Bildung und Möglichkeit

Theodor Ballauffs Pädagogik aus einer neuen Perspektive


Diplomarbeit, 2009

137 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Bildung und Möglichkeit
1.1 Begründung der Themenwahl
1.2 Vorgehensweise

Hauptteil:

2. Ermöglichung von Pädagogik als eigenständiger Wissenschaft
2.1 Systematik und Methodik der Pädagogik
2.2 Delegitimation der anthropologischen Begründung
2.3 Delegitimation der ethischen Begründung
2.4 Delegitimation der sozialisationstheoretischen Begründung
2.5 Grundzüge einer antithetischen Bildungskonzeption
2.6 Noologische Grundlegung: Die Transzendentalität des Denkens

3. Sozialisation: Die vermeintlich notwendige Wirklichkeit
3.1 Determination durchs Übliche: Soziale und historische A Priorität
3.1.1 Sozialisationslogik: Dialektik, Distinktion, Prädestination und Doxa
3.2 Der Zusammenhang zwischen Sozialisation und Bildung

4. Wege zur Ermöglichung von Bildung: Emanzipation und Partizipation
4.1 Emanzipation: Selbstkritisches Denken und Kontingenz
4.1.1 Skepsis und das Lernen verlernen
4.1.2 Möglichkeitsbedingungen der Wirklichkeitsauffassungen
4.1.3 Der pädagogische Umgang mit begrenzenden Auffassungsarten
4.2 Partizipation: Die gedankliche Vergangenheit als neue Zukunft
4.2.1 Erkennen und Ermessen als menschliche Grundvollzüge
4.2.2 Befähigungen durch gedankliche Teilhabe: Erdenken und Ermessen
4.2.2.1 Spezifizierung des Ermessensbegriffs

5. Konturen der erreichten Möglichkeiten: „Selbständigkeit im Denken“
5.1. Sechs Kennzeichen von Bildung

6. Rückblick: Theodor Ballauffs Bildungslehre als Möglichkeitstheorie

Schluss:

7. Apologetik: Warum überhaupt Bildung ermöglichen?

8. Ausblicke, Rezeptions- und Umsetzungsprobleme

9. Quellenangaben

10. Erklärung gemäß § 22

Einleitung

1.Bildung und Möglichkeit

„Aber was ist die Philosophie heute – ich meine die philosophische Aktivität-, wenn nicht die kritische Arbeit des Denkens an sich selber? Und wenn sie nicht, statt zu rechtfertigen, was man schon weiß, in der Anstrengung liegt, zu wissen, wie und wie weit es möglich wäre, anders zu denken?“

Michel Foucault

Der Titel dieser Arbeit „Bildung und Möglichkeit“ kann Erwartungen wecken, als würde im Folgenden die Thematik von Bildung und Lebenschancen behandelt. Diese Annahme ist vielleicht eine Konsequenz der medialen Präsenz des Bildungsbegriffs, der heute im öffentlich-politischen Diskurs zumeist in funktional-ökonomischen Zusammenhängen Verwendung findet. Denn eng mit diesem Begriffsgebrauch ist der Sachverhalt verbunden, dass mittels Bildung Lebenschancen eröffnet werden, weil Bildung gemeinhin als not-wendige Bedingung zum Eintritt ins Beschäftigungssystem angesehen wird, wovon wiederum die Möglichkeit eines finanziell eigenständigen Lebens, dessen Gestaltung und die Selbstverwirklichung des Einzelnen abhängt. Jedoch wird diese Thematik im Folgenden nicht zur Sprache kommen.

Der Bildungsbegriff ist „ein Begriff mit verschwommenen Rändern“ (Wittgenstein 1971, S. 50), der in verschiedenen Kontexten verwendet wird und je nach Zusammenhang eine andere Bedeutung erhält. Im öffentlich-politischen Diskurs wird unter dem Begriff „Bildung“ zumeist Ausbildung und Qualifikation verstanden. Damit ist aber ein Kontext angesprochen, der sich vom philosophisch-pädagogischen Themenfeld Bildung wesentlich unterscheidet.[1] Mit dem Ausbildungsbegriff ist ein leistungsbezogenes und zweck-gebundenes Anwendungsverhältnis auf ein bestimmtes Weltstück angesprochen. Bildung hingegen ist ein genuin pädagogischer Begriff, der vornehmlich das Moment der Re-flexion, d.h. der sprachlich-kritischen Auseinandersetzung des Einzelnen mit sich und Welt insgesamt betont.

Die Ursprünge des europäischen Nachdenkens über Bildung sind in der Antike zu finden. Im fünften Jahrhundert vor Chr. beginnt die „Geschichte des pädagogischen Denkens (…) in Griechenland“ (Fischer 1998, S. 2) in der Auseinandersetzung zwischen Sokrates und den Sophisten. Ein Entstehungsgrund des Nachdenkens über die Paideia, die noch weniger differenziert Bildung und Erziehung meint, sind sozial-politische und epistemisch-paradigmatische Krisen. In Folge der „griechischen Aufklärung“ (Reble 1995, S. 27) geriet die soziale Ordnung ins Wanken, weil der sinn- und orientierungstiftende Mythos, der über Jahrhunderte sozialen Zusammenhalt und persönlichen Halt geboten hatte, an Selbstverständlichkeit verlor. Zudem beförderten demokratische Vorstellungen und neu aufkommende philosophische Lehren eine zunehmende Erosion der alten Grundüber-zeugungen, wodurch die Thematik von Bildung sowie Erziehung und zugleich damit die Frage nach dem guten und gelingenden Leben in den Vordergrund der Reflexion rückte.

Seit diesen philosophisch-pädagogischen Anfängen, in denen die Grundprobleme von Bildung in den Blick kamen, hat der darunter verstandene Sachverhalt und Begriff verschiedenste Ausdeutungen erhalten. Von der klassischen Phase der griechischen Antike ausgehend führt eine Verbindungslinie über die Stoa in die römische Antike. Von diesem historischen Zeitpunkt wurden die Erörterungen des Bildungsproblems über diverse Stationen bis in die gegenwärtige Diskussion wach gehalten.

Als ein herausragender historischer Kulminationspunkt in dieser Traditionslinie ist der Renaissance-Humanismus zu nennen, indem das antike Gedankengut, nach einer Latenzphase im Mittelalter,[2] wieder aufgegriffen wurde. Ferner ist die autoritätskritische Aufklärungsepoche des 18. Jahrhunderts, mit Vertretern wie zum Beispiel Rousseau, Kant und Herder, und der daran anschließende Neuhumanismus anzuführen, der wichtige bildungstheoretische Impulse für das Nachdenken über die Differenz zwischen Bildung und Ausbildung erbrachte. Als Galionsfigur dieser Unterscheidung kann im deutsch-sprachigen Diskurs Wilhelm von Humboldt angesehen werden. Nach Humboldt ist der „wahre Zweck des Menschen (…), die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“ (Humboldt 2006, S. 22).

Vom Neuhumanismus führt die bildungstheoretische Reflexion weiter in den gegen-wärtigen Diskurs. Die historisch aktuelle Bildungsproblematik weist eine positionelle Pluralität auf. Momente, die Bildung je nach Zugangsweise kennzeichnen, betreffen bei-spielsweise die Frage nach dem Umgang mit Identität oder zeitgenössischen Schlüssel-problemen. Zudem kommt Bildung im Umkreis von Fragen nach Kritik- und Kom-munikationsfähigkeit in den Blick. Ferner wird sie auch als skeptisch-kritische Haltung verstanden oder aus phänomenologischer Sicht das Problem der Leiblichkeit hervor-gehoben.[3] Eine dieser gegenwärtigen Bildungstheorien ist die des philosophisch orientierten Pädagogen Theodor Ballauff (1911-1995) Seiner Auffassung nach zeichnet sich Bildung durch eine „Selbständigkeit im Denken“ aus. Das Spezifikum seiner umfang-reichen Überlegungen ist, dass er sich mit diesem Bildungsverständnis u.a. gegen die traditionellen bildungstheoretischen Auffassungen wendet, weil er in dieser und anderen neuzeitlichen Entwicklungen und dem damit einhergehenden menschlichen Selbst-verständnis eine Gefahr der begrenzenden Vereinseitigung und dogmatischen Ver-absolutierung erkennt. Ballauffs pädagogisches Nachdenken nimmt zudem, im Hinblick auf die Radikalität des Ansatzes, die thematische Weite und den gedanklichen Verwei-sungsreichtum, eine in der gegenwärtigen Theorienlandschaft exponierte Stellung ein. Obgleich die ertragreiche Auseinandersetzung mit dessen bildungstheoretischen Re-flexionen bisher nicht die Aufmerksamkeit erreicht hat, die sich aufgrund der kon-zeptionellen Durchdachtheit erwarten lässt. Dessen pädagogische Konzeption und Bildungsbegriff wird im Folgenden unter der Perspektive der Möglichkeit das Thema dieser Arbeit sein.

Bevor jedoch der wesentliche Gedankengang der folgenden Ausarbeitung thesenartig ex-pliziert wird, muss noch eine andere Erwartung zurückgewiesen werden, die der Titel hervorrufen kann. Mit dieser Abgrenzung erfolgt zugleich eine erste, inhaltliche An-näherung an die Bildungstheorie Ballauffs. Der Möglichkeitsbegriff kann die Assoziation hervorrufen, dass „Möglichkeit“ im Sinne von Potenzen, Anlagen und Veranlagungen, Vermögen und/oder Begabung zu verstehen und gleichsam als Ursprung der Bildsamkeit des Menschen zu begreifen ist. Allerdings läuft die kommende Abhandlung nicht auf eine Ausarbeitung hinaus, die zu zeigen versucht, von welchen verborgenen Potentialen in den Individuen als ihren latenten Ressourcen auszugehen ist, die dann pädagogisch angeleitet mobilisiert und ausgeschöpft werden könnten, damit Bildung erreichbar wird. Im Folgenden wird nicht von einer ontischen Potentialität ausgegangen, die angeblich dem Menschen innewohnt und sich nach einer bestimmten, pädagogisch beeinflussbaren Teleologie realisiert. Ballauff führt dazu die skeptischen Bedenken an:

„Wir können nicht die uns allen geläufige Potenzialitätsmetaphysik unbezweifelt lassen, wie sie in der Rede von Anlagen oder Veranlagung zum Ausdruck kommt. (…) Von Anlagen oder Veranlagungen wissen wir hinsichtlich des Zöglings, des Kindes, des Schülers gar nichts. (…) Erst eine Metaphysik legt das Tun und Lassen, das Lernen und Versagen des zu Erziehenden auf >Potenzen< hin aus, bei deren Behauptung wir uns beruhigen. Es ist offensichtlich, dass die Behauptung, der Schüler lerne gut eine Sprache, weil er >sprachlich begabt< sei, keinerlei Erklärung oder Erschließung eines solchen Lernens enthält. Auf die weitere Frage, was dieses Begabtsein oder Veranlagtsein besagen soll, werden wir vergebens eine Auskunft erwarten. Denn auch der Hinweis auf Chromosomen, Gene, Vererbungsmechanismen belehrt über das Erlernen der Sprache in keiner Weise. Jene biotische Struktur ist sicher eine von vielen Voraussetzungen, aber nicht das Lernen und Können einer Sprache. In Wahrheit führt man in solchen Aussagen von Veranlagungen nur ein X auf ein Y zurück“ (Ballauff 1970b, S. 26).

Das heißt, dass sich Menschen biologisch gesehen entwickeln, indem sich vermutete An-lagen nach einem als angeboren gedachten Programm, dem so genannten genetischen Code, entwickeln, wenn ihnen die notwendigen, die Lebensprozesse in Gang haltenden Bedingungen zum Wachstum gewährt werden. Diese biologische Sicht erklärt aber nicht, warum ein Schüler schneller befähigt ist, eine bestimmte Tätigkeit zu erlernen als ein anderer.[4] Die Rückführung von Lernprozessen auf so genannte Anlagen und Potenzen ist eine nachträgliche angesetzte Interpretation, die vom phänomenalen Bestand auf eine ihr gleichsam a priori zugrundeliegende, aber nicht beweisbare Veranlagung oder Begabung schließt, und darum als Scheinerklärung gelten kann. Kurz gesagt: Potentialitätstheorien vermeinen zu wissen, wenngleich ihr Erklärungsgehalte fragwürdig sind.

Wenn aber nur in sehr eingeschränktem Maße von Vermögen und sich entwickelnden Anlagen auszugehen und Möglichkeit nicht primär als Lebenschance zu verstehen ist, so stellt sich die Frage, was dann mit dem im Titel verwendeten Begriff „Möglichkeit“ ge-meint ist.

Das „Mögliche“ wird in alltagssprachlichen Kontexten durch das Suffix „-bar“ ausge-drückt, welches an Adjektiven oder Substantiven anhangen wird. Wenn man etwas als ertrag-, realisier- und/oder denkbar bezeichnet wird, so deutet dieses auf die Möglichkeit hin, dass ein bestimmter Sachverhalt eintreten kann, aber nicht zwingend eintreten muss.[5] Wenn etwas als realisierbar verstanden wird, etwa der Bau eines bestimmten Hauses gemäß den architektonischen Wünschen des Besitzers, dann kann es faktisch gebaut werden, muss aber nicht notwendig realisiert werden. Wenn etwas als ertragbar bezeichnet wird, dann versteht man darunter, dass etwas, etwa bestimmte Lebensumstände oder eine Situation, hingenommen werden kann, aber aus gewissen Gründen nicht hingenommen werden muss. Und wenn etwas als denkbar bezeichnet wird, dann heißt dies, dass etwas, zum Beispiel die Imagination eines vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen Zustandes von Welt im Rahmen der Vorstellungen liegt und so oder auch anders gedacht werden kann.

In der philosophischen Tradition steht der Möglichkeitsbegriff im Zusammenhang zu den beiden Modalbegriffen „Wirklichkeit“ und „Notwendigkeit“. Das Wirkliche betont die Eindeutigkeit einer Sache. Wenn etwas als wirklich angesehen wird, dann ist etwas so wie es ist und nicht zugleich ein anderes. Notwendigkeit hingegen bezeichnet das Zwingende und Unabänderliche. Was man als notwendig betrachtet, muss so sein wie es ist. Mög-lichkeit bezeichnet das „So oder nicht so sein können“ (Hartmann 1938, S. 33). Sie verweist nicht auf das Zwingende, auch nicht auf das eindeutig Gegebene, sondern auf das Anders-sein-können bzw. auf jenes was sein kann. Möglichkeit kann daher auch als das Nichtzwingende und Nichteindeutige verstanden werden; sie deutet auf Offenheit und Alternative hin.

Bevor jedoch über diese Andeutungen hinaus in übermäßig philosophisch-abstrakte Reflexion übergegangen und versucht wird zweitausendfünfhundert Jahre Nachdenken über den Möglichkeitsbegriff[6] zu erläutern, der in verschiedenen historischen und systema-tischen Kontexten verwendet wurde, kann ein konkretes Beispiel das Verständnis des in dieser Arbeit gemeinten Begriffs besser verdeutlichen.

Ein Jugendlicher[7] aus der unteren Mittelschicht hat sehr wahrscheinlich eine grundlegend andere Sicht von sich, bestimmten Weltzusammenhängen und seiner Zukunft, als ein gleichaltriger Junge aus einer Akademikerfamilie. Beide beziehen sich in ihrem Denken, Sprechen und Handeln auf eine Welt, aber ihre Zugänge auf das, was sie für wirklich halten sind grundverschieden. Was und wie sie über sich, Welt und Andere denken, was und wie sie ihre Umwelt wahrnehmen, wie sie ihr Zukunft sehen und ihre diversen Weltbezüge beurteilen, welchen Musikgeschmack sie haben usw., sind heterogen. Dasselbe was für den Einen von höchstem Interesse ist, langweilt den Anderen. Und dasselbe von dem der Eine sagt, „Es ist so, dass …“, sieht der Nächste ganz anders. Die jeweilige Auffassungsweise wie sie sich, die vielfältigen Bezüge zur Welt in der sie leben und ihre Zukunft sehen, hängen zumeist mit anfänglicher Notwendigkeit von ihrem epistemologischen Milieu, d.h. dem konkreten, sozialen Umfeld und deren gedanklichen Einflüssen, ab. Diese herkunfts-abhängige Notwendigkeit muss kein unabänderliches Faktum sein. Denn wenn den Beiden andere gedankliche Aspekte und Zugangsweisen eröffnet würden, ändert sich gegebenen-falls auch ihr Selbst- und Weltverhältnis. Sachverhalte über welche der Jugendliche aus der Mittelschicht anfänglich definitive Urteile äußert, in dem Sinne, dass etwas eindeutig so ist wie es ist und nicht anders, könnten sich ändern; zudem könnte sein Lebensentwurf anders aussehen, wenn ihm bewusst würde, dass es zu seiner bisherigen Sicht der Dinge alternative Betrachtungsweisen gibt und dadurch andere Handlungen möglich sind, die ihm vorher nicht bekannt waren. Denkbare Einfluss- und Veränderungsfaktoren dieser sich wandelnden Wirklichkeitserfahrung des Jugendlichen, die vieles existenzerhellend in einem neuen und anderen Licht erscheinen lassen, was bis dato für eindeutig und zwingend galt und gehalten wurde, könnten etwa durch das Lesen eines erhellenden Buches, eines ihn interessierendes Schulfachs, einer ideenbereichernden Freundschaft und/oder eines schicksalshaften Lebensereignisses eintreten. Ebenso könnte der gleichaltrige Akademikersohn ein anderes, weniger milieugeprägtes Verhältnis zu sich und der Welt gelangen, wenn er etwa die Sichtweise seines Altersgenossen einnehmen würde oder ihm Perspektiven offeriert werden, die ihn vieles anders sehen lassen. Diese beiden Beispiele wollen besagen, dass durch eine gedankliche Horizonterweiterung die Möglichkeit gegeben ist, das was an- und vorgeblich so ist wie es ist, anders zu denken. Die Erweiterung des Bereichs des Denkbaren ist zugleich eine Erweiterung der Auffassungsweise von Welt in ihrem Ist-Zustand. Durch eine zunehmende gedankliche Erschlossenheit sind andere Sichtweisen, auf das was ist bzw. werden kann, möglich.

Vor diesem Hintergrund eines erkenntnis- bzw. denktheoretisch zu verstehenden Mög-lichkeitsbegriffs, der den Fokus auf variable, sprachlich-gedankliche Zugänge zu sich und Welt in ihrer vermeintlichen Wirklichkeit legt, wird die folgende Arbeit das Pädagogik- und Bildungsverständnis von Theodor Ballauff behandeln. Beide Themenfelder werden auf den Aspekt der Möglichkeit hin befragt und dreierlei Momente aufgezeigt: Erstens wird expliziert, dass und warum Pädagogik nicht notwendigerweise aus anthropologischer, ethischer oder sozialisationstheoretischer Sicht legitimiert werden muss und wie Ballauff in der Abkehr von diesen etablierten Begründung die Grundlage einer alternative Pädagogik-konzeption ausfindig macht. Zweitens wird, von einem sozialisierten, sozial und historisch bedingtem Realitätsverständnis ausgehend, die ballauffsche Pädagogik dahingehend interpretiert, auf welchen gangbaren Wegen Bildung möglich werden kann. Und drittens wird dargelegt, welches Welt- und Selbstverhältnis möglich sein könnte, wenn Bildung als radikal eigenständige Gedanklichkeit erreicht ist.

1.1 Begründung der Themenwahl

Der Untertitel dieser Arbeit und die so eben gemachten Äußerungen sollen verdeutlichen, dass im Kommenden die Bildungstheorie Theodor Ballauffs unter der Perspektive der Mög-lichkeit interpretiert wird.

Da aber Theodor Ballauffs Bildungskonzeption, wie bereit angesprochen, nur eine Theorie in einer pluralen pädagogischen Reflexionslandschaft zum Themenfeld „Bildung“ ist, wird damit zum einen eine Relativierung angezeigt, weil Ballauffs Theorie nicht die Konzeption schlechthin ist. Und zum anderen wird die Frage akut, warum dieser Theoretiker aus-gewählt wurde, um den Zusammenhang von Bildung und Möglichkeit zu erläutern. Wird denn nicht auch in anderen Bildungstheorien das Augenmerk auf ein grundlegend verändertes Welt- und Selbstverhältnis gelegt, und somit eine Möglichkeit des Andersseins, zumindest implizit, intendiert? Wenn dem zuzustimmen ist, ist zu begründen, warum die Wahl auf Theodor Ballauffs Bildungstheorie gefallen ist, sähe die Ausarbeitung mit identischer Fragestellung und anderem Referenzautor vermutlich anders aus. Es stellt sich die Frage nach der sachlichen Rechtfertigung, Ballauffs Bildungslehre unter dem Blick-winkel der Möglichkeit zu betrachten.

Dazu mag der anfängliche Verweis nützlich sein, dass Teilaspekte von Ballauffs Pädagogik zur systematischen Konzeption einer „Möglichkeitstheorie“ (Wolterhoff 1986, S. 5) Verwendung fanden. Dieser Ansatz wurde zum Beispiel von Bernt Wolterhoff im Kontext der Erwachsenenbildung verfolgt. Zudem ist in diesem Zusammenhang die Ausarbeitung von Farsin Banki zu nennen. Dieser bezeichnet Ballauffs systematische Pädagogik als „Pädagogik der Möglichkeit“ (Banki 1986, S. 217). Ferner ist als Beleg der Aufsatz Christiane Thompsons mit dem Titel „Bildung als Raum der Möglichkeit - Zur Offenheit des Denkens bei Theodor Ballauff“ (Thompson 2004, S. 523) anzuführen. Kurzum: Diese Verweise auf andere Autoren geben einen ersten Anhaltspunkt, dass es nicht abwegig und unbegründet erscheint, Ballauffs Theorie unter dem Gesichtpunkt der Möglichkeit zu lesen.[8] Jedoch sind mit diesen Andeutungen auf andere Autoren, die Ballauffs Pädagogik mit dem Möglichkeitsbegriff in Verbindung gebracht haben, die sachlich, theorie-immanente Verbindung zwischen Bildung und Möglichkeit in Ballauffs Pädagogik, noch nicht hinreichend verdeutlicht.

Diesbezüglich lässt sich anführen, dass Ballauff explizit einen Text veröffentlicht hat, der sich mit der Thematik Bildung und Möglichkeit befasst. Der Titel dieses kurzen Aufsatzes lautet: „Menschlichkeit als Möglichkeit der Bildung. Bildung als Ermöglichung der Menschlichkeit“ (Ballauff 2004b, S. 68). Selbst nach quantitativen Kriterien beurteilt und gemessen an den zahlreich veröffentlichten Büchern und Aufsätzen Ballauffs, kann man diesen konzisen Text nur schwerlich als Marginalie ansehen. Denn wenn man berück-sichtigt, dass Menschlichkeit und Bildung Zentralbegriffe des ballauffschen Nachdenkens über Pädagogik sind, so wird leicht ersichtlich, dass der systematisch-qualitative Stellen-wert diese Textes Beachtung verdient und für das Problem vom Bildung und Möglichkeit wichtige Hinweise liefert. In diesem Text setzt sich Ballauff kritisch mit seinem akademischen Lehrer Nicolai Hartmann auseinander und durchdenkt dessen Möglichkeits-gedanken im Hinblick auf die pädagogischen Implikationen. Die anfängliche Reflexion ver-läuft dahingehend, dass wenn „Menschlichkeit“ realisiert werden soll, so müsse diese durch die Schaffung des nötigen Bedingungszusammenhangs geschehen. Ballauff dazu:

„Die ältesten Erziehungsweisen, wie die >Ausbildung<, die religiöse und die militärische Erziehung sind von dem Gedankenkreis der totalen Konditionierung ausgegangen. Sie haben mit Furcht und Schmerzen, mit Strafe, aber auch mit >Prämien<, ein solches Bedingungsgefüge organisiert; der gewünschte Effekt trat ein. Die Ausgebildeten, die Priester, die Mönche, die Soldaten – sie marschierten; sie gehorchten dem, der das >Geheimnis< jenes Bedingungsgefüges kannte – er wusste, wie aus der >Möglichkeit< die notwendige Wirklichkeit wird“ (Ballauff 2004b, S. 72).[9]

Jedoch, so führt Ballauff im Anschluss an diese Passage antithetisch aus, sei in Hartmanns Theorie und den sich daraus ergebenden pädagogischen Konsequenzen, „das die Menschlichkeit Auszeichnende noch gar nicht beachtet, ja geradezu ausgeschlossen: eine Selbständigkeit im Denken“ (Ebd., S. 72).

Dies bedeutet fürs Erste soviel: „Selbständigkeit im Denken“ ist nicht mit Notwendigkeit zu verwirklichen. Es können keine zwingenden Arrangements und kein hinreichendes Be-dingungsgefüge angegeben werden, um aus pädagogischer Sicht Menschlichkeit qua Bildung garantiert zu gewährleisten. Wenn dies der Fall wäre, dann wäre die Möglichkeit auf gedankliche Selbstständigkeit suspendiert und damit Bildung als eine Art Denk- und Verhaltenskonditionierung in ihr Gegenteil umgeschlagen. Man müsste dann vermutlich treffender von einer „Fabrikation des Disziplinarindividuums“ (Foucault 1977, S. 396) sprechen. Dennoch sollte Bildung möglich werden können, weil ansonst alles pädagogische Nachdenken und Agieren einer Zeitverschwendung gleichkäme. Die notwendige Mög-lichkeitsbedingung, um Bildung zu verwirklichen, wird jedoch einem jeden und jeder mit-gegeben, denn sie liegt, laut Ballauff, im Denken gegründet. So heißt es etwa in der „Systematischen Pädagogik“, in der Ballauff, die für seine pädagogische Gesamtkonzeption wichtigen zehn Fundamentalthesen erläutert:[10]

„Die Zugehörigkeit des Menschen zum Denken besagt nun: Zugehörigkeit zur Erschlossenheit und Möglichkeit. Wir Menschen sind nicht an das >Wirkliche< in seinem unmittelbaren Ablauf und seiner Offensichtlichkeit gebunden (…). Nicht weil der Mensch das unbestimmte Wesen ist, sondern weil er der Möglichkeit im Denken angehört, kann er nicht so sehr >sich selbst< bestimmen, als vielmehr den Kosmos in seinem Bedingungsgefüge ändern. Nur weil er erkennt, dass dies und das möglich ist oder wird oder ermöglicht werden kann, ist er selbst in der Möglichkeit beheimatet“ (Ballauff 1970b, S. 20f., im Original kursiv, A. d. V.).

Dieser Passus liefert einen deutlichen Hinweise darauf, dass Bildung als „Selbständigkeit im Denken“ und Möglichkeit in einem sachlogischen Verhältnis zueinander stehen, weil Menschen dem Denken und damit dem Anderssehen und -sein können, zumindest der Mög-lichkeit nach, bereits angehören. Wenn Denken und Möglichkeit grundlegend als zu-sammengehörig zu begreifen sind, dann bedeutet diese enge Verknüpfung, dass Bildung als „Selbständigkeit im Denken“ eine andersgeartete Qualität, d. h. als eine andere Art der Beschaffenheit des Denkens im Umgang mit der gewährten Möglichkeit zu begreifen ist. Bildung ist dann als Wissen um und die Realisation der Möglichkeiten zu verstehen, die per se im Denken liegen.

Dies mag vorerst als kurzer, allgemeiner Aufriss genügen, um den sachlichen Zusam-menhang zwischen Bildung und Möglichkeit sowie die Beschäftigung mit Ballauffs Bildungstheorie unter dem Blickwinkel der Möglichkeit als gerechtfertigt zu betrachten.

Dennoch drängen sich Fragen auf - Fragen, dahingehend, wie etwa Bildung angebahnt werden kann? Und was, wenn Bildung erreicht ist, dann vermutlich möglich wird? Und warum, wenn wir alle am Denken teilhaben, ist die Selbständigkeit noch nicht von sich aus erreicht? Wissen die Menschen nichts von ihren Möglichkeiten? Oder wollen sie nichts von ihren Möglichkeiten wissen, weil gegebenenfalls die gewohnte Weltsicht, das Verweilen in der Doxa Geborgenheit schenkt oder vielleicht die Lebensnot regiert? Wo liegen gegebenenfalls die Hinderungen und Hemmnisse der Möglichkeit einsichtig zu werden? Gründen die Barrieren, mit Kant gesprochen, in einer „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant 2004, S. 9) und dem Mangel an Mut? Wird Ballauffs Bildungslehre über diese Hemmnisses belehren? Und was heißt das eigentlich: „Selbständigkeit im Denken“? Wo liegt in dieser Formulierung der Unterschied zum selbstständigen Denken? Gibt es Unterschiede zwischen selbstständigem Denken und einer „Selbständigkeit im Denken“? Und was besagt der Begriff „Menschlichkeit“? Ist damit die Renaissance einer alten Pathosformel angesprochen? Und hatten die Kommunisten nicht auch einen eigenen Begriff von Menschlichkeit und das was ihren „neuen Menschen“ auszeichnete? Und die Nationalsozialisten – hatte nicht auch sie eine Vorstellung von dem, was Menschlichkeit ausmacht? Und die Ökonomisten mit ihrer Anthropologie des homo oeconomicus wusste doch ebenfalls was Menschlichkeit besagt? Und warum soll überhaupt Bildung ermöglicht und nicht vielmehr verunmöglicht werden?

Im Kommenden wird versucht, diese und ähnliche Frage zu beantworten.

1.3 Vorgehensweise

Die These, die im Folgenden vertreten und argumentativ verteidigt wird, lautet, dass Ballauffs Nachdenken über Pädagogik und Bildung ein dreifaches Möglichkeitsverhältnis impliziert: Erstens wird aufgezeigt wie Pädagogik als Wissenschaft allererst möglich wird, was die Möglichkeitsbedingung und der Sinn von Bildung ist. Zweitens soll aus Sicht des Pädagogen im zu Erziehenden Bildung als „Selbständigkeit im Denken“ durch eine be-stimmte intentionale Herangehensweise ermöglicht werden. Und drittens, wenn sich Bildung als gedankliche Verselbstständigung des Gegenübers einstellt, so kann dieses Ermöglichte als eine bestimmte, erfahrbare „Haltung“ verstanden werden. Zudem ist in dieser Haltung, in Form von noch aufzuzeigenden, weltbezogenen „Kompetenzen“, die Ermöglichung von dem „was ist und sein kann“ bzw. auch anders sein kann, implizit. Aufgrund dieser dreifachen Möglichkeitsrelation ist Ballauffs Bildungslehre als eine um-fassende „Möglichkeitstheorie“ bzw. eine „Pädagogik der Möglichkeiten“ zu bezeichnen.

Die differenzierende Erläuterung der drei Möglichkeitsmomente wird nach folgendem Vor-gehen abgehandelt: In einem ersten Schritt wird die Ermöglichung von Pädagogik thematisiert (Kap. 2). Dazu wird die systematische Zugangsweise Ballauffs an das Problemfeld mit dem Titel Pädagogik dargelegt und programmatische sowie methodo-logische Ausführungen erörtert, um zu verdeutlichen, welche Herangehensweise Ballauff für seine Konzeption von Pädagogik verwendet. In diesem Zusammenhang wird von der „transzendentalen Idee der Menschlichkeit“ die Rede sein, welche als Orientierungs- und Entwurfsfunktion in Ballauffs Systematik dient (Kap. 2.1). Ferner werden die üblichen Begründungsversuche anthropologischer, ethischer und sozialisationstheoretischer Pro-venienz als unzureichende, nicht zwingende Begründungsböden für die Pädagogik erläutert. Es wird aufgezeigt, dass und warum eine alternative Grundlegung von Pädagogik und Bildung im Rahmen des Möglichen liegt. Während dieser Darstellung werden bereits wichtige Thematiken für die weiterführende Abhandlung angesprochen und erste Merkmale von Ballauffs antithetischer Bildungskonzeption ansatzweise benannt (Kap. 2.2-2.4). Diese Konzeption wird dann in einem gesonderten Kapitel weitergeführt (Kap. 2.5).

Daran anschließend erfolgt eine detaillierte Analyse der Thematik des Denkens, da dieses die die unhintergehbare Möglichkeitsbedingung für Ballauffs Pädagogik bzw. Bildungs-begriff abgibt. Konstitutive Momente des Denkens werden erörtert und an einem Beispiel veranschaulicht, da diese Überlegungen ebenfalls für das Verständnis der weiteren Kapitel wesentlich sind (Kap. 2.6).

In einem zweiten Schritt wird eine Zwischenüberlegung eingeschoben, um den An- und Einsatzpunkt einer Bildung intendierenden Pädagogik zu verdeutlichen. Der thematische Fokus liegt auf sozialisationstheoretischen Reflexionen die sich, neben Ballauffs Ausführ-ungen, vermehrt auf Analysen des französischen Soziologen Pierre Bourdieu stützen. Das Problem einer sozialisierten, sozial und historisch bedingten Wirklichkeitsauffassung und einer doxisch-destinativen Weltsicht wird darin das Hauptthema sein. Dazu wird in wesentlichen Zügen das Habituskonzept Bourdieus erläutert (Kap.3f.).

Von einer Theorie der Doxa ausgehend wird in einem dritten Schritt das im zweiten Möglichkeitsverhältnis angesprochene Moment erörtert. Dieses Kapitel wird sich mit einer „Methodik der Ermöglichung“ beschäftigen. Das Ziel und die Möglichkeitsbedingungen des Unterrichts sowie der Emanzipations- und Partizipationsgedanke in Form von gedank-lichem Einbezug bzw. skeptischer (-transzendentalkritischer) Infragestellung sind in diesem Zusammenhang zu erläutern und als wichtige Komponenten einer bildungsanbahnenden Herangehensweise darzulegen (Kap. 4ff.).

Daraufhin wird das dritte Moment des Möglichkeitsverhältnisses artikuliert. Die im vorher-gehenden Kapitel erörterten Aspekte einer möglichen Bildung werden systematisch zusammengefasst und auf den Begriff gebracht. Dabei wird es sich um die Ausarbeitung der konstitutiven Kennzeichen von Bildung als „Selbständigkeit im Denken“ handeln. Der thematische Schwerpunkt dieser Zusammenfassung liegt darauf, jene Möglichkeits-momente darzustellen, die gegeben sein könnte, wenn Bildung im genannten Sinne erreicht ist (Kap. 5).

Im Schlussteil wird ein kurzer Rückblick auf die Ergebnisse der Erarbeitung erläutert (Kap. 6). Dem folgt eine verteidigende Diskussion der Frage, warum Bildung im genannten Sinne überhaupt ermöglicht werden sollte (Kap.7).

Die abschließenden Reflexionen werden einige exemplarischer Ausblicke auf mögliche Themen anführen, die in Bezug auf Ballauffs Denken eine lohnenswerte Beschäftigung abgeben könnten. Ferner wird danach gefragt, welche Gründe dafür sprechen, dass die Auseinandersetzung mit Ballauffs Pädagogik bisher relative gering ausgefallen ist und welche wesentlichen Voraussetzungen für die mögliche Umsetzung des ausgearbeiteten Bildungsverständnisses notwendig sind (Kap. 8).

Damit man nicht „die dünne Luft letzter Abstraktion zu atmen genötigt wird“ (Litt 1949, S. 17), werden während der Ausarbeitung von Ballauff selbst verwendete oder selbstständig erdachte Beispiel zum besseren Verständnis eingebaut, die „durch ihre Existenz die Sachhaltigkeit von Begriffen oder Sätzen (daß es keine Fiktionen sind) ausweisen“ (Buck 1989, S. 140) und veranschaulichen sollen.

Textgrundlage für diese Ausarbeitung sind Aufsätze und Monographien Ballauffs, sowie u.a. Sekundarliteratur, die in einem expliziten oder impliziten Zusammenhang zur Frage-stellung stehen. – Und damit zur Sache.

Hauptteil

2. Ermöglichung von Pädagogik als eigenständiger Wissenschaft

Theodor Ballauffs wissenschaftliches Nachdenken hatte seit Anfang der 50er Jahren des letzten Jahrhunderts ein Thema: Bildung. Beginnend mit der historisch-systematischen Studie über die Idee der Paideia bei Platon und Parmenides hat ihn diese Thematik bis ins hohe Alter beschäftigt. Zeugnisse dieses langen Denkweges liefern zahlreiche Mono-graphien und eine Fülle von Aufsatzpublikationen in renommierten erziehungs-wissenschaftlichen Zeitschriften. Die gedankliche Weite und Verweisung seiner Reflexion umspannt dabei nahezu alle Themenfelder, die mit Bildung in einem sachlichen Zu-sammenhang stehen. Neben seinen drei pädagogischen Hauptwerken[11] beschäftigte sich Ballauff mit Fragen zur philosophischen Legitimation von Bildung und der aufdeckenden Analyse der Struktur, die den traditionellen Bildungskonzepten zugrunde liegt. Ferner äußerste er sich ausführlich zur Thematik der Schule, des Unterrichts und Lehrers und deren jeweiliges historisch-systematisches Verständnis und deren heute anstehenden Aufgaben. Auch weitreichende Überlegungen zur Erwachsenenbildung, ihrer Begründung, ihres Sinns und der Frage nach dem was Erwachsensein, fernab von juristisch-biologischen Festlegungen, pädagogisch bedeuten kann, sind in Ballauffs Reflexionen nicht ausgespart. Erwähnenswert ist zudem das monumentale, über zweittausend Seiten umfassende Werk zur Geschichte von Bildung und Erziehung, in der das Nachdenken über diese Thematiken seit den antiken Anfängen zugänglich gemacht und ausführlich interpretiert wird.

Während dieses langen Denkweges entwickelte Ballauff einen pädagogischen Ansatz, der sich durch eine konzeptionelle Eigenständigkeit auszeichnet. Dieser lässt sich keiner der im vergangenen und gegenwärtigen Diskurs vorherrschenden Pädagogikrichtungen zuordnen. Seine Pädagogik ist ein autochthoner Entwurf, der sich mit keinem empirisch-positivistischen, geisteswissenschaftlich-hermeneutischen, ideologisch-kritischen oder neukantianisch-prinzipienwissenschaftlichen Pädagogikverständnis deckt. Ballauff folgt in seinen Überlegungen einem philosophisch-bildungstheoretischen Pädagogikverständnis, das für seine Reflexionsbemühungen einen gleichsam programmatischen Stellenwert hatte:

„Mit Pädagogik haben wir es nur dann zu tun, wenn eine Antwort auf die Frage nach Sinn und Maß der Bildung gegeben wird. Pädagogik hat es zunächst nicht mit der sog. Erziehungswirklichkeit zu tun. Ob und wann wir die „Wirklichkeit“ der Erziehung vor uns haben, das kann ja nur von der Pädagogik her ausgemacht werden. Pädagogik hat auch zu-nächst nicht Unterricht und Schule zum zentralen Thema. (…) Pädagogik macht (…) „Erziehungswissenschaft“ möglich. Sie gibt allererst an, was Bildung und Erziehung ist, somit ihre Dimension, ihre Grenzen, ihre Grundlage. Sie gibt den Horizont voraus, in dem allein mit Fug und Sinn nach Bildung und Erziehung gefragt werden kann. Pädagogik muß daher zuerst und zuletzt als ein Gedankengang vor sich gehen. Insofern mag man sie philosophisch nennen, weil sie sich allein dem Denken unterstellt“ (Ballauff 1966, S. 9f).

Diesen philosophischen Bestrebungen, die Möglichkeit und Grenzen von Bildung und damit Erziehung zu bedenken und den pädagogischen Deutungs- und Handlungsrahmen abzustecken, innerhalb dessen überhaupt erst angebbar ist, was Bildung ist und auf welchem Weg sie durch Erziehung und Unterricht erreichbar werden kann, galten Ballauffs theoretische Anstrengungen.[12] Es war ihm daran gelegen, Pädagogik als eigenständige, nicht von fremden Einflüssen abhängige Wissenschaft zu konzipieren und eine Grundlage zu finden, so dass „sie nicht mehr bloß Annex, Überbau, Funktion“ (Ballauff 1979, S. 16) anderer Wissenschaften sein muss. Dies bedeutet nicht, dass Pädagogik die Ergebnisse anderer Wissenschaften, wie etwa Psychologie und Soziologie, nicht zu berücksichtigen braucht, nur ist allen unbedachten „Übernahmen und Einblendungen gegenüber äußerste Skepsis walten zu lassen“ (Ballauff 1970b, S. 12). Sie sind als Grundlage der Pädagogik radikal in Frage zu stellen und konstruktiv zu überschreiten, weil sich hinter ihnen „zumeist eine eigene Metaphysik im Sinne einer nicht weiter bedachten und ausgewiesenen Axiomatik verbirgt“ (Ebd., S. 11). Diese für wahr gehaltenen Grundsätze und Prinzipien begrenzen und antizipieren zumeist Forschung und Erkenntnis und entstammen historisch aufgekommenen Deutungshorizonten, die das Nachdenken über Pädagogik bedingen, wenn sie nicht als Prämissen aufgedeckt werden. Pädagogik aber, in Ballauffs Verständnis, muss sich dieser metaphysischen Vor- und Übergriffe durch außerpädagogische Begrifflichkeiten und Kategorien so weit wie möglich entledigen und eine eigene Grundlegung versuchen, wenn sie nicht von pädagogikfremden Systematiken geleitet werden will.[13] Darum ist zu fragen, wie Pädagogik möglich und legitimiert werden kann, ohne dass sie in ihren Grund-lagen und Voraussetzungen von anderen Wissenschaften abhängig ist? Von welchem Axiom kann sie ausgehen? Wie kann eine angemessene Antwort auf Sinn und Maß von Bildung gegeben werden, wenn wir heute nach ihr fragen?

2.1 Systematik und Methodik der Pädagogik

Um Pädagogik als eigenständige Wissenschaft zu konzipieren, ist sie an ihre Historie ver-wiesen, weil diese erst ermöglicht „Sinn und Aufgabe, Maß und Reichweite von Erziehung (…) zu ermitteln“ (Ballauff 1970a, S. 38).[14] Daher kann weder eine Definition von Pädagogik an den Anfang gestellt werden, würde man dadurch „doch viel zu viel festlegen und viel zu viel zu erklären haben“ (Ballauff 2004a, S. 9), noch ist von einer völlig unbekannten Thematik mit dem Titel „Pädagogik“ auszugehen. Man muss sich, so Ballauff, von einem Vorverständnis, einer Art vorläufigem Arbeitsbegriff bei der Frage nach der Pädagogik und Bildung leiten lassen.

Diese Arbeitshypothese lässt sich in Konturen wiederum nur gedanklich aus der Geschichte herleiten, da unter Pädagogik eine Theorie der Erziehung und Bildung mit geschichtlich variablen Interpretationen dieser Sachverhalte verstanden wurde und wird.

Auf die aus dem heutigen Diskussionshorizont gestellte Frage nach dem Aufgabenrahmen der Pädagogik, ist daher eine erste Antwort im Rückgriff auf vergangenes Nachdenken be-züglich dieses Themas zu gewinnen.

Ballauff findet in diesem „Rückgang“ eine Differenzierung der Pädagogik in die Bereiche Erziehung und Bildung, womit der Themenkomplex von Schule und Unterricht verbunden ist. Ferner macht er den umfassenden Bereich der Sozialisation ausfindig, der in all-gemeiner Form verstanden werden kann als Einbezug und Einführung des jungen Menschen in eine bestehende Gesellschaft.

Des Weiteren konstatiert er eine innerdisziplinäre Differenzierung des Nachdenkens über Erziehung und Bildung in den Themenbereich „Pädagogik“ und die so genannte, an der naturwissenschaftlichen Exaktheit orientierte, „Erziehungswissenschaft“. Diese verfährt in der Erforschung der vermeintlichen Erziehungswirklichkeit durch eine experimentelle und synchrone Empirie. D.h. sie versucht sowohl die gegenwärtige „Realität“ von Erziehung mittels Experiment und Observation, als auch quantitativer und qualitativer Forschung festzustellen. Diese wird aber durch verschiedene Gründe von Ballauff als ungenügend für die Legitimation von Bildung angesehen, denn „die reine Erziehungswissenschaft kann niemandem Auskunft über Erziehung erteilen im Sinne von Zielangaben, Maßgaben und Maßnahmen“ (Ballauff 1970a, S. 35). Das stärkste Argument ist, dass sie in Form der empirischen Forschung gar nicht ausweisen kann, was Bildung ist, weil sie dazu einen Begriff von Bildung benötigt, der sich eben nicht allein durch Erfahrung und Erforschung der „Erziehungswirklichkeit“ ermitteln lässt.[15] Darum ist die Erziehungswissenschaft als empirische Forschung entweder versteckt normativ, weil sie angeblich werturteilsfrei Er-gebnisse liefert, die aber auf nicht explizit dargelegten und diskussionswürdigen Voraus-setzungen beruhen. Oder sie ist in die „ancilla-Rolle“ verwiesen, da sie ihre begrifflichen „Voraussetzungen und Zielsetzungen (…) anderen Instanzen- z.B. Kirchen, Regierungen, Parteien“ (Ballauff 2004a, S. 13) überlässt und somit zur instrumentalisierten Erziehungs-technologie fremder Herkunft degradiert wird.

Diese Unzulänglichkeit der empirischen Erziehungswissenschaft in Sachen der Maß-geblichkeit von Bildung bedeutet jedoch nicht deren völlige wissenschaftliche Suspendier-ung. Vielmehr ist ihre Nützlichkeit an die Pädagogik rückgebunden, die ihrerseits erst im historischem Rückgang, Sinn und Grenzen von Bildung ermitteln kann. Kurz gesagt: Um empirische Forschung sinnvoll, nicht beliebig oder flüchtigen Zeitmoden überantwortet zu betreiben, bedarf es einer bedachten Vorstellung von dem was Bildung und damit der Versuch ihres In-Gang-Bringens d.h. Erziehung, auszeichnet. Diese Vorstellung bringt die Pädagogik auf den Begriff.

Pädagogik hat darum die theoretische Aufgabe, Zielsetzungen und einen Begriff von Bildung zu formulieren, diesen zur Sprache zu bringen, „selbst wenn sich herausstellen sollte, dass Bildung in Wirklichkeit nicht erfüllbar, nicht erreichbar ist – oder nur von wenigen verwirklicht werden kann, würde Pädagogik als Wissenschaft gehalten sein, in der Theorie auszusagen und zu begründen, was Bildung ist“ (Ebd., S. 13).

Um diese Aufgabe zu erfüllen und damit der Erziehungswissenschaft ein begriffliches Instrumentarium für ihre synchrone Empirie zu liefern, ist es notwendig, einige erläuternde Worte zu Ballauffs eigener Methode zu sagen. Sie wird von ihm als diachrone, „historische Empirie“ (Ballauff 1970a, S. 36) bezeichnet. Diese von ihm in vielen seiner Publikationen, angewendete Methode[16] ist eine Herangehensweise an die Historie des bisherigen Nach-denkens über Bildung und Erziehung. Historie ist als das Konglomerat und die gedankliche Kristallisation von gemachten und sprachlich fixierten Erfahrungen zu verstehen, an der gedanklich partizipiert werden kann. In Anwendung und im Vollzug dieser Methode wird der Ausgang daher bei einem gegenwärtig auftauchenden Problem genommen. Dieses Problem schwebt aber nicht gleichsam in einem geschichts- und voraussetzungslosen Raum. Es ist also keine „quaestio ex nihilo“, sondern dieses in Frage stehende Problem ist durch einen ihn historisch bedingenden Horizont vorstrukturiert. Die gegenwärtige Reflexion über Bildung und Erziehung ist die traditionsbehaftete Projektionsfläche vergangenen Denkens über diesen Sachverhalt. In den Problemen von heute sind die „Vor-Urteile und Voraussetzungen, aus den wir noch denken, sprechen und Erziehung verstehen“ (Ballauff 1970a, S. 37) implizit. Demzufolge verweist jedes aktuell aufgeworfene Problem zurück an einen verbindlich gewordenen Traditionsstrang, der möglicherweise wichtige Im-pulse für das momentane Denken geben kann. Darum ist diese gedankliche Traditions-verbindung zuerst bewusst zu machen und dann, daran anknüpfend, vom heutigen Horizont aus auf vergessene und/oder unbeachtete Lösung zu befragen. Ziel dieser Anknüpfung ist die gegenwärtige Thematik weiterzudenken oder skeptisch infrage stellend zu überholen. Mittels der Methode der „historischen Empirie“ nimmt man daher forschend an der Weite der gemachten Erfahrungen und ihrer gedanklichen Fixierung teil, mit dem Ziel Anregung, Lösungen oder Kritik in Bezug auf aktuelle Frage zu finden.

Exemplarisch heißt dies: Wenn heute nach dem Sinn und den Grenzen von Bildung gefragt wird, ist diese Frage keine die traditionslos aufkommt. Sie entstammt einem zweitausendfünfhundert jährigem Nachdenken darüber, was Bildung ist oder sein kann. Daher ist diese Bildungsthematik im Hinblick auf ihre Herkunft und Voraussetzungen bewusst zu machen. An dieses Gedachte anknüpfend erfolgt dann die systematische, d.h. planmäßige und gezielte Frage, ob die jeweiligen Gedanken, welche über die in Diskussion stehende Problematik bereits geäußert wurden, eine Lösung bieten, das zeitgenössische Problem in eine bestimmte Richtung auszuarbeiten, oder ob dieses Problem gegebenenfalls durch die Infragestellung vergangener Konzepte in eine neue Richtung zu überdenken ist. Die Methode der „historischen Empirie“ vollzieht sich darum „weitestgehend als Dreischritt von Anknüpfung, Frage und Antwort sowie skeptischer Kritik, d.h. der Infragestellung der eigenen Antworten zum Zweck der Relativierung, Präzisierung und gegebenenfalls Überholung“ (Poenitsch 1992, S. 98). Oder temporal ausgedrückt heißt dies: Von einer gegenwärtig in Frage stehenden Thematik ist durch anknüpfende Befragung der gedanklichen Vergangenheit, in deren traditionsbedingten Themenkreis der problematische Sachverhalt gehört, eine neue Lösung für Gegenwärtiges und auch Zukünftiges, zumindest der Möglichkeit nach, zu finden. In Hinblick auf den Möglichkeitsgedanken und in loser Anlehnung an Nietzsche formuliert, lässt sich der Beitrag dieser Methode wie folgt charakterisieren: Der systematische Nutzen der Historie für das „pädagogische Leben“ liegt in der Anregung von Weiter- oder Umdenkprozessen in Bezug auf Bildungs- und Erziehungsfragen.

Dies mag zur Explikation von Ballauffs Methode der „historischen Empirie“ genügen. Im Kommenden wird diese nicht mehr ausdrücklich genannt, auch wenn die meisten Erläuter-ungen, Infragestellungen und begründeten Antwortversuche Ballauffs sich in diesem Dreischritt vollziehen.[17]

Zur Erinnerung: Aufgabe einer systematischen Pädagogik ist es, einen begründeten Begriff von Bildung zu formulieren. Zu diesem Zweck bedarf es aber, laut Ballauff, in Anknüpfung an Kant, „einer transzendentalen Idee, eines Leitgedankens, der das Ganze – etwa >das Pädagogische< – übergreift und konstituiert“ (Ballauff 2004a, S. 18). Um das Nachdenken der Pädagogik über Bildung systematisch möglich zu machen und zu strukturieren, damit nicht jedes x-beliebige Geschehen als pädagogisch bezeichnet werden kann, bedarf es eines die Willkür begrenzenden Gedankens. Denn „wenn es diese Idee für den pädagogischen Bereich nicht gibt, ist keine Systematik möglich“ (Ebd., S. 18).[18] Die Frage ist demnach, ob es eine solche regulative Idee des Pädagogischen gibt? Ballauff bejaht dies:

„(D)ie Idee der Menschlichkeit, sie gibt Ziel und Weg voraus, sie muß ein Maß angeben, und sie stellt eine Aufgabe. Als Idee verweist sie uns Menschen an die Selbstkritik hinsichtlich des erfahrbaren Vollzugs der Menschlichkeit“ (Ebd., S.19).

In der Idee der Menschlichkeit hat die Pädagogik ihren Leitgedanken, der eine Ordnungsfunktion erfüllt und ihr eine Richtung vorgibt. Zudem macht sie die dahingelebte Art und Weise der Menschen kritisierbar. Menschlichkeit als Idee ist sowohl strukturierendes Moment der systematischen Pädagogik, als auch der „>Entwurf< ihres Inhaltes“ (Ebd., S.19).[19] Da sich aus der Beantwortung der Frage des konkreten Inhalts die Legitimation und das Projekt der ballauffschen Pädagogik ergeben, ist es nicht verwunderlich, dass Ballauff fragend an die Anthropologien seiner Zeit anknüpft.

2.2 Delegitimation der anthropologischen Begründung

Das Thema der Anthropologie als wissenschaftliche Disziplin ist die Frage nach dem Menschen. Genauer formuliert stellen die Anthropologie treibenden Menschen systema-tisch die Frage nach sich selbst und dem was den Menschen in seinem Menschsein, d.h. seiner Menschlichkeit wesentlich auszeichnet. Aufgrund dieser theoretischen Problemstellung, ist es naheliegend den Ergebnissen der Anthropologie in Bezug auf diese Frage Aufmerksamkeit zu schenken. Denn von diesen Resultaten ausgehend könnte die Möglichkeit gegeben sein, Pädagogik auf eine feste Grundlage zu stellen.

Jedoch führt Ballauff gewichtige Einwände an, die gegen die Anthropologie im All-gemeinen und die Möglichkeit sprechen, diese als Grundlegungsfunktion für die Päd-agogik heranzuziehen. Auf drei wesentliche Punkte zusammengefasst lässt sich diese Anthropologiekritik für die hier verständlich zu machenden Thematik in drei thematische Argumentationsstränge bündeln: Erstens äußert Ballauff Kritik an der anthropologischen Defizienz- und Abudanztheorie. Zweitens erhebt er erkenntniskritische Einwände gegen die unthematischen Voraussetzungen der anthropologischen Forschung. Und drittens wen-den sich Ballauffs Einwände gegen eine unveränderliche Wesensdefinition des Menschen und die Generalisierbarkeit überzeitlich in Geltung stehende Aussagen. Diese Kritik wird kurz in wesentlichen Punkten expliziert, bevor dargelegt wird, was nach Ballauffs Auffassung den Menschen in seinem Menschsein essentiell ausmacht.

Ballauff wendet sich gegen die Gehlensche These vom Mensch als Mängelwesen. Dieser These gemäß kompensieren Kultur und ihre handlungsentlastenden Institutionen die organinsuffiziente, umweltentbundene Weltoffenheit des Menschen. Grund für Ballauffs Kritik daran ist, dass sie keine Bildung rechtfertigen. Denn „pädagogisch folgt aus der strengen Defizienztheorie die Notwendigkeit institutionalisierter Erziehung. (…) Erziehung bedeutet Zivilisation im Sinne von Sozialisation und Enkulturation, sie bezeichnen die Einführung und Aufnahme in einen Lebensraum, der die natürlichen Mängel aufhebt und die Daseinsbewältigung ermöglicht“ (Ballauff 2004a, S. 25).

Zum anderen erteilt er der Abudanztheorie eine Absage. Dieser Auffassung zu Folge, die der Defizienzthese diametral entgegensteht, ist der Mensch durch eine hohe Instinkt-differenzierung bestimmt. Dies bedeutet, dass er sich durch einen spezifischen Reichtum an Interessensrichtungen und Lerndispositionen auszeichnet. Aufgrund dieses Über-reichtums an Antrieben ist der „Mensch (…) gerade (…) freier als das Tier, weil der >getriebener< ist als sie, d.h. weil er zahlreiche Antriebssystem besitzt, die gegeneinander aufgerechnet werden können“ (Ebd., S.26). Daher ergibt sich aus der Abudanztheorie die Notwendigkeit von Erziehung als eine Art Komposition, Regulation und Kanalisation der Antriebe.

Folglich lassen sich aus dieser Anthropologie andere pädagogische Konsequenzen ziehen als es die Gehlenschen Theorie offeriert. Diese Ambivalenz der Konsequenzen ist jedoch eine unbefriedigende Situation für eine Grundlegung von Pädagogik, weil diese dann nur das ausführende Organ zweier sich widersprechender Bestimmungen des Menschen wäre. Zudem und gewichtiger ist in diesen Anthropologien ein Antwortversuch auf die Fragen, die Ballauff wie folgt formuliert:

„Nicht Mangel-Kompensation – woher der Kompensator? Nicht Überfluß-Regulation - woher der Regulator?“ (Ballauff 2004a, S. 34).

Der zweite Argumentationsstrang richtet erkenntniskritische Einwände gegen die unbe-dachte Voraussetzungsbedingtheit der Anthropologie. Denn es ist, laut Ballauff, „unmöglich die Menschlichkeit aus dem Vergleich mit den Tieren herzuleiten, da das meiste, was man bei den Tieren feststellt, vom Selbstverständnis des Menschen her >erschlossen< ist“ (Ebd., S. 28). Dies bedeutet: Die anthropologische Argumentation ist immer anthropozentrisch und zirkulär, weil es keinen epistemologischen Standpunkt außerhalb der menschlichen Auffassungsart gibt, der es gestatten würden den Mensch-Tier Vergleich von einer neutralen Position zu beurteilen und diesen sprachlos zu über- und vermitteln. Das Menschsein an sich zu erkennen ist unmöglich. Daher gelangt man streng genommen nur zu Aussagen des „Menschsein für sich“, d.h. für den Anthropologie treibenden und nach sich fragenden Menschen. Außerdem ist der Lehre vom Menschen gegenüber Kritik zu äußern, weil sie von bestimmten Prämissen ihren Anfang nimmt und damit bereits im Vorab die Forschung des Gegenstandes „Mensch“ antizipiert. Denn „die Anthropologie geht von einer metaphysischen Proposition aus, die nicht mehr in ihr erörtert wird (…). Fragen wir nach der Menschlichkeit des Menschen, so können wir nicht fraglos ein zoologisches System voraussetzen, ebenso wenig wie wir ein theologisches System der göttlichen Hierarchie voraussetzen können, das wir noch weniger kennen als das der Tiere (...)“ (Ebd., S. 32). Dies bedeutet: Was den Mensch wesentlich auszeichnet, kann nicht von vornherein durch bestimmte theoretische Vor-gaben, die unkritisiert als gleichsam a priori fungierendes Prinzip in Geltung steht, aus-findig gemacht werden.[20]

Den Einwänden des dritten Argumentsstrangs zu Folge, welche der Anthropologie im Allgemeinen ihre „Unbrauchbarkeitsbescheinigung“ ausstellt, richten ihren kritischen Gedanken gegen eine abstrakte und allgemeine Wesendefinitionen des Menschen und der Ausblendung der Historizität des Denkens. Eine Anthropologie gleich welcher Art, die von dem Menschen als Abstraktum spricht, redet auf einer Metaebene über die einzelnen Menschen hinweg. Ihre Fragestellung, die auf eine absolute und überzeitliche Definition des Menschen gerichtet ist, vergisst dabei die historische Standortgebundenheit des eigenen Denkhorizonts. Die Auffassung vom Menschen ist abhängig vom jeweiligen Denken einer Epoche, modern gesprochen, von den Paradigmen und Diskursen über den Menschen. Aufgrund dieser topischen Gebundenheit des Denkens und den kooperativen und kompetativen Charakter der Diskurse im Sinne der Durchsetzung einer bestimmten Auffassung des Menschen, kann man „streng genommen nicht von >dem Menschen<, sondern müssen von >den Menschen< sprechen, noch angemessener: von >uns Menschen<, die wir uns heute in unserer geschichtlichen Lage über uns selbst zu verständigen suchen“ (Ebd., S. 30).

Dies heißt nicht, dass die Verständigung über das den Menschen Auszeichnende nicht möglich ist, sondern dass der „Aufschluß über die Menschlichkeit (…) nur aus der geschichtlichen Selbsterfahrung der Menschen in Gestalt des Miteinanders und Gegeneinanders der geschichtlichen Interpretationen zu gewinnen (Ebd., S.30) ist. Ins Positive gewendet bedeutet diese Aussage:

„Man wird berechtigt sein, anstelle eines übergeschichtlichen >Wesens< des Menschen nach geschichtlichen Konstanten oder Invarianten zu suchen, die jene Gemeinsamkeit zu definieren gestatten“ (Ebd., S. 30f.).

Einen dritten und letzten Einwand den Ballauff entgegen der Anthropologie geäußert hat, hängt mit dem soeben Erläuterten sachlich zusammen.[21] Dabei handelt es sich um die Apologie von Individualität und Singularität der Einzelnen in ihrer existenziellen Situiert-heit. Denn Anthropologie nivelliert die Differenzen von „uns Menschen“, in dem sie von der Einzigartigkeit der Einzelnen abstrahiert. Ferner übergeht sie die Unvertretbarkeit und Unvertauschbarkeit des Einzelnen in seiner Einmaligkeit.

„Ich kann dich niemals vertreten, so sehr ich dir viele Aufgaben, viele Tätigkeiten abnehmen. Ich (…) aber bin in meiner Unvertretbarkeit und Unvertauschbarkeit unwiederholbar“ (Ebd., S. 31).

Mit diesem existenzphilosophischen Hinweis auf die jeweilige Einzigartig- und Einmaligkeit wird letztlich jede auf Wesensdefinition hin orientierte Anthropologie, die Allaussagen bezüglich des Menschen als Gattungswesen intendiert, unterlaufen, weil sie am konkreten Menschen vorbeiredet. „Denn als Lehre, als Theorie kann sie niemals von mir sprechen, mich in meiner Singularität treffen“ (Ebd., S. 32).

Diesen skizzierten Einwänden zu Folge, ist die Anthropologie als Wissenschaftsdisziplin insgesamt unzureichend zur möglichen Grundlegung der Pädagogik, um ihr den Inhalt der Idee der Menschlichkeit zu liefern. Zudem muss die Anthropologie als Versuch, eine letzt-begründete und damit letztgültige Antwort auf das Wesen des Menschen zu geben, als gescheitert angesehen werden. Jede Anthropologie ist historisch relativierbar und der „Anthropologe selbst muß sich als Mensch einer bestimmten Epoche miteinkalkulieren und als Voraussetzung erkennen“ (Ballauff 1979, S. 12). Und wie dargelegt kann von uns Menschen nur vom heutigen Standpunkt ausgehend die Rede sein. Ins Positive gewendet bedeutet dies, dass die Menschlichkeit für heute und die Zukunft offen und damit „eine schwierige Aufgabe mit fragenreichem Inhalt“ (Ballauff 2004a, S. 15) ist und bleibt.

Dennoch wagt Ballauff einen eigenen, formalen Entwurf dessen, was Menschsein auszeichnet. Denn erstens ist noch nicht geklärt, woher in den Defizienz- und Abudanztheorie der Kompensator bzw. der Regulator kommt; zweitens steht die Antwort noch aus, welcher Ansatz fernab von bestimmten Propositionen genommen werden kann; und drittens ist noch kein Hinweis auf die Invariante gemacht, die das Gemeinsame des Menschseins zu definieren gestattet. Auf alle drei Fragen lautet Ballauffs Antwort: das Denken. Dieser Sachverhalt ist erläuterungsbedürftig.

Weil es in der Defizienz- und Abudanztheorie einer Instanz bedarf, um die Kompensation bzw. Komposition zu gewährleisten, fragt sich welche „Reglungsgröße“ diesen Ausgleich bzw. die Zusammenstellung zu Stande bringen kann. Ballauff dazu:

„Wie, wenn nicht Defizit oder Abudanz das menschliche Wesen geprägt hätten, sondern der Eingriff des Denkens, das Überkommenwerden eines Tieres durch das Denken, nicht von heute auf morgen, aber einerseits allmählich, langsam, langhin, andererseits in Eingebungen, Intuitionen, Illuminationen, >kreativen Phasen<. (…) Eingebung, Erleuchtung, Einsicht, Intuition, Gedankengang, Diskursivität, Diskussion treten im kosmischen Geschehen auf, treten in es ein: Denken als das uns Einbeziehende, als das, an dem wir teilhaben, schon von Anfang an seit unserer Selbstkonstitution; denn im Denken ruft Denken >das Ich< hervor, mich, dich – ein Denken, das nicht von mir geschaffen wird, das nicht in meiner Macht steht, das nicht geschaffen wurde in einer Schöpfung, sondern ist und war im Reich des Möglichen“ (Ebd., S. 34).

[...]


[1] Vgl. zur Problematik, dass dieser Unterschied als „Widerstreit“ verstanden ein spannungsreiches und konstitutives Moment für das Selbstverständnis der Pädagogik abgibt: Ruhloff 1991, S. 72ff.

[2] Wenngleich die Herkunft des deutsche Begriffs „Bildung“ auf den Mystiker Meister Eckhardt

zurückgeht. Vgl. dazu: Böhm 2004, S. 42.

[3] Vgl. dazu: Dörpinghaus, Poenitsch, Wigger 2006, S. 116ff.

[4] Ein starkes Argument, das diese These von Potenzen entkräftet, liefert die Zwillingsforschung, denn bei gleichem Geno- und Phänotyp ist die geistige Entwicklung nicht identisch. Es scheinen also noch andere Faktoren als Anlagen und Veranlagungen bezüglich des Lernens ausschlaggebend zu sein.

[5] Vgl. dazu: Jacobi 2001, S. 9f.

[6] Vgl. bezüglich der historischen und systematischen Verwendung des Möglichkeitsbegriffs: Seidl 1983, S. 73ff.

[7] Im Folgenden ist, wenn das Maskulinum genannt wird, immer zugleich das Femininum gemeint.

[8] Mit Banki lässt sich die folgende Ausführung über Ballauffs bildungstheoretischen Überlegungen auch als eine „Pädagogik der Möglichkeit“ verstehen, jedoch mit einem veränderten Vorzeichen in der Interpretation. Die Auslegung Bankis steht ganz im Bann der heideggerschen Lesart Ballauffs. Diese häufig vollzogene Lesart, bei der zumeist die noologische Begründung, die eminente Bedeutung der Skepsis für den ballauffschen Ansatz ausgeblendet, sowie dessen Pädagogik theoretisch voreingenommen im Licht der heideggerschen Fundamentalontologie interpretierte wurden, wird nicht verfolgt werden. Ballauffs Reflexionen über Bildung wird nicht als eine „Existenzialpädagogik“ (Wehner 2002, S. 170) verstanden. Wenn es einer Etikettierung bedarf, um Ballauffs Pädagogik zu verorten, so wäre vielleicht die etwas sperrig klingende Bezeichnung „Transzendentalitätspädagogik“ treffender. Denn Ballauff geht nicht von Existenzialstrukturen im Sinne Heideggers, noch von einer Seinsvergessenheit[8] aus. Den Ausgang nimmt Ballauff vom Denken[8] und diesem innewohnenden Strukturmomenten. Dies wird im Folgenden noch genauer auszuführen sein. Vgl. dazu auch: Poenitsch 1998, S. 235f., bes. S. 236.

[9] Eine Studie, die dieses angesprochene Bedingungsgeflecht genealogisch aufzudecken versucht, kann in Michel Foucaults Buch „Überwachen und Strafe“ gesehen werden. Das Schlusswort bekundet zudem eine sachliche Nähe zu Ballauffs Analyse. Foucault schreibt: „In dieser zentralen und zentralisierten Humanität, die Effekt und Instrument komplexer Machtbeziehungen ist, sind die Körper und Kräfte vielfältigen >Einkerkerungs<-Anlagen unterworfen und für Diskurse objektiviert, die selber Elemente der Strategie sind. In dieser Humanität ist das Donnerrollen der Schlacht nicht zu überhören“ (Foucault 1977, S. 397).

[10] Vgl. dazu: Poenitsch 1992, S. 97ff.

[11] Als die Hauptwerke können angesehen werden: Systematische Pädagogik 1970; Skeptische Didaktik 1970; Pädagogik als Bildungslehre 2004

[12] Vgl. dazu: Beck 1979, S. 16. Dort heißt es: „Wenn nicht vorgeklärt wird, was unter Erziehung (Bildung) sinnvoll zu verstehen ist, lässt sich gar nicht sinnvoll fragen, wie sie geschehen kann oder soll; ersteres ist grundlegend für letzteres. Andererseits kann das, was sie ist, immer nur irgendwie geschehen – in bestimmter konkreter Weise und Methode, die jedoch dem Was entsprechen und angemessen sein muß.“

[13] Diese bedingungsanalytische Denkbewegung weist Ähnlichkeiten zur Skeptischen Pädagogik Wolfgang Fischers auf. Nur liegt der wesentliche Unterschied zu Ballauff Theorie darin, dass W. Fischer durch die skeptisch-transzendentalkritischer Methode mit der dekonstruktiven Aufdeckung von unbeachteten und -bedachten Voraussetzungen und deren Relativierung und Widerlegung endigt, ohne eine konstruktive Lehre zu konzipieren. Vgl. dazu: Fischer 1998, auch 1993; bes. 24f. Wohin gegen Ballauff nach der Infragestellung und Überschreitung der unreflektierten Prämissen den Neuansatz einer genuin pädagogischen Legitimation versucht. Vgl. zu beiden: Poenitsch 2003, S. 81f.

[15] Vgl. dazu: Ballauff 1970a, S. 34f.

[16] Vgl. dazu: Ballauff 1984, 1969, 1966, 1970a und b, 2004a.

[17] Die folgenden Kapitel 2.2 -2.5 sind ein Beispiel für die historische Empirie in Form von Anknüpfung, Frage und skeptisch-kritischer Überschreitung.

[18] Diese Systematik der Pädagogik, auch wenn sie von der Idee der Menschlichkeit angeleitet wird, ist kein statisches, ein für alle mal fixierbares und festes System aus apodiktischen Lehrsätzen und Handlungsvorschriften, sondern als ein unabschließbarer „Gedankengang“ zu vollziehen und zu verstehen, der sich durch Begründung auszeichnet. „Ihre Logizität besteht in Folgerichtigkeit und Schlüssigkeit, ebenso in der Platzanweisung für ein jedes, das in sie eingeht, und einer Platzvorhersage für jedes, das in sie eingehen müsste (…). >Konstruieren< heißt dann nicht, etwas nach Gutdünken >machen<, sondern eben dieser Logizität das Wort erteilen“ (Ballauff 2004a, S. 19).

[19] Im hier verwendeten Begriffverständnis Ballauffs ist „Menschlichkeit“ nicht sozialethisch zu verstehen, im Sinne einer nächstenliebenden Haltung gegenüber den Anderen oder was den Menschen zukommen müsste, um Humanität zu verwirklichen, sondern als Frage danach und Bestimmung dessen, was den Menschen in seinem Menschsein auszeichnet.

[20] Diese Einwände lassen sich zusammengenommen gleichsam als transzendentalkritische Einwände bezeichnen, da in ihnen nicht die Gegenstände in der intentio recta in Betracht gezogen werden, sondern im obliquen Blick kritisch nach der Erkenntnisart des Objekts „Mensch“ und den Möglichkeitsvoraussetzungen gefragt wird.

[21] Ballauff Anthropologiekritik umfasst insgesamt acht Argumente. Deren Darlegung ist aber für die hier zu behandelnde Thematik von geringer Relevanz. Vgl. dazu: Ballauff 2004a, S. 21ff.

Ende der Leseprobe aus 137 Seiten

Details

Titel
Bildung und Möglichkeit
Untertitel
Theodor Ballauffs Pädagogik aus einer neuen Perspektive
Hochschule
Universität Koblenz-Landau  (Erziehungswissenschaften)
Note
2,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
137
Katalognummer
V151007
ISBN (eBook)
9783640630219
ISBN (Buch)
9783640630554
Dateigröße
1008 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kant, Heidegger, Foucault, Bourdieu, Aufklärung, Emanzipation, Historie, Pädagogik, Erziehung, Philosophie, Transzendentalkritik, Bildungsbegriff, Sachlichkeit, Skepsis, Sozialisation, Mitmenschlichkeit, Desubjektivierung, Selbstlosigkeit, Partizipation, Bildungstheorie, Anthropologie, Husserl, Menschlichkeit, Doxa, Transzendentalphilosophie, Selbstverwirklichung
Arbeit zitieren
Mario Stenz (Autor:in), 2009, Bildung und Möglichkeit , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/151007

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