraussetzung für ein himmlisches Dasein zu schaffen. Doch nur die wenigen, die sich nach dem Unvergänglichen sehnen und nach dem Heil ringen, erreichen dieses auch.[61]

4. Individuation im Taoismus: Die Erlangung des Tao

Im Zentrum des Denkens des Lao Tse[62] steht das Tao. Das Wort Tao bedeutet ursprünglich „Weg, der zum Ziel führt“, aber auch „Ordnung“ und „Gesetz“, das in allem wirkt. Das Tao ist „der ewige Urquell allen Seins, eine substantielle Kraft, die allem zugrunde liegt“[63], vergleichbar mit dem indischen Brahman-Atman. Aus diesem Zustand der All-Einheit, in welchem alle Unterschiede noch ungetrennt sind, geht die Zweiheit, die Polarität von Yin und Yang hervor: Urgewalten, aufgrund derer alles im ständigen Wechsel ist. Indem also das All-Eine Tao zu einer Vielheit wird, treten in der Welt Gegensätze zutage, die vorher nicht vorhanden waren: gut und böse, schwer und leicht, vorher und nachher, usw. Diese Gegensätze bedingen und ergänzen einander:

Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander.

Schwer und Leicht vollenden einander

Lang und Kurz gestalten einander.

Hoch und Tief verkehren einander.

Stimme und Ton sich vermählen einander.

Vorher und Nachher folgen einander.[64]

Wenn es sich bei dem Yin-Yang-Prinzip um die sich ergänzende Polarität handelt, dann ergibt sich als Konsequenz für den Menschen, dass eine Tugend erst möglich ist, wenn ihr Gegenstück auftritt:

Geht der große Tao zugrunde,

so gibt es Sittlichkeit und Pflicht.

Kommen Klugheit und Wissen auf,

so gibt es die großen Lügen.[65]

„Das Tao ist wie ein Bogenspanner“, schreibt Wilhelm im Nachwort zu seiner Übersetzung des Tao Te King. „Es ergänzt jede Einseitigkeit durch ihr Gegenteil. […] Der Weg zum Tao[66] führt deshalb durch die Anerkennung der Gegensätze durch die Welt der Erscheinungen hindurch.“[67]

[...]


[1] Aus Hesses Brief vom 10.2.1956 in: Michels, Volker (Hrsg.): Materialien zu Hermann Hesses „Siddhartha“. Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977 (im Folgenden zit. Als Mat. Sid. Bd. 1), S. 219.

[2] Anonym: Hermann Hesse. Im Gemüsegarten. In: Augstein, R. (Hrsg.): Der SPIEGEL. Hamburg: 9. Juli 1958, S. 42-48.

[3] Petropoulou, Paraskevi: Die Subjektkonstruktion im europäischen Roman der Moderne. Zur Gestaltung des Selbst und zur Wahrnehmung des Anderen bei Hermann Hesse und Nikos Kazantzakis. Wiesbaden: 1997 (Diss. 1996) (im Folgenden zit. als: Petropoulou), S. 21.

[4] http://www.gss.ucsb.edu/projects/hesse/magazin2003.html

[5] Vgl.Red. Naturwiss. u. Medizin d. Bibliograph. Inst. (Hrsg.): Meyers kleines Lexikon Psychologie. Mit einer Einleitung von P.R. Hofstätter. Mannheim/Wien/Zürich: 1986, S. 47.

[6] Jung, C.G.: Gesammelte Werke. Bd. 9/1. Die Archetypen und das Kollektive Unbewusste. Düsseldorf: Walter Verlag, 1995 (im Folgenden zit. als: Jung, Bd. 9/1) S. 307.

[7] Siehe z.B.: Baumann, Günter: Hermann Hesses Erzählungen im Lichte der Psychologie C.G. Jungs. Berlin: Schäuble, 1989 (im Folgenden zit. als: Baumann, Hermann Hesses Erzählungen); Mileck, Joseph: Hesse and Psychology. In: Hermann Hesse and his Critics. Chapel Hill: University of North Carolina, 1958. S. 158-166. Freedman, R. Hermann Hesse. Autor der Krisis. Frankfurt: Suhrkamp, 1982. All diese Untersuchungen sehen das Thema der Individuation eng mit der Biographie Hermann Hesses verbunden.

[8] Vgl. Schmidt-Hannisa, Hanns-Walter: Die Kunst der Seele. Poetologie und Psychologie des Traums bei Hermann Hesse. In: Träumungen 1998, S. 203-231. (im Folgenden zit. als: Schmidt-Hannisa, Hanns-Walter) hier: S. 208.

[9] Mileck, Joseph: Hermann Hesse. Dichter, Sucher, Bekenner. München: Bertelsmann, 1978. S. 107f.

[10] Elisabeth von Erdmann-Pandžić kritisiert die Anwendung eines ausschließlich psychologischen Ansatzes auf das Thema der Individuation bei Hesse, da solch eine Untersuchung auf die „Tauglichkeit [eines Romans] als Illustrationsbeispiel für das psychologische Methodensystem“ abziele und somit die literarische Beschaffenheit des Romans vernachlässige. Solche Interpretation erlaube außerdem nicht, kritische Fragen zur dahinterstehenden Psychologie zu stellen. (Erdmann-Pandžić, Elisabeth von: Hermann Hesses ‚Demian‘ und analytische Psychologie. In: Canadian Review of Comparative Literature 17 1990. S. 120-139. Hier: S. 124-126.)

[11] Zit. nach Karalaschwili, Reso. Hermann Hesses Romanwelt. Köln: Böhlau, 1986 (im Folgenden zit. als: Karalaschwili), S. 268.

[12] Ebd.

[13] In seinem Artikel „Künstler und Psychoanalyse“ betrachtet Hesse die Psychoanalyse als „einen Schlüssel mehr“, sieht darin jedoch „keinen absoluten Schlüssel“. „So falsch er [der Künstler] daran tut, die Technik der Analyse in die künstlerische hinüberzunehmen, so recht tut er doch daran, die Psychoanalyse ernst zu nehmen und zu verfolgen, […] das dichterische Erfassen seelischer Vorgänge bleibt Sache des intuitiven, nicht des analytischen Talents.“ (In: Hermann Hesse: Gesammelte Schriften. Bd. 7. Betrachtungen und Briefe. S. 137-139).

[14] Jung, C.G.: Gesammelte Werke. Bd. 6. Psychologische Typen. Düsseldorf: Walter Verlag, 1995 (im Folgenden zit. als: Jung, Bd. 6), S. 165.

[15] Vgl.: Coriando, Paola-Ludovika. Individuation und Einzelsein. Nietzsche – Leibniz – Aristoteles. Frankfurt am Main: Vottorio Klostermann, 2003. S. 10.

[16] Hesse schreibt: „Die Stimme Gottes kommt nicht vom Sinai und nicht aus der Bibel, das Wesen der Liebe, der Schönheit, der Heiligkeit liegt nicht im Christentum, nicht in der Antike, nicht bei Goethe, nicht bei Tolstoi – es liegt in dir, in dir und in mir, in jedem von uns. … Es ist die Lehre vom „Himmelreich“, welches wir „inwendig in uns“ tragen. („Weihnacht“ (1917) in: Hesse, GS, Bd. 7, S. 95).

[17] Vgl. Baumann, Hermann Hesses Erzählungen, S. 4.

[18] Jung, Bd. 9/2, S. 41.

[19] Rezension über Keyerlings „Reisetagebuch eines Philosophen“ vom November 1990 in: Mat. Sid. Bd. 1, S. 114.

[20] Rezension von O.A.Schmitz, „das Dionysiche Geheimnis“ in „Wissen und Leben“ vom Juni1921. In: Mat. Sid. Bd. 1, S. 132

[21] Hesse, Hermann: Gesammelte Schriften, Bd. 7. Betrachtungen und Briefe. Frankfurt am Main: Suhrkamp: 1957 (im Folgenden zit. als: GS), S. 388.

[22] Hermann Hesse. Sämtliche Werke. Bd. 12. Selbstzeugnisse, Erinnerungen, Gedenkblätter und Rundbriefe. Herausgegeben von Volker Michels. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003. S. 196.

[23] Baumann, Hermann Hesses Erzählungen, S. 80.

[24] Vgl. Jung, Bd. 9/1, S. 293-300.

[25] Vgl. Baumann, Hermann Hesses Erzählungen, S. 2.

[26] Jung, C.G. Gesammelte Werke. Band 9/2. Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst . Düsseldorf: Walter Verlag, 1995 (im Folgenden zit. als: Jung, Bd. 9/2), S. 12.

[27] Ebd., 14.

[28] Jung, Bd. 9/1, S. 30.

[29] Ebd. S. 137.

[30] Jung, Bd. 9/2, S. 29.

[31] Jung, Bd. 9/1, S. 13.

[32] Ebd.

[33] Vgl. Jung, Bd. 9/1, S. 15.

[34] Vgl. Jung, Bd. 9/1, S. 29.

[35] Ebd., S. 29-30.

[36] Vgl. Jung, Bd. 9/2, S. 17.

[37] Ebd., S. 22

[38] Jung, Bd. 9/1, S. 86

[39] Vgl. Jung, Bd. 9/2, S. 27-29.

[40] Siehe auch S. 4.

[41] Vgl. Von Glasenapp, Helmut: Die fünf Weltreligionen. Köln: Diederichs, 1985 (im Folgenden zit. als: Von Glasenapp, Die fünf Weltreligionen), S. 30.

[42] Vgl. Balasubramanian, R.: Weltursprung, Gottesbegriff und Menschenbild im Hinduismus. In: Koslowski, Peter (Hrsg.): Gottesbegriff, Weltursprung und Menschenbild in den Weltreligionen. München: Wilhelm Fink, 2000. S. 47.

[43] Ebd. S. 45.

[44] Von Glasenapp weist darauf hin, dass es keine konkreten Angaben über das Wesen der Erlösung gibt; sie wurde somit von unterschiedlichen indischen Theologen auf vielfache Weise interpretiert. (Vgl. Von Glasenapp, Helmut: Die Philosphie der Inder. Stuttgart: Kroener, 1974. S. 176-178.)

[45] Hesses Brief vom Sommer 1920 in: Mat. Sid. Bd. 1., S. 103.

[46] Vgl. Von Glasenapp, Die fünf Weltreligionen, S. 15.

[47] Ebd, S. 19.

[48] Ebd., S. 61.

[49] Fischer-Schreiber, Ingrid; Schuhmacher, Stephan (Hrsg.): Lexikon der östlichen Weisheitslehren. Buddhismus, Hinduismus, Taoismus, Zen. München: Barth, 1986 (im Folgenden zit. als: Lexikon der östlichen Weisheitslehren), S. 51.

[50] Buddha sagt: „Ich selbst habe die Erkenntnis erlangt, wessen Anhänger sollte ich mich nennen? Ich habe keinen Lehrer, ich bin der unvergleichliche Lehrer.“ Zit. in: Von Glasenapp, Die fünf Weltreligionen, S. 61.

[51] „Shakyamuni Buddha, der historische Buddha, ist nicht der erste und einzige Buddha. Schon in frühen hinayanist. Texten werden sechs ihm in früheren Weltzeitaltern vorausgegangene Buddhas erwähnt.“(In: Lexikon der östlichen Weisheitslehren, S. 51f.)

[52] Von Glasenapp, Die fünf Weltreligionen, S. 63.

[53] Vgl. Shizuteru, Ueda: Gottesbegriff und Menschenbild im Buddhismus. In: Koslowski, Peter (Hrsg.): Gottesbegriff, Weltursprung und Menschenbild in den Weltreligionen. München: Wilhelm Fink, 2000 (im Folgenden zit. als: Shizuteru in Koslowski), S. 52.

[54] Aus „Chinesische Betrachtung“, „Neue Züricher Zeitung“ vom 25.12.1921 in Mat. Sid. Bd. 1, S. 144.

[55] Shizuteru in Koslowski, S. 63.

[56] Vgl: Lexikon der östlichen Weisheiten, S. 50.

[57] Lexikon der östlichen Weisheiten, S. 355.

[58] Ebd. S. 77

[59] Vgl. Von Glasenapp, die Philosophie der Inder, S. 372.

[60] Ebd. S. 413.

[61] Vgl. ebd. S. 414.

[62] Lao Tse ist der Autor des Tao te Ching, das das Basiswerk des philosophischen wie auch des religiösen Taoismus darstellt.

[63] Von Glasenapp, die Fünf Weltreligionen, S. 124, 155.

[64] Wilhelm, Richard (Hrsg.): Lao Tse. Tao te King. Köln: Diederich, 1982 (im Folgenden zit. als: Lao Tse), S. 42.

[65] Lao Tse, S. 58.

[66] Wilhelm übersetzt Tao durchgehend mit „Sinn“

[67] In: Lao Tse, S. 146.

Excerpt out of 75 pages

Details

Title
Der Weg zum Selbst: psychoanalytische und fernöstliche Elemente in Hermann Hesses Individuationsthematik
College
University of Heidelberg
Grade
1,3
Author
Year
2009
Pages
75
Catalog Number
V144152
ISBN (eBook)
9783640543175
ISBN (Book)
9783640544172
File size
1188 KB
Language
German
Keywords
Selbst, Elemente, Hermann, Hesses, Individuationsthematik
Quote paper
Ilona Kramer (Author), 2009, Der Weg zum Selbst: psychoanalytische und fernöstliche Elemente in Hermann Hesses Individuationsthematik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/144152

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