Die französischen Übersetzungen von Kafkas "Prozess"

Ein Übersetzungsvergleich


Mémoire (de fin d'études), 2010

122 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Warum eine Neuübersetzung?

2 Entstehung und Veröffentlichung des Prozess

3 Deutung und Interpretationen des Prozess
3.1 Kafka als Expressionist?
3.2 Zuordnung zum französischen Surrealismus
3.3 Der Prozess als religiöses Metaphernwerk
3.4 Ein politischer Gesellschaftskritiker?
3.5 Kafka als philosophischer Denker
3.6 Die psychologische Perspektive
3.7 Ein biographischer Hintergrund?
3.8 Sprache im Fokus
3.9 Die Interpretation als Forschungsgegenstand
3.10 Kafka heute - Multiinterpretabililtät als konsensförderndes Credo?

4 Kafka in Frankreich
4.1 Facettenreichtum als Beliebtheitsmotor
4.2 Trostspender in Krisenzeiten
4.3 Kafka heute - Kafka, what else...?!

5 Die französischen Kafka-Übersetzer
5.1 Alexandre Vialatte (1901-1971)
5.2 Claude David (1913-1999)
5.3 Bernard Lortholary (*1936)
5.4 Georges-Arthur Goldschmidt (1 1928)
5.5 Goldschmidt vs. Lortholary
5.6 Axel Nesme

6 Kafkas Sprache und Stil sowie die damit verbundenen Schwierigkeiten
6.1 Eigenarten und Besonderheiten von Kafkas Stil
6.1.1 Stilprägende Elemente
6.1.2 Häufige „Übersetzungsfehler“ und -schwierigkeiten
6.2 Einflüsse des Tschechischen und des Jiddischen auf Kafkas Stil

7 Analyse, Vergleich und Kritik anhand von Textauszügen
Textauszug 1
Textauszug 2
Textauszug 3
Textauszug 4
Textauszug 5
Textauszug 6
Textauszug 7
Textauszug 8

Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Vorwort

Im Zuge dieser Diplomarbeit habe ich mich mit Kafkas Werk Der Prozess, dessen Genese, Verbreitung und der Rezeption der verschiedenen französischen Übersetzungen dieses Romans in Frankreich beschäftigt.

Die Arbeit ist in sieben Kapitel unterteilt. Im ersten Kapitel setze ich mich mit dem Phänomen der Neuübersetzung sowie der Frage auseinander, aus welchen Gründen Neuübersetzungen angefertigt werden. Anschließend wird auf die Entstehung und Veröffentlichung des Prozess eingegangen und die Editionen und Übersetzungen des Werks werden beschrieben. Kapitel drei beschäftigt sich mit verschiedenen Interpretationsansätzen und präsentiert einen Querschnitt der unterschiedlichen Deutungsperspektiven im Lauf der Zeit bezüglich Kafkas Werks im Allgemeinen und des Prozess im Besonderen. Danach folgt eine Analyse der Rezeption und Wirkung von Kafkas Werken in Frankreich. In Kapitel fünf werden die fünf französischen Übersetzer des Prozess (mit ihren unterschiedlichen Übersetzungsansätzen beschrieben. An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass der Begriff die „Kafka-Übersetzer“ natürlich viel mehr als nur die fünf in dieser Arbeit Besprochenen umfasst, u.a. Marthe Robert, Brigitte Vergne-Cain, Gérard Rudent und François Mathieu. Da jene sich jedoch nicht an einer Übersetzung des Prozess (versucht haben, bezieht sich der Begriff „die Kafka­Übersetzer“ in der vorliegenden Arbeit nur auf die fünf Übersetzer des Prozess: Alexandre Vialatte, Claude David, Bernard Lortholary, Georges-Arthur-Goldschmidt und Axel Nesme. Kapitel sechs setzt sich mit Kafkas Sprache und Stil auseinander. Beschrieben werden sprachliche Besonderheiten und stilprägende Elemente des Autors und die damit verbundenen Übersetzungsschwierigkeiten. Abschließend folgt in Kapitel sieben ein Übersetzungsvergleich. Anhand von acht Textauszügen analysiere und vergleiche ich die fünf französischen Übersetzungen des Prozess.

Warum nun ausgerechnet Kafka? Die Verbreitung von Kafkas Werken in Frankreich stellt Paradebeispiel und Ausnahmefall in einem dar und bietet sich gleich aus mehreren Gründen für einen Übersetzungsvergleich an.

- Da zwischen der ersten und der „letzten“ Übersetzung des Romans ein Zeitraum von 60 Jahren liegt, ist ein diachroner Vergleich möglich. Die verschiedenen Prozess - Übersetzungen verteilen sich über eine längere Zeitspanne, was bedeutet, dass die Kafka-Übersetzer schon historisch bedingt - alle äußerst unterschiedliche Lebensumstände hatten und unterschiedlichste theoretische Ansätze vertraten. Dies zeigt sich in den einzelnen Prozess-Versionen sehr deutlich und macht einen diachronen Vergleich umso reizvoller und interessanter.
- In den 80er Jahren wurde der Prozess gleich von zwei Übersetzern parallel übersetzt, was die Durchführung eines synchronen Vergleiches ermöglicht.
- Anhand der Unterschiede zwischen den verschiedenen Übersetzungen lassen sich Fortschritte und Entwicklungen in der Übersetzungswissenschaft aufzeigen.
- In Anbetracht der Tatsache dass sich die Übersetzungswissenschaft in besagter Zeitspanne rasch weiterentwickelt hat, haben sich auch die Ansprüche und die Erwartungen der Leser an Übersetzungen deutlich gewandelt, was anhand der in dieser Arbeit angeführten Beispiele deutlich werden soll.

Kafka in Frankreich - die Übersetzungen und die darauf folgenden Interpretationen bieten dem Betrachter nicht nur ein Spektrum der unterschiedlichen Geistesströmungen und Denkschulen in Frankreich dar, sondern ermöglichen es dem Leser unter anderem auch, Kafkas Werke unter den unterschiedlichsten Gesichtspunkten zu betrachten und neue Seiten an dem Prager Autor zu entdecken.

« L’histoire de la traduction de Kafka [...] est une histoire de ¡a traduction un mouvement. Elle nous montre, elle nous révèle [...] différentes strates, différentes couches de l’univers et de l’écriture de Franz Kafka ; Kafka l’existentialiste, Kafka l’homme à la recherche de Dieu, Kafka dénonciateur des méfaits d’un monde moderne mécanisé et déshumanisé, Kafka auteur de l’absurde, Kafka l’humoriste noir, etc. »»1

Die Situation des Werkes Der Prozess (und von Kafkas Werken im Allgemeinen) im französischen Buchhandel entbehrt nicht einer gewissen kafkaesken Note: Bis zum heutigen Tag sind fünf unterschiedliche Versionen von Kafkas vielleicht berühmtesten Werk, das es - wäre es nach Kafkas Willen gegangen - eigentlich gar nicht geben dürfte, in französischer Sprache erschienen. Geht ein französischer Leser in eine Buchhandlung, sieht er sich, meist ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein(!), mit fünf verschiedenen Übersetzungen des Prozess konfrontiert, die parallel - und oft ohne Konzept und System - verkauft werden.

Hierzu sei angemerkt, das die älteren Übersetzungen oft auch aus pekuniären Gründen immer wieder neu aufgelegt werden: wird z.B. die erste Übersetzung von Kafkas Werk Der Prozess (von Alexandre Vialatte) neu verlegt, müssen keine Lizenzgebühren mehr gezahlt werden, wie es bei aktuelleren Übersetzungen natürlich sehr wohl der Fall ist.2

Abhängig davon, welches Buch der Leser aus dem Regal zieht bzw. von der Wahl des jeweiligen Buchhändlers, welche Version er an- und verkaufen möchte, gerät der Leser willkürlich an eine der Übersetzungen - was im Übrigen ein deutliches Zeichen für den immer noch herrschenden Mangel an Bewusstsein für Übersetzungen ist. Welchen Kafka kauft der Leser? In erstaunlich vielen Fällen verlässt der Käufer mit der ältesten und immer noch sehr zahlreich vorhandenen Übersetzung des Prozess den Laden und trägt Vialattes surrealistischen Prinzen des absurden Humors mit nach Hause.

In den „classes préparatoires scientifiques“, den Vorbereitungskursen für jene, die den Besuch einer französischen Elitehochschule („grande école“) anstreben, sind Kafkas Werke Bestandteil der Literaturprüfung. Während den Professoren im Fall von Kafkas Roman Die Verwandlung ausdrücklich die Verwendung der Übersetzung von Bernard Lortholary vorgeschrieben ist, haben sie beim Prozess freie Hand und dürfen sich aussuchen, welchen Kafka sie mit ihren Schülern durchnehmen wollen."3

Zugunsten der Lesefreundlichkeit habe ich darauf verzichtet, bei Gruppenbezeichnungen das -Innen anzufügen. Die Begriffe sind also als geschlechtsneutral zu verstehen und schließen sowohl Frauen als auch Männer ein.

In Zitaten (gedruckt in Kursivschrift) wurde die alte Rechtschreibung beibehalten, auf die ich in der Arbeit nicht mehr gesondert verweise. Besonders zu erwähnen ist an dieser Stelle die Tatsache, dass der Titel von Kafkas Werk Der Prozess im Lauf der Zeit unterschiedlich geschrieben wurde („Der ProceK“, „Der Process“, „Der Prozeß“ sowie „Der Prozess“). In Zitaten habe ich die jeweilige Version beibehalten, abgesehen davon habe ich mich an der neuen Rechtschreibung orientiert und die Schreibweise „Der Prozess“ verwendet.

An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei meiner Mutter Frau Dr. Astrid Marschall, bei Frau Dr. Wildberger, bei Frau Mag. Haid und bei meinen Freundinnen für ihre langjährige tatkräftige Unterstützung bedanken.

Mein Dank geht auch an Herrn Dr. Pöckl für seine wertvolle Betreuung und an Frau Evelyn Dueck, MA, dafür, dass sie mir ihre Arbeit zur Verfügung gestellt hat.

1) Warum eine Neuübersetzung?

Bevor ich in dieser Diplomarbeit verschiedene Übersetzungen von Kafkas Prozess analysiere und vergleiche, erscheint es mir sinnvoll und notwendig, kurz zu klären, aus welchen Gründen und zu welchem Zweck von manchen Werken Neuübersetzungen angefertigt werden. Warum also werden überhaupt Neuübersetzungen erarbeitet? Aus welchem Grund sollte man sich die Mühe machen, einen bereits übersetzten Text von neuem zu übersetzen?

« Activité soumise au temps - temps de la réception, durée du processus même, acceptabilité datée du produit du transfert, la traduction est un acte toujours inachevé, à refaire. Mais toutes les traductions ne vieillissent pas à la même allure, au même degré. »!4

Ist die Notwendigkeit einer Neuübersetzung von der Gestaltung und der Art des Originaltextes abhängig? Oder vielmehr davon, wie die ursprüngliche Übersetzung des Textes aussah? Wenn die Übersetzung der ausschlaggebende Faktor ist - spielt die Ausrichtung der „ersten“ Übersetzung - also eine ihr innewohnende ziel- bzw. ausgangssprachliche Orientierung - in diesem Zusammenhang eine Rolle? Und wenn ja, in welchem Ausmaß beeinflusst diese Ausrichtung die Geschwindigkeit, in der eine Übersetzung veraltet wirkt und es die Leser - meist unbewusst - nach einer Neuübersetzung verlangt?

Ganz allgemein lässt sich wohl festhalten, dass es umso früher der Neuübersetzung eines Textes bedarf, je stärker seine Übersetzung an die zielsprachlichen Konventionen ihrer jeweiligen Zeit angepasst wurde und je schneller sich die Wissenschaften entwickeln.

In einer Diskussion im Rahmen der Dix-huitièmes Assises de la traduction littéraire (Arles, 2001) äußerte sich Jürgen Ritte folgendermaßen zur Frage der Neuübersetzungen

« Boris Vian aurait dit que * les grands livres mériteraient d’être traduits tous les trente ans » [...] Trente ans, c ’est une génération de lecteurs, c ’est le temps qu’il faut, et il n’en faut pas plus ! pour changer l’image que l’on se fait d’un auteur. »5

Das Argument klingt schlüssig: Die Geschichte hat gezeigt, dass sich das Bild, das sich Leser, Kritiker und Übersetzer von einem Autor und seinem Werk machen, innerhalb von dreißig Jahren grundlegend wandeln kann. Schon allein aus diesem Grund machen Neuübersetzungen Sinn.

« [...] traduire est une activité soumise au temps, et une activité qui possède une temporalité propre [...] »"6

Abgesehen davon bin ich der Überzeugung, dass es keiner tief greifenden Veränderungen in der Werks-Rezeption seitens der Leser bedarf, um eine Neuübersetzung zu rechtfertigen. Die Betrachtung unterschiedlicher Übersetzungen ein und desselben Werks kann neue Perspektiven eröffnen, die Lektüre jeder Version neue, wertvolle Aspekte aufzeigen.

Laut Antoine Berman ist der Bedarf an einer Neuübersetzung aufgrund des Wesens von Übersetzungen im Allgemeinen strukturimmanent:

« [...] Comme aucune traduction ne peut prétendre être « la » traduction, la possibilité et la nécessité de la retraduction sont inscrites dans la structure même de l’acte de traduire. »7

Eine Ausnahme stellen hier die so genannten „großen Übersetzungen“ dar: jene Übersetzungen, die keiner Überarbeitung bzw. Neufassung bedürfen und die in ihrer jeweiligen Form in den Literaturkanon einer Sprache aufgenommen worden sind.

« [...] L’histoire nous montre qu’il existe des traductions qui perdurent à l’égal des originaux et qui, parfois, gardent plus d’éclat que ceux-ci. »8

Jürgen Ritte wiederum vergleicht Übersetzungen mit Fotografien, mit Momentaufnahmen eines Werkes im Wandel der Zeit - ein meiner Ansicht nach sehr interessanter Gedanke, der das Thema der Neuübersetzung sehr deutlich veranschaulicht:

« Comme les photos, les traductions peuvent vieillir, jaunir, s’effacer ; autrement dit, nous avons l’impression en lisant une traduction qui a une cinquantaine d’années qu’elle a plus ou moins bien vieilli. Elle ne nous paraît plus à la mode, loin de l’idée que nous nous faisons de l’œuvre, loin de notre conception du style littéraire. Mais, en vérité, le problème n’est pas le vieillissement ; une traduction reflète tout simplement un état, un degré du développement de l’empreinte originale. Elle est le témoin fidèle d’une lecture, d’une interprétation, d’appropriation d’une œuvre originale à un moment donné. »9

Der Kafka-Übersetzer Bernard Lortholary geht mit Ritte konform und plädiert ebenfalls für die Neuübersetzung: Eine Übersetzung kann veraltet wirken und aktuellen Anforderungen bzw. Standards nicht mehr entsprechen, also plädiert er für eine regelmäßige Überarbeitung „veralteter“ Elemente.

« On retraduit tous les vingt ou trente ans... Toute traduction comporte une déperdition, qu’il faut régulièrement compenser. »10

Lortholary nennt noch einen weiteren Grund für die Neuübersetzung der Werke Kafkas :

« [...] il (le traducteur, A.J.) a le droit de dire qu’en donnant enfin de ce ¡ivre une version qui est à la fois correcte et lisible, il a le sentiment de rendre justice à Kafka et à Claude David. »11

Alle Übersetzer sind bis zu einem gewissen Grad unweigerlich in ihrer Zeit und ihrer Auffassung von Sprache verhaftet, daher ist Lortholary der Ansicht, dass die objektive Analyse einer Übersetzung erst mit der erforderlichen ztlichen Distanz möglich ist.12

Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich mir sehr wohl der Tatsache bewusst bin, dass meine Einschätzung natürlich ebenfalls an die heutzutage herrschende Denkweise und die jetzige Zeit gekoppelt ist. Absolute Objektivität ist mir - so wie allen anderen - aufgrund meines Verhaftet-Seins im Hier und Jetzt nicht möglich.

Bei der vergleichenden Analyse mehrerer Übersetzungen desselben Textes, wie sie auch in der vorliegenden Arbeit durchgeführt wurde, lassen sich interessante Gemeinsamkeiten der neuen Versionen erkennen.

Bezugnehmend auf Antoine Bermans Veröffentlichung „La retraduction comme espace de la traduction“ (1990) stellt so z.B. Yves Gambier die These auf, dass Neuübersetzungen tendenziell stärker ausgangssprachlich orientiert seien als die jeweilige Erstübersetzung eines Textes.

« Ainsi [...] on peut prétendre qu’une première traduction a toujours tendance à être plutôt assimilatrice, à réduire l’altérité au nom d’impératifs culturels, éditoriaux : on fait des coupures, on réarrange l’original au nom d’une certaine lisibilité, elle-même critère de vente. La retraduction dans ces conditions consisterait en un ‘retour ’ au texte source. »13

Es gibt zahlreiche Beispiele die zeigen, dass Gambiers Theorie nicht uneingeschränkt auf alle Neuübersetzungen zutrifft. Sehr textnahe Übersetzungen führen in manchen Fällen dazu, dass die darauf folgende Neuübersetzung umso freier gestaltet wird, so wie es zum Beispiel Raoul Schrotts Neuübersetzung von Homers Illias der Fall war.

Die Neuübersetzung als zunehmende Annäherung an den Originaltext - zumindest in Kafkas Fall trifft Gambiers These zweifellos zu, was aber noch kein Beweis für deren Richtigkeit darstellt. Die erste Übersetzung des Prozess entstand zu einer Zeit, in der - gerade im französischen Sprachraum - Übersetzungen im Allgemeinen sehr zielsprachlich orientiert waren, die Praxis der „belles infidèles“ war an der Tagesordnung. Aus diesem Grund ist es natürlich nicht weiter verwunderlich, sondern beinahe als logisch anzusehen, dass die später angefertigten Übersetzungen von Kafkas Werk erheblich texttreuer ausfielen. Ich will mir jedoch nicht anmaßen zu beurteilen, inwiefern diese Entwicklung einer in der Übersetzungspraxis allgemein vorherrschenden Tendenz entspricht.

An diesem Punkt gilt es auch noch anzumerken, dass sich eine Neuübersetzung - zumindest partiell - oft auch als „erste“ Übersetzung erweisen kann. Dies trifft in jenen Fällen zu, in denen Wörter, Sätze oder ganze Textabschnitte unterschlagen bzw. aus welchen Gründen auch immer nicht übersetzt wurden.

2) Entstehung und Veröffentlichung des Prozess:

« Publier ce que l’auteur a supprimé est donc le même acte de viol que censurer ce qu’il a décidé de garder.» 14

Autoren bzw. Werke [...], von denen wir glauben, dass sie eher zu ,Mißverständnissen’ und ,Verrat ’ Anlaß gegeben haben als manche andere. Ein solcher Autor ist gewiß Franz Kafka.“15

Kafka verfasste das Manuskript des Prozess im Jahr 1914/1915, einer Zeit, zu der er sich in einer privaten Krise befand:

Wenige Tage nach Kafkas 31. Geburtstag kam es zur Auflösung seiner sechs Wochen dauernden Verlobung mit Felice Bauer, einer Angestellten aus Berlin, die er über Max Brod kennen gelernt hatte. Seine Briefwechsel mit Felice sind legendär und wurden in unterschiedlichen Auflagen veröffentlicht. Bezüglich des Prozess sei hier ein interessantes Detail am Rande erwähnt: Die besagte Begegnung mit Felice und ihrer Familie in einem Berliner Hotel bezeichnete Kafka als „Gerichtshof im Hotel“16, was natürlich späteren biographischen Deutungen seines Romans zusätzliche Nahrung gab.

Im Januar 1915 legte Kafka die Arbeit an den Romanfragmenten von Der Prozess nieder. Ganz im Gegensatz zu seiner gewohnten Arbeitsweise schrieb Kafka dieses Werk kapitelweise und arbeitete an mehreren Kapiteln gleichzeitig. Als Kafka starb, hatte er die Reihenfolge der Kapitel noch nicht festgelegt und so wurde das Manuskript in Konvoluten von teils abgeschlossenen, teils halbfertigen Kapiteln weitergereicht.

Es gibt zahllose Gründe, warum Kafka einige seiner Werke - darunter auch den Prozess - nie abgeschlossen hat. Abgesehen davon, dass Kafka viele seiner Schriften nicht für gut genug befand, um sie öffentlich zu präsentieren, besteht ein weiterer möglicher Grund in der Tatsache, dass Kafka in Prag von der deutschen Verlagslandschaft so gut wie gänzlich abgeschnitten war und kaum Chancen sah, seine Werke überhaupt veröffentlichen zu können.

Milan Kundera verweist diesbezüglich in seinem Essay „Les testaments trahis“ auf Joachim Unseld, der diesem Thema eines seiner Bücher widmete. Kundera hält die Möglichkeit, dass die Unvollständigkeit einiger von Kafkas Werken auf die mangelnde Gelegenheit zur Veröffentlichung zurückzuführen sei, für sehr wahrscheinlich.

„Prague représentait pour Kafka un énorme handicap. Il y était isolé du monde littéraire et éditorial allemand, et cela lui a été fatal. Ses éditeurs se sont très peu occupés de cet auteur que, en personne, ils connaissaient à peine.“17

Unter diesen Umständen sehen viele Autoren von einer Vervollständigung ihrer Werke ab, da für sie ja kein wirklicher Anlass dazu besteht.

,,[...] c ’était là la raison la plus probable [...] pour laquelle Kafka n’achevait pas des romans que personne ne lui réclamait. Car si un auteur n’a pas la perspective concrète d’éditer son manuscrit, rien ne le pousse à y mettre la dernière touche, rien ne l’empêche de ne pas l’écarter provisoirement de sa table et de passer à autre chose.“18

Kafka vermachte die Textpartien mit der Order „alles (...) restlos und ungelesen zu verbrennen“19 seinem langjährigen Freund Max Brod. Seine Anweisungen waren unmissverständlich, so bat er Brod um die Zerstörung folgender Dokumente: erstens - und mit besonderem Nachdruck - seiner persönlichen Aufzeichnungen (Briefe und Tagebücher), zweitens jener Erzählungen und Romane, die ihm seiner Meinung nach nicht gut gelungen seien. Der Prager Schriftsteller gab in dieser Hinsicht äußerst präzise Anweisungen: er wies Brod an, dass nur Das Urteil, Der Heizer, Die Verwandlung, Die Strafkolonie, Ein Landarzt und Ein Hungerkünstler erhalten bleiben sollten; später fügte er dieser Aufzählung noch Erstes Leid, Eine kleine Frau, Josephine, die Sängerin, oder das Volk der Mäuse hinzu.20 Des Weiteren bat Kafka seinen Freund, auch all das zu verbrennen, was sich im Besitz anderer Menschen (z.B. seiner Briefpartner) befand: „Briefe, die man Dir nicht übergeben will, soll man wenigstens selbst zu verbrennen sich verpflichten.“21

Es ist nicht bekannt, welche Gründe Kafka zu dieser Entscheidung bewogen hatten. Zahllose Kafka-Experten versuchten sich an möglichen Erklärungen, von denen eine so wenig beweis­oder widerlegbar ist wie die andere. Kafkas Entscheidung dürfte aber zumindest teilweise auf seine massiv kritische Haltung sich und seinem Werk gegenüber zurückzuführen sein. So lehnte Kafka im Jahr 1923 das Angebot eines Schweizer Verlages, ihm für eine von ihm zur Veröffentlichung eingereichte Arbeit 1000 Schweizer Franken zu bezahlen, mit der Begründung ab, dass er sein Geschriebenes von früher als nicht brauch- und vorzeigbar betrachte.22

Fakt ist: Kafka hat keinerlei Aufzeichnungen hinterlassen, in denen er seine Entscheidung erklärt oder begründet. Damit kann der Leser bezüglich dieser Frage aus derselben Unzahl an Interpretationen wählen, mit der er sich auch bei der Deutung von Kafkas Werken konfrontiert sieht.

Brod jedoch veröffentlichte sämtliche Aufzeichnungen, darunter auch das Prozess­Manuskript, nach Kafkas Tod gegen dessen Willen. Als glühender Bewunderer seines Freundes dachte er gar nicht daran, dessen Werke dem Feuer zu überantworten, ganz im Gegenteil: er setzte sich in den Kopf, Kafka postum zu dem ihm gebührenden Ruhm zu verhelfen.23

Brods Weigerung dem letzten Willen seines Freundes zu entsprechen wurde von vielen Seiten scharf kritisiert. Der tschechische Schriftsteller Milan Kundera widmete sich in seinem 1993 erschienenem Werk Les testaments trahis diesem Thema. Darin verurteilt er Brods Verhalten gnadenlos und nennt dessen Verrat an seinem Freund unentschuldbar.

« [...] lui-même (Max Brod, A.J.)publie tout, sans discernement ; même cette longue et pénible lettre trouvée dans un tiroir, lettre que Kafka ne s’était jamais décidé à envoyer à son père et qu, grâce à Brod, n’importe qui a pu lire ensuite, sauf son destinataire.

L’indiscrétion de Brod ne trouve à mes yeux aucune excuse. Il a trahi son ami. Il a agi contre sa volonté, contre le sens et l’esprit de sa volonté, contre sa nature pudique qu’il connaissait. »* 24

Für mich ist Kunderas Haltung sehr nachvollziehbar. Wer würde schon wollen, dass seine privaten Briefe und Tagebücher gegen seinen ausdrücklichen Willen postum veröffentlicht und damit aller Welt zugänglich gemacht werden?! Brod selbst hatte Kafka in seinem Testament gebeten, „einige Dinge zu zerstören“25 - schwer vorstellbar, dass er mit einer Veröffentlichung dieser „Dinge“ gegen seinen Willen einverstanden gewesen wäre.

Kundera weist in seinen „Testaments trahis“ auf einen doppelten Verrat hin: entstanden dadurch, dass Kafkas „intention esthétique“, also die oft diskutierte Intention des Autors, von seinen französischen Übersetzern verraten worden wäre.26 Als Beispiel führt Kundera unter anderem an, dass die bei Kafka so reichlich vorhandenen Wiederholungen in den Übersetzungen, besonders in den Versionen von Vialatte und David, selten wiedergegeben sondern meist ersetzt wurden.

Den in Kunderas Werk beschriebenen „Ur-Verrat“27, den Brod an Kafkas Werken begangen habe, bezeichnet Manfred Schmeling in seinem Essay „ Verraten und verkauft? Probleme literarischer Kafka-Rezeption in Frankreich“ sogar als Grundproblem der Kafka-Rezeption in Frankreich. Inwiefern diese These wirklich als hundertprozentig zutreffend zu bewerten ist, vermag ich nicht zu beurteilen.

In jedem Fall erscheint mir, dass dieser „Ur-Verrat“, sollte Schmelings Behauptung korrekt sein, zumindest nicht nur in der französischen Kafka-Rezeption, sondern in der Rezeption seiner Werke im Allgemeinen als Grundproblem betrachtet werden müsste. Und eine Tatsache bleibt zu bedenken: ohne Brods „Ur-Verrat“ könnte heute niemand die Kafka­Rezeption analysieren, weil viele Aufzeichnungen des Prager Autors niemals ins Licht der Öffentlichkeit gerückt geschweige denn übersetzt worden wären. Brods Verrat stellt somit nicht nur ein Grundproblem von Kafkas Rezeption dar, sondern schuf erst einmal überhaupt die Voraussetzung für diese.

Auch der französische Schauspieler und Regisseur Jean-Louis Barrault, der 1947 Le procès gemeinsam mit André Gide am Théâtre Marigny in Paris inszenierte, äußerte sich zur Frage von Brods vermeintlichem Verrat. In seiner Veröffentlichung „Cas de conscience devant Kafka“ (1957) geht Barrault davon aus, dass im Grunde jeder Kafka-Leser sich in einem gewissen Maß des Verrats an Kafka - einem Schriftsteller, der uns eigentlich nicht bekannt sein sollte - schuldig macht:

« Seulement il n’y a pas une seule personne vivante au monde qui ne se trouve en mauvaise conscience devant Kafka. A des degrés différents cependant. » 28

Er beschuldigt nicht nur Brod, sondern auch und vor allem Kafkas zahlreiche Interpreten und Kommentatoren, all die zahlreichen Kafka-Experten, den Autor gegen dessen Willen ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt und dort nicht nur sprachlich seziert, sondern noch dazu in unterschiedliche Schablonen gepresst und bis zur Unkenntlichkeit zer-interpretiert zu haben.

« Il (Kafka, A.J.g avait passé son temps à se cacher pudiquement derrière son œuvre et cette œuvre est mise à nu et lui aussi est mis à nu et pis encore, le voilà maquillé, déguisé, déformé par les commentateurs, le voilà écartelé, déchiqueté par les philologues. » 29

Daraus folgt, dass Barrault für eine möglichst deutungsfreie Lektüre von Kafkas Werken plädiert:

« Nous sommes de cœur beaucoup plus près des kafkéens scrupuleux qui n’ajoutent pas de solution à Kafka que de ceux qui essaient de lui donner le sens qui leur convient. » 30

Ganz in diesem Sinne äußert sich auch Régine Robin in ihrem Werk Kafka (1989) :

« On a souvent écrit plaisamment que si Kafka avait ordonné qu’on brûlât ses écrits [...] c ’est parce qu’il avait le pressentiment du déluge interprétatif qui allait ensevelir (&son œuvre. »31

Wenn auch scherzhaft gemeint, könnte dieser Ansatz nicht einer gewissen Wahrheit entbehren.

Max Brods eigenmächtiges Handeln stieß jedoch in der breiten Öffentlichkeit nicht nur auf Kritik: begeisterte Kafka-Leser zeigten sich dankbar und betrachteten Brod als „Retter“ von Kafkas Aufzeichnungen.

So spricht die französische Autorin Francoise Tabery für viele, wenn sie in ihrer Kafka­Bibliografie „Kafka en France“ schreibt:

„Grâce à lui (Brod, A.J.), l’oeuvre avait été sauvée“32

Hier möchte ich nur kurz einen Punkt ansprechen, über den sich bereits eine Vielzahl von Literaturwissenschaftlern den Kopf zerbrochen hat: Kafka hat einen Teil seiner Texte zu Lebzeiten selbst ausgelöscht. Also stellt sich schnell die Frage: Warum hat er die übrigen Manuskripte und darunter auch den Prozess nicht ebenfalls vernichtet? Konnte er sich etwa doch nicht dazu entschließen und wünschte sich insgeheim vielleicht doch eine Veröffentlichung dieser Werke...?

Bei genauerer Betrachtung dieser Frage wird deutlich, dass die Vernichtung seiner Schriften Kafka teilweise gar nicht möglich war - seine Briefe z.B. befanden sich ja im Besitz ihrer Adressaten.

Seine Tagebücher hätte er zwar verbrennen können, doch dienten ihm diese auch zeitlebens als Arbeitsutensilien - er verfasste Teile seiner Erzählungen in seinen Tagebüchern, in denen er sich auch seine Ideen notierte. Dass er darauf verzichtet hat, seine unbeendeten Erzählungen und Romane zu zerstören, ist äußerst verständlich - bestand doch immer die Möglichkeit, dass er noch daran weiter schreiben und sie doch noch beenden würde.33

Des Weiteren hatte Kafka - laut Kundera - vor seinem Tod gar nicht mehr die Möglichkeit, seine Aufzeichnungen selbst zu vernichten und wandte sich deshalb mit dieser Bitte an seinen zu diesem Zeitpunkt letzten und einzigen Freund: Max Brod.

« L’écrivain n’a aucune raison de détruire ce qu’il a écrit tant qu’il n’est pas mourant. Mais quand il est mourant Kafka n’est plus chez lui, il est au sanatorium et il ne peut rien détruire, il peut seulement compter sur l’aide d’un ami. Et n’ayant pas beaucoup d’amis, n’en ayant finalement qu’un seul, il compte sur lui (Max Brod, A.J.). » 34

Brod rechtfertigte sein Vorgehen oft mit dem Argument, dass er Kafka mehrmals, unter anderem bei einem Gespräch im Jahr 192135, gesagt habe, dass er dessen Wunsch nicht erfüllen würde, dass dieser sich völlig darüber im Klaren gewesen sei, dass Brod seine Schriften niemals zerstören würde und daher jemand anderes mit der Zerstörung hätte beauftragen müssen, wenn es ihm damit ernst gewesen wäre.36

Die Kafka-Übersetzerin Brigitte Vergne-Cain geht aus den eben genannten Gründen davon aus, dass Brod richtig gehandelt habe. Sie ist überzeugt, dass Kafka seinen Wunsch, die Manuskripte vernichtet zu sehen, nicht wirklich ernst gemeint haben kann - wäre es ihm ernst gewesen, hätte er den Auftrag nicht gerade jenem Freund gegeben, von dem er genau wusste, dass er diesen nicht erfüllen würde.

« A ce sujet, nous sommes finalement convaincus qu’il n’est pas juste de parler de trahison. Si Kafka avait vraiment voulu que tout disparaisse, il se serait adressé à un autre de ses amis ; [...] il savait pertinemment que Max Brod révérait tout ce qu’il écrivait et que Max Brod était le dernier à qui il fallait demander de détruire le moindre papier de la plume de Kafka. » 37

In diesem Punkt stimmt sie mit zahlreichen Wissenschaftlern, darunter beispielsweise auch Erich Heller, überein. Heller vertritt ebenfalls die These, dass Kafka sich nur deshalb entschieden hatte, Brod als Testamentsvollstrecker einzusetzen, weil er wusste, dass dieser seinen „letzten Willen“ nicht erfüllen würde.

In seinem Vorwort zu Kafkas „Briefe an Felice“, das gemeinsam mit Brod herausgegeben wurde, zitiert Heller das Werk Heinz Politzers Franz Kafka, der Künstler, in dem Politzer davon ausgeht, dass es Kafka gelang, „ [...] indem er Max Brod zum Testamentsvollstrecker einsetzte, [...] auf seiner prinzipiellen Entscheidung zu verharren, daß seine Bücher zu verbrennen wären, während er Menschenkenner genug war, zu wissen, dass diese Entscheidung von Brod missachtet werden würde “. 38

Letztendlich wird die Frage, wie Kafka schließlich wirklich zur Veröffentlichung seiner Werke stand, unbeantwortet bleiben müssen - was der regen Diskussion um dieses Thema keinen Abbruch tut.

[...] on peut discuter à l’infini sur la question de savoir ce que Kafka aurait fait exactement de son texte, de ses romans inachevés s’il les avait lui-même publiés. 39

In Anbetracht der doch einigermaßen problematischen Veröffentlichungsgeschichte des Werkes drängt sich mir der Eindruck auf, dass Kafkas Werke im Grunde doppelt verraten wurde: Den ersten Verrat beging Brod, der sich nicht an Kafkas Testament hielt und seine Schriften publizierte. Betrachtete man Übersetzungen - im Sinne des italienischen Sprichworts „Traduttore, traditore..“ - per se als Verrat am Autor, stellt eine Übersetzung des Prozess dann im Grunde einen doppelten Verrat dar.

Der Prozess blieb also ein unfertiges Manuskript und es existiert, da von Kafka ja nicht zur Veröffentlichung gedacht, keine von ihm autorisierte Ausgabe. Das bedeutet, dass bereits Brods Anordnung der Kapitel als eine Form der Interpretation anzusehen ist. Des Weiteren nahm er auch Veränderungen in den Bereichen der Orthografie, der Interpunktion und des Satzbaus vor, manche Stellen strich er auch ganz.40

Doch nicht nur bezüglich der Form, sondern auch den Inhalt betreffend fungierte Brod, zumindest im Fall von Kafkas Tagebüchern, als Zensor:

« Brod a édité le journal de Kafka en le censurant un peu ; il en a éliminé non seulement les allusions aux putains mais tout ce qui concernait la sexualité. » 41

Ein Beispiel für Brods dahingehendes Verfahren stellt seine Entscheidung dar, folgenden Satz aus einem Tagebuch Kafkas von 1910 zu zensieren:

« Je passai devant le bordel comme devant la maison de la bien-aimée. »42

Wie Peter Utz so treffend feststellte: „Brod hat mit seiner Ausgabe den ,Process ’ zum ersten Mal übersetzt.“43

Dabei war sich Brod der Tatsache, dass seine editorialen Eingriffe Kritik hervorrufen würden, sehr wohl bewusst, wie aus dem folgenden Zitat aus Brods Kafka-Biografie deutlich hervorgeht:

„Die Diskussion, wie ein Kafka-Text mit letzter Korrektheit herauszugeben sei, führt ins Uferlose. Letzten Endes würde nur die Photographie der Originalhandschrift vollständige Sicherheit und Lückenlosigkeit gewährleisten. Jede andere Art der Herausgabe bedingt ein Auswählen. 44

In seiner im Jahr 1954 veröffentlichten Kafka-Biografie berichtet Brod von der Akribie seines Freundes, wenn es um sprachliche Fragen und Entscheidungen bezüglich der Setzung eines Beistriches oder die Schreibung eines Wortes ging - Probleme, über die Kafka mit Brod selbst und auch anderen Bekannten ausgiebig diskutiert habe. Brod rechtfertigt seine editorischen Eingriffe in Kafkas Texte nun mit dem Argument, dass er - aufgrund von Kafkas geschilderter Genauigkeit in sprachlichen Belangen - es nicht mit seinem Gewissen hätte vereinbaren können, hätte er das Werk seines Freundes mit den ursprünglich vorhandenen Sprachfehlern und Nachlässigkeiten veröffentlicht.45

„Daher würde es gegen mein Gewissen gehen, Nachlässigkeiten, offenkundige Sprachfehler, „Pragismen“ [...] und ähnliches stehen zu lassen, da ich weiß, daß Kafka derartige Flüchtigkeiten bei einer allfälligen Publikation unbedingt getilgt hätte. Ich glaube, durch langes Zusammenleben mit meinem Freunde in seine Intention und in sein Sprachgefühl genügend eingeweiht zu sein, um derartige Verstöße wegkorrigieren zu können.“46

Inwiefern Brods Einschätzung in diesem Punkt der Realität entspricht, lässt sich im Nachhinein schwer beurteilen. Kafkas Freund in diesem Punkt schlechte Absichten zu unterstellen, wäre fehl am Platz. Brods eigenmächtiges Eingreifen war wohl ein typischer Fall von „gut gemeint“ - er wollte der Öffentlichkeit Kafka und seine Werke möglichst vorteilhaft präsentieren und entschied sich daher, potentiell Anstößiges zu streichen und vermeintliche Fehler auszubessern. Doch auch wenn Brod, dem auch der spätere Kafka-Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt ein „dévouement extraordinaire, inlassable“47 bescheinigt, nur in bester Absicht gehandelt hat, ändert das nichts an der Tatsache, dass er Kafkas letzten Willen missachtet und gegen dessen ausdrücklichen Wunsch gehandelt hat.

« L’aventure universelle de Kafka commence par la trahison de son meilleur ami : Max Brod. Jamais trahison ne fut plus justifiée. [...] Max Brod, pour l’humanité, a eu raison. Il n’en reste pas moins vrai qu’on ignorera toujours l’opinion véritable de Kafka devant cette.indiscrétion collective. » 48

Und dem interessierten Leser stellt sich unweigerlich die Frage: Was für einen Prozess lesen wir eigentlich? Wie viel Kafka steckt überhaupt noch darin? Wie viel Brod?

,, Und so verharrt Kafkas Werk in einem merkwürdigen, gewissermaßen außergesetzlichen Status. Dieser Zustand des Dazwischen scheint einer der entscheidenden Faktoren dafür zu sein, dass Kafka mittlerweile zum bekanntesten und beliebtesten, aber auch am wenigsten verstandenen Autor avanciert ist.“49

Dank fortlaufender Bemühungen um eine Rekonstruktion und Veröffentlichung der Original­Manuskripte haben wir, wie im nachfolgenden Kapitel beschrieben, mittlerweile bereits Zugang zu einer originalgetreuen Version des Prozess.

Jedoch bedurfte es langwieriger Bemühungen, bis Kafkas ursprüngliche Fassung endlich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden konnte...

Der Prozess wurde 1925 erstmals publiziert: Die Textpartien erschienen als Roman in dem Verlag „Die Schmiede“ in der Reihe „Die Romane des 20. Jahrhunderts“. Weitere - in Zusammenarbeit mit Brod stark überarbeitete - Editionen wurden in den Jahren 1933 und 1946 veröffentlicht.50

Die nächste Veröffentlichung, Malcolm Pasleys so genannte „Kritische Kafka-Ausgabe“, erschien erst im Jahr 1990 - bis zu diesem Zeitpunkt mussten sich die Kafka-Spezialisten mit der von Brod veränderten Ausgabe zufrieden geben und hatten keinen Zugang zu den Original-Manuskripten.

Nachdem die Schutzfrist für die Kafka-Rechte mit Dezember 1994 abgelaufen war51, setzten der Frankfurter Stroemfeld-Verlag und Herausgeber Roland Reuß, Germanist und Professor für Literatur- und Editionswissenschaft, im Jahr 1997 mit der Veröffentlichung der aktuellsten Prozess-Version (sowie einer Historisch-kritischen Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripten) in Form von Faksimiles einen neuen Meilenstein: Der Prozess wurde dem Original entsprechend in 16 Heften - Konvoluten ohne feste Reihenfolge - abgedruckt, Kafkas Varianten und Streichungen in der typografie-, zeichen-, zeilen- und seitengetreuen Umschrift der Handschriften wiedergegeben.52

“For the first time, we can now read Kafka as he actually wrote.” 53

Es ist davon auszugehen, dass dieser neu eröffnete Einblick in Kafkas Manuskripte für zukünftige Kafka-Übersetzer von maßgeblicher Bedeutung sein wird.

Während mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 die Verbreitung von Kafkas Werken im deutschen Sprachraum - die ohnehin nur schleppend vonstatten ging, da sich die Bücher nicht gut verkauften - für einige Jahre unterbrochen wurde54, da die Arbeiten jüdischer Autoren allgemein der Zensur zum Opfer fielen, kam es in Frankreich 1933 mit der Übersetzung von Alexandre Vialatte zur Erstveröffentlichung des Romans. Gegen Ende der 40er Jahre war bereits ein Großteil von Kafkas Texten in Frankreich erschienen.55

Hier sei nur als interessantes Detail am Rande erwähnt, dass Kafkas Roman erst im Jahr 1958 in tschechischer Sprache erschien56 - zu einem Zeitpunkt, als der deutschsprachige Autor tschechischer Herkunft, der auch den größten Teil seines kurzen Lebens in Prag verbracht hatte, in Frankreich bereits wohl bekannt und viel besprochen war. Eine tschechische Übersetzung von Kafkas Gesamtwerk war sogar erst im Jahr 2007 erhältlich.57 Kafkas Werke fielen in Tschechien unglücklichen Umständen zum Opfer:

« En raison des conflits entre Tchèques et Allemands avant la guerre, l’invasion des troupes allemandes en 1939 et la guerre froide, tous ces aspects historiques empêchent le développement d’un véritable accueil de son œuvre par les Tchèques. » 58

Für die erneute Herausgabe des Prozess im Rahmen der „Edition de la Pléiade“ (Gallimard) im Jahr 1976 wurde bei Claude David eine Überarbeitung von Vialattes Übersetzung des Romans in Auftrag gegeben.

Aus rechtlichen Gründen konnte Davids Übersetzung jedoch nur in Form eines Anmerkungsapparates zu Vialattes Version veröffentlicht werden: Als David seine Arbeit beendet hatte, erhob Vialattes Sohn (Vialatte selbst war im Jahr 1971 gestorben) Einspruch bei Gallimard und der Fall landete vor Gericht. Ein Prozess für den Prozess Im Laufe der Verhandlungen sollte geklärt werden, ob Vialattes Übersetzung überarbeitet werden dürfe.

Der Kafka-Übersetzer Bernard Lortholary äußerte sich hierzu folgendermaßen:

« C’était un procès au cours duquel un certain nombre d’écrivains sont venus témoigner à la barre qu’Alexandre Vialatte était un merveilleux écrivain ; ce sur quoi tout le monde est d’accord, mais simplement cela n’était pas le problème. Le problème était de savoir si sa traduction méritait ou non d’être révisée. A mon avis elle le méritait sans doute, comme toute traduction au bout d’un certain temps d’ailleurs. » 59

Das Gericht entschied gegen eine Überarbeitung und sprach ein Verbot aus - aus diesem Grund musste Davids Übersetzung bzw. Überarbeitung in Form des (leider ungemein leserunfreundlichen) Anmerkungsapparats an Vialattes Übersetzung „angehängt“ werden und erschien nie in separater Form.

Mit der Freigabe der Rechte an Kafkas Roman erschienen in den 80er Jahren schließlich zwei zeitgleiche, jedoch voneinander unabhängige Übersetzungen bei den Verlagshäusern Flammarion (übersetzt von Bernard Lortholary) und Pocket (übersetzt von Georges-Arthur Goldschmidt).

Die beiden Übersetzer erfuhren angeblich erst von der parallel entstandenen Übersetzung beim jeweils anderen konkurrierenden Verlagshaus, als sie die Arbeit an ihren eigenen Versionen bereits beendet hatten. Das erste Zusammentreffen der berühmten Übersetzer­Kollegen fand 1983 im Rahmen eines Interviews der Zeitung Les Nouvelles statt.60

Les Nouvelles: Saviez-vous qu’une version concurrente était en préparation?

B. Lortholary: Pas du tout! Mon éditeur ne l’a appris qu’en juin dernier, alors que j’avais fini mon travail.

G.-A. Goldschmidt: Je l’ai appris en même temps...J’avaisproposé de retraduire Kafka dès 1972, mais le problème des droits d’auteur se posait alors. 61

Im Jahr 2001 erschien schließlich die bisher aktuellste Übersetzung des Prozess von Axel Nesme, die im Rahmen der „Pochothéque“, einer 500 Seiten umfassenden Zusammenstellung beinahe sämtlicher Schriften Kafkas62 (geordnet nach dem Zeitpunkt des jeweiligen Entstehens), veröffentlicht wurde.

Die Herausgeber verfolgten mit dieser - aus editorialer Sicht unkonventionellen - Ausgabe das ehrgeizige Ziel, den Lesern Kafkas künstlerische Entwicklung aufzuzeigen, seine Texte möglichst originalgetreu zu vermitteln und die Textstrukturen und -bewegungen sichtbar zu machen. Dabei gingen die Kafka-Übersetzer und Pochothèque-Herausgeber Brigitte Vergne- Cain und Gérard Rudent bewusst das Risiko ein, ihre französischen Leser in manchen Punkten etwas vor den Kopf zu stoßen.

« A ¡’occasion de choix de termes et aussi d’une politique plus générale [...], notre ligne a été de suivre, d’épouser le plus possible le mouvement du texte et de restituer, de donner à voir la physionomie du texte de Kafka, même si effectivement on est amené par là à s’écarter des habitudes du lecteur français et principalement des normes éditoriales, en particulier, et de manière très visible, en ce qui concerne les alinéas. » 63

In diesem Sinne entschieden sie sich unter anderem (ganz im Gegensatz zu bisherigen Ausgaben), lange Sätze nicht zu trennen, von Kafka weggelassene Textelemente nicht - wie bisher zugunsten der Leserfreundlichkeit geschehen - zu ergänzen.64

Damit nahmen die Herausgeber laut Vergne-Cain ganz bewusst in Kauf, die französische Leserschaft zugunsten der „fidélité“ dem Original gegenüber eventuell mit teilweise etwas schwerfälligen Formulierungen und den für Kafka so typischen komplexen Satzgebilden vor den Kopf zu stoßen.

« Un élément m’apparaît dans nos traductions : en prenant le risque d’apparaître parfois comme un peu lourds, difficiles à lire, nous avons en général choisi [...] de ne pas couper une phrase même si elle semble un peu longue, ou choisi de conserver une articulation syntaxique quand elle est chez Kafka, même si elle est un peu complexe, choisi de ne pas couper en mettant deux-points.

Donc renoncé à recourir à une élégance qui peut être appréciée par le lecteur sans doute, mais seulement parce qu’il n’a pas l’original. » 65

Eine weitere wesentliche Neuerung in dieser Prozess-Ausgabe bestand darin, dass das Kapitel „Ende“ als Anfangskapitel gereiht wurde: dies mag paradox erscheinen, könnte jedoch tatsächlich dem Original entsprechen - trotz ausführlicher Studien konnte bis heute nicht geklärt werden, in welcher Reihenfolge Kafka sein Werk anzuordnen gedacht hätte und ob der Roman mit dem Konvolut „Die Verhaftung“ oder „Ende“ beginnen sollte.

« On ne peut en effet pas trancher en l’état des choses et malgré les études extrêmement précises qu’a faites Malcolm Pasley si Kafka a commencé par le chapitre ‘Arrestation’ ou le chapitre ‘Fin’ ». 66

Vergne-Cain begründet ihre Entscheidung, das „Ende“- Kapitel am Anfang zu reihen, mit dem Argument, die Unterschiede zwischen Kafkas Schaffensperioden - die Entstehungszeiten der Romane „Der Prozess “ und „Das Schloss “ - deutlich und für den Leser sichtbar machen zu wollen:

Un mot pour terminer à propos de cette provocation considérable qui consiste à mettre « Ende » au début pour « Le Procès » ; c ’est pour faire entendre dans l’ensemble de ce volume de la Pochothèque que l’inachèvement du « Procès » n’est pas du tout le même que celui du « Château ». Il s’agit bien de deux périodes de production très différentes de Kafka [...] C’est notre raison principale. 67

Der für die im Rahmen der Pochothèque verantwortlich zeichnende Übersetzer Axel Nesme zeigt sich mit der Entscheidung bezüglich der Anordnung der Kapitel nicht einverstanden und machte dies in Interviews auch deutlich. Die Gründe für die ungewöhnliche Entscheidung, „Fin“ am Anfang zu positionieren, erscheinen Nesme nicht einleuchtend.

„Je n’arrive pas à voir la logique qui justifie qu’on le place au début“.68

Nesme führt das - für mich durchaus einleuchtende - Argument an, dass die Reihenfolge, in der Kafka die Kapitel seines Romans verfasst hat, in keiner Weise aussagekräftig für die endgültige Anordnung der Handlung sein müsse. Er vergleicht die Situation mit dem Verfassen einer wissenschaftlichen Arbeit, bei der ja auch meist die Einleitung als letztes geschrieben wird und dann trotzdem ganz am Anfang gereiht wird, und bei der das Verfassen der einzelnen Kapitel nicht in chronologischer Beziehung zur endgültigen Anordnung stehen muss.

Darüber hinaus betrachtet Nesme die Anordnung der Kapitel auch als Verminderung des Lesevergnügens, da das Ende dem Leser so ja bereits ganz am Anfang der Lektüre bekannt ist bzw. verraten wird.69

3) Deutung und Interpretationen des Prozess

„Mißverstehe mich nicht, ich zeige dir nur die Meinungen, die darüber bestehen. Du mußt nicht zuviel auf Meinungen achten. Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber.“70

In diesem Kapitel möchte ich darauf eingehen, wie und in welchen Kontexten Kafka im Laufe der Zeit aufgenommen und verstanden wurde.

“The typical Kafka text derives much of its powerful effect from the intensity with which it simultaneously invites and frustrates interpretation.” 71

Kafkas Werke laden den Leser nicht nur geradezu ein, sich an Deutungen zu versuchen - durch deren parabolische Struktur72 und die in diesen Schriften so omnipräsente Vieldeutigkeit wird dieser regelrecht zum Interpretieren gezwungen:

„For the inkspot test quality of his texts solicits interpretation, teases the reader into the attempt to interpret, entices him into a labyrinth to dismiss him, ultimately, with the experience of not-understanding.“73

Dementsprechend werden Kafkas Texte auch oft als „Rorschach-Tests der Literatur“ bezeichnet. Die Deutung dieser Parabeln sagt also meist mehr über den Interpreten selbst als über das Werk an sich aus.74

„Kafka liefert kein bestimmtes Wirklichkeitsmodell, sondern veranlaßt den Leser, eigene Wirklichkeitsvorstellungen in das Werk hineinzuprojizieren. Die Vieldeutigkeit und Offenheit Kafkas [...] wäre dann weniger eine im Text selbst nachweisbare als vielmehr die Summe unterschiedlicher Rezeptionsergebnisse.“75

Angesichts dessen ist es nicht weiter verwunderlich, dass Kafkas Texte seit ihrer Veröffentlichung immer wieder regelrechte Deutungsfluten auslösen.

Bis in die 50er Jahre war die Deutung von Kafkas Werken hauptsächlich inhaltsorientiert, allegorisch und literarisch geprägt, doch es gab schon damals einige Wenige, die die vielen Facetten des Autors erkannten.

So unter anderem auch der Sprachwissenschafter Victor Weidlé:

« Les paraboles que nous propose Kafka comportent plusieurs significations, non pas distinctes, mais inextricablement emboîtées l’une dans l’autre et confondant l’intellect pour satisfaire d’autant mieux l’imagination.

Cet être vivant désespérément isolé, esseulé, perdu, qu’il nous présente dans chacun de ses récits, est-ce le Juifparmi les gentils, le fils devant l’inscrutable volonté du père, le citoyen abasourdi face à l’Etat tout-puissant, ou l’homme foudroyé par l’absurdité de la vie et de la mort ? Choisir entre ces alternatives, souligner l’une d’elles au dépens des autres, et ne fût-ce que limiter leur nombre, c’est détruire l’art de Kafka dans ce qu’il a de plus précieux. »"76

Traf er nicht bereits 1948 damit den Nagel auf den Kopf? Meiner Ansicht nach lässt sich Kafkas Werk und seine Vielschichtigkeit kaum umfassender und treffender beschreiben. Kafkas Besonderheit liegt in der Undeutbarkeit und gleichzeitigen Multiinterpretabilität seiner Schriften. Der Versuch, seine Werke in verschiedene Schichten aus Rätsel, Bedeutung und Mysterium zu zerlegen, zerstört eben jenen Zauber, der Kafka innewohnt.

« [...] il y a chez Kafka une richesse inépuisable que nulle analyse ne peut définitivement serrer. »77

Bezüglich der französischen Kafka-Forschung in ihrer Gesamtheit gibt es einen nicht zu vernachlässigenden problematischen Aspekt - die Tatsache, dass diese Forschung eng mit den verschiedenen Übersetzungen verknüpft ist und maßgeblich von ihnen beeinflusst wurde und wird. Dieser Umstand trifft auf die Forschung an übersetzter Literatur im Allgemeinen zu.

« C’est à ses traducteurs que Kafka doit en France l’importance qu’il a conquise depuis le début de la seconde guerre mondiale. Chaque étude importante concernant l’auteur tchèque a été précédée de la traduction de l’une de ses œuvres ; le texte allemand n’a jamais fait l’objet de commentaires directs. »78

Freiere und teils nicht allzu adäquate Übersetzungen, die den Stil des Autors nicht originalgetreu wiedergeben, sind in diesem Zusammenhang besonders kritisch zu betrachten. Derartig ideologisch geprägte Übersetzungen als Forschungsgrundlage und -objekt verfälschen die Ergebnisse natürlich dementsprechend.

« La plupart des essais et articles français ont souffert d’un certain nombre de maladies pour ainsi dire ‘congénitales ’ ! Ecrits par des auteurs qui ont lu Kafka en traduction, ils ne se posent, et pour cause, aucune question sur la langue, alors que chez Kafka ce problème revêt d’une grande importance ; corrélativement, ils sont obligés de se fier à des traductions qui, dans le meilleur cas, [...] se situent dans la tradition des ‘belles infidèles ‘. » 79

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwiefern bzw. in welchem Maß Übersetzungen an sich neutral sein können, ob eine Übersetzung nicht - mangels vollständig objektiver Perspektive seitens des Übersetzers - ohnehin immer auch eine Interpretation darstellen muss. Viele Übersetzungswissenschaftler sind davon überzeugt, dass Interpretation und Übersetzung untrennbar miteinander verbunden sind.

"Einerseits ist sie (die Übersetzung, A.J.) dem Original nachgeordnet und bleibt von ihm abhängig [...]. Doch gleichzeitig hebt sie sich übersetzend ,über’ das Original, denn sie legt dessen Sinn aus, um ihn reformulierend zu erklären, zu deuten, auszulegen. Insofern ist sie der Kommentar des Originals und nicht seine Kopie.“80

Anhand des Übersetzungsvergleiches der unterschiedlichen Prozess-Varianten wird deutlich, in welchem Ausmaß sich die translatorischen Methoden der Übersetzer weg von zu stark interpretierendem Übersetzen in Richtung „neutrales“ Übersetzen entwickelt haben.

Dies kommt der übersetzungstheoretischen Forschung in zu Gute und trägt zur Entwicklung neuer Perspektiven auf übersetzte Literatur im Allgemeinen, und Kafkas Werke im Besonderen, bei.

3.1 Kafka als Expressionist?

Besonders in Deutschland wurde Kafka anfangs, vor allem in Anbetracht der zeitlichen Übereinstimmung, dem Expressionismus zugeordnet. Kafka selbst jedoch war eher ein Kritiker expressionistischer Literatur und wäre mit dieser Zuordnung wahrscheinlich nicht allzu glücklich gewesen:

„Ich verstehe diese (expressionistischen, A.J.) Gedichte nicht. Es herrscht hier so ein Lärm und Wortgewimmel, daß man von sich selbst nicht loskommen kann. Die Worte werden nicht zur Brücke sondern zur hohen, unübersteigbaren Mauer.

Man stößt sich fortwährend an der Form, so daß man überhaupt nicht zum Inhalt Vordringen kann. Die Worte verdichten sich hier nicht zur Sprache. Es ist ein Schreien. Das ist alles.“81

Auch Kafkas von Klarheit, Einfachheit und Purismus geprägte Sprache entsprach in keiner Weise dem typisch gefühlvollen Stil der Expressionisten. Aus diesem Grund hält man es heute im Allgemeinen für äußerst zweifelhaft, dass Kafka diese Einordnung befürwortet hätte.

Manche in Kafkas Werken zentrale und immer wieder kehrende Themen (vor allem im Bereich der Verfremdung und des Absurden) mögen übereinstimmen, doch Kafkas Sprache und Darstellung sowie seine Geisteshaltung deuten nicht auf expressionistische Motive hin.

Kafkas Literatur lässt für die expressionistische Literatur typische sprachliche Merkmale, wie zum Beispiel die Ästhetik des Hässlichen und die Auflösung traditioneller semantischer bzw. syntaktischer Strukturen82, vermissen.

Nichtsdestotrotz wurde Alexandre Vialattes Übersetzung damals unweigerlich teilweise von dieser Zuordnung zum Expressionismus beeinflusst und das Absurde wurde in seiner Übersetzung des Prozess zu einem die gesamte Atmosphäre des Romans prägenden Element. In Erwartung expressionistisch-absurder Texte wurde Kafka seinerzeit auch dementsprechend übersetzt.

« Si les premiers traducteurs de Kafka, et avant tout Alexandre Vialatte, choisissent entre plusieurs mots d’une signification semblable, ils optent toujours pour le moins commun et le plus bizarre. » 83

So titelte die Zeitung „Les nouvelles littéraires“ 1983 in einem Übersetzungsvergleich der verschiedenen Prozessversionen: gAbsurde pour Vialatte, (humoriste pour Lortholary, farceur sinistre pour Goldschmidt).“84

Die Tatsache, dass Kafkas Texte unter anderem von expressionistischen Publikationsorganen wie dem Kurt-Wolff-Verlag oder in die „Die Weißen Blätter“85 _veröffentlicht wurden, verstärkte den Eindruck, dass es sich bei Kafka um einen expressionistischen Autor handle.

Auch literarisch-philosophische Größen wie Theodor W. Adorno und Walter Benjamin situierten Kafkas Werke aufgrund der in ihnen so allgegenwärtigen Theatralik und dramatisch übertriebener Gesten im Bereich des Expressionismus:

« Kafka sauve l’idée de l’expressionnisme en appliquant à la littérature l’effet de la peinture expressionniste [...]. » 86

Zusammenfassend lässt sich jedoch festhalten, dass Kafkas Zuordnung zum Expressionismus eher auf zeitliche und thematische Parallelen zurückzuführen ist, als auf tatsächlich bestehende Gemeinsamkeiten.

3.2 Zuordnung zum französischen Surrealismus

In Frankreich fand die Einordnung des Autors von Beginn an vor allem eingebettet in den Hintergrund des Surrealismus statt. Dies ist vermutlich vorrangig auf den Umstand zurückzuführen, dass die Franzosen das Phänomen Kafka zu jener Zeit entdeckten, als der Surrealismus in Frankreich Hochkonjunktur hatte.

„L’école surréaliste [...] date de 1924, l’année précisément où meurt Franz Kafka. Il est peu probable qu’entre 1917 et 1924 - années de formation du surréalisme [...] - l’auteur tchèque ait pu prendre connaissance de ce mouvement littéraire français.“87

Der Autor selbst kam mit der Bewegung der Surrealisten - wenn überhaupt - nur oberflächlich in Berührung und kann nicht zu den surrealistischen Autoren gezählt werden.

« Il n’y a donc nulle parenté historique entre le surréalisme et Franz Kafka ; on ne saurait parler ni d’influence unilatérale ni d’influence réciproque. » 88

Die zweifellos vorhandenen, wenn auch eher zufälligen und auf den damals allgemein herrschenden Zeitgeist zurückzuführenden Parallelen zwischen Kafkas Werken und jenen der surrealistischen Autoren waren großteils thematischer und atmosphärischer Natur.

« [...] L’oeuvre de Kafka contient donc des éléments surréalistes: révolte, désespoir, phénomènes irrationnels, ce qui fait que les surréalistes ont dû être nécessairement être sensibles à la fréquente similitude d’atmosphère. »89

Gab es zwar inhaltlich einige Berührungspunkte (der schwarze Humor, Traum, Erotik, Wahnsinn, Selbstmord, Unbewusstes, Angst und das Absurde), fanden sich auf sprachlicher und stilistischer Ebene jedoch kaum Überschneidungen.

Diese auf den Surrealismus konzentrierte Perspektive hatte erhebliche Auswirkungen auf die französischen Kafka-Übersetzungen, wieder vor allem auf Vialattes Version. Da Kafka als Surrealist verstanden wurde, wurden viele wichtige Stilelemente (wie zum Beispiel Modalkonstruktionen) übersehen und offensichtliche Übersetzungsfehler (wie zum Beispiel Sinnfehler), die aus mangelnden Deutschkenntnissen resultierten, als vom Autor beabsichtigt angesehen.90

3.3 Der Prozess als religiöses Metaphernwerk

Eine weitere weit verbreitete Interpretation des „Prozess“ ist religiöser Natur: Der Roman wurde als religiöses Metaphernwerk gelesen.

Diese Deutung wurde maßgeblich von Max Brod beeinflusst, der selbst sehr religiös war und Kafkas Manuskript in diese Richtung deutete und editierte, so wie er es ja auch indirekt durch die Anordnung der einzelnen Konvolute tat. Auch seine Vor- und Nachworte zu Kafkas Werken sowie seine Kafka-Biographie trugen zu dieser Lesart bei.

Brod interpretiert Kafkas Werke dahingehend, dass sich Kafkas Protagonisten allesamt auf der Suche nach Rechtfertigung vor der Menschheit, aber auch vor einem höheren Gericht befänden, der Suche nach Hoffnung und dem Sinn des Lebens.91

Da Kafkas Werke in so viele Richtungen interpretierbar waren, bot sich ihm natürlich auch eine religiöse Auslegung einiger Themen (wie z.B. des Begriffs der „Schuld“) an. Brod propagierte das Kafkabild des „religiösen Denkers“92.

Brod who argues for a religious interpretation of Kafka’s work and claims that Kafka is indeed a very „Jewish“ writer even though the word „Jew“ does not appear in any of his literary texts.“93

Teilweise Analogien in der Struktur von Kabbalatexten und jener von Kafkas Werken schienen diese religiöse Lesart zu bestätigen. Besonders die Ähnlichkeit der Türhüterlegende „Vor dem Gesetz“ mit manchen kabbalistischen und talmudistischen Gesetzestexten fand in der Forschung Beachtung.

Das im Prozess erwähnte „Gericht“ bietet sich für religiös ausgerichtete Interpretationen naturgemäß an: der Gedanke eines „Jüngsten Gerichts“ und eines höchsten Richters, der nach dem Tod sein Urteil spricht, findet sich sowohl im Christentum als auch in der jüdischen Religion wieder.

Jene Juden, die der Generation von Kafkas Vater angehörten, wandten sich tendenziell eher vom traditionellen Judentum ab und suchten ihr Heil zunehmend in Geschäft und Gewinnstreben, um sich und ihren Familien den Wohlstand zu bieten, der ihnen selbst, die sie oft in großer Armut aufgewachsen waren, bis zu diesem Zeitpunkt verwehrt geblieben war. Kafka und seine Altersgenossen hingegen setzten sich intensiv mit ihrer Religion auseinander und es entstanden gewisse Radikalisierungstendenzen: während einige dem Judentum den Rücken kehrten, teilweise zum Christentum konvertierten oder sich sogar anti-jüdischen Bewegungen anschlossen, bekannten sich andere um so vehementer zu ihrer Religion und strebten eine kulturelle Wiederbelebung und Erneuerung des Judentums94 an, viele (wie zum Beispiel auch Max Brod) schlossen sich auch der national-jüdischen Bewegung des Zionismus an.95

[...]


1 Bassan Levi (2001), S.110

2 vgl. Cambreleng (2008), S.83

3 vgl. Cusa (2008), S.66/67

4 Gambier (1994), S.415

5 Bassan Levi (2001), S.109

6 Berman (1990), S.1

7 Berman (1990), S.l

8 Berman (1990), S.2

9 Bassan Levi (2001), S.109/110

10 Enckell (1983), S.62

11 Lortholary (1983), S.24

12 vgl. Gernig (1999), S.93

13 Gambier (1994), S.414

14 Kundera (193), S.312

15 Schmeling (1996), S.293

16 Koch (2005), S.105

17 Kundera (1993), S.294

18 Kundera (1993), S.294

19 Riedel (2009)

20 vgl. Kundera (1993), S.300/301

21 Riedel (2009)

22 vgl. Begley (2008), S.215

23 vgl. Kundera (1993), S.55

24 Kundera (193), S.307

25 vgl. Kundera (193), S.306

26 vgl. Kundera (1993), S.132

27 Schmeling (1996), S.294

28 Barrault (1957), S.54

29 Barrault (1957), S.55

30 Barrault (1957), S.56

31 Robin (1989), S.9

32 Tabery (1991), S.6

33 vgl. Kundera (1993), S.299/300

34 Kundera (1993), S.300

35 vgl. Begley (2008), S.8

36 vgl. Kundera (1993), S.299

37 Bassan Levi (2001), S.126

38 Politzer (1965), S.13

39 Bassan Levi (2001), S.121

40 vgl. Zychlinski (2004), S.488

41 Kundera (1993), S.59

42 Kundera (1993), S.60

43 Utz (2007), S.167

44 Brod (1954), S.300/301

45 vgl. Brod (1954), S.300/301

46 Brod (1954), S.300/301

47 Goldschmidt (1985), S.14

48 Barrault (1957), S.54

49 Burkhart (2008), S.386

50 vgl. Zychlinski (2004), S.488

51 vgl. www.spiegel.de (1995)

52 vgl. www.stroemfeld.de (2009)

53 Adler (1995), S.11

54 Im Oktober 1933 wird Kafka zum ersten Mal auf der Liste der „liste numéro 1 des écrivains nuisibles et indésirables“ des nationalsozialistischen Regimes aufgeführt. (vgl. Dueck (2006), S.8)

55 vgl. Gernig (1999), S.49

56 vgl. Zychlinski (2004), S.488

57 vgl. Begley (2008), S.11

58 Dueck (2006), S.40

59 Bassan Levi (2001), S.112

60 vgl. Enckell (1983), S.62

61 Enckell (1983), S.62

62 Aus rechtlichen Gründen konnten nicht sämtliche Schriften Kafkas im Rahmen der Pochothèque veröffentlicht werden.

63 Bassan Levi, S.120

64 vgl. Bassan Levi (2001), S.120

65 Bassan Levi (2001), S.130

66 Bassan Levi (2001), S.114

67 Bassan Levi (2001), S.115

68 Dueck (2006), XII

69 vgl. Dueck (2006), S.XIII

70 Kafka (1958), S.158

71 Bernheimer (1977), S.367

72 vgl. Politzer (1965), S.43

73 Heller (1977), S.26

74 vgl. Schmeling (1979), S.22

75 Schmeling (1979), S.24

76 Weidlé (1948), S.40

77 Goldschmidt (1989), S.18

78 Goth (1956), S.239

79 Prévot (1971), S. 13/14

80 Utz (2007), S. 11/12

81 Janouch (1981), S.51

82 vgl. Gernig (1999), S.52

83 Dueck (2006), S.42

84 [Enckell (1983), S.63

85 vgl. Gernig (1999), S.46; Bei den Weißen Blättern handelt es sich um eine monatlich erscheinende Zeitschrift, die ein wichtiges Organ des Expressionismus darstellte und an der unter anderem Autoren wie Hermann Hesse, Heinrich Mann und Robert Musil mitarbeiteten.

86 ’ Nouss (1992), S.225

87 Goth (1956), S.13

88 Goth (1956), S.14

89 Goth (1956), S.36

90 vgl. Gernig (1999), S.53/54

91 vgl. Tabery (1991), S.6

92 Kundera (1993), S.55

93 Bruce (1994) S. 42

94 Zimmermann (2008), S.196

95 vgl. Zimmermann (2008), S.169/170

Fin de l'extrait de 122 pages

Résumé des informations

Titre
Die französischen Übersetzungen von Kafkas "Prozess"
Sous-titre
Ein Übersetzungsvergleich
Université
University of Innsbruck
Note
1,0
Auteur
Année
2010
Pages
122
N° de catalogue
V150158
ISBN (ebook)
9783640612529
ISBN (Livre)
9783640612796
Taille d'un fichier
1167 KB
Langue
allemand
Mots clés
Kafka, Prozess, Frankreich, Übersetzung
Citation du texte
Anna Jell (Auteur), 2010, Die französischen Übersetzungen von Kafkas "Prozess", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/150158

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