Multiple Sklerose. Die Krankheit mit den 1000 Gesichtern

Das Erleben von an MS erkrankten Menschen


Mémoire de Maîtrise, 2010

112 Pages, Note: 1


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Einleitung
1.1 Aufbau und thematische Abgrenzung
1.2 Problemstellung
1.3 Forschungsfragen
1.4 Arbeitsmethode

2 Klärung der Fachtermini
2.1 Das Krankheitsbild der Multiplen Sklerose
2.2 Chronische Krankheiten
2.3 Lebensqualität

3 Das Krankheitsbild der Multiplen Sklerose aus medizinischer Sicht
3.1 Geschichtlicher Rückblick
3.2 Ätiologie und Pathogenese der Multiplen Sklerose
3.3 Die Verlaufsformen und die Prognose der MS
3.4 Symptome und Krankheitszeichen
3.5 Epidemiologische Aspekte in Österreich
3.6 Behandlungsmethoden

4 Lebensqualität
4.1 Familiensituation
4.2 Lebensqualitätsforschung
4.2.1 Aspekte der Lebensqualität bei MS
4.3 Studien zur Lebensqualität von MS Erkrankten

5 Chronische Krankheiten
5.1 Merkmale chronischer Krankheiten
5.1.1 Krankheitsunsicherheit
5.2 Besondere Merkmale chronischer Krankheiten
5.3 Forschungsansätze zur Bewältigung chronischer Krankheiten
5.4 Allgemeine Anmerkungen zum Entwicklungsstand der Pflegewissenschaft
5.4.1 Stand der Pflegeforschung bezüglich Erleben der chronischen Krankheit MS im deutschsprachigen Raum
5.4.2 Stand der Pflegeforschung bezüglich Erleben der chronischen Krankheit MS in englischsprachigen Ländern
5.5 Pflegewissenschaftlich begründete Modelle
5.5.1 Das Illness-Trajectory-Modell von Corbin und Strauss
5.5.2 Das Thorne & Robinson Modell
5.5.3 Das Phasenmodell - Illness-Constellation-Model
5.5.4 Das Selbsthilfe-Modell

6 Darstellung der Methodik
6.1 Interviewarten
6.1.1 Interviewformen
6.2 Die Erhebungsmethode in Bezug auf die vorliegenden Fragestellungen
6.3 Beschreibung und Begründung der Auswahl des Forschungsfeldes
6.4 Ethische Überlegungen

7 Falldarstellungen
7.1 Falldarstellung: Herr Sch
7.2 Falldarstellung: Frau W
7.3 Falldarstellung: Frau H
7.4 Falldarstellung: Herr St
7.5 Falldarstellung: Herr Sch
7.6. Falldarstellung: Frau P
7.7 Frau Ramona Rosenthal, Stationsleiterin vom Tageszentrum Caritas Socialis, Bedeutung der Krankheit MS

8 Rückführung der Ergebnisse zu den arbeitsleitenden Fragestellungen
8.1 Welche Belastungen ergeben sich durch Multiple Sklerose für die Betroffenen und deren Familien?
8.2 Welche Strategien entwickeln an MS erkrankte Menschen, um die Krankheit in ihr Leben zu integrieren?
8.3 Welche Versorgungskonzepte und Modelle gibt es im europäisch-deutschsprachigen Raum?

9 Resümee

10 Literaturverzeichnis

11 Abbildungsverzeichnis

12 Anhang

Vorwort

„MS ist eine chronische Erkrankung, in deren „Begleitung“ die Betroffenen eine lange Zeit ihres Lebens verbringen“ (Fuchs et al. 2009, S. 8).

Der Grund zur Themenwahl ergibt sich aus meiner fünfjährigen Tätigkeit als Lehrerin für Gesundheits- und Krankenpflege, wo ich auf einer neurologischen Station angeleitete Praktika mit Schülern[1] durchführte. Einer der Schwerpunkte war die Pflege von an Multipler Sklerose erkrankten Menschen.

Da diese Thematik im Rahmen der Ausbildung nur in Ansätzen bearbeitet wurde, erweiterte ich durch das Studium sowie durch Fachliteratur meine Kenntnisse. Die Faszination für das Thema, sowie das fast völlige Fehlen pflegewissenschaftlicher Forschung auf diesem Spezialgebiet im deutschsprachigen Raum haben mich dazu bewogen, diese Fragestellung aus pflegewissenschaftlicher Sicht in Kombination mit der Thematik der chronischen Krankheit zu bearbeiten.

An dieser Stelle möchte ich auch all jenen danken, die mir halfen diese Arbeit abschließen zu können. Besonders bedanke ich mich bei DGKS Frau Ramona Rosenthal für ihre Hilfe bei der Kontaktaufnahme mit den Gesprächspartnern. Mein Dank richtet sich auch an Herrn Prof. Mag. Dr. Ferdinand Holub, der die Betreuung der Arbeit übernommen hat. Zu guter Letzt möchte ich mich bei allen Patienten bedanken, die sich für die Interviews bereit erklärt haben.

1 Einleitung

MS – Multiple Sklerose ist eine chronische Erkrankung und verändert das Leben der betroffenen Menschen ganz massiv.

Jede gravierende körperliche Erkrankung bedeutet für die Betroffenen und deren Familienmitglieder eine schwere psychische Belastung (vgl. Steck 2002, S. 11). Es entsteht eine langjährige Beziehung mit der Erkrankung. Da MS mit vielen Unsicherheiten behaftet ist, ist es wichtig, von Beginn an viel über die Krankheit zu wissen und diese kennen zu lernen (vgl. Fuchs et al. 2009, S. 8). Morof Lubkin definiert eine chronische Krankheit folgendermaßen:

„Unter chronischer Krankheit versteht man das irreversible Vorhandensein beziehungsweise die Akkumulation oder dauerhafte Latenz von Krankheitszuständen oder Schädigungen, wobei im Hinblick auf unterstützende Pflege, Förderung der Selbstversorgungskompetenz, Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit und Prävention weiterer Behinderung das gesamte Umfeld des Patienten gefordert ist“ (Morof Lubkin et al. 2002, S. 26).

Chronische Krankheiten sind von langer Dauer (oft das ganze Leben), der Verlauf ist schwer vorauszusagen. Er kann chronisch progredient (fortschreitend sich verschlechternd), chronisch rezidivierend oder chronisch stabil sein (vgl. Morof Lubkin et al. 2002, S. 21).

MS ist in Europa und Nordamerika die häufigste neurologische Erkrankung, die zu einer Behinderung führen kann. In Deutschland sind zirka 130 000 Menschen erkrankt, wobei Frauen etwa zwei bis drei Mal häufiger als Männer betroffen sind.

Nach derzeitigem Wissensstand liegt der Multiplen Sklerose eine T-Lymphozyten vermittelte Autoimmunreaktion gegen Komponenten des zentralen Myelins[2] zugrunde, wobei genetische und epidemiologische Faktoren in der Ausprägung der Erkrankung eine wichtige Rolle spielen (vgl. Bayas et al. 2007, S. 258).

Multiple Sklerose ist keine Erbkrankheit. Man geht zwar davon aus, dass bei den Betroffenen durch die Kombination von verschiedenen vererbten Risikofaktoren eine erhöhte Anfälligkeit gegenüber der Erkrankung besteht und somit die Entstehung von MS begünstigt wird.

Diese genetische Disposition alleine reicht aber für das Auftreten einer MS nicht aus, es müssen noch andere Faktoren vorhanden sein (vgl. Fuchs et al. 2009, S. 32).

Aus epidemiologischer Sicht weist Multiple Sklerose einige Besonderheiten auf. Wie bereits erwähnt gibt es einen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit der Erkrankung und dem Breitengrad. Laut Studien kommt MS bei bestimmten ethnischen Gruppen gehäuft vor. Weltweit gesehen zeigen die Eurokaukasier eine hohe MS Prävalenz, während Schwarzafrikaner, Mongolen, Indios und Inuits seltener erkranken. Untersuchungen kleinerer Völkergruppen zeigten, dass bei Lappen und Inuits, ungarischen Roma, ungarischen Sinti und amerikanischen Ureinwohnern die MS selten bis kaum zu beobachten ist. Demgegenüber weiß man aus Migrationsstudien, dass sich ethnische Unterschiede in Abhängigkeit des Aufenthaltsortes verändern können (vgl. Tesar 2009, S. 27f.).

Es sind verschiedene Verlaufsformen von Multiple Sklerose bekannt, sodass die Entwicklung im Einzelfall weitgehend unvorhersehbar ist. Das Spektrum der Erkrankung kann von einem einzigen Schub ohne neurologische Problematik bis hin zur raschen, progredient eintretenden Behinderung und zum Tod reichen. Die Krankheit beginnt meist beim jüngeren Erwachsenen zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr (vgl. Beier et al. 2004, S. 563).

Zur Behandlung von Multipler Sklerose stehen verschiedene Therapiestrategien zur Verfügung. Symptome eines akuten Schubes können mit Kortison gelindert werden. Die Möglichkeiten der konventionellen Medizin sind jedoch begrenzt. Keine Behandlung ermöglicht gegenwärtig eine vollständige Heilung. Die Effekte sind insgesamt nur moderat, der langfristige Erfolg über viele Jahre unsicher. Meistens schreitet die Krankheit trotz aller Maßnahmen fort. Krankheitssymptome wie Lähmungen, Inkontinenz, Tremor oder Ataxie[3] sind oftmals therapieresistent. Bei manchen Patienten mit chronisch-progredientem Krankheitsverlauf sind die therapeutischen Möglichkeiten erschöpft (vgl. Schwarz et al. 2005, S. 452).

Die Pflege ist aufgefordert, ihrem Auftrag im Rahmen des interdisziplinären Tätigkeitsbereiches zur Mitwirkung bei Maßnahmen zur Verhütung von Krankheit sowie zur Erhaltung und Förderung von Gesundheit, zur Vorbereitung der Patienten oder pflegebedürftigen Menschen und ihre Angehörigen auf die Entlassung aus einer Krankenanstalt oder Einrichtung, die der Betreuung pflegebedürftiger Menschen dient, nachzukommen. Weiters soll sie Hilfestellung bei der Gesundheitsberatung und der Betreuung während und nach einer physischen Erkrankung verstärkt in Form von Information und Beratung anbieten (vgl. Gesundheits- und Krankenpflegegesetz 2000, S. 49).

1.1 Aufbau und thematische Abgrenzung

In dieser Arbeit werden vorhandene wissenschaftliche Erkenntnisse zum sehr vielschichtigen, komplexen Thema Multiple Sklerose zusammengetragen und vernetzt. Den Fokus werde ich hierbei auf die sich durch die chronische Erkrankung Multiple Sklerose ergebenden mehrdimensionalen psychosozialen Probleme und Belastungen auf Seite der Betroffenen legen.

In den Kapiteln 1.2 bis 1.4 der Arbeit werden die Problemstellungen und zentralen Fragen dargestellt. Es folgen Erklärungen zur Arbeitsmethode und Vorgangsweise.

Im Kapitel 2 werden die Definitionen von Multipler Sklerose, chronischen Krankheiten und Lebensqualität mittels aktueller Literatur beschrieben und abgegrenzt.

Im Kapitel 3 erfolgt die Darstellung des Krankheitsbildes der Multiplen Sklerose aus medizinischer Sicht und ein kurzer geschichtlicher Überblick der Erforschung von MS wird gegeben.

In weiterer Folge werden die Ätiologie[4] und Pathogenese[5], verschiedene Verlaufsformen, Symptome und Zeichen, sowie derzeit bestehende Behandlungsmethoden erläutert. Im Kapitel 4 wird die Auswirkung von MS auf das Familiengefüge und die Lebensqualität beschrieben.

Das Kapitel 5 beschäftigt sich mit dem Erleben von chronischer Krankheit. In diesem Zusammenhang werden einige bereits vorhandene Modelle, die das Erleben von chronischer Krankheit beschreiben, analysiert. Diese Arbeiten stammen vorwiegend aus dem englischsprachigen Raum.

Mit der verwendeten Arbeitsmethode beschäftigt sich das Kapitel 6 in Kapitel 7 werden die Erfahrungen, die Meinungen und die Belastungen von an Multipler Sklerose erkrankten Menschen anhand konkreter Falldarstellungen nachvollziehbar gemacht.

Im Kapitel 8 wird nochmals auf die Fragestellungen eingegangen. Diskussionen und Schlussfolgerungen zur Arbeit, sowie ein Ausblick in die Zukunft sind im Kapitel 9 zu finden.

1.2 Problemstellung

Die Pflege ist aktuell und wird auch in Zukunft mit Herausforderungen in der Begleitung und Versorgung von an Multipler Sklerose erkrankten Patienten sowie deren Familien konfrontiert sein. Hierfür gilt, es neue Strategien zu entwickeln. Konkrete Unterstützungsangebote im Bereich der Pflege und Betreuung chronisch kranker Menschen müssen entwickelt werden, sodass diese möglichst lange und unbeschwert ein für sie zufriedenstellendes Leben führen können und mit den Herausforderungen des Alltags zurechtkommen. Ein wichtiger Aspekt ist die Unterstützung und Begleitung der Angehörigen von an MS Erkrankten. Vieles verlangt nach multidisziplinärer Zusammenarbeit. Deshalb ist es wichtig, ein Netz von stationären und ambulanten Betreuungsangeboten speziell für Menschen mit MS, welches interdisziplinär ausgerichtet ist, zu entwickeln, um den Betroffenen Beratung, Hilfe und Unterstützung anbieten zu können.

Barbara Hellige hat in ihrer Dissertation festgestellt, dass sich Pflegeforschung zum Krankheitserleben von MS-Patienten und ihren Angehörigen in den USA, Kanada, Großbritannien und den skandinavischen Ländern bereits etabliert hat. Im Vergleich zu den wenigen deutschsprachigen Veröffentlichungen existieren daher bereits eine Vielzahl an englischsprachigen Studien und Modellen, welche wesentliche Erkenntnisse und einen deutlichen Entwicklungsvorsprung zeigen. Für den deutschsprachigen Raum wurde nur eine einzige pflegewissenschaftliche Einzelfallstudie veröffentlicht. Die vorhandenen Artikel beschäftigen sich mit Selbsterfahrungsberichten, Ratschlägen für Pflegende von anderen Berufsgruppen des Gesundheitswesens und allgemeine pflegerische Handlungsanleitungen, bei denen der pflegewissenschaftliche Begründungszusammenhang fehlt (vgl. Hellige 2002, S. 285ff.).

1.3 Forschungsfragen

Aus den beschriebenen Problemfeldern ergeben sich für diese Arbeit folgende zentrale Forschungsfragen:

1. Welche Belastungen ergeben sich durch Multiple Sklerose für die Betroffenen und deren Familien?
2. Welche Strategien entwickeln an MS erkrankte Menschen, um die Krankheit in ihr Leben zu integrieren?
3. Welche Versorgungskonzepte und Modelle gibt es im europäisch-deutschsprachigen Raum?

1.4 Arbeitsmethode

Die Beantwortung der Forschungsfragen soll im Rahmen einer Literaturbearbeitung, ergänzt durch Expertengespräche, die anhand von zwei selbst erstellten Leitfäden durchgeführt werden, erfolgen. (siehe Anhang)

„Das Experteninterview ist eine gute Methode, um komplexe Wissensbestände zu erforschen und zu rekonstruieren“ (Mayer 2007, S. 183).

Hanna Mayer beschreibt die Vorteile der Expertengespräche folgendermaßen: Beim Experteninterview wird Kontextwissen ermittelt. Es handelt sich meist um halb standardisierte Interviews mit einem Leitfaden. Wichtig dabei ist, wer als Experte gilt und dies ist immer vom Thema abhängig (vgl. Mayer 2007, S.183).

Bei der vorliegenden Arbeit setzt sich die Gruppe der Experten zum einen aus an MS erkrankten Menschen einer Selbsthilfegruppe im Tageszentrum der Caritas Socialis in 1030 Wien, und zum anderen aus einer Expertin, welche die Stationsleitung der MS Tagesstation der Caritas Socialis inne hat, zusammen. Es wurde sowohl für die Betroffenen als auch für die Expertin ein eigener Leitfaden erstellt. Ziel war es, aus dieser Gruppe von Experten mindestens sieben Personen zu gewinnen, die bereit waren, ein Gespräch zu führen. Die Expertengespräche wurden im September, Oktober und November 2009 durchgeführt. Die zusammengefassten Ergebnisse werden im Kapitel 7 der Arbeit miteinbezogen.

2 Klärung der Fachtermini

2.1 Das Krankheitsbild der Multiplen Sklerose

Die Krankheit Multiple Sklerose, im Folgenden als MS bezeichnet, ist die zweithäufigste neurologische Krankheit im deutschsprachigen Raum. MS ist eine ursächlich noch nicht geklärte, von Patient zu Patient sehr unterschiedlich verlaufende schwere chronische Erkrankung des Zentralnervensystems.

Der Name Multiple Sklerose stammt von den mehrfach verhärteten, lachsfarbenen Herden, die sich morphologisch im Gehirn und Rückenmark nachweisen lassen. MS verursacht vielfältige Symptome, da das gesamte zentrale Nervensystem betroffen sein kann. Deswegen wird die MS auch das „Chamäleon der Neurologie“ oder die „Krankheit mit den 1000 Gesichtern“ genannt (vgl. Georgieff 2009, S. 23). MS ist eine herdförmige Erkrankung des Zentralnervensystems wie schon erwähnt, tritt sie zumeist im Lebensalter zwischen 20 und 40 Jahren auf und verläuft meist in Schüben mit langsam fortschreitendem Verlauf. Sie hat einen großen Einfluss auf die Psyche; es werden Veränderungen in der Persönlichkeitsstruktur beschrieben(vgl. Bischof et al. 1999, S. 9), auf die in der Arbeit noch genauer eingegangen wird.

Der klinisch gebräuchlichste Ausdruck ist Encephalitis disseminata[6] (vgl. Georgieff 2009, S. 23). MS ist keine Erbkrankheit, die Beschwerden entwickeln sich weitgehend unvorhersehbar, da die Verlaufsformen der MS sehr unterschiedlich sind. Die durchschnittliche Lebenserwartung wird durch MS kaum verkürzt (ebd., S. 10).

2.2 Chronische Krankheiten

Es gibt einige Autoren, die den Versuch unternommen haben, den Begriff chronische Krankheit umfassend und eindeutig zu definieren. Es ist festzustellen, dass es keine einheitliche Definition aus Sicht der Pflege gibt.

Chronische Krankheiten sind irreversible Erkrankungen, die unter Umständen das gesamte Leben des Betroffenen über andauern.

Sie stehen für eine Vielzahl von Erkrankungen mit ungleicher Ätiologie, Pathogenese, Symptomatik und Prognose.

Diesen heterogenen Krankheiten ist es gemeinsam, dass sie langfristig, häufig progredient, mit phasenhaften Verschlechterungen verlaufen oder immer wiederkehrend auftreten können (vgl. Hellige 2002, S. 16f.).

Chronische Krankheiten beeinflussen das psychische, emotionale und soziale Wohlbefinden der Betroffenen. In vielen Fällen haben sie negative Einflüsse auf die Lebensqualität. Die Folgen chronischer Erkrankungen sind für den Betroffenen und für dessen Angehörige eine große Belastung. Es kommt zum Verlust der Gesundheit, und daraus resultiert oftmals eine Veränderung des gewohnten Körperbildes. Weiters kann es zu Beeinträchtigungen der Aktivitäten des täglichen Lebens, eventuell auch zum Verlust des Arbeitsplatzes, von Sozialkontakten und der Unfähigkeit, bestimmte soziale Rollen zu übernehmen, kommen (vgl. Hellige 2002, S. 16).

Des Weiteren können in diesem Zusammenhang ein vermindertes Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl auftreten. Die Reduzierung von Sozialkontakten und die Einengung von Freizeitaktivitäten können bis zur sozialen Isolierung führen (vgl. Hellige 2002, S. 17). Grötken merkt zur Problematik der Pflege chronisch Kranker folgendes an:

„Die Bewältigung chronischer Krankheiten beinhaltet nicht allein die Überwachung von Symptomen, das Leben mit einer Behinderung oder die Anpassung an psychologische und gesellschaftliche Veränderungen die eine langwierige, unheilbare Krankheit für die betroffenen Patienten und ihren Familien mit sich bringt. Vielmehr vereint sie all diese und darüber hinaus noch einige andere Aspekte. Aus diesem Grund muss jeder Vorstoß bei der Pflege chronischer Kranker und ihren Familien umfassend sein und die Vielfalt, Vielschichtigkeit und Komplexität von Problemen reflektieren, die chronische Krankheiten mit sich bringen können“ (Grötken 2007, S. 1).

Laut aktueller demoskopischer Entwicklung ist abzusehen, dass die Behandlung chronischer Krankheiten zunehmend an Bedeutung gewinnt. Es handelt sich hierbei um ein großes Gesundheitsproblem (vgl. Hellige 2002, S. 17). Aufgrund der medizinischen Entwicklung wird es andererseits zunehmend Behandlungsmöglichkeiten für Krankheiten geben, die noch vor wenigen Jahren zum Tode führten.

Abholz 1990 entwickelte aus Betroffenensicht eine Systematik chronischer Erkrankungen. Er teilte die chronischen Erkrankungen in asymptomatische chronische Erkrankungen und symptomatische chronische Erkrankungen. Bei den asymptomatischen chronischen Erkrankungen handelt es sich um so genannte Risikoerkrankungen beziehungsweise Risikofaktoren. Hierzu zählt man beispielsweise Diabetes mellitus Typ I und II, Hyperlipidämie, und Hypertonie.

Die symptomatischen chronischen Erkrankungen werden in nicht lebensbedrohliche wie zum Beispiel MS, Colitis ulcerosa, chronische Bronchitis, Ulcus ventriculi/duodeni, rheumatische Erkrankungen, in potenziell lebensbedrohliche wie zum Beispiel koronare Herzkrankheiten, Niereninsuffizienz, Schizophrenie und in lebensbedrohliche Krankheiten wie zum Beispiel Aids und diverse Krebserkrankungen eingeteilt (vgl. Hellige 2002, S. 18).

2.3 Lebensqualität

Es gibt keine einheitliche Definition von Lebensqualität. Hinsichtlich der Definition von Gesundheit durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird die Lebensqualität als multidimensionales Konstrukt gesehen, bei dem körperliche, psychische, mentale, soziale und funktionale Aspekte des Befindens berücksichtigt werden. Lebensqualität kann sich auf verschiedene Bereiche des menschlichen Lebens beziehen (vgl. Petermann 1996, S. 154). Dazu zählen beispielsweise tagtägliche Dinge wie Wohnen und Essen, aber auch Zustände wie Glück und persönliche Zufriedenheit. Lebensqualität wird durch materielle, kulturelle und politische Einflüsse bestimmt. Der sehr globale Begriff der Lebensqualität wird im Bereich des Gesundheitswesens auf drei Aspekte eingegrenzt. Dabei handelt es sich um die Bereiche der physischen, psychischen und sozialen Gesundheit (vgl. Schmidt et al. 2006, S. 362).

Die physische Gesundheit umfasst unter anderem die Fähigkeit zur Arbeit – darunter auch die Hausarbeit - die Schlafqualität oder Belange der Ernährung.

Zur psychischen Gesundheit zählen emotionale Faktoren wie Wohlbefinden, Angst oder Niedergeschlagenheit. Die soziale Gesundheit bezieht sich beispielsweise auf die Fähigkeit, soziale Kontakte aufzubauen beziehungsweise zu pflegen (vgl. Schmidt et al. 2006, S. 362).

Durch die Erfassung der Lebensqualität bei MS Erkrankten werden die Ressourcen und Defizite im physischen und psychosozialen Bereich unter Berücksichtigung unterschiedlicher Pflegesituationen aufgedeckt. Es werden neue Grundlagen für die Betroffenen geschaffen. Die an MS Erkrankten sollen auch im fortgeschrittenen Stadium eigene Ressourcen aktivieren und lernen, ihr Leben mit den noch funktionierenden Fähigkeiten selbst zu gestalten (vgl. Petermann 1997, S. 155).

3 Das Krankheitsbild der Multiplen Sklerose aus medizinischer Sicht

3.1 Geschichtlicher Rückblick

Laut Kesselring 1997 weisen medizinische Texte des Altertums und Mittelalters keine Beschreibungen auf, aus denen sich auf der Grundlage des heutigen Kenntnisstandes MS diagnostizieren lassen würde. Erste Berichte gibt es von einem Erkrankten, nämlich Augustus Frederick d´Este, aus den Jahren 1794-1848 (vgl. Hellige 2002, S. 29).

Bei d´Este traten im Alter von 28 Jahren Sehstörungen auf, fünf Jahre später kam es zu Lähmungen in den Beinen, zu heftigen Schmerzen und Störungen beim Harnlassen und beim Stuhlgang (vgl. Gschwandtner 2005, S. 18). 1830 wurde die Krankheit das erste Mal von zwei Ärzten beschrieben. Der Franzose Cruveilhier und der englische Mediziner Carswell erkannten bei einer Autopsie braune Flecken im Zentralnervensystem. Sie vermuteten, MS sei die Folge einer unterdrückten Schweißabsonderung. Dies wurde damals auch als auslösend für rheumatische Erkrankungen angesehen (ebd., S. 29).

Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieb der deutsche Arzt Frerichs die Symptomatik anhand von mehreren Falldarstellungen bei Lebenden. Seine Diagnose „Hirnsklerose“ wurde von Kollegen kritisch in Frage gestellt. 1868 gelang es dem französischen Mediziner Charcot, die Beobachtungen zu einer Krankheit mit Namen herzustellen. Er bezeichnete die Krankheit als „sclerose en plaques“ (ebd., S. 29).

Die Gewinnung und Untersuchung von Liquorflüssigkeit ist bei der Diagnostik der MS als nächster bedeutender Entwicklungsschritt zu nennen. Die Labormedizin und die bildgebenden Verfahren haben durchaus dazu beigetragen, eine Differentialdiagnose der demyelinisierenden Erkrankung zu stellen. In den letzten 150 Jahren gab es unterschiedliche Theorien die MS-Forschung betreffend. Aktuell ist die vaskuläre Theorie zu nennen. Diese stützt sich auf die Beobachtung, dass die Plaques meist in der Umgebung kleiner Venen zu finden sind (vgl. Gschwandtner 2005, S. 19).

3.2 Ätiologie und Pathogenese der Multiplen Sklerose

Die Krankheitsursachen und Auslöser der Multiplen Sklerose sind bislang nicht eindeutig bekannt, jedoch sind einige Schritte im Ablauf der Krankheit besser nachvollziehbar (vgl. Hellige 2002, S. 30).

Es liegen sehr komplexe Krankheitsmechanismen vor, wie zum Beispiel Entzündung, Demyelinisierung, axonaler Schaden, welche sich im frühen beziehungsweise späten Stadium sehr unterschiedlich entwickeln (vgl. Baumhackl 2009, S. 12). „Pathogenetisch liegt eine entzündlich mediierte Entmarkung und eine Neurodegeneration in allen Stadien vor“ (Baumhackl 2009, S. 12).

Migrationsstudien lassen Rückschlüsse auf die Häufigkeit und den Zeitpunkt der Erkrankungen. So stellte Baumhackl fest:

Die Häufigkeit der MS korreliert mit der MS-Rate der Region, in der die ersten 10 bis 15 Lebensjahre verbracht wurden. Auswanderer die nach dem 15. Lebensjahr ihre Heimat verließen, wiesen nicht die MS-Rate ihres neuen Wohnortes auf, sondern erkrankten mit Häufigkeit an MS, die in ihrem Geburtsland herrschte. Daraus wird der Schluss gezogen, dass in der Zeit bis zur Pubertät die Erstinfektion stattgefunden haben muss“ (Baumhackl 2009, S. 12).“

Man vermutet, dass es sich bei MS um eine Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems handelt, jedoch ist die Ätiologie noch immer unbekannt. Es besteht eine entzündliche demyelinisierende Erkrankung, die bereits im frühen Krankheitsverlauf axonale Schädigungen aufweist. Diese irreversiblen Zerstörungen führen zu bleibenden neurologischen Defiziten (vgl. Baumhackl 2009, S. 12). Frauen sind im Vergleich zu Männern deutlich häufiger von MS betroffen. Eine Studie von Kesselring 1997 zeigt ein Verhältnis zwischen Frauen und Männern von 1:1,8 (vgl. Hellige 2002, S. 30). „Genetische Faktoren können die Entstehung der MS nur zu einem Teil erklären“ (Baumhackl 2009, S. 12).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Es kann davon abgeleitet werden, dass Multiple Sklerose sowohl durch endogene, genetische als auch durch exogene Faktoren ausgelöst wird. Es wird vermutet, dass in der Kindheit ein Initialereignis eintritt, bei dem werden körpereigene Antigene freigesetzt, die durch eine Immunreaktion neutralisiert werden – (das heißt bei MS persistieren). MS tritt ferner signifikant häufiger bei Menschen auf, die sehr spät oder nie an Masern, Mumps und Röteln erkrankt sind. Deshalb wird vermutet, dass Kinderkrankheiten auch einen Einfluss auf die Pathogenese haben. Es konnte jedoch keine kausale Beziehung nachgewiesen werden. Außderdem existieren psychosomatisch-psychoanalytische Ansätze, von denen ich zwei kurz darstellen möchte (vgl. Hellige 2002, S. 31f.).

Koll führte eine Studie durch, an der 24 MS Betroffene teilnahmen. Er machte testpsychologische Untersuchungen mit dem Ich-Struktur-Test nach Ammon. Die Untersuchungsergebnisse ergaben, dass die an MS Erkrankten ein signifikant erhöhtes Maß an defizitärer Aggression, defizitärem Narzissmus, defizitärer Angst und herabgesetzter Abgrenzungsfähigkeit nach außen zeigten. Nach Koll ist MS eine archaische Ich-Krankheit. Eine Therapie soll daher die Identitätsfindung zum Ziel haben (vgl. Hellige 2002, S. 32f.). Auch Psychoanalytiker Franz plädiert für eine stärkere Beachtung psychogener Symptomverursachung. Er stellt MS als „psychogen-funktionelle konserversionsneurotische Symptombildung“(symbolischen, kompromisshaften, körperlichen Ausdruck eines unbewussten Trieb-Abwehr-Konfliktes im Symptom als einer verstehbaren Mitteilung) dar (vgl. Hellige 2002, S. 32f.).

3.3 Die Verlaufsformen und die Prognose der MS

Da der Verlauf der MS sehr unterschiedlich ist, werden je nach Autor divergierende Angaben gemacht.

Laut Bauer fängt die Krankheit in 90% der Fälle mit einem akuten Schub an, bei 10 % zeigt sie sich durch einen chronisch langsam fortschreitenden Prozess ohne Schübe (vgl. Hellige 2002, S. 33). Die deutsche MS-Gesellschaft (DMSG) geht davon aus, dass 20% der Betroffenen einen schleichenden Beginn mit von Anfang an sich verschlimmernden Symptomen aufweisen. Man nennt diesen Verlauf primär chronische Verlaufsform. Bei 80% der Betroffenen handelt es sich um schubweise Verlaufsformen (vgl. Hellige 2002, S. 33).

Nach Rosner gibt es vier Verlaufsformen. Dabei ist der gutartige Verlauf, durch wenige Schübe gekennzeichnet und weist eine vollständige bzw. fast vollständige Remission auf. Der episodische Verlauf ist durch einen plötzlichen Schub gekennzeichnet, und es bleiben keine dauerhaften Schäden zurück. Beim episodisch-progredienten Verlauf wird der Beginn mit Schüben beschrieben. Nach zirka fünf Jahren kommt es zu einem chronischen Verlauf mit zunehmenden Beeinträchtigungen. Der chronisch-progrediente Verlauf ohne Remissionen ist die vierte Verlaufsform.

Bei zirka 20% aller Betroffenen wird ein gutartiger Verlauf beschrieben; bei 20-30% kommt es zu einem Verlauf mit bleibenden Schäden, jedoch auch mit Remissionen; bei 40% zu einem episodischen Verlauf, der durch zunehmende Verschlechterung gekennzeichnet ist. Chronisch progredient verläuft die Krankheit bei zirka 10-20% (vgl. Hellige 2002, S. 33f.).

Eine exakte Prognose über den Krankheitsverlauf bei MS ist nicht möglich. Es gibt Anzeichen, die einen positiven oder negativen Verlauf vermuten lassen. Bei einer Erstmanifestation im Alter von 20 bis 30 Jahren haben die Betroffenen eine Chance auf einen relativ gutartigen Verlauf. Tendenziell positiv ist der Verlauf, wenn die Krankheit vor dem 20. bzw. nach den 35.- 40. Lebensjahren beginnt, und wenn nur wenige bleibende Schäden nach jedem Schub bestehen. Wenn sich von Beginn an motorische Schwächen und Koordinationsprobleme zeigen, spricht dies eher für einen negativen Verlauf (vgl. Hellige 2002, S. 33f.).

McAlpine definierte einen Schub als: „das Auftreten eines neuen oder das Wiederauftreten eines früher vorhanden gewesenen Krankheitssymptomes zu irgendeinem Zeitpunkt“ (Kesselring 1997, S. 155).

Nach neuester internationaler Konsensusdefinition wird klinisch zwischen insgesamt vier verschiedenen Verlaufsformen unterschieden:

- schubförmig-remittierender Verlauf
- sekundär chronisch progredienter Verlauf
- primär chronisch progredienter Verlauf
- progredient schubförmiger Verlauf

Als Schub werden laut dieser Definition eine akute Verschlechterung der Symptome oder akut auftretende neurologische Ausfälle bezeichnet. Die Symptome müssen mindestens 24 Stunden andauern, und zwischen zwei Schüben muss ein Zeitraum von einem Monat liegen. Ein Schub erreicht nach etwa einer Woche seine maximale Ausprägung und kann sich innerhalb von acht Wochen bis Monaten zurückbilden (vgl. Limmroth et al. 2004, S. 16).

Wichtig ist auch die Schubfrequenz. Diese „bezeichnet die Anzahl der Schübe pro Jahr“ (Limmroth et al. 2004, S. 16). Durchschnittlich erleiden Betroffene jährlich 0,2 bis 1,1 Schübe, wobei die Schubrate im Laufe der Erkrankung abnimmt. MS Erkrankte, die in früheren Jahren erkrankt sind, neigen zu einer höheren Schubrate als Betroffene, die im höheren Lebensalter erkranken.

Beim schubförmigen Verlauf können sich die Symptome nach einer akuten Verschlechterung entweder vollständig auf das ursprüngliche Maß zurückbilden (schubförmig-remittierender Verlauf), oder es kommt nur zu einer Teilremission.

Beim sekundär progredienten Verlauf ist unabhängig von Schüben eine Krankheitsprogression festzustellen. Schubförmige Verläufe kommen mit etwa 70% am häufigsten vor.

Bei 15% der MS Betroffenen verläuft die MS von Beginn an progredient, ohne dass Schübe festgestellt werden können (primär chronisch progredienter Verlauf). Bei diesen drei Verlaufsformen kann es auch Phasen mit stationärem Zustand geben.

Der progredient schubförmige Verlauf kommt vergleichsweise selten vor. Dabei kommt es während eines chronischen Verlaufs zu deutlichen Schüben (vgl. Limmroth et al. 2004, S. 16f.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Mögliche Krankheitsverläufe bei MS aus: Limmroth et al. 2004, S. 17

Im Normalfall spiegeln die genannten einzelnen Kategorien nicht den gesamten Krankheitsverlauf wider. Bei jedem zweiten Betroffenen mit anfänglich schubförmigem Verlauf innerhalb der ersten zehn Jahre kommt es zu einem Übergang in eine progrediente Verlaufsform. Es ist daher angebracht, von Stadien der Erkrankung zu sprechen. MS Erkrankte zwischen dem 20. und 35. Lebensjahr zeigen meist einen schubförmigen Verlauf, während die primär progrediente Verlaufsform eher bei älteren Betroffenen vorkommt (vgl. Limmroth et al. 2004, S. 18).

Es gibt noch zwei weitere Einteilungsmöglichkeiten der Erkrankung, und zwar die benigne und die maligne Form. Von einer benignen Form spricht man, wenn die Diagnose pathologisch-anatomisch gesichert werden kann, ohne dass sich die Erkrankung zu Lebzeiten manifestiert (vgl. Kesselring 1997, S. 162). Zur malignen Verlaufsform werden diejenigen seltenen Verlaufsformen der MS gezählt, die innerhalb der ersten fünf Jahre nach Krankheitsbeginn zum Tode oder zu schwerer Behinderung führen (vgl. Kesselring 1997, S. 163).

Hinsichtlich der Prognose ist folgendes festzuhalten:

„Aussagen über den künftigen Krankheitsverlauf können für einen einzelnen Patienten kaum getroffen werden“ (Limmroth et al. 2004, S. 20). Es wurde jedoch eine Reihe von prädiktiven Faktoren identifiziert. Eine günstige Prognose haben demnach MS Betroffene:

- mit weiblichem Geschlecht
- mit einem Erkrankungsalter vor dem 35. Lebensjahr
- mit sensiblen Störungen als Erstmanifestation
- mit einem schubförmigen Verlauf bei niedriger Schubrate in den ersten zwei Jahren,
- mit weitgehender beziehungsweise vollständiger Symptomrückbildung nach dem ersten Schub (vgl. Limmroth et al. 2004, S. 20).

3.4 Symptome und Krankheitszeichen

„ Symptome sind das klinische Bild, die geschilderten Beschwerden der Betroffenen, die subjektiv unterschiedlich wahrgenommen werden. Krankheitszeichen sind objektive Symptome. Zusammen mit den Symptomen ergeben sie den medizinischen Befund“ (Hellige 2002, S. 34).

Je nach Größe und Lokalisation des Entzündungsherdes können die Symptome der MS sehr unterschiedlich sein. Falls der Herd im Kleinhirn des Betroffenen liegt, treten Gleichgewichtsstörungen auf. Bei Beteiligung des Sehnervs kommt es zum Auftreten von Doppelbildern oder die Erkrankten sehen verschwommen. Bei Rückenmarksherden zeigen sich Ausfälle der Funktionen der Gliedmaßen gekennzeichnet durch Kribbeln, Sensibilitätsstörungen, Lähmungen.

Eine der vielen Unstimmigkeiten bei MS ist, dass die meisten Herde „stumm“ bleiben, das heißt, sie zeigen keine Symptome.

Es wird daher vermutet, dass ein fortdauernder, über Jahrzehnte hinweg ablaufender Krankheitsprozess der MS zugrunde liegt, und die Symptome nur die Spitze eines Eisenberges darstellen. Nach Abklingen eines Schubes kann vollständige Symptomfreiheit eintreten. Am häufigsten kommt es zu Rückenmarksschüben, seltener sind Kleinhirn-, Sehnerv- oder Großhirnschübe (vgl. Hellige 2002, S. 34f.).

Die häufigsten Symptome sind Fatigue (Müdigkeit), Sprech- und Schluckstörungen, Sehstörungen, Blasenstörungen, spastische Lähmungen, Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen, Schwindel, Sensibilitätsstörungen, Sexualfunktionsstörungen und Veränderungen im psychischen und kognitiven Bereich.

Bei dieser Aufzählung von Symptomen handelt es sich um eine zusammenfassende Darstellung der häufigsten Beschwerden im Verlauf der MS. Im Folgenden wird ein Einblick in die somatische Problematik gewährt, welche individuell sehr unterschiedlich sein kann.

Das Chronic Fatigue Syndrom (CFS) kann bei klinisch unauffälligen Patienten auftreten. Es wird als ausgeprägte und länger andauernde beziehungsweise periodisch wiederkehrende Phase der Ermüdbarkeit definiert. CFS wird von 40% der MS Patienten als Hauptbeschwerde angegeben. Es kann unabhängig von neurologischen Beeinträchtigungen bestehen (vgl. Calabrese 2002, S. 253). Unabhängig von der Dauer des Schlafes erwachen die Betroffenen müde und sie erleben auch tagsüber oft geradezu Anfälle von Müdigkeit. Das Gefühl der Müdigkeit hat einen echten Krankheitswert. Es gibt keine genaue Erklärung für die Ursache dieses Symptoms. Wichtig dabei ist, das Symptom ernst zu nehmen und keinesfalls zu bagatellisieren (vgl. Bischof et al. 1999, S. 43).

Sprechstörungen stellen für den Betroffenen eine erhebliche Behinderung der Kommunikationsmöglichkeiten dar. Schluckstörungen bedeuten einen bedeutenden Leidensdruck, zudem besteht eine potentielle vitale Gefährdung, wenn die Dysphagie mit Aspiration einhergeht (vgl. Calabrese 2002, S. 253f.). Bei der Spastik kommt es zu einem erhöhten Muskeltonus, zentralen Paresen, Störungen der Feinmotorik, sowie zu gesteigerten Muskeleigenreflexen.

Da MS-Herde zumeist in den Sehnerven lokalisiert sind, kommt es sehr häufig zu Sehstörungen. Es kann innerhalb von Tagen zu einem deutlichen Verlust der Sehschärfe bis hin zur vollständigen Erblindung kommen, die sich jedoch spontan oder unter Therapie rasch wieder rückbildet. Die Betroffenen beklagen ein verschwommenes Sehen, seltener werden auch blitzartige Erscheinungen geäußert.

Des Weiteren führt die MS häufig zu Blasenstörungen, da eine funktionierende Kontrolle der Blasenfunktion das Zusammenspiel verschiedenster Bereiche des zentralen Nervensystems benötigt.

Es werden drei Arten von Blasenstörungen unterschieden:

Erstere ist charakterisiert durch die Unfähigkeit, den Urin zu speichern. Sie entwickelt sich durch eine Schwäche des Schließmuskels oder durch eine Überaktivität des Blasenmuskels, der zur Entleerung führt. Zweitere ist charakterisiert durch die Unfähigkeit, den Urin zu lösen, welche durch eine Überaktivität des Schließmuskels oder durch eine Lähmung des die Blase auspressenden Muskels zustande kommt. Die dritte Art der Blasenstörung und gleichzeitig die häufigste bei MS ist die so genannte Dyssynergie. Es kommt zu einer Koordinationsstörung im Zusammenspiel zwischen Schließmuskel und Blasenmuskel.

Besonders charakteristisch für die MS sind spastische Lähmungen; hierbei kommt es zu einer Lähmung der Muskulatur mit einer Erhöhung der Grundspannung. Augenscheinlich betroffen sind besonders die Beine – daraus resultiert eine eingeschränkte Gehfähigkeit. Die Spastik lässt sich durch Physiotherapie und Medikamente lösen, die Lähmungen sind mit Hilfe geeigneter Rehabilitationsmaßnahmen beeinflussbar.

Die Koordinations-, sowie Gleichgewichtsstörungen und der Schwindel lösen beim Betroffenen Unsicherheit aus, und es kommt zu massiven Einschränkungen im alltäglichen Leben. Fein geregelte Bewegungsabläufe lassen sich nicht mehr gleichmäßig und zielgerichtet durchführen. Man spricht von einer so genannten Ataxie. Die Sensibilitätsstörungen lösen beim Betroffenen veränderte Empfindungen aus, in Form eines eng angelegten Gürtels, oder als ob man auf Schmirglpapier gehe. Häufig werden massive Beeinträchtigungen in der Lebensführung resultierend durch Schmerzzustände beschrieben (vgl. Bischoff 1999, S. 44ff).

Laut Hoffmann sind Sexualfunktionsstörungen bei MS Betroffenen unabhängig des Geschlechts sehr häufig (vgl. Gschwandtner 2005, S. 27).

Veränderungen im psychischen Bereich gehören laut Schifferdecker ebenfalls zu den bei der MS am häufigsten genannten Symptomen (vgl. Schifferdecker 2002, S. 296f.). Im Laufe der Krankheitsverarbeitung kann es in allen Phasen der Krankheit zu psychischen Störungen kommen, zu so genannten psychoreaktiven Störungen. Diese Störungen treten bei 40-60 Prozent aller MS-Betroffenen einmal oder mehrfach im Verlauf ihrer Erkrankung auf.

Die Disposition, an einer schweren Depression zu erkranken, ist bei MS Patienten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um das Dreifache erhöht (vgl. Steck 2002, S. 14ff.).

3.5 Epidemiologische Aspekte in Österreich

1999 wurden in einer Querschnittstudie epidemiologische Daten zur Multiplen Sklerose in Österreich erhoben. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es lediglich Prävalenzdaten. Die Resultate dieser Studie stammen von 1006 MS Patienten, die eine der 30 spezialisierten Kliniken besuchten, sowie von 2414 Patienten, denen ein Fragebogen durch die MS Gesellschaft oder durch den betreuenden Arzt übermittelt wurde. Dieses Forschungsprojekt ergab eine Prävalenzrate von 98,5 pro 100000 Einwohner von an MS erkrankten Menschen in Österreich. Bei einer Einwohnerzahl von zirka acht Millionen sind dies somit etwa 9800 Personen (vgl. Baumhackl 2002, S. 226).

Epidemiologische Daten zur MS-Forschung modifiziert nach Maida 2002, S. 227

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[...]


[1] Personenbezeichnungen werden im Interesse einer leichteren Lesbarkeit in der maskulinen Form verwendet. Sie beziehen sich auf Personen beiderlei Geschlechts.

[2] Markscheide, stellt eine um die Axone der Nervenzellen gelagerte Isolierschicht dar.

[3] Störungen der Bewegungskoordination

[4] Die Lehre von den Ursachen, besonders der Krankheiten

[5] Die Entstehung, Entwicklung einer Krankheit

[6] Über das ganze Gehirn verteilte Entzündung

Fin de l'extrait de 112 pages

Résumé des informations

Titre
Multiple Sklerose. Die Krankheit mit den 1000 Gesichtern
Sous-titre
Das Erleben von an MS erkrankten Menschen
Université
University of Vienna
Note
1
Auteur
Année
2010
Pages
112
N° de catalogue
V152194
ISBN (ebook)
9783640641338
ISBN (Livre)
9783640641437
Taille d'un fichier
1230 KB
Langue
allemand
Mots clés
MS Chronische Krankheit
Citation du texte
Patricia Neuhofer (Auteur), 2010, Multiple Sklerose. Die Krankheit mit den 1000 Gesichtern, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/152194

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