Der künstliche Mensch als Motiv des Unheimlichen bei E. T. A. Hoffmann und Georges Simenon


Hausarbeit (Hauptseminar), 2010

23 Seiten, Note: 2,0

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Der künstliche Mensch in der Literatur

2. Was ist „das Unheimliche“?

3. E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann
3.1 Das Puppenmotiv – Die Figur der Olimpia als Motiv des Unheimlichen

4. Georges Simenon: Die Fantome des Hutmachers

Fazit

Bibliografie
Primärliteratur
Sekundärliteratur

Einleitung

Ein Gespenst geht um in Europa seit Beginn des 19. Jahrhunderts-

das Gespenst des Automaten. Es verlor seinen Unterhaltungswert

als Jahrmarktsattraktion und wurde zur unheimlichen Bedrohung.[1]

Der Automat – der künstliche Mensch – als eine unheimliche Bedrohung. So beschrieben, fand er in der Literatur um 1800 immer wieder seinen Wiederklang. Und auch bereits früher, seit der Antike, ist der künstliche Mensch ein beliebtes Motiv in der Literatur.

Verbunden mit dem Künstlichen ist auch stets etwas Unheimliches. Der künstliche Mensch trägt immer auch etwas Geheimnisvolles in sich. Dieses Geheimnisvolle findet seine Steigerung in einem unheimlichen Element, welches schließlich zur Bedrohung wird.[2] Als eine Art Paradebeispiel für den bedrohenden künstlichen Menschen in der Literatur, kann die Figur der Olimpia aus E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann von 1817 bezeichnet werden. Der Protagonist Nathanael vermag es nicht, die Puppe Olimpia von einem realen Menschen zu unterscheiden. Sie ist in seinen Augen so perfekt, dass ein Differenzieren zwischen real und künstlich für ihn unmöglich ist. Vom Beispiel der Erzählung Hoffmanns ausgehend, entwickelte Sigmund Freud seine Schrift Das Unheimliche von 1919.

Im Folgenden soll erläutert werden, inwieweit Der Sandmann unheimlich ist. Dies erfolgt am Beispiel des Motivs des künstlichen Menschen. Dazu wird zunächst motivgeschichtlich auf den künstlichen Menschen innerhalb der Literatur von der Antike bis ins 19. Jahrhundert eingegangen werden. Es folgt in einem kurzen Abriss der Versuch einer Definition des Unheimlichen, ausgehend von der Schrift Sigmund Freuds. Im Anschluss daran werden die unheimlichen Motive des Sandmanns – insbesondere das Puppenmotiv – erläutert. Abschließend sollen die bisherigen Erkenntnisse mit einem modernen Roman von Georges Simenon – Die Fantome des Hutmachers (1948) – in Bezug auf Parallelen zum Sandmann verglichen werden. Die Wahl für einen Vergleich fällt auf Die Fantome des Hutmachers, da es auch in dieser Geschichte eine Puppe gibt, die Parallelen zur Figur der Olimpia im Sandmann sowie zur Geschichte des künstlichen Menschen in der Literatur aufweist.[3]

Ziel der Arbeit soll sein, zu zeigen, inwieweit das Motiv des künstlichen Menschen als unheimlich zu deuten ist, und ob ähnliche Motive in zeitgenössischer Literatur – am Beispiel Simenon – auch ähnlich wirken.

1. Der künstliche Mensch in der Literatur

Seit jeher zählt die Erschaffung eines künstlichen Menschen zu den menschlichen Wunschträumen. In ihm findet sich zum einen ein Erfinder- und Schöpferdrang, welcher sich aufgrund des menschlichen intellektuellen Stolzes erhebt und den Zeugungsakt durch einen geistigen und künstlerischen Akt ersetzt. Zum anderen stellt der Wunsch nach einem künstlichen Menschen auch gleichsam den Wunsch nach Macht und einer Herrschaft über einen Diener dar.[4]

Das hier beschriebene und zu beschreibende Motiv ist ein literarisches, welches an Schöpfungsmythen einiger früher Völker anknüpft. Hier wurden künstliche Menschen allein durch ein göttliches Eingreifen geschaffen.[5]

Neben dem Wunschtraum ist es aber vor allem auch die damit verbundene Angst, die das literarische Motiv des künstlichen Menschen seit jeher begleitet. Die Angst besteht dabei vor allem darin, dass der Mensch von seiner eigenen Schöpfung übertroffen oder gar überwältigt wird.[6]

In der Literatur der Antike wird der künstliche Mensch in der Regel als ein durch einen künstlichen Prozess geschaffenen Androiden dargestellt, der dem natürlichen Menschen nachempfunden ist. Geschaffen wird dieser Android durch Götter oder Halbgötter. So schuf beispielsweise der Titan Prometheus, nach Ovid, Männer und Frauen aus Lehm und Wasser und belebte sie.[7] Zu diesen Frauen gehörte auch Pandora, die auf Befehl von Zeus geschaffen wurde und zum Verderben des Prometheus auf die Erde geschickt wurde. In einer Geschichte nach Homer stellt der Gott der Schmiedekunst Hephaistos für den König Minos von Kreta den Riesen Talos her. Dieser soll als Wächter der Insel zusammen mit den Argonauten kämpfen.[8]

Während durch Talos Adern noch Blut fließt, findet sich bei Ovids Pygmalion bereits eine Übergangsform zu den Automaten, die im Zuge eines künstlerischen Vorgangs geschaffen wurden. Pygmalion lässt durch seine Hände eine Frauenstatue entstehen, der Aphrodite auf sein Bitten Leben einhaucht.[9] In den anderen Beispielen wurden die künstlichen Menschen noch auf Befehl geschaffen, z.B. von Schmieden.[10]

In der Spätantike taucht eine neue Form der Schaffung eines künstlichen Menschen auf; es fehlen sowohl der künstlerische Schaffensvorgang, als auch die belebende göttliche Macht: Es handelt sich um Magie. So berichtet zum Beispiel Lukianos von einem beliebigen Gerät, das man in menschliche Kleider stecken und durch Zaubersprüche zu menschlichen Aktionen beleben kann.[11]

Zur Zeit des Mittelalters leben die steinernen und erzenen Figuren der Antike fort, ihre Belebung erfolgt durch menschliche Leidenschaften und Willensäußerungen – ausgelöst durch den geheimen Zauber des Bildes beim Betrachter, der selbigen auch an sich bindet. Die Götter spielen dabei keine Rolle mehr. Ein Beispiel für das Motiv des künstlichen Menschen findet sich bei William von Malmesbury im Jahr 1124/25, der von einer Statuenverlobung in seiner Pygmalion-Variante berichtet. Ein Jüngling ist in dieser Erzählung so fasziniert von einer Venusstatue, dass er ihr einen Verlobungsring an den Finger steckt und auf diese Weise zum Leben erweckt.[12]

Neben der göttlichen Belebung und der Erweckung durch Zauberkraft findet sich im Mittelalter noch eine dritte Vorstellung: eine naturwissenschaftliche. Bei dieser Vorstellung geht es um die Alraune. Die Alraune und ihre Wurzel gehören biologisch zur Gattung der Nachtschattengewächse.[13] Im Mittelalter glaubte man, dass, wenn die Wurzel unter besonderen Bedingungen ausgegraben wird, sie sich in ein menschliches Wesen verwandelt. Neben dieser Vorstellung gab es noch andere Arten der naturwissenschaftlich „begründeten“ Verwandlung, auf die nicht näher eingegangen wird.[14]

Was allen bisher genannten Vorstellungen gemein ist, ist die Angst vor der Überwältigung des Schöpfers durch das Geschöpf. Diese Angst trat in der Mitte des 18. Jahrhunderts zurück vor dem Glauben an die Bändigung und Verschönerung der Natur durch den Menschen und an die Macht des künstlerischen Schöpfertums.[15] In diesem Zuge kam es auch zu weiteren Bearbeitungen des Pygmalionstoffes.[16]

Der Optimismus zur Weltbemächtigung ließ auch den Gedanken aufkommen, dass es eines Tages möglich wäre, einen rein mechanischen Androiden[17] zu bauen, der sich automatisch bewegen würde. Mit dieser neuen Motivvariante des künstlichen Menschen kündigte sich gleichsam ein neues, technisches, Zeitalter an.[18] Um 1800 trat die Bezeichnung des „Automaten“ oder des „Automatenmenschen“ als eine neue Motivvariante auf. Hunderte von Mechanikern versuchten sich an der Erfindung einer selbst gesteuerten Puppe, dem Automatenmensch. Hierin versuchten sie ihren Traum, der seit Pygmalion oder dem Golem[19] herrschte, zu realisieren. In den Jahren um 1800 kommt es zu einem massiven Auftreten des literarischen Motivs des künstlichen Menschen: 1789 erscheinen Jean Pauls Werke Auswahl aus des Teufels Papieren und Die Frau aus bloßem Holz, beides Satiren, in denen Jean Paul auf die Möglichkeit hinweist, dass Menschen durch Automaten vollständig ersetzt werden könnten. Goethes Ballade vom Zauberlehrling (1798) zeigt, wie ein durch Zauberkraft belebtes Objekt mehr Schaden als Nutzen für seinen Schöpfer anrichtet.[20] In den Jahren nach 1800 erscheinen neben E. T. A. Hoffmanns Die Automaten von 1814 wohl zwei der bedeutendsten und bekanntesten Werke der Motivgeschichte des künstlichen Menschen – in Bezug auf das Phantastische und Unheimliche: E. T. A. Hofmanns Der Sandmann (1817) und Mary Shelleys Frankenstein or the Modern Prometheus.[21]

Wie kam es zu diesem vermehrten Auftreten des Motivs um 1800? Das Motiv war zu diesem Zeitpunkt nicht neu. Unter anderem liegt dies in der bedrohlichen Aktualität der Idee des Automaten in dieser Zeit verborgen. Bereits mit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts fürchtete man die gefährliche Kehrseite des Automaten, man hatte Angst vor den Geistern, die man gerufen hatte. Das Gefühl der Bedrohung ist dabei nicht zuletzt das Ergebnis des Strebens einiger Konstrukteure, das Leben so gut es geht imitieren wollen. Diese Konstrukteure, die das menschliche Leben so gut es geht nachzuahmen versuchten, rücken auf diese Weise indirekt die eigene Marionetten- und Automatenhaftigkeit der Menschen in den Mittelpunkt.[22] In den zwischen 1790 und 1820 verfassten Erzählungen über Automatenmenschen handelt es sich dabei um einen noch viel schwerwiegendere, wenn auch indirekte Gefährdung. Der „echte“ Mensch erkennt am künstlichen Menschen Züge, die dem eigenen erschreckend ähneln.[23]

Manchmal ist es auch eine erotische Beziehung, natürlich vom „echten“ Menschen ausgehend, die zur Bedrohung wird. Dabei werden die künstlichen Automaten – die hier als Puppen benannt werden – für ihre Betrachter zu realen Figuren, denen Liebe und Zuneigung geschenkt wird. Bei Hoffmanns Sandmann ist es die Puppe Olimpia, in die sich der Protagonist Nathanael verliebt. In ihr meint er eine Liebe gefunden zu haben, während sein Blick für seine Verlobte Clara immer unklarer wird und er schließlich sie, Clara, für eine tote Puppe hält und wahnsinnig wird.

[...]


[1] Manfred Geier: Fake. Leben in künstlichen Welten. Mythos-Literatur-Wissenschaft. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999. S. 108.

[2] Vgl. Richard Alewyn: Die Lust an der Angst. In: ders .: Probleme und Gestalten. Frankfurt/M.: 1982, S. 307-331, S. 324-325.

[3] Darüberhinaus schließt Georges Simenons Die Fantome des Hutmachers an ein bereits im Seminar gehaltenes Referat zur Verfilmung von Claude Chabrol – Les fantômes du chapelier (1982) – an und soll an dieser Stelle als Ergänzung zu eben diesem Referat gelten.

[4] Vgl. Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 2. verbesserte und um ein Register erweiterte Auflage. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 1980, S. 513.

[5] Vgl. Frenzel (1980): Motive der Weltliteratur, S. 513.

[6] Vgl. Frenzel (1980): Motive der Weltliteratur, S. 514.

[7] Vgl. Frenzel (1980): Motive der Weltliteratur, S. 514.

[8] Vgl. Frenzel (1980): Motive der Weltliteratur, S. 514.

[9] Die künstliche Frauengestalt hier fesselt Pygmalion durch Liebe an sich. Dieses Motiv wird später auch bei E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann aufgegriffen und im zweiten Kapitel näher besprochen.

[10] Vgl. Frenzel (1980): Motive der Weltliteratur, S. 515.

[11] Vgl. Frenzel (1980): Motive der Weltliteratur, S. 515.

[12] Vgl. Frenzel (1980): Motive der Weltliteratur, S. 515-516.

[13] Eine Alraune ist der Wurzelstock des giftigen Nachtschattengewächses "Mandragora". Diese Wurzel oft nimmt eine menschenähnliche Gestalt an. Die Alraune kann sowohl die Züge eines Mannes als auch einer Frau tragen. Dies wurde in zahlreichen Bildern festgehalten. Nicht zuletzt aufgrund ihres Aussehens gilt die Alraune als eine Zauberpflanze beziehungsweise als Liebes- und Glücksbringer. Die Alraunen wurden mit Hilfe von Hunden ausgegraben, da den Mythen zufolge der Mensch bei der Berührung einer solchen Wurzel sterben würde.

[14] Vgl. Frenzel (1980): Motive der Weltliteratur, S. 516.

[15] Vgl. Frenzel (1980) : Motive der Weltliteratur, S. 517.

[16] Zu den Bearbeitungen des Pygmalionstoffes gehören u.a.: J. E, Schlegel: Kantate, 1766; J. J. Bodmer: Pygmalion und Elise, 1747; J.-J- Rousseau: Melodram, 1770.

[17] Ein Android ist die Bezeichnung für einen Roboter, der einem Menschen nicht bloß täuschend ähnlich sieht, sondern sich auch menschlich verhält. Android wird auch oftmals als Bezeichnung für künstliche Menschen, Maschinenmenschen oder Automaten verwendet. So trägt eine Publikation zur Poetologie des Automaten den Titel Androiden: Jürgen Söring/ Reto Sorg (Hrsg.): Androïden. Zur Poetologie der Automaten. 6. Internationales Neuenburger Kolloquium 1994. Frankfurt/M.: Peter Lang 1997.

[18] Vgl. Frenzel (1980): Motive der Weltliteratur, S. 516-517.

[19] Das Wort „Golem“ stammt aus dem hebräisch-jüdischen und bedeutet etwa „das Ungeformte, Ungestaltete; ein Erdkeim oder ungestaltetes Klümpchen, ein Embryo“. Der Golem lässt sich motivgeschichtlich in die Vorstellung der Schaffung eines künstlichen Menschen durch Zauberhand einordnen. Es ist eine durch Zauberei auf bestimmte Zeit belebte, stumme menschliche Figur. Dabei hat dieses Wesen oft gewaltige Größe und Kraft. Seine Grundsubstanz besteht aus Lehm sowie einer Zauberformel („Schem“), die den Golem zum Leben erweckt und ihn auch wieder sterben lassen kann. Ab dem 12. Jahrhundert galt der Golem als künstlich erschaffener Mensch. Er wurde zum dämonischen Diener des Menschen materialisiert.

[20] Wobei es sich hier im eigentlichen Sinne nicht um eine Form des künstlichen Menschen handelt. Es passt jedoch gut in die Aufzählung, da sich hier ein geschaffenes Objekt gegen seinen Macher wendet. Diese Situation tritt häufig auf in der Motivgeschichte.

[21] Im Folgenden wird – wie in der Einleitung gesagt – auf Hoffmanns Sandmann explizit eingegangen werden. Mary Shellys Frankenstein wird keine weitere Erwähnung finden.

[22] Vgl. Frenzel (1980): Motive der Weltliteratur, S. 517-518.

[23] Vgl. Peter Gendolla: Die lebenden Maschinen: Zur Geschichte der Maschinenmenschen bei Jean Paul, E. T. A. Hoffmann und Villiers de l’Isle Adam. Marburg/Lahn: Gutttandin und Hoppe 1980, S. 4-5.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Der künstliche Mensch als Motiv des Unheimlichen bei E. T. A. Hoffmann und Georges Simenon
Hochschule
Universität Paderborn
Note
2,0
Jahr
2010
Seiten
23
Katalognummer
V146991
ISBN (eBook)
9783640561384
ISBN (Buch)
9783640561605
Dateigröße
594 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Unheimlich, Simenon, E.T.A. Hoffmann, Motivgeschichte, Automaten
Arbeit zitieren
Anonym, 2010, Der künstliche Mensch als Motiv des Unheimlichen bei E. T. A. Hoffmann und Georges Simenon, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/146991

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