Jacob Burckhardt in seiner Zeit: Das Bild der Polis in seiner "Griechischen Kulturgeschichte"


Trabajo, 1998

34 Páginas, Calificación: 1,3


Extracto


INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung

2. Anstatt einer Biographie: Jacob Burckhardts Werke als politische Reaktion auf seine Zeit

3. Der kulturgeschichtliche Ansatz Jacob Burckhardts: Die Einleitung zur "Griechische(n) Kulturgeschichte"

4. Jacob Burckhardts Bild der Polis in der "Griechischen Kulturgeschichte"
4.1. Burckhardts Begriff und Definition der Polis
4.2. Die Entstehung der Polis
4.3. Das ambivalente Wesen der Polis
4.3.1. Die Polis als totalitäre Macht über das Individuum
4.3.2. Die Polis als Schöpferin kultureller Höchstleistungen
4.4. Zusammenfassende Deutung des Burckhardtschen Polisbildes und ihr Gegenwartsbezug
4.5. Burckhardts Angst vor den Massen: Die athenische Demokratie als Untergang der Polis

5. Schlußbetrachtung

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Der Basler Geschichtsprofessor Jacob Burckhardt (1818-1897) gilt heutzutage unumstritten als einer der bedeutendsten und innovatisten Geschichtsdenker seiner Zeit, und die zahlreichen aktuellen Publikationen über ihn und sein Werk[1] beweisen das ungebrochene Interesse der modernen Geschichtswissenschaft an dieser faszinierenden Persönlichkeit. Unter seinen Zeitgenossen war er allerdings zutiefst umstritten, und er galt als ein eher sonderbarer Außenseiter innerhalb der Gelehrtenzunft. Denn als sich die meisten Historiker seiner Zeit angesichts der politischen und gesellschaftlichen Umbruchsprozesse als politisch engagierte Professoren verstanden und damit im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses standen[2], zog sich Burckhardt völlig aus dem öffentlichen Leben zurück und widmete sich ganz seinen historischen Studien So entstand das vielfach bis heute gepflegte Bild von Jacob Burckhardt als dem "weltabgewandten Kontemplator und unpolitischen Connaisseur der alteuropäischen Bildungs- und Kunstwelt."[3] Sein besonderes Erkenntnisinteresse lag nämlich in der römischen und griechische Antike. Zahlreiche Veröffentlichungen wiesen ihn als genauen Kenner der antiken Lebens- und Geisteswelt aus. Seine "Griechische Kulturgeschichte" gehört hierbei zu seinen umstrittensten Werken. Neben seiner unkonventionellen Methodik irritierte vor allem seine Darstellung der griechischen Polis, die den bisherigen Interpretationen der Altertumswissenschaft fast gänzlich widersprach.

Diese Arbeit will nun zeigen, daß Burckhardts Geschichtsdenken entgegen der landläufigen Meinung keineswegs als prinzipiell apolitisch und weltentrückt charakterisiert werden kann, sondern es vielmehr als bewußte Reaktion auf die gesellschaftlichen und politische Umbrüche seiner Zeit verstanden werden muß. Dies soll anhand einer genauen Analyse der Burckhardtschen Darstellung der griechischen Polis in der "Griechische(n) Kulturgeschichte" nachgewiesen werden.

Eine Untersuchung über den Gegenwartsbezug des Burckhardtschen Polisbildes setzt allerdings notwendigerweise einige Voruntersuchungen voraus. So soll im ersten Abschnitt der Arbeit auf die wichtigsten biographischen Stationen und Werke Burckhardts vorgestellt und ihre unmittelbare Beziehung zu den gesellschaftlichen Umbrüche der Zeit herausgearbeitete werden. Der zweite Teil widmet sich dem kulturgeschichtlichen Ansatz Jacob Burckhardts. Die Kenntnis dieser spezifischen Methodik Burckhardts ist eine unerläßliche Voraussetzung für das Verständnis seine Interpretation der griechischen Polis, die dann ausführlich im dritten Teil analysiert werden soll. Hierbei wird der Schwerpunkt bei Burckhardts eher allgemeinen Interpretation des Wesens der griechischen Polis liegen. Auführlich wird nur Burckhardts konkrete Beschreibung der attischen Demokratie interpretiert werden, weil in ihr am deutlichsten der Gegenwartsbezug der Burckhardtschen Interpretation sichtbar wird. Eine zwischenzeitliche Zusammenfassung und abschließendes Resumee sollen diese Arbeit abrunden.

Die Forschungsliteratur zu Jacob Burckhardt ist inzwischen äußerst reichhaltig, auch wenn sie teilweise sehr allgemein gehalten ist. Für meine Fragestellung als sehr hilfreich haben sich neben der wichtigen geschichtstheoretischen Arbeit von Jörn Rüsen[4] vor allem die groß angelegte Biographie von Werner Kaegi[5] sowie die Untersuchungen von Wolfgang Hardtwig[6] und E.M. Janssen[7] erwiesen. Ansonsten stützt sich die Arbeit wesentlich auf die Originalbelege in der "Griechischen Kulturgeschichte"[8].

2. Anstatt einer Biographie: Jacob Burckhardts Werke als politische Reaktion auf seine Zeit

Die Veröffentlichung seiner "Griechischen Kulturgeschichte" hat Jacob Burckhardt selber nicht mehr erleben können. Erst ein Jahr nach seinem Tod 1897 wurde sein umfassendes Werk, an dem er insgesamt über 20 Jahre gearbeitet hatte und welches primär nicht zur Veröffentlichung bestimmt war., von seinem Neffen Jacob Oeri herausgegeben und wurde sogleich, wie es Burckhardt geahnt hatte, von der Fachwelt auf heftigste abgelehnt.[9] Es sollten noch Jahrzehnte vergehen, bis auch die Fachwelt die Originalität und die Intention dieses Vorhabens angemessen beurteilen und würdigen konnte. Dieser Außenseiterposition von Jakob Burckhardt innerhalb seiner Zunft, die durch diesen Sachverhalt deutlich wird, soll nun zunächst anhand einer kurzen Darstellung seiner Biographie in bezug auf die Einordnung seiner "Griechischen Kulturgeschichte" nachgegangen werden.

Jacob Burckhardt wurde 1818 als Sohn eines renomierten Pfarrers in Basel geboren. Er stammte also aus der bürgerlichen oberen Mittelschicht, die sich besonders durch intellektuelle Bildung definierte. Nachdem er zwei Jahre in Basel auf Wunsch des Vaters in Theologie eingeschrieben war, wechselte er 1839 nach Berlin, um bis 1843 Geschichte und Kunstgeschichte zu studieren.[10] Das Ringen um die geistige Freiheit durch geistesgeschichtliche Studien stand hierbei im Mittelpunkt seiner Bestrebungen. So schrieb er 1842 in einem Brief an Kinkel:

" (...) Die höchste Bestimmung der Geschichte der Menschheit: die Entwicklung des Geistes zur Freiheit, ist mir leitende Überzeugung geworden, und so kann mein Studium mir nicht untreu werden, kann nicht sinken laßen, muß mein guter Genius bleiben mein lebenslang".[11]

Dieser hier erkennbare Idealismus erinnert an Hegel, aber vor allem auch an den zentralen Ausgangspunkt des deutschen Historismus, der die Idee der Freiheit als Prinzip der historischen Entwicklung ansah.[12] Dieser Vorstellung blieb Burckhardt prinzipiell immer treu. Dies ist sicherlich auf den Einfluß seines bedeutsamen akademischen Lehrers Leopold von Ranke, des Begründers des Historismus, zurückzuführen. Ebenso beeinflußte Rankes Vorstellung von Europa als einer "im Schicksal gewachsener Familie freier Völker mit einem Schatz gemeinsamer Erinnerungen"[13] Burckhardts Geschichtsverständis maßgeblich. Sie bildete den Ausgangspunkt für seine spätere Werke, die sich bekanntlich der Kulturgeschichtsschreibung Alt-Europas widmete. Dieser Einfluß sollte -trotz aller sonstigen Distanzierung, die später noch thematisiert wird- nicht unterschätzt werden.[14] Neben Ranke hat August Boeckh den jungen Burckhardt in seiner Studienzeit inspiriert, denn ohne Boeckh, dessen Vorlesung "Griechische Altertümer" Burckhardt besuchte, wäre seine "Griechische Kulturgeschichte" vielleicht nicht entstanden. Hier hörte er zum erstenmal, daß Geschichtsschreibung -gerade des Altertums- primär eine Erforschung und Darstellung von Zuständen sei[15] und sie daher nicht nur vom Staat als politischem Handlungszentrum allein ausgehen, sondern auch die Faktoren Religion, Kunst und Privates als wichtige geschichtliche Antriebskräfte darstellen müsse.[16] Elemente der sogenannten Potenzentheorie Burckhardts, die im weiteren noch vertieft werden wird, werden hier sichtbar. Doch nicht nur methodisch, sondern auch inhaltlich wird Boeckhs Diktum, daß die Hellenen trotz des Glanzes ihrer Kunst unglücklicher gewesen seien, als die meisten glaubten, geradezu zum entscheidenden Ausgangspunkt für Burckhardts Konzeption der "Griechische Kulturgeschichte".[17]

Während seiner Studienjahre wandelte sich auch zunehmend Burckhardts politischer Standpunkt. Befürwortete er anfangs noch vorsichtig die Forderung des Bürgertums nach einer konstitutionellen Monarchie, entwickelte er sich zunehmend zum bewußt konservativ denkenden Gebildeten. Denn Burckhardt verfolgte mit Entsetzen die zunehemende Radikalisierung des Bürgertums im Vormärz. Die bürgerliche Forderungen nach mehr Freiheitsrechten innerhalb des herrschenden obrigkeitsstaatlichen Systems wurden immer mehr von allgemein-politischen abgelöst, die eine Revolutionierung der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse postulierten. Diese lehnte er entschieden ab, weil er damit den Bestand der geschichtlich gewachsenen Kultur- und Ideentradition Europas gefährdet sah. So arbeitete Burckhardt, nachdem er 1843 in Basel in absentia promoviert wurde, neben seiner Tätigkeit als Privatdozent als Journalist in Basel für die "Basler Zeitung", eine der führenden schweizerischen konservativen Zeitungen. Hierin polemisierte er -teilweise barsch- gegen den in seinen Augen bürgerlichen Radikalismus seiner Zeit.[18] Er fühlte sich vielmehr dem primär unpolitischen humanistischen Freiheitsideal verpflichtet, welches die Herausbildung der freien Persönlichkeit durch allseitige Bildung verlangte.[19] Zunehmend resigniert über die tatsächlichen Entwicklungen seiner Zeit, zog er sich immer mehr vom gesellschaftlichen Leben zurück und widmete sich seinen Studien. Nur die Universität sah er noch als Raum, wo er seine Ideale verwirklichen konnte. Diese vita contemplativa sah er selbst als bewußte apolitische Reaktion auf die zunehmende Politisierung der Gesellschaft. So schreibt er in Berlin an Eduard Schauenburg kurz vor dem Ausbruch der 48- Revolution:

"Mein Kopf ist ein Kreuzfeuer von literarisch-geschichtlichen Plänen, und von Reiseprojekten, und von Leserei aller Art. Die Zeitgrillen vertreibe ich mir damit ganz wacker und lasse dieses verrückte Jahrhundert in Gottes Namen weiter rennen, wohin es will."[20]

Die 1848erRevolution sah er dann auch als Zeichen einer kommenden Anarchie, die im Chaos enden wird.[21] Umso turbulenter die politischen Ereignisse um ihn herum, desto mehr isolierte sich Burckhardt.[22] Trotz aller von ihm selbst behaupteten Apolitie zeigte sich doch in den Produkten der Isolation, seinen historischen Studien, eine deutliche politische Reaktion auf das Zeitgeschehen. Erste Gedanken Burckhardts über ein Verfassen einer Kulturgeschichte mit besonderer Betonung des Griechentums sind bereits 1848 nachweisbar.[23] Die erste größere kulturgeschichtliche Arbeit des damals 35jährigen Burckhardt, die Monographie Die Zeit Constantins des Grossen, die er noch zwei Jahre vor seiner Ernennung zum Professor am Polytechnikum 1855 veröffentlichte, versuchte sich allerdings in der Deutung des Untergang des spätrömischen Reiches.[24] Hierin analysiert Burckhardt den kulturellen Auflösungsprozeß des dritten nachchristlichen Jahrhundert als Folge der zunehmenden Dekadenz und der Priorität materieller Werte. Diese Kritik der spätantiken Kultur ist untrennbar mit seiner Deutung der Krise der Zeit verbunden, wie Äußerungen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage der Gegenwart zeigen.[25]

Obwohl er persönlich mit seiner Berufung auf den Lehrstuhl 1858 in Basel sein Lebensziel erreichte, sah Burckhardt nach 1848 eine in seinen Augen abgründige und abstoßende Welt vor sich; konkret fürchtete er als Mensch des Geistes die Jahrzehnte der Revolutionen, und hier vor allem die aus ihnen resultierten Kriege[26], wobei er bereits prophetisch einen großen Flächenbrand in Europa prophezeite.[27] Sein auch die folgenden Werke kennzeichnendes Erkenntnisinteresse galt aufgrund dieser Erfahrungen vor allem der Interpretation von historischen Umbrüchen. Nach seinem Cicerone 1854/5[28] folgte dann 1860 sein wohl bekanntestes Opus Die Cultur der Renaissance, in dem er genialisch die Entdeckung des Ichs und der Welt durch den Menschen in Kunst und Kultur am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit deutete.[29] Besonders durch dieses Werk wurde er zu einem der bekanntesten Historiker des deutschsprachigen Raums, doch lehnte er alle Rufe deutscher Universitäten, darunter auch das Angebot als Nachfolger Rankes in Berlin 1872 ab, und ließ sich 1886 von der historischen Professur in Basel entbinden. Seine Weigerung, eine deutsche Professur anzunehmen, war auch auf die wachsende Nationalbegeisterung der deutschen Historikerzunft und die daraus folgende Politisierung des Historismus, die sich besonders nach der erfolgreichen deutschen Einigung durch Bismarck 1870 verstärkte, zurückzuführen. Diese lehnte er entschieden ab, ebenso wie die immer stärkere werdende Industrialisierung und Verstädterung infolge eines rapide wachsenden Kapitalismus, welcher den Besitz von Geld zum einzig gültigen Wert erklärte.[30] Die aufkommende Arbeiterbewegung mit ihren Postulaten nach Demokratie und sozialer Gleichheit verstärkte nun für Burckhardt noch diesen Vermassungsprozeß des Menschen, an dessen Ende ihm die geistfeindliche Massenherrschaft stand.[31] Diese Herrschaft des gemeinen Volkes muß nun in seinen Augen zu einem Untergang der tradierten europäischen Kulturwerte führen, weil diese nur hedonistisch auf materielle Bedürfnisbefriedigung abzielt. Den nationalen Machtstaat mit seinem prosperierenden Kapitalismus und die zunehmende Demokratisierung der Gesellschaft, -also zwei Tatbestände, die die meisten seiner Zeitgenossen, darunter praktisch alle Historikerkollegen, als einen Fortschritt begrüßten-, "beurteilte" also "Burckhardt als Ende der europäischen Kulturtradition, die für ihn die einzige solide Grundlage geistiger Freiheit war."[32]

Hierbei war sich Burckhardt allerdings bewußt, daß er den genannten Entwicklungen ohnmächtig gegenüberstand. Dieses zeitgenössische Gefühl der Ohnmacht erklärt auch seinen Abscheu gegenüber jeglicher Form staatlich-politischer Macht, die für ihn " an sich böse, gleichviel wer sie ausfüllt,"[33] ist. Denn, so Burckhardt in seinen "Weltgeschichtlichen Betrachtungen", "gegenüber von solchen geschichtlichen Mächten pflegt sich das zeitgenössische Individuum in völliger Ohnmacht zu fühlen".[34]

Isoliert innerhalb seiner Historikerzunft, war es nun Burckhardts primäres Ziel, durch seine Studien die zunehmend verfallende einheitliche Kulturtradition Alteuropas zu begründen und damit die "ewigen Prinzipien kultureller Tätigkeiten offenzulegen."[35] Dieses auf den ersten Blick unpolitische Erkenntnisinteresse kann also quasi als Burckhardts politische Reaktion auf seine Zeit gesehen werden[36], oder mit den Worten Wolfgang Hardtwigs ausgedrückt, ist seine Historie "aus dem Geiste des Widerstands gegen das Erlebnis der Machtlosigkeit"[37] hergeleitet. All dies war auch der Ausgangspunkt für seine "Griechische Kulturgeschichte"; an der er seit 1868 fieberhaft arbeitete, wobei er den Umfang seiner Forschungen bis zu seinem Tod verschwieg.[38] Doch nicht nur der später teilweise zu analysierende Inhalt des Werkes, sondern auch sein methodischer Ansatz ist als bewußte Abgrenzung zu den damals herrschenden Methoden konzipiert worden. Dies war Burckhardt durchaus bewußt, wie eine Notiz an seinen Freund und Kollegen Heinrich Gelzer, in der er eine Publizierung seiner Aufzeichnungen ablehnt, zeigt:

"Nein, mein Herr, solch ein armer Feigling, der außerhalb des Zunftkreises steht, darf so etwas nicht wagen; ich bin ein Ketzer und ein Ignorant und würde mit meinen bedenklichen Ansichten von den viri erruditissimi arg zerzaust werden. Ja! ja! glauben sie mir. Je connais ces gens."[39]

Vor der inhaltlichen Analyse soll nun im folgenden sein neuer methodischer Ansatz anhand seiner Einleitung der "Griechischen Kulturgeschichte" deutlich gemacht werden.

3. Der kulturgeschichtliche Ansatz Jacob Burckhardts: Die Einleitung zur "Griechische(n) Kulturgeschichte"

Parallel zu seiner "Griechischen Kulturgeschichte" schrieb Burckhardt an seinen auch erst posthum erschienenen "Weltgeschichtlichen Betrachtungen", in der er sein(e) Geschichtsverständnis und-theorie erläuterte.[40] Das Ziel Burckhardts war es hierbei, wie bereits angedeutet wurde, einen das Ganze umfassende universalhistorischen Standpunkt zu gewinnen. Hierfür entwickelte er die bekannte Drei-Potenzen-Lehre als sein Raster für die Rekonstruktion geschichtlicher Wirklichkeit. Danach ist für Burckhardt geschichtliches Dasein durch die Potenzen Staat, Religion und Kultur gekennzeichnet[41], die sich wechselseitig bedingen. Der Potenzfaktor Kultur ist für Burckhardt allerdings der entscheidende, er stellt die Welt des "Freien und Beweglichen"[42] dar und ist damit auch Inititator geschichtlicher Umbrüche. Burckhardt ist sich hierbei bewußt, daß diese drei geschichtlich wirkenden Kräfte so ineinander verzahnt sind, daß eine Trennung kaum möglich erscheint. Bei der späteren Analyse des Polisbildes bei Burckhardt wird die enge Wechselwirkung zwischen den Potenzen Staat und Kultur besonders klar hervortreten. Trotzdem hält er eine solche Konstruktion für sinnvoll, weil hierbei leichter Konstanten im historischen Prozeß deutlich würden.

Dieses Grundmuster der drei Potenzen ist in der methodischen Einleitung zur "Griechischen Kulturgeschichte" immer präsent, auch wenn es nicht ausdrücklich erwähnt wird. So beginnt seine Einleitung auch mit der klaren Abgrenzung gegenüber einer Geschichtsschreibung, die nur selbstverliebt detailliertes Spezialwissen anhäuft. Dieser Vorwurf an die "historisch-antiquarische Literatur"[43] mit ihrer einseitigen Konzentrierung auf die politische Ereignisgeschichte richtete sich klar gegen den herrschenden Historismus eines Rankes oder Droysen[44]. Demgegenüber stellt Burckhardt sein Modell einer Kulturgeschichtsschreibung vor. Danach sind die Fakten nicht sein Erkenntnisinteresse, sondern vielmehr die Erfassung der geistigen Kräfte, die hinter den jeweiligen Ereignissen stehen. Denn "unsere Aufgabe, wie wir sie auffassen, ist: die Geschichte der griechischen Denkweise und Anschauungen zu geben und nach Erkenntnis der lebendigen Kräfte, der aufbauenden und zerstörenden, zu streben, welche im griechischen Leben tätig waren"[45] und diese Denkweisen liegen "nicht in dem Ereignis, welches erzählt wird, sondern in der Art, wie, und in den geistigen Voraussetzungen, unter welchen es erzählt wird."[46] Burckhardt will also nichts weniger als den Geist der Griechen, in seinen Worten "den ewigen Griechen"[47], zeigen. Burckhardts Kulturgeschichte ist also primär Geistesgeschichte.[48] Demnach sind nur die Fakten von geistigem Gehalt für ihn entscheidend. Das Geistige muß quasi von den Fakten isoliert werden, oder in den Worten Burckhardts: "Das Einzelne, zumal das sogenannte Ereignis darf hier nur im Zeugenverhör über das Allgemeine, nicht um seiner selbst willen, zu Worte kommen."[49]

[...]


[1] An aktuellen Publikationen wäre hier zu nennen: Thomas Noll, Vom Glück des Gelehrten -Versuch über Jacob Burckhardt, Göttingen 1997; Hans R. Guggisberg (Hg.), Umgang mit Jacob Burckhardt, Basel 1994.

[2] So wählte Ranke offen die Rolle eines politischen Fürstenberaters, und Droysen oder Treitschke stellten ihre Historie bewußt in den Dienst politischer Zielsetzungen. Vgl.: Wolfgang Hardtwig, Wissenschaft als Macht oder Askese: Jacob Burckhardt, in: ders., Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, 162-188. Hier: 163.

[3] Zitiert nach: Ebda, 162.

[4] Jörn Rüsen, Jacob Burckhardt, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker III, Göttingn 1972, 7-28.

[5] Werner Kaegi, Jacob Burckhardt. Eine Biographie, 7 Bde., Basel 1947-1982.

[6] Wolfgang Hardtwig, Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt -Jacob Burckhardt in seiner Zeit, Göttingen 1974.

[7] E.M. Janssen, Jacob Burckhardt und die Griechen, Assen 1979.

[8] Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Bd. I-IV, München 1977. Im weiteren: Griechische Kulturgeschichte.

[9] Vgl. hierzu: Werner Kaegi, Einführung in die "Griechische Kulturgeschichte", in: Ebda, I, XXff.

[10] Zu den biographischen Daten vgl.: Rüsen, (Anm.5), 9.;Winfried Nippel (Hg.), Über das Studium der Alten Geschichte, München 1993, 250f.

[11] Zitiert nach: Jacob Burckhardt, Briefe, I.Band, hg. von Max Burckhardt, Basel 1949, 207. ( im weiteren: Burckhardt, Briefe, I). Vgl. dazu auch: Jörg Rüsen, Politischer Standpunkt und historische Einsicht an der Schwelle zur Postmoderne, in: Guggisberg (Anm. 2), 101-117. Hier: 102.

[12] Vgl.: Kaegi, (Anm.6), I, 59

[13] Zitiert aus: Ebda, 74.

[14] So schreibt er z.B. in einem Brief an Hermann Schreiber vom 4.3. 1842: "Ranke läßt sich fast mit keinem Menschen ein; doch ist es mir gelungen, sein Wohlwollen zu erweben. Von diesem wunderbaen Kauz kann ich Ihnen manches erzählen." Zitiert nach: Burckhardt, Briefe, II, 193. Vgl. allgemein dazu: Eberhard Keuel, Ranke und Burckhardt- Ein Forschungsbericht, in: Archiv für Kulturgeschichte 33 (1951), 351-379.

[15] Vgl.: Kaegi, (Anm.6), II, 219ff.

[16] Vgl.: Ebda, 52.

[17] So zitiert Burckhardt wörtlich das Diktum von Boeckh am Ende seiner Einleitung der "Griechischen Kulturgeschichte".

[18] Vgl. hierzu: Emil Dürr, Jacob Burckhardt als politischer Publizist -Mit seinen Zeitungsberichten aus den Jahren 1844/5, Zürich 1937.

[19] Dieser "bildungsaristokratische Liberalismus" war mit den damals bestehenden gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen kompartibel. Daß Burckhardt die feudalen Strukturen relativ unkritisch sah, ist sicher auch auf die Tatsache zurückzuführen, daß er aufgrund seiner angesehenen Herkunft immer relativ viel Freiheiten genoß.

[20] Zitiert aus: Burckhardt, Briefe, III, 62.

[21] Vgl.: Rüsen, (Anm. 5), 10.

[22] So in einem Brief an Schauenberg vom 23.8.1848: "Ein eigentliches Verhältnis habe ich mit keinem Menschen; ich bin einsamer als je in meinem Leben. Zitiert nach: Anm.21, 105.

[23] So im Brief an Andreas Hensler-Rykiner vom 19.1.1848: "(...) Darauf baue ich einen großen literarischen Plan: die Herausgabe einer Bibliothek der Culturgeschichte: Es sollten lauter kleine, lesbare wohlfeile Bändchen werden, theils von mir, theils von anderen Leuten, denen an der Popularisierung der Wissenschaft etwas liegt. Was sagen Sie zu folgenden Thematgen: Das perikleische Zeitalter -die spätere römische Kaiserzeit...". Zitiert nach: Ebda, 94.

[24] Zu "Constantin“ allgemein: Kaegi, (Anm.6), 377-420.

[25] Vgl. die Interpretation des "Constantin" mit zahlreichen Belegen bei: Irmgard Siebert, Jacob Burckhardt -Studien zur Kunst- und Kulturgeschichtsschreibung, Basel 1991, 73-113. Besonders: 99-113.

[26] So neben dem Krimkrieg 1854 besonders die Kriege Bismarks zur Einigung des Deutschen Reiches. Vgl.: Kaegi, V -Das Neuere Europa und das Erleben der Gegenwart, 448ff.

[27] So vgl.: Ernst Walter Zeeden, Der Historiker als Kritiker und Prophet -Die Krise des 19.Jahrhundert im Urteil Jacob Burckhardts, in: Die Welt als Geschichte 3 (1951), 154-173. Hier besonders: 172f.

[28] Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte: Kaegi , (Anm.6), 425-528.

[29] Vgl. allgemein: E.M. Janssen, Jacob Burckhardt und die Renaissance, Assen 1970.

[30] So Burckhardt: "Das Geld wird und ist der große Maßstab aller Dinge, Armut ist die größte Untugend. Das Geld istder Sukzessor der Geburt, doch gerechter als diese, weil es bei unfähigen Erben nicht lange bleibt." Zitiert nach: Hardtwig, (Anm.7), 275.

[31] So: "die wählende Kopfzahlmasse hat jede Art von Respekt gründlich verloren und besitzt namentlich für das Seltene und Hochbegabte keinen Maßstab." Zitiert nach: Ebda, 277. Allgemein zu Burckhardts Verhältnis zu Demokratie: Johannes Wenzel, Jacob Burckhardt in der Krise seiner Zeit, Berlin (0) 1967, 25-43.

[32] Zitiert nach: Rüsen, (Anm. 12), 103.

[33] Zitiert nach: Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen - Historische Fragmente, Leipzig 1985, 100.

[34] Zitiert nach: Hardtwig, (Anm.3), 165.

[35] Zitiert nach: Rüsen, (Anm.12), 115.

[36] In einem zutiefst emotional gefärbten Brief Jacob Burckhardts an Hermann Schauenburg vom 5.3.1846 wird die voher benannte These nochmal sehr deutlich: "Ändern kann ichs doch nicht, und ehe die allgemeine Barbarei hereinbricht, will ich noch ein rechtes Auge voll aristokratischer Bildungsschwärmerei zu mir nehmen. (...) Ihr werdet sehen, welche sauberen Geister in den nächsten zwanzig Jahren aus dem Boden steigen werden. (...) Untergehen können wir alle; ich aber will mir wenigstens das Interesse aussuchen, für welches ich untergehen soll, nämlich die Bildung Alteuropas". Zitiert nach: Burckhardt, Briefe, II, 210.

[37] Zitiert nach: Hardtwig, (Anm.35), 164.

[38] So in einem Brief an Oeri von 1868: "Es dämmert mir ein anderes Colleg aus dem Dunkel der Zukunft entgegen, welches mich nötigen würde, alle (...) griechischen Autoren sucesive und mit weiser Verteilung der Zeit durchzulesen: Über den Geist des Altertums." Zitiert nach: Peter H. Blanckenhagen, Jacob Burrckhardts Griechische Kulturgeschichte -hundert Jahre danach, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 83 (1983), 6. Allgemein zum quälend langen Arbeitsprozeß vgl. die Briefwechsel bei: Ebda, 5-9. Über sein Schweigen in der Öffentlichkeit vgl.: Anm. 10, XXII.

[39] Zitiert nach: Heinrich Gelzer, Jacob Burckhardt als Mensch und Lehrer, in: Zeitschrift für Kulturgeschichte, 8 (1900), 2.

[40] Vgl.: Anm. 34.

[41] Vgl. zur Potenzenlehre Burckhardt: Marianne Sammer, Intiutive Geschichtsschreibung -ein Versuch zum Verhältnis von Geschichtsdenken und kulturhistorischer Methode bei Jacob Burckhardt, München 1995, 22ff; auch: Siebert, (Anm. 26), 123ff.

[42] Zitiert nach: Sammer, (Anm.42), 25.

[43] Zitiert nach: Griechische Kulturgeschichte, I (Einleitung), 9.

[44] Vor allem Ranckes historistische Wissenschaftskonzeption mit seiner explizierten Forderung nach sachlicher Forschung, die alle Werturteile und Spekulationen strikt ablehnt, ist hier gemeint. Durch eine historische Kritik der Quellen ist objektive Erkenntnis der Vergangenheit möglich. Vgl.: Georg G. Iggers, Geschichtswissenschaft im 20.Jahrhundert, Göttingen 1993, 17ff.

[45] Zitieert nach: Anm.44, 4.

[46] Zitiert nach: Ebda, 8.

[47] Zitiert nach: Ebda, 5.

[48] So auch in seiner Einleitung: "Hierauf, auf die Geschichte des griechischen Geistes, muß das ganze Studium sich einrichten." Zitiert nach: Anm. 46.

[49] Ebda.

Final del extracto de 34 páginas

Detalles

Título
Jacob Burckhardt in seiner Zeit: Das Bild der Polis in seiner "Griechischen Kulturgeschichte"
Universidad
Humboldt-University of Berlin  (Institut für Alte Geschichte)
Curso
Hauptseminar: Die griechische Polis
Calificación
1,3
Autor
Año
1998
Páginas
34
No. de catálogo
V14588
ISBN (Ebook)
9783638199469
ISBN (Libro)
9783638643535
Tamaño de fichero
606 KB
Idioma
Alemán
Notas
Im Mittelpunkt steht die Frage, was der Schweizer Althistoriker Jacob Burckhardt (1818-1897) unter der griechischen Polis verstand, wie er ihre historische Bedeutung einschätzte und warum man sein Polisbild vor allem als politische Reaktion auf die bürgerliche Revolution seiner Zeit deuten kann.
Palabras clave
Jacob, Burckhardt, Zeit, Bild, Polis, Griechischen, Kulturgeschichte, Hauptseminar, Polis
Citar trabajo
Christoph Marx (Autor), 1998, Jacob Burckhardt in seiner Zeit: Das Bild der Polis in seiner "Griechischen Kulturgeschichte", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14588

Comentarios

  • No hay comentarios todavía.
Leer eBook
Título: Jacob Burckhardt in seiner Zeit: Das Bild der Polis in seiner "Griechischen Kulturgeschichte"



Cargar textos

Sus trabajos académicos / tesis:

- Publicación como eBook y libro impreso
- Honorarios altos para las ventas
- Totalmente gratuito y con ISBN
- Le llevará solo 5 minutos
- Cada trabajo encuentra lectores

Así es como funciona