Erwerb von Gebärdensprache. Eine Analyse


Dossier / Travail, 2002

31 Pages, Note: 2


Extrait


INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung

2. Grundzüge der Gebärdensprache
2.1. Modalität
2.2. Bildhaftigkeit
2.3. Die grammatischen Module

3. Erwerb von Gebärdensprachen
3.1. Die Spracherwerbsfähigkeit
3.2. Bilingualismus in zwei Modalitäten
3.3. Die kritische Phase des Spracherwerbs
3.4. Babbeln
3.5. Wörter und Gebärden
3.6. Kombinationen von Gebärdenwörtern
3.7. Erwerb der phonologischen Einheiten
3.7.1. Erwerb der Handformen
3.7.2. Erwerb der Ausführungsstellen
3.7.3. Erwerb des Fingeralphabets
3.7.4. Die Sprachverarbeitung
3.8. Erwerb des Wortschatzes
3.9. Die Autonomie des Sprachsystems
3.10. Studie von Ricke, Bettger & Klima (1995)
3.11. Vom Lexikon zur Grammatik
3.12. Grammatische Nutzung der Mimik
3.13. Frühe Überlegenheit in der Raumverarbeitung

4. Sprachliche Erfahrungen und Spracherwerb

5. Fazit:

6. Literaturverzeichnis:

1. Einleitung

In der Bundesrepublik gibt es schätzungsweise 600 000 stark Hörgeschädigte bzw. Gehörlose Menschen. Sie können Sprache nur über visualisierte Formen, wie beispielsweise die Schrift, das Ablesen vom Munde, dem Fingeralphabet und über die Gebärdensprache aufnehmen.

Der Analyse des Gebärdenspracherwerbs gehörloser Kinder mit gehörlosen Eltern wurde in den letzten zehn Jahren immer mehr Interesse geschenkt. Die Kindersprachenforschung hat sich dabei besonders auf die Frage konzentriert, inwiefern sich der Erwerb der Gebärdensprache zum Lautsprachenerwerb hörender Kinder unterscheidet, oder etwa ähnelt. Durch diesen Vergleich versucht man die Strukturen und vor allem Lernprozesse eines frühen Spracherwerbs herauszufinden.

Dazu liefern Volterra und Erting (1989) eine Zusammenstellung von Studien zur frühen kommunikativen Entwicklung hörender und gehörloser Kinder.

Ebenfalls einen knappen Überblick darüber verschaffen uns Prillwitz 1988 und Boyes-Braem 1989.

Ist Gehörlosigkeit ein Defizit?

„Gehörlosigkeit ist ein sensorisches, jedoch kein kognitiv-sprachliches Defizit.“[1] Früher ging man davon aus, wenn ein Mensch eine Lautstärke von 90-110 Dezibel nicht wahrnehmen kann, ist er taub. Die heutige Definition jedoch lautet, wenn eine Hörschädigung nicht mehr mit einem Hörgerät ausgeglichen werden kann, dann ist die betreffende Person gehörlos und folglich auf die Gebärdensprache angewiesen.

Abbé de L Épeé gründete 1771 die erste Schule für Taubstumme in Paris, denn er wusste, dass die Gebärdensprache das natürlichste und eigentliche Ausdruckmittel der Gehörlosen sei. Die französische Schriftsprache verwendete er als Brücke zur Lautsprache, ebenso ein Handalphabet, das auf Pablo Bonet (1579-1633) zurückgeht.

An dem Taubstummenlehrerkongress 19880 in Mailand jedoch fiel ein Entschluss, der schwere Folgen hatte. Es sei an den Gehörlosenschulen im Unterricht lediglich die lautsprachorientierte Methode zu bevorzugen, ohne den Gebrauch von Gebärden.

Daraufhin sah man die Gehörlosigkeit wieder als Defizit an und die Ausdruckskraft von Gebärdensprachen verlor an Ansehen. Bezeichnend dafür ist folgender Eintrag im Lexikon: „Das Gehör ist der Zeit und dem Werte nach das erste Mittel zur geistigen Bildung; denn die Vorstellung, die Gesicht und Gefühl geben, wirken nicht so tief auf die Seelen ein, wie die durch das Gehör erzeugten.“[2]

Diese Meinung wird auch heute noch im Bildungsbereich vertreten.

Seit den 50er Jahren befasst sich die internationale Gebärdenforschung mit der Struktur der Gebärdensprache.

1972 erschienen die ersten Lehrmaterialien zur American Sign Language. Die intensive Erforschung der Deutschen Gebärden Sprache (DGS) begann erst in den 70er Jahren. Die Gründe dafür, warum die Forschung in der DGS so spät begonnen hat, sind auf den Mailänder Kongress zurückzuführen.

Linguisten und Psychologen beschäftigen sich intensiv mit „der Beschreibung der amerikanischen Gebärdensprache“.[3] Sie kamen zu der Erkenntnis, dass die American Sign Language (ASL) in ihrer Struktur und Leistungsfähigkeit ebenso ausgebaut ist, wie die amerikanische Lautsprache.

2. Grundzüge der Gebärdensprache

2.1. Modalität

Wie alle Gebärdensprachen ist auch die Deutsche Gebärdensprache eine visuell-motorische Sprache. Sie besitzt ein differenziertes Regelsystem, das mit Hilfe von manuellen, sowie nicht-manuellen Mitteln sich ausdrückt. Ebenso wie die Lautsprachen unterliegen die Gebärdensprachen den gleichen sprachspezifischen Beschränkungen.

2.2. Bildhaftigkeit

In frühere Studien sah man die Ikonizität von Gebärden in Gebärdensprachen als eine wesentliche Eigenschaft der Gebärdensprachen an. Auch heute noch vertritt so mancher das Vorurteil, dass Gebärdensprache mit Pantomime gleichzusetzen sei. Dazu kann man sagen, wäre die Gebärdensprache nur durch solche analogen Strukturen gekennzeichnet, so widerspräche „ihr Design vollständig dem „digitalen“ Charakter von Lautsprachen“[4] und jeder Gehörlose verstünde jede Gebärdensprache problemlos. Ebenso würde der Erwerb der Gebärdensprache wegen ihrer leichteren perzeptuellen Zugänglichkeit früher beginnen und sei früher abgeschlossen als der Erwerb von Lautsprachen.

All dies trifft jedoch nicht zu. Man kann sagen, dass ungefähr 30 % der Gebärden bildhaft sind. Gebärdensprachen enthalten zwar das Potential für Bildhaftigkeit, sie schöpfen dieses aber weder quantitativ noch qualitativ aus.

Die Gebärdensprachen unterscheiden sich in vielen Gebärdenzeichen, aber sie weisen auch einige Gemeinsamkeiten auf. Beispielsweise in der formalen Ausgestaltung des Wortschatzes zeigen sich Unterschiede, welche nicht auf die Bildhaftigkeit zurückgeführt werden können. So werden in der Amerikanischen Gebärdensprache im Wortfeld der Verwandtschaftsbeziehungen die Gebärden für männliche und weibliche Personen an verschiedenen Ausführungsstellen platziert. Und zwar wird die obere Hälfte des Gesichts für die männlichen Verwandtschaftsgebärden verwandt, die untere Hälfte wird für die Bezeichnung weiblicher Verwandter benutzt. Daher kann man die Gebärde „Vater“ erkennen, wenn man die Gebärde für Mutter bereits kennt, aber nicht etwa weil die Gebärden ikonisch sind, sondern weil sie durch formale Regeln (analog zur Wortbildungsregel) aufeinander bezogen werden können.

In der Japanischen Gebärdensprache werden hingegen unterschiedliche Handformen dafür benutzt. Die Gebärde für männliche Personen ist eine Faust mit abgespreiztem Daumen, die Gebärde für weibliche Personen hineggen ist eine Faust mit ausgestrecktem kleinen Finger. Selbst bildhafte Gebärden sind sprachspezifisch verschieden, je nachdem welcher Wirklichkeitsaspekt in der Gebärde fokussiert wird.

Die Gebärde für Baum in der Deutschen Gebärdensprache zentralisiert die Zweige des Baumes, die japanische Gebärde im Vergleich fokussiert den Stamm.

Ohne die einzelsprachliche Kenntnis der Form der lexikalischen Elemente können demnach kompetente Gebärdensprachbenutzer nicht, oder nur in einem engen Ausmaß, die Gebärden einer anderen Sprache dekodieren. Die Gemeinsam­keiten der Gebärdensprachen findet man auf tieferer Strukturebene. Beispielsweise ist die Nutzung der räumlichen Verhältnisse in allen Gebärdensprachen vergleichbar, so wie auch die Festlegung der Raumpunkte für Pronomen oder für Flexionen bei bestimmten Verbklassen.

Aber auch hier gibt es wieder Unterschiede im lexikalischen Bereich, denn welche Verben zu welchen Klassen gehören, ist in den einzelnen Gebärdensprachen unterschiedlich geregelt.

2.3. Die grammatischen Module

Die Struktur eines Satzes ergibt sich in der Gebärdensprache aus dem Zusammenspiel verschiedener grammatischer Module. Einige dieser Module sollen im Folgenden dargestellt werden.

Phonologie

Die Phonologie bezeichnet primär die Wissenschaft von der kleinsten Spracheinheit. Bezogen auf die Gebärdensprache könnte man sie auch als Teil der Microstruktur von Handzeichen bezeichnen. Genauer ausgedrückt bezeichnet die Phonologie jedoch die Theorie aller distinktiven formalen Eigenschaften unterhalb der Morphemebene, also phonologische Merkmale, Phoneme, Silben und Beschränkungen für die Kombinationen von Phonemen.

Gebärden setzen sich aus vier distinktiven phonologischen Eigenschaften zusammen, nämlich Handform, Handstellung, Ausführungsstelle und Bewegung. Wird nur eine dieser phonologischen Eigenschaften verändert, so verändert sich auch die Bedeutung des Ausdrucks.

Die Deutsche Gebärdensprache hat mehr als 30 verschiedene Handformen, viele unterschiedliche Ausführungsstellen, Handstellungen und Bewegungen, aus deren Kombination unendlich viele Wörter entstehen können. Dabei wird zwischen Einhand- und Zweihandgebärden unterschieden. Deren Kombination von phonologischen Eigenschaften unterliegen strengen Regeln. In anderen Gebärdensprachen sind diese Regeln jedoch wieder anders.

Von den gut 30 Handformen, die in der Deutschen Gebärdensprache als distinktive Formmerkmale mit bedeutungsunterscheidender Funktion angenommen werden, können sich vier Grundformen klassifizieren lassen:

Die Faust, die Flachhand, Einzelfinger und Daumenverbindungen. Von diesen Grundformen können dann unter den Gesichtspunkten der Daumenstellung, des Abwinkelns, Biegens und Krümmens der Finger alle erforderlichen Handformen abgeleitet werden.

Die Ausführungsstelle einer Gebärde wird auf einem imaginären Koordinatenkreuz bestimmt, in dem die Vertikale durch bestimmte Körperstellen und die Horizontale durch die jeweils genutzte Tiefe des Gebärdenraums gekennzeichnet ist.

Es gilt unter verschiedenen Bewegungstypen zu unterscheiden: geradlinige Bewegungen, gewölbte Bewegungen, Kreisbewegungen, Spiralbewegungen, Einzelgelenkbewegungen und Fingerbewegungen. Außerdem spielen Tempo, Intensität, Größe und Wiederholung eine entscheidende Rolle.

Morphologie

Die Morphologie beschreibt die Struktur von Wörtern.

Bei den Klassifikatorgebärden steht eine Handform in einem bestimmten Kontext für eine Klasse von Einzelobjekten. Verben können beispielsweise nach den Eigenschaften der Referenten von Subjekten oder Objekten, die sie annehmen können, klassifiziert werden. Die Klassifikator-Handformen sind einzelsprachspezifische Morpheme. Die Klassifikator-Handform für Fahrzeuge ist beispielsweise in der Amerikanischen Gebärdensprache eine ganz andere als in der Deutschen Gebärdensprache.

Nun möchten wir kurz auf die Verbflexion in der Gebärdensprache eingehen.:

Personenkongruenzverben (zum Beispiel: FRAGEN, SCHLAGEN, LEIHEN, GEBEN):

Personenkongruenzverben bilden eine Teilklasse der gebärdensprachlichen Verben. Diese Teilklassen sehen jedoch in jeder Gebärdensprache anders aus.

Verben, wie zum Beispiel GEBEN werden durch Verortung von Anfangs- und Endpunkt der Gebärde für Subjekt und Objekt flektiert. Subjekt- und Objektpronomen sind hier an das Verb gebunden.

Raumkongruenzverben (zum Beispiel: DORTHIN_FAHREN, DORTHIN_GEHEN, GEHEN_ZU):

Bei Verben mit Raumkongruenz werden Anfangs- und Zielort durch die Vergebärde festgelegt.

Einfache Verben ( zum Beispiel: KAUFEN, STRAFEN, BEZAHLEN):

Bei den einfachen Verben werden die Subjekt- und Objektpronomen getrennt gebärdet. Die Verbflexion kann auch dazu dienen Wortarten zu unterscheiden.

Syntax

Das Verb steht in der Deutschen Gebärdensprache immer am Ende eines Satzes ( zum Beispiel: MANN HUND STREICHELT).

Die verschiedenen Satztypen und Wortstellungsvarianten werden durch ein differenziertes Zusammenspiel von Verbmorphologie und Syntax gebildet.

Es gibt viele Wortstellungen, die eine spezielle Markierung, wie Mimik, Körperhaltung oder Blickrichtung erfordern. Die Mimik kann aber auch als stilistisches Mittel dienen. Die stilistische Mimik ist ziemlich inkonsistent.

Die Struktur der syntaktischen Mimik wird im Folgenden an Fragen, Topikalisierungen und abhängigen Sätzen dargestellt.

Entscheidungsfragen:

DU KAFFEE KOCHST-DU (Kochst du Kaffee?)

Das Subjekt wird am Satzende wiederholt. Die Frage wird mimisch mit hochgezogenen Augenbrauen markiert.

Ergänzungsfragen:

DEIN KLEID LANG LANG (Wie lang ist dein Kleid?)

Bei diesem Beispiel wird in der Gebärdensprache, anders als in der Lautsprache kein Fragewort benutzt, sondern als Entscheidungsfrage formuliert.

WER BUCH KAUFT (Wer kauft das Buch?)

Hier wird ein Fragewort verwendet. Dabei werden die Augenbrauen über den gesamten Satz hinweg zusammengezogen.

Topikalisierungen:

BLUME,+++, MUTTER KAUFT

Die Konstituente wird an den Satzanfang gestellt. Dabei erhält der topikalisierte Teil die Mimik von Entscheidungsfragen. Außerdem ist die topikalisierte Konstituente intensiver und zwischen ihr und dem Rest des Satzes herrscht eine kurze Pause.

Verbmorphologie und leere Pronominale:

Die Deutsche Gebärdensprache lässt leere Pronomen zu.

JA; BUCH SCHICK (Ja, er schickt ihr das Buch)

Subjekt und Objekt sind in diesem Satz leere Pronominale, die mit Hilfe der Verbkongruenz interpretierbar sind.

[...]


[1] Helen Leuninger S 229

[2] Helen Leuninger, S 229

[3] K.-H. Bauch, S2

[4] helen Leuninger, S. 231

Fin de l'extrait de 31 pages

Résumé des informations

Titre
Erwerb von Gebärdensprache. Eine Analyse
Université
University of Frankfurt (Main)  (Institut für Deutsche Sprache und Litertur II)
Cours
Spracherwerb im Lichte der modernen Linguistik
Note
2
Auteur
Année
2002
Pages
31
N° de catalogue
V15096
ISBN (ebook)
9783638203166
ISBN (Livre)
9783638643795
Taille d'un fichier
599 KB
Langue
allemand
Mots clés
Erwerb, Gebärdensprache, Analyse, Gebärdenspracherwerbs, Spracherwerb, Lichte, Linguistik
Citation du texte
Tanja Vorderstemann (Auteur), 2002, Erwerb von Gebärdensprache. Eine Analyse, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/15096

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