Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Sprache und Kognition
2.1 Forschungsansätze
2.2 Über das Verhältnis und die Entwicklung von Sprache und Denken
2.2.1 Piaget
2.2.2 Wygotski
2.2.3 Diskussion
3 Erstspracherwerb 10Der Spracherwerb des Kindes
3.1 Komponenten der Sprache
3.2 Der Prozess des Spracherwerbs
3.2.1 Frühe Sprachwahrnehmung
3.2.2 Der Erwerb der Sprachlaute
3.2.3 Der Bedeutungserwerb
3.2.4 Ein- Zwei- und Mehrwortäußerungen
4 Theorien des Spracherwerbs
4.1 Der behavioristische Ansatz
4.2 Der kognitive Ansatz
4.3 Der nativistische Ansatz
4.4 Ein möglicher Kompromiss
5 Schluss
6 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Zwei dreijährige Kinder namens Tom und Amy befinden sich im Wohnzimmer und spielen gemeinsam mit ihrem Spielzeugpferdchen und einem kleinen Holzwagen. Im Hintergrund läuft der Fernseher und die Mutter bereitet in der Küche das Abendessen vor. Amy steckt eine Figur in die Kutsche und ruft: „Auf geht’s zum Supermarkt!“, Tom sagt: „Papa kommt auch mit!“ und setzt eine zweite Figur in den Wagen. Anschließend bewegt Amy das Pferdchen und zieht die Kutsche im Pferdegalopp zum Supermarkt während sie die Szene mit Klip-Klop Lauten untermalt. Plötzlich ruft Tom: „Nein, sie sind noch nicht fertig, sie haben ihre Kinder zu Hause vergessen. O nein! Sie weinen ja!“ Und er setzt die beiden anderen Figuren in den Wagen. Amy nimmt einen Holzklotz und legt ihn zu den Figuren in den Wagen und sagt: „Das ist ihr Essen!“. Dann zieht er das Pferdchen mit dem Wagen in Richtung Supermarkt, während er die Geräusche eines gallopierenden Pferdes nachahmt, so wie es zuvor Amy getan hat.
Auf den ersten Blick ist es eine gewöhnliche Szene, die man unter Kindern beobachtet. Doch beim näheren Betrachten lassen sich eine Fülle an kognitiven Operationen sprachlicher Entwicklung erkennen.Was für ein Wissen haben diese beiden Kinder bereits in den drei Lebensjahren erworben und wie nutzen sie es? Diese Szene illustriert viele Aspekte der kognitiven und sprachlichen Entwicklung, mit denen sich meine Arbeit beschäftigt. Zum einen kann festgehalten werden, dass beide Kinder bereits einiges über das Verhalten von Menschen, Tieren und Wagen erworben haben, und, dass Tom sich in die Rolle der Kinder hineinfühlen konnte. Ein weiterer Aspekt, der in der Szene auftaucht, ist die Art und Weise, wie beide Kinder ihr Verhalten in strukturierte Sequenzen bringen, sich aneinander anpassen und gemeinsam einen Plan verfolgen und diesen schließlich umsetzen. Diese Zusammenarbeit wird durch ihre gemeinsame Sprache möglich, die sie nutzen um miteinander zu kommunizieren. Eines der wichtigsten Aspekte ist die Art, wie Tom und Amy zwei Spielzeuge als Ersatz für equivalente Objekte in der Welt verwenden. Diese Fähigkeit, einen Gegenstand als Symbol für etwas anderes zu verwenden ist einzig und allein eine Fähigkeit des Menschen. Erst in dem Moment, in dem das Kind einen Gegenstand nimmt, der etwas anderes repräsentieren soll, ist es in der Lage, die Muttersprache zu erwerben, die letztendlich aus nichts anderem als Symbolen oder Repräsentatoren für Gegenstände, Gedanken oder Handlungen bestehen. Die beschriebene Szene wirft jedoch noch weitere Fragen auf, die ich nun aufführen möchte und die bereits einen kleinen Einblick in die Thematik geben sollen:
- Welche kognitiven Prozesse haben sich bei Amy und Tom vollzogen, um eine Fahrt zum Supermarkt zu planen und welche sprachliche Entwicklung hat stattgefunden, um miteinander auf diese Weise zu kommunizieren?
- In welchem Stadium erwerben Kinder die Wörter für die Objekte, die sie zum Spielen verwendet haben?
- Woher wissen beide Kinder von den Kategorien wie Pferde, Wagen und Leute? Wann erwerben Kinder die Fähigkeit Begriffe wie Vater, Kinder oder Pferd in bestimmte Kategorien zu ordnen?
- Ist das Gehirn bereits „vorprogrammiert“ für den Spracherwerb oder haben die Kinder die Sprache durch ihre Umwelt erworben?[1]
Vielmehr soll nicht weiter vorweg genommen werden, nun geht es zunächst um die ersten großen Erkenntnisse über die Entwicklung und die Zusammenhänge zwischen Sprache und Kognition.
2 Sprache und Kognition
Zwischen Sprache und Denken besteht eine enge Beziehung. Sprache und Denken jedoch zu trennen ist oftmals nur schwer möglich.
Philosophen wie Aristoteles und Platon machten sich bereits Gedanken über die Beschaffenheit des Denkens und der Sprache. So heißt es: „«Wie man denkt, so spricht man», oder «Wie man spricht, so denkt man? ».“[2] Bis heute werden Diskussionen über die beiden gegensätzlichen Standpunkte geführt.
Sicher ist, dass sprachliche Äußerungen Ausdruck gedanklicher Inhalte sind, doch welche Grunderkenntnisse über vorsprachliche Denkprozesse und welche Haupttendenzen in der Forschung über das Verhältnis der kognitiven und sprachlichen Entwicklung existieren, soll im Folgenden aufgezeigt werden.
2.1 Forschungsansätze
Die Forschung zum Spracherwerb bei Kindern wurde von den Forschungsergebnissen Sterns und Bühlers in hohem Maße geprägt. Bühler zeigte anhand von empirischen Beobachtungen auf, dass Kinder bereits vor dem Sprechen bewusst zweckvoll handeln. Dieses zweckvolle Handeln bezeichnet Bühler als „Werkzeugdenken“[3], welches vor dem sprachlichen Denken entsteht, mit diesem in keiner Beziehung steht und die Existenz vorsprachlicher Denkakte bezeugt. Um dies herauszustellen, führte Bühler mit seinem Kind im 9. und 10. Monat einen Versuch durch. Ein Stück Zwieback wurde an eine Schnur gebunden und in dem Raum, außerhalb seiner Reichweite platziert. Nur die Schnur reichte in die Reichweite des Kindes hinein. Im 9. Monat beachtete das Kind die Schnur nicht und reckte seine Hände lediglich nach dem zu weit entfernten Stück Zwieback. Gegen Ende des 10. Monats, erfasste das Kind jedoch die Situation und zog an der Schnur, um den Zwieback heranzuziehen. Legte man allerdings den Zwieback mit Schnur in seine Reichweite, schenkte es der Schnur keine Beachtung.[4]
Stern/Stern haben nachgewiesen, dass mit dem zweiten Lebensjahr die Entwicklungslinien des Denkens und Sprechens zusammenfallen und aus diesem Grund dieser Zeitpunkt von immenser Bedeutung ist. In diesem Zusammenhang erkennt das Kind, dass zu jedem Gegenstand ein Lautkomplex gehört, der der Bezeichnung und Mitteilung dient. Somit sieht Stern die Erkenntnis, dass jeder Gegenstand einen Namen besitzt, als den ersten allgemeinen Gedanken des Kindes an.[5]
2.2 Über das Verhältnis und die Entwicklung von Sprache und Denken
In diesem Kapitel sollen die wichtigsten Richtungen der Debatte um die kognitive und sprachliche Entwicklung vorgestellt werden. Da die Thematik um das Verhältnis von Sprache und Denken so komplex ist, werden die Standpunkte Piagets und der Schule Wygotskis schwerpunktsmäßig behandelt.
2.2.1 Piaget
Der Genfer Psychologe Jean Piaget beschäftigte sich mit der Entwicklung des Denkens, der Wahrnehmung, der Sprache und der Intelligenz. Piaget entwarf eine umfassende Theorie des Denkens und der Intelligenz des Kindes auf die im Folgenden eingegangen werden soll. Laut Piaget entsteht menschliches Bewusstsein aus einer Reihe von Operationen, die als Anpassungs- und Austauschprozesse (Assimilation/ Akkomodation) zwischen dem Individuum und der Umwelt aufzufassen sind. „Assimilation und Akkomodation sind Bestandteile aller intellektuellen Handlungen, gleichgültig auf welcher Entwicklungsebene sie vorkommen.“[6] Mit Assimilation ist ein aktives Interpretieren, Einordnen oder Deuten von Gegenständen und Situationen der sozialen Umwelt in eigene bereits bekannte Begriffe gemeint. Zu Beginn dient die Assimilation dazu, die dem Kind angeborenen oder erworbenen Schemata zu stärken und zu vertiefen. Wenn ein Stück Holz beispielsweise für ein Kind auf einmal die Rolle eines kleinen Autos übernimmt, dann assimiliert es das Holzstück an sein kognitives Konzept von Auto. Unter Akkomodation wird die Anpassung dieser Muster an die gegenwärtige Situation verstanden. Die Entwicklungslinien des menschlichen Denkens und der logischen Strukturen verlaufen nach Piaget zunächst unabhängig von der Sprachentwicklung bis schließlich beide Pole zusammenlaufen. Piaget sieht die Funktion der Sprache in der kognitiven Entwicklung als begleitend für das Denken, jedoch ist das Denken das Primäre der beiden, da er Sprache nicht als alleinige Voraussetzung für die kognitive Entwicklung erachtet.[7] Im Folgenden wird ein kleiner Einblick in Piagets Konzept der kognitiven Entwicklung gegeben, bevor auf die spezielle Entwicklung der Sprache eingegangen wird.
Gemäß der kognitiven Entwicklungstheorie nach Piaget durchläuft das Kind vier Stadien, die stets aufeinander aufbauend und in Wechselwirkung stehend, vollzogen werden. Das sensomotorische Stadium umfasst die ersten zwei Lebensjahre. Dem Kinde gelingt es, Wahrnehmungseindrücke und motorische Aktivitäten zu koordinieren und Kausalzusammenhänge zwischen sich selbst und seinen Spielzeugen herzustellen. Daraus lässt sich schließen, dass das Kind mithilfe von Handlung/Bewegung und Wahrnehmung seine Umgebung zu interpretieren und zu kategorisieren versucht. Die sensomotorische Entwicklung, die zusätzlich in sechs Stadien unterteilt ist, „führt zu einer Art Logik des Tuns, die Beziehungen und Verbindungen schafft, kurz gesagt Ordungs-und Verbindungsstrukturen enthält, die die Substruktur der künftigen Denkoperationen darstellen“.[8] Das präoperationale Stadium, das im Alter von zwei Jahren erreicht wird und sich bis zum siebten Lebensjahr erstreckt, ist geprägt durch die Entwicklung des symbolischen Verhaltens. Das Kind weiß ab diesem Zeitpunkt, dass ein Symbol für ein Objekt stehen kann. Das Kind denkt in diesem Stadium egozentrisch, zentriert, statisch und irreversibel. Auf den Aspekt des Egozentrismus wird im Verlauf dieses Kapitels noch näher eingegangen. Sein Denken ist zentriert, da sich das Kind nur auf eine bestimmte Eigenschaft eines Objekts oder einer Handlung konzentriert. Aus diesem Grund geht das Kind davon aus, dass ein höheres Glas mehr Inhalt hat als ein breiteres Glas. Es kann bei einem Ereignis nur die einzelnen Geschehnisse wiedergeben; es ist jedoch nicht in der Lage, sie miteinander in Verbindung zu bringen, da es den Vorgang statisch betrachtet. Schließlich kann es aufgrund seiner irreversiblen Denkweise einen beobachteten Vorgang nicht zurück zum Ausgangspunkt führen. Erst im Alter von sieben Jahren erreicht das Kind das Stadium der konkreten Operationen. Der Terminus konkrete Operationen meint, dass das Kind nun in Gedanken mit konkreten Objekten bzw. ihren Vorstellungen operieren kann. Das formale Stadium, welches die letzte der vier Stufen darstellt, vollzieht sich im Alter von elf bis zwölf Jahren. In diesem Zeitraum tritt eine Sinnesumkehrung zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen ein. Das Kind beginnt, hypothetische Denkoperationen durchzuführen. Diese Form des logischen Denkens wird bis zum Erwachsenenalter weiterentwickelt.[9]
Als einen der Grundzüge der kindlichen Logik betrachtet Piaget den Egozentrismus, der oben bereits im Zusammenhang mit dem präoperationalen Stadium erwähnt wurde. Das egozentrische Denken stellt eine Denkform zwischen dem gelenkten und dem ungelenkten Denken dar. Das gelenkte Denken ist bewusst, durch Sprache mitteilbar und sozialisiert, wohingegen das ungelenkte Denken, auch autistisches Denken genannt, unbewusst ist, der sozialen Umwelt nicht angepasst ist und nicht nach außen mitgeteilt wird. Die egozentrische Sprache wird in drei Gruppen unterteilt: 1. die Wiederholung (Echolalie), 2. der Monolog (lautes Denken), 3. der Monolog zu zweit oder der kollektive Monolog.[10] Die Zeit des Vorschulalters ist unter anderem geprägt von der kindlichen Entwicklung in der Überwindung des "verbalen Egozentrismus".[11] Das Kind spricht zu dieser Zeit nicht, um auf einen Gesprächspartner einzuwirken, sondern um sich auf diese Weise selbst zum Handeln anzuregen. Piaget spricht demnach von einem nach außen verlagerten Denken. Im Gegensatz zur egozentrischen Sprache stellt sich das Kind als Sprecher bei der sozialisierten Sprache auf einen Sprecher ein. Piaget ist der Ansicht, dass die Kinder im Alter von 2-7 Jahren „egozentrischer als die Erwachsenen denken und handeln und sich ihre intellektuellen Denkprozesse weniger mitteilen als wir.“[12] Die egozentrische Sprache übt keine nützliche oder notwendige Funktion im Verhalten des Kindes aus und weist auf ein Stadium der kognitiven Unreife hin.[13] Das Kind durchläuft bei der sprachlichen Entwicklung drei aufeinanderfolgende Phasen, die angefangen beim autistischen Sprechen oder dem ungelenkten Sprechen hinweg zum egozentrischen Denken führen, bis dieser im Verlauf der weiteren Entwicklung verschwindet, und das Kind die sozialisierte Sprache erwirbt.[14]
Zusammenfassend kann über den kognitiven und sprachlichen Entwicklungsprozess des Kindes gesagt werden, dass sich Sprache und Denken zunächst unabhängig voneinander entwickeln bevor sie zusammenlaufen. Dies weist auf einen Weg vom individuellen Leben zur Sozialisierung hin. Die genaue Funktion der Sprache im vierstufigen kognitiven Lernprozess tritt leider nicht deutlich hervor.
[...]
[1] Vgl. John Oates and Andrew Grayson, S. 8
[2] Els Oksaar, S. 79
[3] Ebd, S. 81
[4] Vgl. Els Oksaar, S. 81
[5] Vgl. ebd., S. 82
[6] Ebd., S. 85
[7] Vgl. Els Oksaar, S.86
[8] Jean Piaget, Bärbel Inhelder, Die Psychologie des Kindes, S. 18
[9] Vgl. Els Oksaar, S. 86
[10] Vgl. ebd., S. 84
[11] Jean Piaget, Theorien und Methoden der modernen Erziehung, S.75ff
[12] Els Oksaar, S. 84
[13] Vgl. Ebd., S. 89
[14] Vgl. Es Oksaar, S. 90