Die Transzendentalphänomenologie Edmund Husserls (im Gegensatz zur lebensweltlichen Phänomenologie des späten Husserls) ist eine Kampfansage gegen jeden Solipsismus und gegen jedes situative Denken. Der vorliegende Aufsatz versucht die Größe und Herausforderung der transzendental-phänomenologischen Philosophie für die Pädagogik herauszuarbeiten.
Transzendentalphilosophische Phänomenologie und Pädagogik – von der Verantwortung des Pädagogen
Im Fischer-Lexikon Pädagogik aus dem Jahr 1971 findet sich der folgende Hinweis für die beiden Termini Edukation und Bildung:
„ Entscheidend ist, dass die Edukation eine Sache der Führung und des Umgangs miteinander ist und sich im wesentlichen auf die Haltung (ethos) und die Sitten (mores) bezieht, während die Bildung (Gelehrsamkeit) eine Sache der Ausbildung und der Schule ist und sich außer auf Haltung und Sitten auf Sprache und Denken, Gesellschaft und Welt, Künste und Wissenschaft bezieht “(Fischer 1971, S.32).
Bildung bezieht sich demnach einerseits auf
a) Haltung und Sitten
b) Sprache und Denken
c) Gesellschaft und Welt
d) Künste und Wissenschaft.
Damit wäre Bildung der weitumfassendere Begriff, welcher letztendlich den Begriff der Erziehung mit einschließt. Aus dem Begriff der Bildung heraus manifestiert sich demnach erst der Begriff der Edukation.
Wir erkennen bereits hier die Bedeutung der beiden Begrifflichkeiten Haltung und Sitten. Diese beiden Termini sind den beiden Begrifflichkeiten – Edukation und Bildung – gemein.
Eines der Hauptziele - wenn nicht sogar das Hauptziel überhaupt - einer Erziehung ist der Begriff der Humanität, Wenn wir den Begriff der Humanität hören, verstehen wir sofort, was damit gemeint und letztendlich verbunden ist. Wenn man eine Person nach diesem Begriff fragt, dann wird sie wahrscheinlich sagen, dass Humanität Menschlichkeit bedeutet.
Wenn das Ziel einer Erziehung Humanität bedeutet, wird damit durch diese Erziehung der Mensch erst zu seiner eigentlichen Größe und zu seinem eigentlichen Wesen gebracht.
Wenn wir jetzt allerdings weiterfragen – und die Methode der Wissenschaft ist ja die Methode des Fragens, auch wenn man oftmals keine Antwort parat hat – was denn nun Menschlichkeit sei, dann wird der Fall schon etwas schwieriger. Wir glauben zwar zu wissen, was Menschlichkeit ist und heißt; aber wenn wir es erklären und damit unser Verstehen erläutern und letztendlich beweisen sollen, so stellt sich doch meist heraus, dass wir dazu gar nicht imstande sind. Damit haben wir einen Anlass gefunden, uns in den nächsten Minuten mit diesem Begriff auseinander zusetzen und so der Frage nachzugehen: „ Was bedeutet Menschlichkeit ?“ und was bedeutet „ Erziehung zur Menschlichkeit? “
Gehen wir zunächst der Frage nach: „Was ist denn Menschlichkeit?“
Menschlichkeit ist, so könnte man vielleicht formulieren:
a) Mitgefühl mit Mensch und Tier
b) Hilfsbereitschaft und Güte anderen Menschen gegenüber
c) Achtung vor der Heiligkeit des Lebens, denken wir hier vor allem an die Maxime Albert Schweitzers »Leben ist Leben das leben will inmitten von Leben das Leben will«(Lechner/Schweisfurth 2003, S.82; Reiner 1974, S.409).
Wenn wir uns nun weitere Gedanken über den Begriff von Humanität und Menschlichkeit machen, so werden wir schon bald bemerken, dass diese Definition uns nicht befriedigen kann.
Heißt denn >menschlich< nicht eigentlich alles, was zum Menschen gehört, so wie etwa das Wort pflanzlich alles bezeichnet, was zur Pflanze gehört oder das Wort leiblich alles, was zum Leib gehört?
Gehört damit also zur Menschlichkeit nicht eigentlich alles, was überhaupt irgendwie zum Wesen des Menschen zugehörig ist, was also sein Menschsein ausmacht?
Das lässt sich letztendlich auch vom Begriff Humanität sagen: Humanität kommt aus dem Lateinischen humanitas und humanitas verweist auf den Begriff humanus. Humanus heißt zunächst menschlich – eben in dem ganz allgemeinen Sinn, der alles umfasst, was
a) zum Menschen
b) zum menschlichen Geschlecht und damit zur gens humana gehört.
Wenn aber dieses Wörtchen menschlich genau dieses bedeutet, dann stellt sich die alles entscheidende Frage: „Wie kann der Mensch unmenschlich sein?“ Ist nicht alles, was der Mensch tut und was er ist, nicht notwendig menschlich? (Plack 1967, S.265).
Wir erkennen hier merkwürdige Widersprüche.
Man könnte nun sagen, die Lösung des Problems liegt auf der Hand: Die Worte menschlich und Menschlichkeit werden anscheinend in zwei Richtungen gebraucht:
a) in einer engeren und damit besonderen und
b) in einer weiteren und damit allgemeinen Richtung
Im weiteren und damit allgemeinen Sinn wird als menschlich all das bezeichnet, was den Menschen ausmacht; im besonderen Sinn meint man nur Eigenschaften, die man sich beim Menschen wünscht, welche er aber nicht immer hat und auf welche er hinerzogen werden soll.
Wir erkennen damit zwei ganz unterschiedliche Begrifflichkeiten von Menschlichkeit. Der eine Begriff ist ein Wirklichkeitsbegriff, der andere hingegen ein Idealbegriff.
Und dasselbe gilt offenbar auch bereits für die lateinischen Begriffe humanus und humanitas.
Dies gilt aber anscheinend nicht für unseren - heute geläufigen - Begriff von Humanität. Unter Humanität verstehen wir eben die Menschlichkeit im engeren, im besonderen Sinn; versuchen wir dieses inhaltlich näher zu bestimmen: Humanität bedeutet:
a) Mitgefühl,
b) Achtung vor dem Menschenleben,
c) Hilfsbereitschaft,
d) Güte.
Der Begriff der Humanität ist damit ein reiner Idealbegriff (Stockhausen 2006, S.36).
Zugleich müssen wir allerdings feststellen, dass Humanität vom Lateinischen humanitas kommt, und dass eben dieses Wort humanitas auch die allgemeinere Bedeutung von Menschlichkeit im Sinne von Menschsein hat. Und es erhebt sich für uns nun folgende spannende Frage: Wie konnte es denn geschehen, dass wir sowohl einen allgemeinen Begriff des Menschlichen und der Menschlichkeit als auch einen engeren und damit besonderen Begriff kennen? Oder einfacher formuliert: Wieso kennen wir einerseits einen Realbegriff vom Menschlichen als auch einen Idealbegriff?
Diese Frage nach dem allgemeinen und besonderen Begriff von Menschlichkeit verweist uns in die Philosophiegeschichte. Wenn wir uns nun in die Geschichte begeben, dann ist das nicht nur eine interessante Beschäftigung, eine Art interessante Spielerei, sondern es geht dabei um wesentlich mehr. Es geht dabei zunächst einmal auch darum, dass wir aus der Geschichte heraus den Begriff der Humanität besser verstehen lernen. Man könnte nun sagen, und dieser Vorwurf wird gerade auch den Erziehungswissenschaften immer wieder gemacht: Das ist Geschichte, das ist Vergangenheit – unser Geschäft ist im Hier und Jetzt! Das ist allerdings ein verkürztes Denken, ein Denken, welches situativ ist, und welches sich einem globalen Blick und Denken verschließt! (Huppertz 1998, S.167) Gerade heute muss man sich allzu oft die Frage stellen: Haben die Erziehungswissenschaften nichts aus ihrer ursprünglichen Verankerung in der Philosophie behalten? Denn unsere Fragen sind primär philosophische Fragen; Fragen, welche sich mit Notwendigkeit stellen (Lechner 2002, S.11).
Unser heutiges Reden von Humanität ist ja von dem, was früher darüber gesprochen und geschrieben wurde, nicht durch eine Mauer getrennt. Und so wirkt auch heute noch auf unser Denken und auf unser Verstehen des Begriffes Humanität ein, was einst ein Cicero, ein Thomas von Aquin oder Johannes Duns Scotus, ein Rousseau, was Herder, Schiller oder Humboldt über Humanität geschrieben haben.
Erst wenn wir uns einlassen, auch (!) aus der Geschichte heraus, diesen Begriff zu verstehen, wird er uns erst deutlich – oder besser formuliert deutlicher - bewusst. Ohne dies bleibt unser Denken verkürzt und damit in schwachen und unklaren Ansätzen stecken. Wir dürfen dieses allerdings nicht auf dem Hintergrund einer >Liebe zur Philosophiegeschichte< tun, sondern das eigentlich Wesentliche ist die Beschäftigung mit der Sache der Humanität selbst. Erinnert sei uns hier die Husserlsche Parole: Zu den Sachen selbst! Denn diese Sache der Humanität ist etwas, was uns alle unmittelbar betrifft. Sie geht uns an sowohl wenn wir sie im engeren und damit besonderen Sinn des Begriffes verstehen; sie geht uns aber auch an – und zwar ganz besonders -, insofern dieser enge Sinn von Humanität mit dem weiteren und damit allgemeinen zusammenhängt. Menschen sind wir alle. Und wenn wir uns mit der Humanität auseinandersetzen, dann bedeutet dieses zugleich, dass wir uns über unser eigenes Menschsein Gedanken machen. Diese Besinnung, dieses Nachdenken über unser Menschsein ist selbst eine der wesentlichsten - uns Menschen gegebenen – Möglichkeiten (Lechner 2002, S.11).
Werfen wir einen kurzen Blick auf das Mittelalter. Die Welt des Mittelalters hatte – zwar nicht in ihrer ganzen tatsächlichen Wirklichkeit, wohl aber in ihren Idealbildungen – den Blick auf Gott und das Jenseits gerichtet. Der Mensch war bestimmt zum Dienst an Gott. Und als eigentliches Ziel seines Daseins erschien ihm nicht irgendeine Möglichkeit innerhalb des irdischen Daseins selber, sondern die jenseitige ewige Seligkeit.
Die diesseitige Welt erschien aber dem Mittelalter – im Gegensatz zur Anschauung Luthers – keineswegs schon als an sich sündig, sondern als Schöpfung Gottes hatte auch diese irdische Welt den Charakter des Guten (vgl. Stockhausen 2006, S.197). Auch durch diese Auffassung war der Blick wieder letztlich auf Gott gelenkt, von ihm kam jeder Wert. Wichtig ist für uns: Der Gedanke eines eigentlichen Eigenwertes des Irdischen und des Menschlichen in sich kam nicht auf. Selbst dort, wo die vom Christentum hochgeschätzten menschlichen Haltungen wie etwa Demut oder die dienende Liebe eine Rolle spielten, und wo man dem Vorbild Jesu folgend, diese Haltungen als positiv pries, selbst dort geschah es kaum, dass der innere Wert, den diese Haltungen rein in sich - und rein menschlich gesehen – besitzen, deutlich gesehen, ergriffen und um seiner selbst willen hochgeschätzt wurde. Überall wurde vielmehr in der Betrachtung der christlichen Tugenden der Blick auf Gott gelenkt, d. h. darauf, dass diese Tugenden gemäß der Lehre von Bibel und Kirche als gottgefällig erschienen. Diese Tatsache einer Gottgefälligkeit gab von vornherein den Ausschlag, und so wurde jeder Ansatz, die Werte rein aus einer menschlichen Haltung bewusst zu erfassen, bereits im Keim erstickt.
Dieses änderte sich allerdings mit dem Zeitalter der Renaissance und des Humanismus:
Das wesentlich Neue war, dass diese neue Bewegung dahin drängte und allmählich dazu gelangte, das menschliche Dasein in seiner irdischen Tatsächlichkeit als solcher zu sehen und solche Werte als menschliche Werte zu entdecken und hochzuschätzen. Dabei wurde das Jenseits und die jenseitige Bestimmung des Menschen – wenigstens zunächst noch – nicht bezweifelt oder geleugnet. Aber die herrschende Blickrichtung des Menschen änderte sich! Man blickte nun nicht mehr wie gebannt auf eine jenseitige Bestimmung des Menschen. Und man betrachtete es nicht mehr als bloße Schwäche, als Mangel an Vollkommenheit oder gar als Sünde, wenn man sich dem Irdischen hingab; sondern, und das ist jetzt der ausschlaggebende Grund: man entdeckte gerade im Absehen vom Jenseits mit Staunen eigene und echt positive Werte des irdischen und menschlichen Daseins (Reiner 1960).
Den Anstoß zu dieser Bewegung hat die Beschäftigung mit der antiken Literatur gegeben, eine Beschäftigung, welche zwar das Mittelalter auch kannte; aber man begann jetzt die Literatur mit anderen Augen anzusehen. Es folgte nach dem Mittelalter eine Bewegung, welche die Pflege der Sprache und Literatur selbst als Hauptpunkt einer Bildung betrachtete.
Für die Bewegung des Humanismus ist es kennzeichnend, dass sie auf ein Existenzideal zustrebt, in dem das menschliche Dasein rein aus sich selbst begriffen und rein um seiner selbst willen bejaht wird, aufgrund von Werten, die diesem Dasein als solchem in seiner Diesseitigkeit immanent sind. Es erfolgt also eine Opposition gegen die Einspannung des Daseinsideals in die Formen eines theistischen Weltbildes, wie es noch das Mittelalter ausgebildet und verkündet hat. Wir erkennen aus diesen Beispielen, wie sich langsam aus einer Theologie heraus eine Anthropologie entwickelte; es erfolgte eine Verlagerung rein theistischer Denkmodelle auf anthropozentrische Denkansätze. Erinnert sei hier an Descartes Worte: cogito ergo sum. Der Zweifel wird zum philosophischen Maßstab. Und mit diesem Zweifel ging ein neuer Pluralismus an Vorstellungen, Meinungen und Ansichten einher.
Und Jahrhunderte später tritt ein Freiburger Philosoph auf, welcher in diesem radikalen Zweifelsversuch des Cartesius eine große Herausforderung erblickt. Er macht es sich zur Aufgabe - gegenüber dem Chaos der menschlichen Meinungen -, die eigene Ansicht von der Welt einer gründlichen Prüfung zu unterziehen. Und wie nun sein Bewusstsein der Verantwortung für die eigenen Ansichten und die daraus entspringenden Handlungen überhaupt einer gewissen Radikalität der Lebenshaltung entspringt, so sucht er auch bei der Lösung der ihm gestellten Aufgabe radikal vorzugehen: Nichts soll ungeprüft bleiben und von den Grundlagen aus soll der Bau der Weltansicht neu aufgerichtet werden. So wird also das praktische Existenzproblem der Verantwortung und das Ideal einer dieser Verantwortung bis ins Letzte gerecht werdenden Existenz Ausgangs- und zugleich Zielpunkt des Philosophierens.
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- Arbeit zitieren
- Dr. Jörg Johannes Lechner (Autor:in), 2010, Transzendentalphilosophische Phänomenologie und Pädagogik , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/146239
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