Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Leitmotiv
2.1. Das Leitmotiv bei Wagner
2.2. Nietzsche contra Wagner – Komposition als Demagogie
2.3. Thomas Mann zwischen Wagner und Nietzsche
2.4. Das Leitmotiv bei Thomas Mann
3. Die Teufelsfiguren in Doktor Faustus
3.1. Adrians Anfälligkeit für das Dämonische
3.2. Die Teufelsfiguren
3.2.1. Wendell Kretzschmar
3.2.2. Die Hallenser Studienzeit – Privatdozent Schleppfuß und Professor Kumpf
3.2.3. Hetaera Esmeralda
3.2.4. Der Auftritt des Teufels
4. Schlussbetrachtungen – Die leitmotivische Funktion der Teufelsfiguren in Doktor Faustus
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Einzelnen Vokabeln können Leben und Erfahrung einen Akzent verleihen, der sie ihrem alltäglichen Sinn völlig entfremdet und ihnen einen Schreckensnimbus verleiht, den niemand versteht, der sie nicht in ihrer fürchterlichsten Bedeutung kennengelernt hat (DF, S. 13).
Dieser Stil, diese Technik, so hieß es, ließen keinen Ton zu, nicht einen, der nicht in der Gesamtkonstruktion seine motivische Funktion erfüllte (DF, S. 651).
Der Roman Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde[1] gehört mit zu den bedeutendsten Werken Thomas Manns. Es ist die Geschichte des Komponisten Adrian Leverkühn, der, um in der Musik Neues zu schaffen, einen Pakt mit dem Teufel eingeht. Mann selbst hat zwei Jahre vor seinem Tod geschrieben, dass der Doktor Faustus sein liebstes Werk sei:
Der Faustus-Roman ist mir am teuersten, einfach weil er mich am teuersten zu stehen gekommen ist, mich Herzblut gekostet hat, […] an diesem Buch hänge ich wie an keinem anderen. Wer es nicht mag, den mag ich sogleich nicht mehr.[2]
Das Augenmerk dieser Untersuchung liegt auf der Verführung des Protagonisten Adrians durch den Teufel. Es wird sich herausstellen, dass, anders als in anderen vor Manns Roman erschienenen Faust -Dichtungen, der Teufel nicht nur in einer Figur anwesend ist, sondern sich dessen Präsenz leitmotivisch durch den ganzen Roman zieht. Diese Leitmotive gilt es zu untersuchen. Es sind eben die „einzelnen Vokabeln“ und die Töne, die allesamt „in der Gesamtkonstruktion ihre motivische Funktion erfüllen“ und den „Schreckensnimbus“ des Romans ausmachen.
Vor der Untersuchung der leitmotivischen Funktion der Teufelsfiguren in Doktor Faustus sollen die Herkunft und die Bedeutung des Leitmotivs als erzähltechnisches Mittel herausgestellt werden. So wird auf den spezifischen Gebrauch dieses dramatischen und zugleich epischen Mittels bei Richard Wagner einzugehen sein. Thomas Manns Werk ist geprägt von den ästhetischen und philosophischen Diskursen Richard Wagners, Friedrich Nietzsches und Arthur Schopenhauers.[3] Insbesondere der Bezug auf Wagner und Nietzsche erscheint auf den ersten Blick erstaunlich, da Mann der ästhetischen Konzeption Wagners folgte, aber gleichzeitig Nietzsches Wagner-Kritik akzeptiert und in seinem Werk berücksichtigt hat.[4] Vor allem Wagners Leitmotivtechnik, die als dramatisches Mittel für seine Opern konzipiert war, beeinflusste das Gesamtwerk Thomas Manns maßgeblich. Mann selbst allerdings, der sich in seinem Essay Bilse und Ich mit Funktion und Herkunft des Leitmotivs auseinandersetzt, versteht das Leitmotiv als rein episches Mittel.[5] Es kann also davon ausgegangen werden, dass „Mann den Begriff aus jenem musikologischen Diskurs übernimmt, in dem der Terminus eng mit dem Werk Richard Wagners verknüpft ist.“[6]
Nach den theoretischen Untersuchungen zum Leitmotiv folgt die textimmanente Interpretation der Teufelsfiguren in Doktor Faustus, um abschließend herauszustellen, wie Textinhalt und Textform korrespondieren und welche genaue Funktion die leitmotivisch eingesetzten Teufelsfiguren haben.
2. Das Leitmotiv
2.1. Das Leitmotiv bei Wagner
Die Passion für Wagners zaubervolles Werk begleitet mich mein Leben, seit ich seiner zuerst gewahr wurde und es mir zu erobern, es mit Erkenntnis zu durchdringen begann.[7]
Um die Verwendung des Leitmotivs bei Thomas Mann zu untersuchen, muss man sich zunächst mit dem Komponisten beschäftigen, von dem er die Leitmotivtechnik übernommen hat: Richard Wagner. Gilbert Stöck stellt heraus, dass Wagner sicherlich nicht der erste Komponist war, der musikalische Motive innerhalb seiner Kompositionen wiederholt und sich somit einer Art Leitmotivtechnik bedient hat.[8] Da Wagner jedoch oft rezipiert worden sei und selbst breite Ausführungen zu diesem Thema verfasst habe, könne man von einer einzigartigen Stellung Wagners bei der Diskussion über das Leitmotiv ausgehen.[9] Wagner ist, sieht man von seinen Opern ab, vor allem für seine Schrift Oper und Drama bekannt. Zudem müssen hinsichtlich der Fragestellung auch seine späteren von Egon Voss herausgegebenen und weniger rezipierten Schriften, die der Praxis des Komponierens näher sind[10], beachtet werden. Der Begriff Leitmotiv ist nicht von Wagner selbst, sondern von Friedrich Wilhelm Jähns geprägt worden, aber Wagners „vor allem seit der Ring -Tetralogie ausgeprägte, spezifische Art und Weise, Motivwiederholungen einzusetzen“[11] erlaubt es, die Untersuchungen an dieser Stelle auf das Werk Wagners zu beschränken.
Der Begriff Leitmotiv meint zunächst die Wiederholung musikalischer Passagen, die symbolische, bildhafte Zeichen sind, in ein und demselben Werk. So werden zum Beispiel in der Götterdämmerung Motive wie das Schwert, der Verrat, die Angst oder Figuren wie Siegfried mit einzelnen kompositorischen Elementen verbunden, die Wiedererkennung stiften. Somit hat die Verwendung des Leitmotivs bei Wagner seinen Ursprung nicht nur in der Forderung nach musikalischer Kontinuität und Vereinheitlichung, was im Gegensatz zum älteren Opernschema steht[12]: „denn die Leitmotive sind als musikalische Zeichen für etwas Nichtmusikalisches entworfen.“[13] Leitmotive oder – wie Wagner sie nennt – „melodische Momente“ sind zudem „Gefühlswegweiser […], in denen wir uns der Ahnung erinnern, während sie uns die Ahnung zur Erinnerung machen.“[14] Das Neue bei Wagner besteht also darin, dass die Motive an das dramatische und somit an die Sprache gebundene Geschehen gekoppelt sind und dieses auf vielfältige Art und Weise symbolisieren. Die Leitmotive werden nicht mehr bloß als mit gewissen Figuren verbundene Erinnerungs- oder Auftrittsmotive wiederholt, sondern darüber hinaus mit Objekten, wie einem Ring oder einem Schwert in Verbindung gebracht. Zudem werden sie mit innerlichen Abläufen, Ideen und abstrakten Begriffen wie Unwillen, Todesverkündigung und Vertrag verknüpft.[15] Wagner bezieht sich dabei auf musikalische Elemente aus dem Bereich der Symphonie. Die dramatische Form der Musik müsse, um
als Musik ein Kunstwerk zu bilden, die Einheit des Symphoniesatzes aufweisen, und dies erreicht sie, wenn sie, im innigsten Zusammenhange mit demselben, über das ganze Drama sich erstreckt, nicht nur über einzelne kleinere, willkürlich herausgehobene Teile.[16]
Stöck definiert den Begriff des Leitmotivs neu, indem er von Kennfiguren spricht. Auch er hebt hervor, dass Leitmotive nicht bloß als Erinnerungsmotive zu definieren sind, sondern dass ihnen weitere Elemente inhärent sind:[17] Die Bezeichnung Kennfigur impliziert, dass „das Motiv/Thema mehr oder weniger konkrete Bezüge jenseits musikimmanenter Strukturen (zu einem Objekt, einem Subjekt, einer Idee) herstellen und vermitteln kann“, sodass Kennfiguren „neben ihren musikimmanenten Sinnbezügen und ihrem allgemein konnotativen Vermögen, auch auf darüber hinausgehende Bedeutungen“[18] verweisen. Somit wird gesagt, dass Kennfiguren Assoziationsfreiräume ließen[19], da es beim Rezipienten liege, diese zu entschlüsseln und bekannte Sachverhalte mit den Motiven in Verbindung zu bringen.
Stöck unterscheidet in Bezug auf Wagner verschiedene Ebenen, auf denen Kennfiguren wirksam werden können. Zunächst müsse unterschieden werden, ob sich eine Kennfigur auf ein aktuelles Bühnengeschehen oder auf etwas nicht auf der Bühne Präsentes bezieht.[20] Zu ersterem sagt Wagner, dass das Orchester
zu diesem wichtigen Momente daher die scharf und energisch betonte Wiederholung einer melodischen Phrase [bestimmt], die wir bereits früher […] vernommen haben, und die von der charakteristischen Beschaffenheit ist, daß sie uns das Gedenken an eine frühere Situation deutlich hervorruft und jetzt, im Verein mit der drohenden Gebärde, uns zur ergreifenden, und das Gefühl willkürlich bestimmenden Ahnung wird.[21]
Somit wird der Zusammenhang des motivischen Materials innerhalb eines Werkes gewährleistet. Bezieht sich die Kennfigur auf etwas, das nicht auf der Bühne präsent ist, „wird räumlich und/oder zeitlich Nicht-Gegenwärtiges gegenwärtig.“[22] So begleitet etwa in der Walküre das Orchester Sieglindes Bericht vom Auftreten eines „Greis[es] in grauem Gewand“[23] mit dem bereits aus dem Rheingold bekannten Wotan- oder Walhall-Motiv, und ruft somit dem Zuschauer die Erinnerung an den vorangegangen Handlungsstrang wach, ohne dass ein entsprechender Hinweis im Libretto auftaucht. Dies ist insofern interessant, als sich an dieser Stelle zwei weitere Elemente unterscheiden lassen. Zum einen könne eine Figur wörtlich auf etwas Bezug nehmen oder verweisen, zum anderen könne sich der Komponist nun direkt an die Rezipienten wenden, und zwar durch eine Botschaft, die den Akteuren der Handlung (vorerst) unbekannt bliebe.[24] Dann fungiert das Orchester im dramatischen Sinn als auktorialer, allwissender und wertender Erzähler oder übernimmt die Funktion des Chores in der griechischen Tragödie.[25] Ein Beispiel für einen solchen Einsatz der Kennfiguren ist Siegfrieds Trauermarsch aus der Götterdämmerung. Hier sind zahlreiche, bereits bekannte Motive verwoben, wie das Siegfried-Motiv, das Siegmund-Motiv oder das Schwert-Motiv. Diese Wiederholung oder Wiederkehr bekannter Motive erklärt Wagner „dezidiert als Nachfolge des ‚griechischen Chores’, der, als Kommentator den Rezipienten zugewandt, Stationen aus Siegfrieds Leben rekapituliert.“[26] Somit schafft Wagner durch den Einsatz dieser Leitmotiv- oder Kennfigurstruktur eine neue Mitteilungsebene zwischen sich und dem Hörer, welche nicht direkt etwas mit dem eigentlichen Bühnengeschehen zu tun hat: „Das Orchester bekommt nun die Möglichkeit, auf Vergangenes hinzuweisen, Zukünftiges vorwegzunehmen, um damit die in der Gegenwart ablaufende Handlung kommentieren zu können.“[27] Kennfiguren oder Leitmotive dienen also zunächst dem inneren Zusammenhang der einzelnen Kompositionen, durch sie schafft der Komponist andererseits auch eine neue Mitteilungsebene, und zwar die des auktorialen, wertenden Erzählens.
Vor allem in Hinblick auf die Funktion des Leitmotivs für den inneren, kohärenten Zusammenhang der Oper sind Wagners Reflexionen über das Musikdrama und die Bedeutung des Mythos für sein Komponieren wichtig. Hier knüpft er an die philosophischen Grundlagen der Religionskritik Feuerbachs an und sieht den Mythos „als unbewusste Vergegenständlichung des Wesens des Menschen“ an:
Der Mythos ist eine aus der Menschenphantasie geborene Welterklärung, mit deren Hilfe der Mensch die beunruhigende Vielfalt der Erscheinungen dadurch zu bewältigen sucht, dass er die Naturgewalten personifiziert und an die Stelle eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs das Wirken von Göttergestalten setzt.[28]
Ludwig Andreas Feuerbach wurde vor allem durch sein 1841 erschienenes Werk Das Wesen des Christentums bekannt.[29] Die, wie Feuerbach es nennt, „einzige Wirklichkeit“ ist in seiner Philosophie nicht mehr eine „absolute Welt, eine Welt der Ideen, eine Welt Gottes“, sondern die „Wirklichkeit des Diesseits, […] der Natur und […] des Menschen im Hier und Jetzt.“[30] Der Mensch sei nicht von Gott geschaffen, sondern Gott vom Menschen:
Gott als Extrem des Menschen, als nicht menschliches, d.i. persönlich menschliches Wesen gedacht – ist das vergegenständlichte Wesen des Verstandes. Das reine, vollkommne, mangellose göttliche Wesen ist das Selbstbewußtsein des Verstandes, das Bewußtsein des Verstandes von seiner eignen Vollkommenheit.[31]
Der Mensch versuche mit Gott oder Gottesvorstellungen letztlich nur Phänomene zu deuten, die für ihn ansonsten unerklärlich blieben:[32] „Id quo majus nihil cogitari potest, Deus est.“[33] Dabei sehe er sich in einer Abhängigkeit von Gott, obwohl er lediglich abhängig von der Natur sei, welche ohne einen Gott bestehe.[34] Die Natur sei also nichts Erschaffenes, sondern etwas immerwährend Werdendes, wobei die Sehnsucht bestehe, in ihr unter Verzicht auf die Individualität aufzugehen.[35] Der Verstand sei dabei trügerisch und nur auf das plötzliche Gefühl komme es an.[36] Dieses werde durch den Verstand nachträglich gerechtfertigt. Das unmittelbare Gefühl strebe nach Einheit und Ganzheit mit der Natur.[37]
Folglich ist es sicherlich auch passend, dass sich Wagner das Theater und damit auch die Oper als etwas vorstellt, das lediglich über die Sinne zu erfahren sei und nicht über den Verstand.[38] Um der Haupterfordernis der ästhetischen Wissenschaft nach Einheit nachzukommen[39], strebt Wagner in seinen Musikdramen nach einer Aufhebung der „Trennung der einzelnen Kunstgattungen in Form eines Gesamtkunstwerks“, in dem „Dichtkunst und Tonkunst ineinander verschränkt sind.“[40]
Wagner sieht die moderne, zeitgenössische Kunst als Trennung der einzelnen künstlerischen Ausdrucksformen an. Somit sei die Kunst selbst „auf eine bloße Ware zur egoistischen Befriedigung eines Luxusanspruchs reduziert worden“, wodurch der Künstler „wie die gesamte Gesellschaft, zum Sklaven gemacht worden sei.“[41] Das Ideal eines Gesamtkunstwerks besteht für Wagner in der Form der attischen Tragödie. Die Möglichkeit dieses Gesamtkunstwerks liege daher in „einer Wiedergeburt der attischen Tragödie durch die ästhetische und musikalische Fortentwicklung […], die in Shakespeares Theater und in der 9. Symphonie von Beethoven ihren höchsten Ausdruck gefunden hatte.“[42] Das Gesamtkunstwerk hebe die Entfremdung des Menschen von seiner eigenen, wahren Existenz im Rückbezug auf die attische Tragödie, in der Musik, Dichtung und Tanz vereint waren, auf.
Aufgrund dieser Ausführungen scheint die Aussage Thomas Manns, dass er – wie an späterer Stelle noch zu zeigen sein wird – sich selbst in Bezug auf Wagner zu den Musikern unter den Dichtern gezählt hat und immer wieder von seinen Werken als Kompositionen gesprochen hat, passend.[43] Die Leitmotivtechnik Wagners ermöglicht es ihm, etwas Zusammenhängendes und Ganzes zu schaffen und dabei an den unmittelbaren Verstand im Sinne der Feuerbachschen Religionskritik zu appellieren.
2.2. Nietzsche contra Wagner – Komposition als Demagogie
Betrachtet man Nietzsches frühe Schriften, in denen er sich mit Wagner auseinandersetzt, mag der Titel dieses Abschnitts befremdlich anmuten, hat er den Komponisten doch durchaus gelobt und fühlte sich mit ihm vor allem wegen der gemeinsamen Verehrung für Schopenhauer verbunden. Um den Bruch zwischen Nietzsche und Wagner zu erklären, muss man Nietzsches Auffassungen von Kunst und Kunstwerken und seine Kritik an der Moderne, insbesondere an der Décadence, verstehen.
Wie Seitscheck herausstellt, unterscheiden sich diese Ansichten nicht sehr von denen Wagners[44] ; auch Nietzsche sieht in der antiken Tragödie das höchste Ideal der dramatischen Kunst verwirklicht. Die moderne Gesellschaft wie auch die zeitgenössische Kunst hätten sich allerdings vom Ideal der griechischen Antike entfernt. Besonders in der Geburt der Tragödie wird die Forderung nach der Einheit der konträren Elemente des Dionysisch-Entgrenzten und Apollinisch-Formhaften deutlich. Eben diese Einheit ist für Nietzsche kulturschaffend.[45] Vor allem die Poetik von Aristoteles hat mit dem klassischen Anspruch nach Einhaltung der Einheit von Zeit, Ort und Handlung in der Kunst bei vielen die Ansicht hervorgerufen, dass dramatische Werke Ganzheit repräsentieren sollen. Ähnlich haben eben auch Nietzsche und Wagner gedacht. Vor allem in den Schriften Geburt der Tragödie und Richard Wagner in Bayreuth werden die Freundschaft zwischen Nietzsche und Wagner und die Achtung des Philosophen für den Komponisten deutlich. Nietzsche sieht zumindest zu diesem Zeitpunkt den Einheitsgedanken in Wagners Musikdramen verwirklicht.[46] Das Apollinische und Dionysische, also Begrenztes und Grenzenloses, würden in der Komposition Wagners zum Ausdruck gebracht und als Ganzes miteinander vereint.[47] Doch mit Beginn der Festspiele 1876 änderte sich das Verhältnis.[48] Nietzsche wird von diesem Zeitpunkt an von Wagner als Demagogen sprechen und seine Kritik an der Décadence[49] an dem Komponisten festmachen. Dabei spielt der Einsatz der Leitmotivtechnik eine tragende Rolle.
Bei seiner Kritik an Wagner legt Nietzsche das Hauptaugenmerk auf die Rolle der Zuschauer bei den Bayreuther Festspielen. Ihnen müsse Wagner gefallen und somit sei er nicht mehr der Künstler, der fernab von der Gesellschaft ohne Zwänge frei dichten und komponieren könne. Er müsse theatralische Opern schreiben und das Volk verführen, damit dieses ihn akzeptiere, seine Festspiele besuche und gut heiße.[50] Dieses Theatralische sei allerdings vordergründiges Schauspiel, im Schauspieler habe
das Volk sich selbst vor Augen und feiert sich, ohne in der Kunst Wahres zu erkennen. Hier kann Wagner die Spannung der Einheit des Apollinischen und des Dionysischen nicht mehr halten, sein Fall beginnt.[51]
Wagner, der in seinen Musikdramen den Nihilismus überwunden habe, wende sich spätestens mit dem Parsifal dem Christentum zu.[52] Hier wurde aus der anfänglichen Freundschaft und Bewunderung Feindschaft. Es ist durchaus bekannt, dass es Wagner tatsächlich um ein großes Spektakel ging, bei ihm ist von „‚szenischem Geheimnis’ […] die Rede, von ‚Zauber’ und ‚Täuschung’, die den Zuschauer ‚wie in ein dämmerndes Wähnen, in ein Wahrträumen des nie Erlebten einschließt’.“[53]
Nietzsche verbindet seine Kritik an der Musik Wagners mit seiner generellen Kulturkritik. Dabei macht er für den Niedergang der Kultur die Décadence verantwortlich und behauptet, Wagner sei
ein typischer décadent [Hervorhebung durch Pöltner, Anm.d.Verf.], ein Künstler einer niedergehenden Kultur, in der es nicht auf Echtheit, sondern bloß auf Erfolg ankommt, […] dem es überall nur um Reizung und Effekt zu tun ist.[54]
In Der Fall Wagner zeigt Nietzsche, was die literarische Décadence ausmacht: „Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt.“[55] Diese Künstlichkeit des Werks werde durch Schauspieler den Zuschauern übermittelt, gleichzeitig sei der Komponist oder Autor eines Werkes ein Demagoge, da er die Zuschauer beeinflusse und nichts Wahres mehr produziere:
Der Charakter der organischen Geschlossenheit ist also nur Trug, eine durch geschickten Einsatz der Kunstmittel inszenierte Wirkung beim Betrachter.[56]
Diesen „Charakter der organischen Geschlossenheit“ vermittelt das Kunstmittel der Leitmotivtechnik. Leitmotive sind in den Augen Nietzsches keine natürlichen Elemente der Oper, sondern künstliche Mittel, die den Zuschauern die Ganzheit eines Werks nur vortäuschen. Das „es bedeutet“ rücke in den Vordergrund von Wagners Kompositionen, und es würden nur noch Motive, Gebärden und Wiederholungen in der kompositorischen Struktur vermittelt.[57] Gerade wegen der angeblichen Demagogie im Werk Wagners distanziert sich Nietzsche vom einst bewunderten Komponisten und entlarvt ihn als Vertreter und Verfechter der Décadence.
Da sich Thomas Mann der Leitmotivtechnik Wagners bedient, ist es aufgrund der Kritik Nietzsches, die Mann durchaus zur Kenntnis genommen hat, interessant und wichtig zu sehen, welche Ansätze dieser Kritik Mann bei der Verwendung des Leitmotivs aufnimmt. Es wird sich im Weiteren herausstellen, dass Thomas Mann in Bezug auf die Leitmotivtechnik nicht einfach Wagner kopiert, sondern durchaus Argumente von Nietzsche übernimmt und es ihm gelingt, mit Hilfe der Philosophie Schopenhauers die Gedanken der beiden Kontrahenten zu vereinen.
[...]
[1] Dieser Arbeit liegt folgende Ausgabe zugrunde: Mann, Thomas: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn. Erzählt von einem Freunde. Frankfurt am Main: Fischer 1980. Zitate hieraus werden im Text mit dem Kürzel DF belegt. Weitere zitierte und verwendete Werke von Thomas Mann werden der Einfachheit halber fortlaufend mit einem Kürzel (a, b, c, usw.) hinter dem Namen versehen. Dies gilt im Übrigen auch für andere Autoren. Auch im Literaturverzeichnis werden diese Kürzel übernommen.
[2] Mann, Thomas (a): Selbstkommentare: Doktor Faustus und Die Entstehung des Doktor Faustus. Hg. von Hans Wysling. Frankfurt am Main: Fischer 1993, S. 340.
[3] „In den ‚Betrachtungen eines Unpolitischen’ nennt er seine geistigen Grundlagen das ‚Dreigestirn’ Schopenhauer, Wagner und Nietzsche, deren große Geistesverwandtschaft untereinander er mit den Worten kennzeichnet: ‚Die drei sind eins.’“ Schlee, Agnes: Wandlungen musikalischer Strukturen im Werke Thomas Manns. Vom Leitmotiv zur Zwölftonreihe. Frankfurt am Main: Lang 1981, S. 44.
[4] Vgl. hierzu u.a. Kurzke, Hermann: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung. 3. Auflage München: Beck 1997, S. 113.
[5] Er begreife nicht, „wie man im ‚Leitmotiv’ ein wesentliches dramatisches Mittel erblicken kann. Es ist im Innersten episch, es ist homerischen Ursprungs.“ Mann, Thomas (b): Bilse und Ich. In: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. X. Frankfurt am Main: Fischer 1990, S. 27.
[6] Kaiser, Gerhard: "... und sogar eine alberne Ordnung ist immer noch besser als gar keine." Erzählstrategien in Thomas Manns "Doktor Faustus". Stuttgart: Metzler 2001, S. 125. Dies betont auch Kristiansen, wenn er sagt, dass Manns „Vorbild [für die Leitmotivtechnik, Anm.d.Verf.] […] das Gesamtkunstwerk Richard Wagners“ war. Kristiansen, Børge (a): Das Problem des Realismus. In: Thomas Mann Handbuch. Hg. von Helmut Koopmann. 3. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer 2005, S. 823 – 835, S. 829.
[7] Mann, Thomas (c): Leiden und Grösse Richard Wagners. In: Ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. IX. Frankfurt am Main: Fischer: 1960, S. 363 – 426, S. 373.
[8] Stöck, Gilbert: Das Kennfigur-System als neuer Zugang zu Richard Wagners Leitmotiv-Technik. In: Der „Komponist“ Wagner im Blick der aktuellen Musikwissenschaft. Hg. von Konrad Ulrich. Würzburg: Breitkopf & Härtel 2003, S. 81 – 94.
[9] Ebd., S. 87.
[10] Wagner hatte zur Zeit der Niederschrift bereits seine großen Opern wie den Ring der Nibelungen, Tristan und Isolde, Tannhäuser oder Der Fliegende Holländer vollendet. Somit basierten seine späteren Ausführungen und theoretischen Schriften, die die Oper und das Komponieren betrafen, auf breiten Erfahrungen aus der Praxis.
[11] Kaiser, S. 125.
[12] „Bisher hatte nur die Ouvertüre zu einer Oper oder einem Theaterstücke Veranlassung zur Verwendung rein musikalischer Ausdrucksmittel in einer vom Symphoniesatze sich abzweigenden Form dargeboten.“ Wagner, Richard (a): Über die Verwendung der Musik auf das Drama. In: Ders.: Späte Schriften zur Dramaturgie der Oper. Hg. von Egon Voss. Stuttgart: Reclam 1996 (= RUB 5662), S. 191 – 212, S. 196.
[13] Peacock, Ronald: Das Leitmotiv bei Thomas Mann. Bern: Drechsel 1934, S. 46.
[14] Wagner, Richard (b): Oper und Drama. 2. Auflage. Stuttgart: Reclam 1994 (= RUB 8207), S. 361.
[15] Kaiser, S. 127.
[16] Wagner (a), S. 202.
[17] Vgl. Stöck, S. 81f.
[18] Ebd., S. 82f.
[19] Vgl. ebd., S. 83f.
[20] Vgl. ebd., S. 84.
[21] Wagner (b), S. 221.
[22] Stöck, S. 85.
[23] Wagner, Richerd (c): Die Musikdramen. Mit einem Vorwort von Joachim Kaiser. 2. Auflage. München: DTV 1981, S. 596.
[24] Vgl. Stöck, S. 86.
[25] Diese Funktion des Orchesters wird vor allem in Drama und Oper herausgestellt. In Wagners späteren Schriften ist der Bezug zum antiken Theater zugunsten von Shakespeares Schriften weitestgehend aufgehoben. Da sich Thomas Mann jedoch auf die Antike bezieht, wenn er vom Leitmotiv spricht, soll an dieser Stelle auf Wagners Bezug zu Shakespeare nicht weiter eingegangen werden.
[26] Stöck, S. 86.
[27] Ebd. Vgl. auch Wagner (b) S. 190f.
[28] Pöltner, Günther: Oper und Drama. In: Wagner und Nietzsche. Kultur – Werk – Wirkung. Ein Handbuch. Hg. von Stefan Lorenz Sorgner, H. James Birx und Nikolaus Knoepffler. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 2008, S. 388 – 396, S. 390.
[29] Weischedel, Wilhelm: 34 große Philosophen in Alltag und Denken. Die philosophische Hintertreppe. 8. Auflage München: Nymphenburger 1981, S. 289.
[30] Ebd., S. 292.
[31] Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Ausgabe in zwei Bänden. Hg. von Werner Schuffenhauer, Berlin: Akademie-Verlag 1956, S. 82.
[32] „Wagner interpretiert den Mythos im Sinne der Feuerbach’schen Religionskritik als unbewusste Vergegenständlichung des Wesens des Menschen: Im Göttlichen begegnet der Mensch in Wahrheit seinem eigenen Wesen, das Geheimnis Gottes ist der Mensch. Der Mythos ist eine aus der Menschenphantasie geborene Welterklärung, mit deren Hilfe der Mensch die beunruhigende Vielfalt der Erscheinungen dadurch zu bewältigen sucht, dass er die Naturgewalten personifiziert und an die Stelle eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs das Wirken von Göttergestalten setzt.“ Pöltner, S. 390.
[33] Feuerbach, S. 169.
[34] Vgl. Weischedel, S. 294.
[35] Vgl. Pöltner, S. 390f.
[36] „Der Verstand weiß nichts von den Leiden des Herzens; er hat keine Begierden, keine Leidenschaften, keine Bedürfnisse und eben darum keine Mängel und Schwächen wie das Herz. […] Wir wollen nicht dem Verstande Recht lassen: wir wollen nicht aus Schonung, aus Nachsicht das wahre, aber harte, aber rücksichtslose Urteil des Verstandes vollstrecken. Der Verstand ist das eigentliche Gattungsvermögen; das Herz vertritt die besonderen Angelegenheiten, die Individuen, der Verstand die allgemeinen Angelegenheiten“ Feuerbach, S. 82f.
[37] Vgl. ebd., S. 391.
[38] Vgl. ebd.
[39] Vgl. Wagner (a), S. 201.
[40] Pöltner, S. 388.
[41] Venturelli, Aldo: Goethe, Hölderlin, Feuerbach. In: Wagner und Nietzsche. Kultur – Werk – Wirkung. Ein Handbuch. Hg. von Stefan Lorenz Sorgner, H. James Birx und Nikolaus Knoepffler. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 2008, S. 344 – 354, S. 352.
[42] Ebd.
[43] Vgl. Kristiansen (a), S. 829.
[44] Vgl. Seitscheck, Hans Otto: Der Fall Wagner. In: Wagner und Nietzsche. Kultur – Werk – Wirkung. Ein Handbuch. Hg. von Stefan Lorenz Sorgner, H. James Birx und Nikolaus Knoepffler. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 2008, S. 435 – 439.
[45] Vgl. ebd., S. 436.
[46] Vgl. ebd..
[47] Vgl. ebd.
[48] „Wagner hat sich von Nietzsche in der Folge jedoch mehr und mehr entfernt vom kühnen, einsamen Neuschaffen von Kunst-Musik als neuer alter Einheit, wie sie in der Antike, besonders in der griechischen Tragödie, wurzelt und wie sie in einer langen Verfallsgeschichte verloren ging. Mit Beginn der Festspiele 1876 in Bayreuth wendet sich Wagner, so Nietzsche, immer stärker der Masse zu und lässt ihr seine Kunst gefallen.“ Ebd., S. 435.
[49] Man kann davon ausgehen, dass Nietzsche den Begriff Décadence von Paul Bourget übernommen hat. Bourget definiert die Décadence als den Zustand (état) einer Gesellschaft, in der die meisten nicht mehr bereit sind, für das Gemeinwohl der übrigen einzustehen. Jeder sei nur noch auf sich selbst bezogen. Dies könne auch auf die Sprache und die Künste wie Literatur übertragen werden. Sätze und Wörter dienten nicht mehr der Harmonie des Gesamtwerks, sondern der „Eingebung des Augenblicks“ und erfüllten somit demagogische Zwecke. Nietzsche macht seine Kritik an der Décadence schließlich an Wagner fest, indem er herausstellt, dass die einzelnen, leitmotivisch ineinander gefügten Teile Herr über das Ganze seien und die großen Ideale der attischen Tragödie nicht mehr erfüllt worden seien. Vgl. Bauer, Roger: Die schöne Décadence. Frankfurt am Main: Klostermann 2001, S. 273 – 294.
[50] Vgl. Seitscheck S. 435ff. Siehe hierzu auch Sommer, Andreas Urs: Nietzsche contra Wagner. In: Wagner und Nietzsche. Kultur – Werk – Wirkung. Ein Handbuch. Hg. von Stefan Lorenz Sorgner, H. James Birx und Nikolaus Knoepffler. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 2008, S. 441 – 446.
[51] Ebd., S. 437.
[52] Gerade an dieser Stelle setzt Thomas Mann mit seiner Kritik an Nietzsche an und verteidigt Wagner: „Und wenn Nietzsche es so darstellt, als sei Wagner gegen sein Ende plötzlich, ein Überwundener, vor dem christlichen Kreutz niedergebrochen, so übersieht er oder will übersehen lassen, daß schon die Gefühlswelt des >Tannhäuser< diejenige des >Parsifal< vorwegnimmt und daß dieser aus einem im tiefsten romantisch-christlichen Lebenswerk die Summe zieht und es mit großartiger Konsequenz zu Ende führt.“ Mann (c), S. 366. Thomas Mann geht sogar weiter, wenn er das Leitmotiv zu einer „Monstranz“, welche „eine fast schon religiöse Autorität in Anspruch“ nimmt, erklärt. Dieses „symbolische Formelwesen […] führt mit Notwendigkeit ins zelebrierend Kirchliche zurück, ja, ich glaube, daß die heimliche Sehnsucht, der letzte Ehrgeiz alles Theaters der Ritus ist, aus dem es bei Heiden und Christen hervorgegangen.“ Ebd.
[53] Voss, Egon: Nachwort. In: Wagner, Richard: Späte Schriften zur Dramaturgie der Oper. Hg. von Egon Voss. Stuttgart: Reclam 1996 (= RUB 5662), S. 217 – 228, S. 223.
[54] Pöltner, S. 394.
[55] Der Fall Wagner, 7. Kapitel. Zitiert nach: Kurzke, S. 113.
[56] Ebd., S. 113f.
[57] Pütz, Peter: Kunst und Künstlerexistenz bei Nietzsche und Thomas Mann. Zum Problem des Ästhetischen Perspektivismus in der Moderne. 2. Auflage. Bonn: Bouvier 1975, S. 94.