Analyse des Werkes »Lazarillo de Tormes«

Eine Untersuchung zur Codierung von Armut.


Term Paper (Advanced seminar), 2009

28 Pages, Grade: 1,7

Rico Moyon (Author)


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

0 Einleitung - Zielsetzung und Methoden

1 Von Prosperität und Armut im Spanien der »Siglos de Oro«
1.1 Arten von Armut
1.2 Fragen über Fragen

2 Analyse des Werkes »Lazarillo de Tormes«
2.1 Tractado primero
2.1.1 Die Kindheit Lázaros: Fortuna, Tod und Familie
2.1.2 Der »ciego« - Lázaros erster Herr
2.2 Tractado segundo - »el clérigo«
2.3 Tractado tercero - Lázaro in Toledo
2.4 Tractado cuarto - »un fraile«
2.5 Tractado quinto - »un buldero«
2.6 Tractado sexto - »un capellán«
2.7 Tractado séptimo - »en la cumbre de toda buena fortuna«

3 Evaluierung der Ergebnisse

4 Bibliographie

0 Einleitung - Zielsetzung und Methoden

Die vorliegende Arbeit widmet sich einem Thema, dessen Aktualität bereits seit mehreren Jahrtausenden andauert - der Armut.

Denken wir an Whitechapel im 19. Jahrhundert oder an die Bronx in der heutigen Zeit - beide Stadtteile stehen bei uns als Synonyme für soziale Brennpunkte in der Welt; man meidet sie, wohlwissend um die Situation: Bettler, Obdachlose und Vaganten auf der einen Seite, Beamte, Offiziere und Millionäre auf der anderen. Sozial gesehen liegen Lichtjahre zwischen ihnen, im geographischen Maßstab trennen diese Schichten hingegen nur einige Kilometer. Man kreuzt die Wege von Menschen, die einen Einkaufswagen vor sich her- schieben oder im Eingang einer kirchlichen Einrichtung um Almosen bitten, und hin und wieder versucht man, das Leben dieser bedauernswerten Kreaturen durch das Zustecken ei- ner flachen, metallenen Scheibe zumindest für einen Moment zu verbessern - und um sein Gewissen zu erleichtern. Doch wer ist hier eigentlich arm? Und wie äußert sich diese Fom der sozialen Stigmatisierung?

Im Zuge der Analyse des Lazarillo de Tormes soll es in erster Linie darum gehen, die Ar- mut, die sich hinter den Kulissen versteckt, auf die Bühne hervorzuholen und zu präsentie- ren. Kurzum: Die Armut wird zum Protagonisten umfunktioniert - und diese übernimmt vielerlei Rollen.

Im ersten Kapitel wird ein kurzer Abriss über die spanische Zivilisation und Literatur jener Zeit gegeben, die uns die Frage nach der Armut im Lazarillo de Tormes klar vor Augen halten werden. Um die Armut im Text jedoch überhaupt sichtbar machen zu können, wird eine Klassifizierung verschiedener Arten mitsamt der dazugehörigen Charakteristika angelegt, um - hierauf aufbauend - wiederum einen strukturierten Fragenkatalog zu erstellen, der uns in den sich anschließenden Kapiteln, die sich der spezifischen Analyse der Codierungen von Armut widmen, eine effiziente Arbeit ermöglichen soll.

Lille, September 2009

1 Von Prosperität und Armut im Spanien der »Siglos de Oro«

Betrachten wir rückblickend das 'Goldene Zeitalter' Spaniens, die so genannten Siglos de Oro, suggeriert dieser Epochenbegriff für sich genommen zunächst eine scheinbar heile Welt im 16. und 17. Jahrhunderts auf der Iberischen Halbinsel.

Namen wie Lope de Rueda, Lope de Vega, Calderón de la Barca oder Miguel de Cervantes Saavedra evozieren mit ihren Werken in unserer heutigen Zeit ein idyllisch-exotisches Bild eines vergangenen Spaniens, dessen literarische Produktion zwar zweifelsohne als heraus- ragend angesehen werden kann, zugleich jedoch auch von der außerliterarischen, d.h. rea- len Welt, ablenkt.

In diesem Zusammenhang sei einerseits auf ethnische Konflikte und Sklavenhaltung, auf der anderen Seite aber insbesondere auf die hierarchisch-vertikale gesellschaftliche Auftei- lung (Stichwort: Asymmetrie) in der Bevölkerung hingewiesen, wobei sich die unteren so- zialen Schichten (u.a. Bauern) aus ungefähr 80% Bauern zusammensetzten (Edelmayer 2004: 158f.), die - abgesehen von einigen regionalen Ausnahmen - große Abgaben an ihre Grundherren zu leisten hatten. (Lynch 2007: 301) In dieser Hinsicht ist es somit auch nicht überraschend, dass etwa 20% der Gesamtbevölkerung im 16. Jahrhundert als arm bezeich- net werden konnte, »so arm, daß sie wirklich täglich um das Überleben kämpften«. (Edel- mayer 2004: 160)

Im krassen Gegensatz zum spanischen Weltreich unter Carlos V. (1516-1556) mitsamt der Kolonien in Übersee stand der gemeine Spanier, der im eigenen Lande um seine Existenz kämpfte. Versuchte die Literatur in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, dem Leser eine scheinbar reale Welt zu suggerieren, wie es u.a. die Ritteromane um Amad í s de Gaula (1508) zu tun wussten, wurde in den 1550er Jahren schließlich mit der anonymen Veröffentlichung des Lazarillo de Tormes (1554) eine neue literarische Gattung, der Schelmenroman, eingeführt, der den Vorläufer des späteren pikaresken Romans (z.B. Gúzman de Alfarache 1599) darstellen würde. (Strosetzki 1996: 108)

In diesen Werken standen nunmehr keine Adligen oder hidalgos im Mittelpunkt, sondern 'normale' Bürger, denen die Fortuna (s.u.) kein 'sicheres', mit Privilegien verschönertes Leben beschert hatte. Sie sahen sich vielmehr in das Leben geworfen und es war an ihnen, sich in der Welt einen Platz zu erkämpfen, um - so offensichtlich und banal es klingen mag - leben zu können. In dieser Hinsicht erklärt Lázaro bereits im so genannten Prólogo dem »Vuestra Merced«, dass er ihm den »caso« darlegen möchte, indem er ihm seinen Lebensweg schildere, wobei ihm die Fortuna nicht wohlgesinnt gewesen sein sollte:

»Y pues Vuestra Merced escribe se le escriba y relate el caso muy por extenso, pare- cióme no tomarle por el medio, sino del principio, porque se tenga entera noticia de mi persona, y también porque consideren los que heredaron nobles estados cuán poco se les debe, pues Fortuna fue con ellos parcial, y cuánto más hicieron los que, siéndoles contraria, con fuerza y maña remando, salieron a buen puerto.« (p. 10f., m.H.)

In seinem, der zunächst unbekannten Person, die sich hinter der Anrede »Vuestra Merced« verbirgt, geschilderten »caso« beschreibt Lázaro eingehend seine Erlebnisse, sowohl die positiven als auch die negativen, die er in seinem bisherigen Leben - dem Verfassen seines Werdeganges - passieren musste, um sich im Leben zurecht zu finden. Dahingehend wird der Text in der heutigen Forschung als autobiographisch betrachtet. (Rico 1987) Ob jedoch die einzelnen tractados wahre Begebenheiten schildern, lässt sich nur mutmaßen und an- hand einiger nachweisbar nicht-fiktiver, historischer Angaben im Text erhärten. (Köhler 2006) Auf diese Frage soll in der vorliegenden Arbeit jedoch nicht näher eingegangen wer- den. Vielmehr werden wir versuchen - ausgehend von der Annahme, dass der Text auto- biographische Züge aufweist und dahingehend beansprucht, eine Beschreibung der damali- gen sozio-kulturellen Verhältnissen der spanischen Gesellschaft darzustellen (Strosetzki 1996) -, die sich in diesem Werk darstellenden Formen von Armut und deren literarische Codierung sowohl auf textueller als auch meta-textueller Ebene herauszuarbeiten.

Um Bilder von Armut auf Basis des Textes erstellen zu können, bedarf es jedoch zunächst einer kurzen Klassifizierung der Armutstypen und der Evaluierung eines Fragenkataloges, was im Folgenden vorgenommen werden soll.

1.1 Arten von Armut

Nicht wer wenig hat, sondern wer viel wünscht, ist arm.

(Lucius Annaeus Seneca)

Senecas Auslegung von Armut komprimiert zwei vielsagende Aussagen, die unsere Arbeit tangieren: Während sein Hauptaugenmerk auf der Tatsache liegt, dass derjenige, der 'wunschlos' daherkommt, nicht arm sei, bringt der Umkehrschluss des Zitates zugleich das - für unsere Analyse entscheidende - allgemeine Verständnis von Armut zum Vorschein:

Arm ist, wer nichts besitzt.

Bereits im abendländischen Kulturkreis war die Armut nach Schäfer (2008: 221ff) allgegenwärtig, wobei sich die semantische Seite des Begriffs im Laufe der Jahrhunderte in Abhängigkeit der jeweiligen sozialen Umstände oftmals einer Änderung unterworfen sah. Dabei unterscheidet er vier Typen von Armut, die im Mittelalter aufzufinden waren:

1. Der erste Typus von Armut umfasst die strukturell Armen, d.h. die Bedürftigen, die in Normalzeiten nicht in der Lage waren, für unbedingt Lebensnotwendiges auszu- kommen. Diese Art von Armut war gesellschaftlich anerkannt. Entsprechend erhiel- ten die Betroffenen Unterstützung.
2. Die zweite Gruppe bilden die konjunkturell Armen, d.h. die Unterschichten, die in Krisen- zeiten Gefahr liefen, in die Bedürftigkeit abzusinken.
3. Als dritte Gruppe kommen Menschen in Betracht, deren Armut gesellschaftlich nicht aner- kannt war: Personen, die als arbeitsfähig galten, aber nicht als arbeitswillig, die »unehren- haften« Armen und »falschen« Bettler. Sie hatten keinen Anspruch auf Unterstützung und glitten meist in die Nichtsesshaftigkeit.
4. Während diese Menschen aufgrund von Armut heimatlos geworden waren, kamen die »Zi- geuner«, die die vierte Gruppe bilden, als Fremde nach Europa. Sie blieben von der gesell- schaftlichen Fürsorge ausgeschlossen. In einem weiteren Verständnis konnte als arm gel- ten, wem es an den Gütern mangelte, die für ein standesgemäßes Leben als notwendig er- achtet wurden.

(nach Schäfer 2008: 232; kursive Kennzeichnungen von mir vorgenommen)

Diese Typen referieren allesamt auf die so genannte soziale Armut,1 die für sich abermals in vier weitere Sub-Kategorien unterschieden werden kann (Trommers/Zabels 2006):

1. finanzielle Armut
2. materielle Armut
3. geistig-kulturelle Armut
4. psychische (insbesondere emotionale) Armut

Da der Begriff der Armut im Deutschen genauso wie der lateinische Terminus paupertas einen so genannten privativen Charakter aufweist, d.h. das Armut den Mangel an etwas darstellt (Brodbeck 2005: 59), wollen wir im Folgenden die aufgelisteten Armutstypen jeweils auch in dieser Hinsicht unterscheiden.

So verstehen wir unter der finanziellen Armut den Mangel an Zahlungsmitteln, die das Überleben mit Hilfe von Nahrungsmitteln sichern sollen. Hierbei schränken wir jedoch ein, dass die finanzielle Armut nicht ausschließt, dass materielle Güter zur Verwertung und Er- langung von Geld zur Verfügung stehen können. Des Weiteren sprechen wir nicht von ei- ner finanziellen Armut, sobald eine regelmäßige Verpflegung über Nahrungsmittel erfolgt.

Die materielle Armut kann u.U. das Resultat finanzieller Armut darstellen, wenn je- mand seine noch vorhandenen Güter verkauft hat, der daraus erzielte Erlös aber nicht mehr existent ist. Es stehen also weder Geld noch materielle Güter zur Verfügung. Wir reden je- doch nicht von materieller Armut, insofern diese freiwillig gewählt wurde, indem kein Haus, keine Kleidung o.ä. erstanden wurde(n), obwohl finanzielle Ressourcen zur Verfü- gung stünden.

Unter die geistig-kulturelle Armut fällt die Situation, in der jemand kulturelle Einrichtun- gen zur Wissenserweiterung nicht in Anspruch nehmen kann. Die Gründe können finanzi- eller, aber auch sozio-kultureller - u.U. religiöser - Natur sein. So kann es passieren, dass es Immigranten über Verbote o.ä. unmöglich gemacht wird, sich in die neue Gesellschaft/Kultur (erfolgreich) zu integrieren. Die soziale Komponente ist hierbei evident.

Die psychische Armut tritt in unserem Verständnis auf, sobald eine Person in der Gesell- schaft keine sozialen Kontakte unterhält, z.B. keine Freunde hat. Eine extreme Variante dieser Form stellt die absolute soziale Isolation dar. Beide Formen - und vor allem die zuletzt genannte - haben eine psychische Verkümmerung zur Folge. Gefühle, Ängste, Vertrauen, etc. können somit unzugänglich sein.

All diese aufgelisteten Armutstypen müssen jedoch auch in Abhängigkeit von ihrer geogra- fischen Situierung betrachtet werden. Hierbei wollen wir in erster Linie zwischen der städ- tischen (urban poor) und der ländlichen Armut (rural poor) unterscheiden. (cf. Fay 2005) Diese Einteilung soll in der Folge als erste übergeordnete Ebene der Analyse der Formen fungieren.

Die Klassifizierung der Arten sieht sich natürlich nicht als vollständig. Es spielen unzählige Faktoren eine Rolle bei der Evaluierung der verschiedenen Formen von Armut. Im Laufe der sich anschließenden Armutsanalyse des Werkes »Lazarillo de Tormes« werden - insofern es sich als nötig erweisen sollte - weitere unabdingbare Aspekte mit berücksichtigt werden. Bevor wir jedoch zum Text übergehen, muss zunächst der der Analyse zugrunde liegende Fragenkatalog erarbeitet werden.

1.2 Fragen über Fragen

Um einen Text hinsichtlich einer bestimmten Fragestellung untersuchen zu können, bedarf es einer klaren Hervorgehensweise. Dies wollen wir in Form eines Fragenkataloges erreichen, der uns bei der Herausarbeitung der verschiedenen, im Werk codierten Armutstypen der jeweils beteiligten Personen unterstützen und zugleich als einheitlicher Maßstab der Untersuchung dienen wird.

Welche Fragen gehören in einen solchen Katalog? Zunächst einmal muss geklärt werden, welche Personen - im Falle Lázaros im so genannten prólogo und den einzelnen tractados - eine Rolle spielen, und ob diese eine Form von Armut aufweisen oder nicht.

Hieran schließt sich natürlich auch die Frage nach deren Alter und Herkunft an, um das Ausmaß der geschilderten Armut herausheben zu können. Bei der Frage nach der Herkunft sei zu präzisieren, ob im jeweiligen tractado die handelnden Personen eine Kontinuität oder einen Bruch in Bezug auf ihre Herkunft aufweisen.

[...]


1 Wir betrachten in dieser Arbeit in erster Linie die Auswirkungen von Armut auf einzelne Personen resp. Gruppen. Der Grund für die soziale Situation derjenigen, die als arm gelten, kann in vielen Fällen auf die Armut des Staates selber zurückgeführt werden. Für unsere Analyse im literarischen Werk »Lazarillo de Tormes« spielt dies eine untergeordnete Rolle.

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Details

Title
Analyse des Werkes »Lazarillo de Tormes«
Subtitle
Eine Untersuchung zur Codierung von Armut.
College
Martin Luther University  (Romanistik)
Course
Codierungen von Armut in den spanischsprachigen Literaturen
Grade
1,7
Author
Year
2009
Pages
28
Catalog Number
V145529
ISBN (eBook)
9783640562121
File size
589 KB
Language
German
Keywords
Lazarillo, Tormes, Rico, Armut, sozial, Geschichte, Lazáro, Lazarillo de Tormes, anonym, Geld, Reichtum, Mittelalter, Literatur, siglo de oro, Calderón, Zusammenfassung, Resümee
Quote paper
Rico Moyon (Author), 2009, Analyse des Werkes »Lazarillo de Tormes«, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/145529

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