Die Arbeit beginnt mit der Analyse des Begriffes Selbstständigkeit und einer Beschreibung des offenen Unterrichts. Weiter werden zwei Modelle, die den Anspruch haben, offener Unterricht zu sein beziehungsweise selbstständiges Lernen zu fördern, betrachtet und hinsichtlich ihrer Möglichkeiten zur Offenheit und zum selbstständigen Lernen untersucht. Dabei kommt es zur Beschreibung des Stationenbetriebs und der Freien Lernphase. Nach einer qualitativ forschenden Beobachtung des Stationenbetriebs und der Freien Lernphase ist zu sagen, dass die beiden genannten Modelle bestimmte Möglichkeiten zum selbstständigen Arbeiten bieten können und somit einen Rahmen darstellen, selbstständiges beziehungsweise selbstgesteuertes Lernen zu ermöglichen.
Inhaltsangabe
1. Problemaufriss und Zielstellungen
2. Von der Selbsttätigkeit und der Selbstständigkeit. Begriffserläuterungen und Analysen
2.1 Selbsttätigkeit in der Pädagogik - Ein kurzer geschichtlicher Rückblick
2.2 Von der Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit
2.3 Vom selbstgesteuerten Lernen
2.3.1 Fassungen des Selbststeuerungsbegriffs
2.3.2 Motivation als Prozessmerkmal der Selbststeuerung und der Selbstständigkeit
2.4 Die Bedeutung von offenen Lernsituationen für die Entwicklung von Selbstständigkeit
2.4.1 Die Beschreibung von Offenheit im Unterricht
2.4.2 Die Öffnung des Unterrichts
3. Modelle offener Lernsituationen
3.1 Das Freie Arbeiten oder die Freie Lernphase
3.1.1 Pädagogische Grundideen der Freien Lernphase
3.1.2 Die didaktische Organisation der Freien Lernphase
3.1.2.1 Die Zeit und ihre Bedeutung in der Freien Lernphase
3.1.2.2 Der Raum als Lernumgebung in der Freien Lernphase
3.1.2.3 Lernmaterialien und Selbstbildungsmittel in der Freien Lernphase
3.1.2.4 Der Ablauf einer Freien Lernphase und die Aufgaben der Lehrperson
3.1.3 Die Freie Lernphase vor dem Hintergrund der Ansprüche des offenen Unterrichts
3.2 Das Lernen an Stationen
3.2.1 Pädagogische Grundideen vom Lernen an Stationen
3.2.2 Die didaktische Organisation vom Lernen an Stationen
3.2.2.1 Zu den Vorüberlegungen der Lernstationen
3.2.2.2 Die Gestaltung der Lernstationen
3.2.2.3 Ablauf eines Stationenbetriebs und die Aufgaben der Lehrperson
3.2.3 Der Stationenbetrieb vor dem Hintergrund der Ansprüche des offenen Unterrichts
4. Darstellung und Analyse von offenen Lernsituationen in ausgewählten Klassen
4.1 Beschreibung und Begründung der Forschungsmethode
4.2 Beobachtung und Untersuchung einer Freien Lern/Arbeitsphase hinsichtlich selbstständigen Handelns
4.2.1 Beobachtungen aus dem Protokoll über den Unterrichtsverlauf
4.2.2 Bearbeitung der Forschungsfragen zum Unterrichtsverlauf der Freien Lernphase
4.3 Beobachtung und Untersuchungen eines Stationenbetriebs
4.3.1 Beobachtungen aus dem Protokoll über den Unterrichtsverlauf
4.3.2 Bearbeitung der Forschungsfragen zum Unterrichtsverlauf des Stationenbetriebs
4.4 Der Stationenbetrieb und die Freie Lern/Arbeitsphase als Unterrichtskonzepte des offenen Unterrichts unter dem Anspruch von selbstständigem Lernen
Literaturverzeichnis
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Mögliche Räume während der Lernzeit (Konrad 2008, S. 17)
Abbildung 2: Dialektik linearer und offener Strukturen im offenen Unterricht (Hanke . . 2005, S.42)
Abbildung 3: Aufgaben-Trainer (Hammerer 1994, S. 43)
Abbildung 4: Mini-Tuchtafel (Hammerer 1994, S. 46)
Abbildung 5: Stöpselkasten (Hammerer 1994, S. 45)
Abbildung 6: Körper begreifen (Lenz 1994, S. 53)
Abbildung 7: Stationenraumplan (Bauer 1997, S. 69)
Abbildung 8: Laufkarte als gemeinsamer Stationenplan (Bauer 1997, S. 71)
Abbildung 9: Persönlicher Stationenplan (Binder aus Bauer 1997, S. 73)
Abbildung 10: Übersicht zur Darstellung von Lernstationen (Arnold 2002, S. 12)
1. Problemaufriss und Zielstellungen
In der Diskussion um die Notwendigkeit, selbstständige und individuelle Lernprozesse zu unterstützen, wird der offene Unterricht oft als ideales Konzept dargestellt, um selbstständiges Lernen zu ermöglichen. In der Praxis sind jedoch verschiedenste Modelle, wie etwa der Stationenbetrieb, die Wochenplanarbeit oder das Freie Arbeiten zu finden. Die praktische Realisierung dieser offenen Unterrichtsformen erfolgt in unterschiedlichster Weise und ist jedenfalls mit hohen Erwartungen im Bezug auf das selbstständige Lernen verbunden. In der bereits recherchierten Literatur wird offener Unterricht in engem Zusammenhang mit Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit genannt. Erkenntnisse aus der Kognitionspsychologie und der neurobiologischen Forschung zeigen diesbezüglich, dass Lernen ein eigenständiger Aneignungsprozess ist, der Selbstständigkeit erfordert.[1] In der Öffnung des Unterrichts wird auch im Bereich der Sonderschulen ein Weg gesehen, Selbstständigkeit und selbsttätiges Lernen zu ermöglichen.[2] Aus diesem Problemfeld ergeben sich für meine Arbeit folgende Forschungsfragen:
- Was versteht man unter offenem Unterricht?
- Wie und in welchem Ausmaß findet selbstständiges Lernen in Konzepten des offenen Unterrichts statt?
- Wie zeigt sich selbstgesteuertes/selbstständiges Lernen bei einzelnen Kindern?
Die Bearbeitung dieser Fragen erfordert methodisch eine umfassende Literaturanalyse. Im Mittelpunkt stehen die Klärung der unterschiedlichen Konzepte offenen Lernens und der Begriffe Selbstständigkeit, Selbsttätigkeit und Offenheit. Über Methoden der nicht teilnehmenden Beobachtung werden in ausgewählten Klassen offene Lernsituationen auf den Grad der Offenheit und die Ermöglichung von selbstgesteuertem Lernen hin untersucht.
2. Von der Selbsttätigkeit und der Selbstständigkeit. Begriffserläuterungen und Analysen
Im ersten Kapitel der Arbeit erfolgt zuerst eine grundlegende Auseinandersetzung mit Begriffen rund um die Selbstständigkeit in Bildungsprozessen. Dazu gehören zum Beispiel selbsttätiges Lernen, selbstgesteuertes Lernen, selbstständiges Lernen und selbstreguliertes Lernen. Es wird ein Rahmen geschaffen aus Kriterien, fundierten Zusammenhängen und Forschungsergebnissen, die die Weiterarbeit mit dem Begriff der Selbstständigkeit ermöglichen. Über einige Definitionsansätze der Motivation und deren Zusammenhang mit der Selbstständigkeit führt das erste Kapitel weiter zu einer beschreibenden Einführung in die Öffnung des Unterrichts bis hin zum offenen Unterricht und seinen Facetten.
2.1 Selbsttätigkeit in der Pädagogik - Ein kurzer geschichtlicher Rückblick
Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit gehören schon lange Zeit zu zentralen Begriffen in der Pädagogik. So wurde bereits zur Zeit von Johann Amos Comenius (1592-1670) die Selbsttätigkeit der Jugend im Erwerb von Wissen und Können gefordert.[3] Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) postulierte die Wichtigkeit der Selbsttätigkeit mit folgendem Satz: “Es ist uns bis zur Unwidersprechlichkeit klar geworden, wie viel wahrhafter der Mensch durch das was er tut, als durch das was er hört, gebildet wird.“[4] Adolf Diesterweg (1790-1866) erklärte: „Eine Methode ist in dem Grade schlecht, wie sie dem Lernenden zu bloßer Empfänglichkeit oder Passivität verbannt, in dem Grade gut, in dem sie die Selbsttätigkeit in ihm wachruft.“[5]
Es ist zu erkennen, dass es die Idee der Notwendigkeit von Selbsttätigkeit schon lange gibt. Jedoch erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzten größere Projekte ein, die heute noch Basis für Entwicklungen sind. Mit unterschiedlichen Schwerpunkten entwickelten sich unter anderem Arbeitsschulen, wie die eher praktisch-manuell orientierte von Georg Kerschensteiner (1854-1932) oder die freie geistige Schularbeit von Hugo Gaudig (1860-1923). In diesen Arbeitsschulen wandte man sich gegen die so genannte Buchschule und die Dominanz des Lehrers. Hier wurden bereits die ersten Forderungen von Schularbeit nach dem Prinzip der Selbsttätigkeit der zu unterrichtenden Kinder verwirklicht.
Den nächsten Entwicklungsschwung der Selbstständigkeit brachte die so genannte Reformpädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Maria Montessori (1870-1952) oder Ovide Decroly (1871-1932) gestalteten zu der Zeit schon Hilfsmittel, um lernbehinderte Kinder zu fördern und übertrugen ihre Arbeitsweisen und Erfahrungen
in die Arbeit mit Regelschulkindern. Hierbei entstanden viele Unterrichtsmedien, die bewusst zu selbsttätigem und selbstständigem Bildungserwerb verwendet wurden.[6]
Auf verschiedene Modelle aus der Reformpädagogik wird im zweiten Kapitel noch genauer eingegangen. Es soll in diesem Abschnitt nur gezeigt werden, dass es eine Geschichte von der Idee der Selbsttätigkeit gibt. Es ist eine Geschichte mit Vergangenheit, Gegenwart und auch mit einer bestimmten Zukunft.
Aus der Kognitionspsychologie und neurobiologischen Forschung hat sich im 20. Jahrhundert die Strömung des Konstruktivismus entwickelt. Mittlerweile gibt es sehr viele Spielarten dieser Strömung. Die für das Verständnis der Selbstständigkeit interessanten Punkte aus dem Konstruktivismus beginnen sicherlich bei der Erkenntnis, dass Wissen keine Kopie der Wirklichkeit ist, sondern es vielmehr so ist, dass die Lernenden ihr Wissen selber konstruieren. Sie verleihen neuen Informationen Sinn, indem sie wahrnehmungsbedingte Erfahrungen interpretieren und zwar in Abhängigkeit von ihrem Vorwissen, von gegenwärtigen mentalen Strukturen und bestehenden Überzeugungen.[7] Zentral für den Wissenserwerb ist auch das Aushandeln von Bedeutungen, das in zwischenmenschlichen kooperativen Prozessen erfolgen kann. Dabei kann das gleiche Objekt unterschiedlich interpretiert werden und die Behandlung eines Objekts kann unterschiedliche Lernergebnisse nach sich ziehen. Weiters kann Wissen aus konstruktivistischer Sicht erst als gelernt gelten, wenn es vom Lernenden willentlich und absichtlich konstruiert wird, das heißt auch, dass gelerntes Wissen für den Kommunikationsprozess verfügbar ist. Von großer Bedeutung ist auch, dass es bei der Reflexion beziehungsweise Kontrolle des eigenen Lernens zum Einsatz metakognitiver Fähigkeiten kommt.[8]
Konstruktivistische Modelle bieten einen sehr interessanten Rahmen, wenn es darum geht, selbstständiges Lernen ermöglichen zu wollen. Für den Unterricht liegt dabei, in Anbetracht der konstruktivistischen Ansätze, besonderes Augenmerk in der Notwendigkeit der Schaffung von authentischen Lernsituationen, in denen aktive Konstruktion von Inhalten möglich ist.
2.2 Von der Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit
Die Begriffe Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit werden oft im Zusammenhang mit Unterricht verwendet. Im folgenden Kapitel werden zu diesen Begriffen verschiedene Definitionen und Texte angeführt, kritisch hinterfragt und zum weiteren Umgang für die folgenden Betrachtungen analysiert.
Im Pädagogischen Lexikon wird Selbstständigkeit übersetzt als „ohne fremde Hilfe stehen können“.[9] Wenn die Gedanken um diese Übersetzung etwas kreisen, so kann bemerkt werden, dass selbst stehen zu können ein großartiger und notwendiger Schritt in der Entwicklung vom so genannten Säugling zum Kleinkind[10] ist. Die wörtliche Übersetzung von Selbstständigkeit könnte hier also als ein Teil von Entwicklung gesehen werden, welcher entwicklungsgeschichtlich unter normalen Umständen relativ früh ausführbar ist. Weiter heißt es in dem Beitrag aus dem Pädagogischen Lexikon:
„Selbstständigkeit drückt die Fähigkeit aus, aufgrund eigener Überlegungen Denkergebnisse zu finden, Entschlüsse in eigener Verantwortung zu fassen, danach zu handeln und für sein Tun einzustehen. [...] Immer erhält Selbstständigkeit ihre Qualifikation durch den Bezug des selbstständigen Menschen auf das soziale Verantwortungsgefühl. [...] Eine Konstanz der Selbstständigkeit ergibt sich darum auch nur in stetiger Erneuerung und Bewährung des Willens zu selbstständigem Urteil und Vollzug. In erster Linie bildet sich Selbstständigkeit durch Selbsttätigkeit.“[11]
In dem Auszug wird ausdrücklich die Selbsttätigkeit als eine Grundlage für die Bildung von Selbstständigkeit angeführt. So könnte man sagen, dass die Selbsttätigkeit dazu verhilft, Entschlüsse zu fassen und Verantwortung zu übernehmen, danach zu handeln und für sein Tun einzustehen. Man könnte sagen, dass die Selbsttätigkeit ihre Qualität in Bezug auf das soziale Verantwortungsgefühl erhält und dass eine konstante Selbsttätigkeit sich durch ständige Erneuerung und Bewährung des Willens prägt. Der Selbsttätigkeit lässt sich hierbei eine besondere Rolle zuschreiben.
Ein anderer Zusammenhang zwischen Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit lässt bei Annegret Eickhorst finden. Er gründet auf einem Lexikonbeitrag, welcher lautet: “Selbstständigkeit deutet auf unternehmerische und ökonomische Unabhängigkeit; Selbsttätigkeit darauf, dass ein „...Gerät ohne Bedienung durch den Menschen funktioniert.“[12] Daraus schließt Annegret Eickhorst, im Kontext von Erziehung, auf Selbsttätigkeit als Aktivität von Lernenden und Selbstständigkeit als abgeschlossene und gelungene Erziehung.[13] Selbsttätigkeit wird hier auch wie im Pädagogischen Lexikon als eine Grundlage der Selbstständigkeit gesehen. Der Schluss, welcher Selbstständigkeit als gelungene und abgeschlossene Erziehung ausdrückt, widerspricht allerdings der Definition aus dem Werk Pädagogisches Lexikon, welcher eindeutig von stetiger Bewährung und Erneuerung handelt, also keineswegs abgeschlossen ist.
Ein Gedanke aus der Arbeit von Aloys Fischer scheint hier auch interessant. Es wurde festgestellt, dass der Gedanke der Selbstständigkeit von der Vorstellung des „erlebenden Subjekts“, also dem Kind, ausgeht. Dieses verfügt über ein so genanntes „Täterbewusstsein“, das die eigene Entscheidung zum Tun mit einschließt.[14] Das würde für die Pädagogin und den Pädagogen bedeuten, dass es eine innere Haltung der Persönlichkeit des Kindes gibt, welche mit einem bestimmten Gefühl, bezogen direkt auf die Handlung, geladen ist. Wie stark oder schwach sich nun ein Gefühl von Selbstständigkeit auf die Arbeit eines Menschen auswirken kann, ist nun die Frage. Tatsache ist, dass Aktivität, Spontaneität und Intensität als Kennzeichen von Selbstständigkeit zum Lernen wesentlich beitragen. Maria Montessori prägte dazu die Bezeichnung der polarisierten Aufmerksamkeit. Sie beobachtete ein Kind, das sich mit tiefster und innigster Hingabe auf eine Sache konzentrierte und analysierte die Bedingungen, welche ein solches Phänomen auslösen können. Sie kam zu dem Schluss, dass die freie Wahl des Materials, die Bearbeitungsdauer und die Arbeits- und Kooperationsform grundlegende Vorrausetzungen für eine tiefe und innige Hingabe sind.[15] Diese Beobachtung zeigt deutlich einen Zusammenhang zwischen Entscheidungsfreiheit als Teil von einem Unterricht, der Selbstständigkeit zulässt und dem Täterbewusstsein.
Alberti erweitert den Begriff von Selbsttätigkeit und Selbstständigkeit um den Aspekt des Vertrauens. „Ein Schüler, dem eine gewisse Selbstständigkeit zugetraut wird, gelangt über ein selbsttätiges Vorgehen zu einem Bewusstsein vom Wert seiner Persönlichkeit...“.[16] Das bedeutet auch, dass ein Kind, dem eine gewisse Selbsttätigkeit zugetraut wird, sich ein Stück selber kennen lernt. Mit dem Ausdruck „zugetraut“ wird hier ein Problemfeld angesprochen und zwar, dass die Lehrperson dem Kind ein gewisses Maß an Vertrauen entgegen bringen muss, um überhaupt Selbsttätigkeit zu ermöglichen.
Eine Vorstellung, in der es nicht nur Erfahrungen von „innerer Bereicherung“ im Bezug auf Selbstständigkeit gibt, wird von Rülcker angeführt. Er unterscheidet zwischen funktionaler und produktiver Ausprägungsform der Selbstständigkeit.[17] Die erstgenannte meint, dass Selbstständigkeit auch „zugemutet“ werden kann und zwar, wenn Kinder in relativ frühem Alter vor Aufgaben gestellt werden, die sie überfordern. Produktive Selbstständigkeit ist dagegen möglich, wenn der Einzelne der Anforderung zu Grunde liegende Interessen verstehen und dann in eigener Verantwortung damit umgehen kann.
Peschel verwendet im Zusammenhang mit selbstständigem Lernen auch den Ausdruck „natürliches Lernen“[18]. Dieser Ausdruck gründet auf der Meinung, dass alles, was zur Lernkompetenz gehört, aus dem vorschulischen Lernen bekannt sei. Im Umgang mit Menschen und Gegenständen haben Kinder bereits erfahren, was es heißt, Resonanz zu spüren und zu erzeugen, Vorhandenes spielerisch zu variieren und Regelmäßigkeiten zu entdecken. Dabei ist das Bewusstmachen der eigenen Lernstrategien ein individuelles Erkennen eigener Vorgehensweisen und Strukturen und kann nicht gelehrt, bestenfalls herausgefordert werden. Er schließt weiter darauf, dass natürliches, intuitives Lernen, welches Kindern erlaubt, scheinbar mühelos Systeme der Umwelt wie Sprache zu erlernen, primär zu fördern sei, denn die Bewusstmachung von Mustern und Regelmäßigkeiten erfolgte automatisch. Primär geht es um den intuitiven Zugang zum Lernen, in dem bewusste wie unbewusste Elemente enthalten sein können.[19]
Aus bestehenden Beschreibungen und deren Analyse kann zusammenfassend gesagt werden, dass Selbsttätigkeit ein Weg zu steigender Selbstständigkeit ist. Ein Weg, auf dem man Erfahrungen sammeln und möglicherweise lernen kann, mit Selbstständigkeit umzugehen. Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit sind miteinander verbunden, bedingen einander und können sich auch verstärken. Selbstständiges Lernen ist scheinbar auch ein natürlicher Prozess, den man durchaus fördern und unterstützen kann, wenn man berücksichtigt, dass selbstständiges Lernen ein individueller Prozess ist, den man nicht von außen steuern kann. Weiters ist es als Lehrperson notwendig, sich einer möglichen Überforderung der Kinder durch Selbstständigkeit bewusst zu sein und entsprechend pädagogisch zu handeln. Qualitative Selbstständigkeit führt dabei zur Fähigkeit eines Individuums, als verantwortungsvoll handelnder Teil in einer sozialen Gemeinschaft zu koexistieren.
2.3 Vom selbstgesteuerten Lernen
Ein weiterer interessanter Begriff im Themenkreis der Selbstständigkeit ist die Selbststeuerung. Klaus Konrad hat unter dem Begriff des selbstgesteuerten Lernens ein Buch publiziert, welches sich sehr intensiv mit dem menschlichen Lernen auseinandersetzt. Konrad klagt über eine fehlende Tradition, die sich regelmäßig, auf der Grundlage empirischer Forschung, wissenschaftlich fundiert und praxisorientiert mit dem Lernen an sich beschäftigt. Außerdem macht er deutlich, dass die Strömungen und Ideen des Konstruktivismus nur sehr wenig Einfluss auf die heutigen Unterrichtsmethoden hatten und weiters, dass das einseitige Bild vom lernenden Menschen aus der Zeit des Behaviorismus noch sehr stark in den heutigen Unterrichtskonzepten zu finden ist.[20] Ausgehend von diesen Annahmen wurde ein Lehrbuch zur Thematik des selbstgesteuerten Lernens geschrieben, aus dem nun Fassungen des Selbststeuerungsbegriffs herangezogen werden.
2.3.1 Fassungen des Selbststeuerungsbegriffs
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit formuliert Konrad drei Fassungen vom Selbststeuerungsbegriff und schafft damit eine begriffliche Abgrenzung. Zuerst wird die Betrachtung von Selbststeuerung als autonomes Lernen unternommen. Mit Selbststeuerung als autonomes Lernen bezeichnet Konrad Lernsituationen, in denen die Verantwortung für die Lerntätigkeit beim lernenden Menschen liegt. Der Lernende bestimmt selbst die Aufnahme und die Verarbeitung von Information. Beim autonomen Lernen steht demnach der Lernende als Informationssammler und Informationsverarbeiter im Mittelpunkt. Autonom ist er, wenn er sich selbst Ziele setzen und Materialien heraussuchen kann, und Methoden und Techniken zu dessen Bearbeitung und weiters zur Selbstevaluation zur Verfügung hat.
Als Zweites führt Konrad die Selbststeuerung als pädagogische oder psychologische Kontrolle an. Damit meint er, dass der Grad der Selbst- beziehungsweise Fremdkontrolle der Lernenden bei verschiedensten Lerntätigkeiten als ein wichtiges Merkmal für den Grad der Selbststeuerung gesehen werden kann. Steht die psychologische Kontrolle und damit die Innenansicht des/der Lernenden im Zentrum der Betrachtung, dann kann selbstgesteuertes Lernen auch in stark lehrerzentrierter Lernumgebung stattfinden.[21] Ist die Aufmerksamkeit auf die pädagogische Kontrolle gerichtet, dann befindet sich der Lernende während der Lernzeit in einem Raum zwischen den Extremen der Indoktrination und dem vollkommen unabhängigen Lernen (siehe Abbildung 1). Der Lernende ist dabei in sehr unterschiedlicher Weise verantwortlich für die Organisation und Kontrolle der Lerntätigkeit. Der Gedanke liegt nahe, dass die Lernsituation umso mehr als selbstgesteuert erlebt wird, je mehr Wahlmöglichkeiten der Lernende über das Kontrollmaß erkennen kann, meint Konrad.[22] Abbildung 1 veranschaulicht diesen Sachverhalt am Beispiel der verschiedenen Lernsituationen, welche sich von Indoktrination über programmierte Unterweisung zu entdeckendem Lernen bis hin zum vollkommen unabhängigen Lernen erstrecken. Diese Lernsituationen können während einer Lernsequenz mehrfach wechseln.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Mögliche Räume während der Lernzeit
Als dritte und letzte begriffliche Abgrenzung der Selbststeuerung wird hier die Selbststeuerung als Selbstregulation angeführt. Damit ist die psychische Regulation oder die Frage danach, wie die lernende Person Informationen aufnimmt, verarbeitet, benutzt und in welcher Weise diese kognitiven Vorgänge beeinflusst und bestimmt werden, gemeint.[23] Der Begriff der Regelung sei dabei besonders zu betrachten. Im Unterschied zur Steuerung, bei der der Informationsfluss nur in eine Richtung möglich ist, wird bei Regelungen der Steuerung eine Rückkoppelung beigesetzt, welche nun einen Regelkreis zur Folge hat. Am Beispiel des Lernenden bedeutet das, dass die Lernaktivität dem individuellen Lernfortschritt und dem Lernziel angepasst wird.
Gemeinsam ist den Fassungen des Selbststeuerungsbegriffs die hohe Betonung des Selbstbestimmungsanteils. Selbsttätigkeit ist hier, gleich wie bei der Selbstständigkeit, als Handlungsaktivität zu sehen, die Selbststeuerung zulässt und ermöglicht. Im Vergleich mit der Definition von Selbstständigkeit aus dem Pädagogischen Lexikon drückt Selbststeuerung beim Lernen ebenfalls die Fähigkeit aus, aufgrund eigener Überlegungen Denkergebnisse zu finden, Entschlüsse in eigener Verantwortung zu fassen und danach zu handeln.[24] Lernende treffen beim selbstgesteuerten Lernen eigene Entscheidungen; sie nutzen die Möglichkeiten über Aufgaben, Methoden und Zeitaufwand mitbestimmen zu können und übernehmen somit Verantwortung über den eigenen Lernprozess. Der Wortbaustein „Selbst“ bedeutet in diesem Zusammenhang so viel wie durch die eigene Person beziehungsweise durch das eigene Ich gesteuert. Da die Steuerung von der Person ausgeht, ist das Thema Selbstgesteuertes Lernen ebenso wie Selbstständigkeit unweigerlich mit den Ursachen der Motivation verbunden.
2.3.2 Motivation als Prozessmerkmal der Selbststeuerung und der Selbstständigkeit
Selbstständig Lernende, die aus eigener Initiative Lernhandlungen ausführen, müssen immer motiviert sein, dies zu tun. Die Frage danach, warum jemand motiviert ist, etwas zu tun, um daraufhin selbstständig zu handeln oder auch nicht, ist bei der Bearbeitung des Themas Selbstständigkeit ein wesentlicher Aspekt.
Eine mögliche Beschreibung der Motivation geben die Erwartungs-Wert-Modelle. Die Grundaussage der Erwartungs-Wert-Modelle ist, dass Annahmen der Lernenden über die Erfolgsausichten aufgrund der eigenen Fähigkeiten, aufgrund der Umstände, in denen die Handlungen stattfinden und im Zusammenhang mit Wertigkeiten in Bezug auf den Handlung selbst, die Motivation und die damit verbundenen Lerntätigkeit deutlich beeinflussen.[25] Die Aussagen der Erwartungs-Wert-Modelle sind durch zahlreiche Studien gestützt.
Die Intention zur Handlung hängt in der differenzierten Erwartungs-Wert-Modellbildung im Wesentlichen von drei Variablen ab. In neueren Ansätzen findet bei den Valenzen noch zusätzlich eine Ausdifferenzierung um eine 4. Variable statt, nämlich den tätigkeitsbezogenen Anreiz.
- Situations-Handlungs-Erwartungen
- Handlungs-Ergebnis-Erwartungen
- Valenzen (Werthaltungen, Zielpräferenzen)
Situations-Handlungs-Erwartungen beinhalten die Annahmen über die Kompetenzen und Fähigkeiten, die zur Ausführung einer bestimmten Handlung beziehungsweise Aufgabe nötig sind. Erwartungen dieser Art sind ausschließlich bezogen auf die eigenen Fähigkeiten und haben keinen Zusammenhang mit Handlungsergebnissen. Die Auswertung der auf dem Selbstkonzept beruhenden Erwartung zeigt, dass sie Auswahl der Situationen, Anstrengung und Ausdauer bei der Problembearbeitung beeinflussen. Auch für den Erwerb von Tiefenverständnis zeigen sich Situations-Handlungs-Erwartungen von Bedeutung. Personen, die an ihre Fähigkeiten glauben, zeigen mehr Metakognitionen, gebrauchen häufiger Strategien und beschäftigen sich länger mit Aufgaben als Personen, die ihre Kompetenzen anzweifeln.
Handlungs-Ergebnis-Erwartungen beziehen sich auf die Wahrscheinlichkeit, mit der sich die momentane Situation in der gewünschten Weise verändern lässt. Der Unterschied zu Situations-Handlungs-Erwartungen wird klar, wenn einbezogen wird, dass eine Person denkt, eine Handlung grundsätzlich durchführen zu können, gleichzeitig aber der Meinung ist, die Handlung aus prinzipiellen und situativen Gründen beziehungsweise aufgrund externer Faktoren nicht ausführen zu können. Diese, auch Kontrollüberzeugung genannte Erwartung steht mit kognitiven und metakognitiven Leistungen im Zusammenhang. Individuen, die sich der Handlungs-Ergebnis-Erwartung eher unsicher sind, nutzen deutlich weniger Wiederholungs- und Organisationsstrategien.
Valenzen beziehen sich auf die Beweggründe des Menschen, sich mit einem Gegenstand zu beschäftigen. Findet die lernende Person eine Aufgabe als interessant, wertvoll oder wichtig, so ist diese Person metakognitiv aktiver, verwendet mehr kognitive Strategien und arbeitet mit einem effizienteren Anstrengungsmanagement.[26]
In den neueren Ansätzen der Erwartungs-Wert-Modelle findet man nun hervorgehoben weiters die tätigkeitsbezogenen Anreize. Diese Anreize meinen, wie sehr die lernende Person ihr Tun genießt und sind inhaltlich im Idealfall mit dem Flow-Erleben nach Csíkszentmihályi[27] und dem von Maria Montessori geprägten Begriff der polarisierten Aufmerksamkeit[28] verwandt. Die Merkmale des Flow-Zustands sind:
- Handlungen werden um ihrer selbst willen durchgeführt
- Die Handlungen sind selbst das Ziel. Der Handelnde benötigt keine Belohnungen oder ähnliches.
- Die Person ist frei von Selbstreflexion.
- Die Zeit verstreicht schneller, es kann zu gänzlichem Verlust des Zeitempfindens kommen.
- Die Handlung ist auf dafür Relevantes beschränkt, irrelevante Aspekte werden ausgeblendet.
Die Anreize zum Handeln werden beim Flow-Erleben der Handlung selbst entnommen. Für die Person muss die Aktivität eine Herausforderung sein, die zielgerichtet und durch Regeln gebunden ist, um den Flow-Zustand erreichen zu können.
Interessant hinsichtlich den Erwartungs-Wert-Modellen ist ein Ausschnitt von Deitering:
„Je offener die Lernsituation ist und umso mehr die lernende Person zum Organisator seiner eigenen Lernbemühungen wird, umso stärker findet er sich für sein Lernergebnis selbst verantwortlich, umso weniger Möglichkeiten gibt es, das Scheitern der Bemühungen auf externe Faktoren zurückzuführen und umso größer ist die Anstrengungsbereitschaft.“ [29]
In diesem Abschnitt wird deutlich, dass die höhere Selbstständigkeit einem vergrößerten Verantwortungsgefühl zugeordnet ist. Weiters lässt die Aussage darauf schließen, dass durch die vermehrt gegebene Möglichkeit zum selbstständigen Arbeiten weniger externe Faktoren vom Lernenden verantwortlich zu machen sind und somit mehr Eigenverantwortung gefordert wird. Das Ausschließen externer Faktoren als Begründung vom Lernenden dafür, dass er ein Ziel nicht erreichen kann, wird auch in den Ansätzen der Erwartungs-Wert-Modelle als Grundlage für bessere Motivation und damit verbundenen Lernaktivitäten gesehen.
Ein anderes Modell zur Beschreibung der Motivation sind die Ansätze der intrinsischen und der extrinsischen Motivation.[30] Ist eine Handlung intrinsisch motiviert, so hat die Person den Eindruck, aus freien Stücken heraus zu handeln, empfindet keinen Druck von außen und fühlt sich frei und spontan zur Aktivität berufen. Gegründet kann diese Form der Motivation auf die Lerntätigkeit selbst sein (ich habe Freude beim Lesen von Geschichten) oder auf gegenständliche Wertungen (ich finde Deutsch interessant). Anders ist es bei extrinsischer Motivation, die als Zwang und Fremdbestimmung erfahren wird. Extrinsische und intrinsische Motivation scheinen auf den ersten Blick zwei klar voneinander abgegrenzte Quellen der Lernmotivation zu sein, bei näherer Betrachtung aber verschwindet die Trennungslinie bald. Denn jede Handlung, die ausgeführt wird, ist letztendlich selbstgesteuert. Umgekehrt gibt es nur ganz wenige Tätigkeiten, die einzig aus der Freude am Tun heraus gemacht werden. Die Motivation ergibt sich dann meist außerhalb der Handlung selbst, wie zum Beispiel beim Ausführen einer Handlung, das auf den Gedanken beruht etwas zu tun, um sich damit möglicherweise irgendeinen Wunsch zu erfüllen. Ein Stufenmodell von Krapp, welches sich auf die Handlungsmotivation und den Grad der Selbstbestimmung bezieht, bietet weiteren Aufschluss. Das Modell reicht von der ersten Stufe, die eindeutige Fremdbestimmung über die zweite Stufe, in der Handlungsaktivität als notwendige Voraussetzung zum Erreichen der eigenen Wünsche erkannt wird, gefolgt von der dritten Stufe, in der sich die Person immer mehr mit der Lernaktivität identifiziert, bis hin zur vierten Stufe, worin sich die Person mit der gesamten Lernaktivität und der damit verbundenen Handlungen identifizieren kann.[31]
Peschel, der sich intensiv mit dem Konzept des offenen Unterrichts beschäftigt, meint dazu: Solange Motivationsanlässe im Sinne des selbstintentionalen und selbstbestimmten Lernens die Folge haben, dass sich ein Kind mit einer Lern- und Handlungsaktivität identifizieren kann und nicht einer Fremdsteuerung ausgeliefert fühlt, ist die Benennung der Motivation nicht von Bedeutung. Extrinsische und intrinsische Motivation sind dann keine verschiedenen Quellen von Motivation, denn auch extrinsische Motivationen können ganz leicht zu intrinsischen Motivationsanlässen werden: Gruppenmotivation, Freundschaften, anregende Lernumgebung, Zufälle können innere Begeisterung und Neugier wecken. Diese Art von Motivation ist für Peschel allerdings klar abzugrenzen von äußerlicher und vorsätzlicher Motivierung, die als didaktisches Mittel zum Zweck eingesetzt wird. Für die Pädagogin und den Pädagogen würde sich daraus nicht die Frage stellen, wie wird Unterricht interessant gestaltet, um den Kindern interessiertes Lernen zu ermöglichen, sondern vielmehr die Frage danach, wie lässt sich Unterricht gestalten, dass Lernen als sinnvoll und selbstbestimmt und damit interessegeleitet erlebt wird.[32]
Die motivationale Theorie der Selbstbestimmung postuliert drei angeborene psychologische Bedürfnisse, die in gleichem Maß für die intrinsische und extrinsische Motivation relevant sind: Bedürfnis nach Kompetenz oder Wirksamkeit, Bedürfnis nach Autonomie oder Selbstbestimmung, Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit oder Zugehörigkeit.[33] Diese Bedürfnisse werden nach der Selbstbestimmungstheorie als die Grundlage der Motivationsstruktur angesehen und sind somit wesentliche Punkte für die Betrachtung der Motivation von Lernenden.
Interessant für die Arbeit mit der Motivation als Parameter für Selbstständigkeit ist folgendes Untersuchungsergebnis:
„..., dass die intrinsische Motivation abnimmt, wenn man Personen mit extrinsischen Belohnungen wie Geld oder Auszeichnungen für eine ursprünglich intrinsische Aktivität anbietet. […] Nachdem man Versuchspersonen belohnt hatte, waren diese weit weniger geneigt, die gleiche Tätigkeit in ihrer Freizeit erneut aufzunehmen.“ [34]
Dieser Versuch könnte den Unterschied zwischen einer interessengeleiteten Unterrichtsequenz und einer eben unfreiwilligen Lernaktivität vor Augen führen. Es wird dabei jedenfalls gezeigt, dass wenn es darum gehen soll, langfristiges Interesse unterstützen und selbstständiges Lernen fördern zu wollen, ein derartiges Belohnungssystem ungeeignet ist. Schließlich sollte die Durchführung der Handlung für die Person Anreiz genug sein.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die motivalen Aspekte, die zum selbstständigen Handeln führen, berücksichtigt werden müssen, um Unterricht gestalten zu können, der selbstständiges und somit interessengeleitetes Lernen zulässt und fördert. Die Motivation könnte daher als eine Ursache für selbstständiges Lernen und Arbeiten gesehen werden. Die Basis für eine motivierte Handlungsaktivität ist auf jeden Fall, dass der/die Lernende sich von eigenem Interesse geleitet fühlt und selbst über Rahmenbedingungen wie Zeitmanagement, Sozialform oder Arbeitsmaterial und/oder Aufgabeninhalte (mit)bestimmen kann. Motivation benötigt zum Entstehen also Möglichkeiten zum selbstständigen Handeln und gleichzeitig ist Motivation eine Ursache von selbstständigem Handeln. Motivation und Selbstständigkeit bedingen sich also gegenseitig und können einander verstärken. Zu den angeborenen psychischen Bedürfnissen der Selbstbestimmungstheorie ist zu sagen, dass diese Bedürfnisse im selbstständigen Lernen sicher verstärkten Ausdruck finden können.
2.4 Die Bedeutung von offenen Lernsituationen für die Entwicklung von Selbstständigkeit
In diesem Abschnitt wird der Begriff der Öffnung von Unterricht eingeführt. Zu diesem Thema werden vorhandene Begründungen und Beschreibungen herangezogen und anschließend soll aufgezeigt werden, welche Möglichkeiten im offenen Unterricht gesehen werden können, um die Entwicklung von Selbstständigkeit zu fördern.
Die Ursprünge der Bezeichnung des offenen Unterrichtens findet man in der Diskussion über offene beziehungsweise geschlossene Lehrpläne in den 70er Jahren.[35] Der Begriff offener Unterricht kursiert zu der Zeit auch in Amerika unter dem Begriff „open education“ und lehnt sich konzeptionell an die englische Primärstufenreform an.[36] Die Vorläufer des offenen Unterrichts finden Ausdruck in der Reformpädagogik. Wobei ebenso wie im offenen Unterricht in der Reformpädagogik keine Bewegung Gleichgesinnter zu sehen ist, sondern unterschiedliche Unterrichtsstile, die sogar teilweise miteinander konkurrierten.[37] So hat es in den letzten drei Jahrzehnten vielfältige Bemühungen gegeben, Kennzeichen für offenen Unterricht zu definieren. Als entscheidendes Merkmal wurde dabei immer ein gewisser Grad an Selbst- oder Mitbestimmungsanteil angeführt. Um den Begriff der so genannten Offenheit im Unterricht beschreiben zu können, wird zuerst der Frage nachgegangen, worin denn die Offenheit im Unterricht überhaupt angelegt sein kann. Weiterführend dazu stellt sich eine interessante Frage: Welche Möglichkeiten gibt es im Unterricht, selbstgesteuert oder selbstständig zu handeln? Im nächsten Abschnitt wird also von allgemeinen Beschreibungen und Forderungen an den offenen Unterricht ausgehend über die verschiedenen Dimensionen der Offenheit immer konkreter in die Ideen und Vorstellungen verschiedener Umsetzungen von Öffnung des Unterrichts eingedrungen.
2.4.1 Die Beschreibung von Offenheit im Unterricht
Vermutlich ist die konkrete Beschreibung des offenen Unterrichts bislang nur umrissen und schwer möglich, weil vor allem die immerwährende Grundfrage nach dem Grad der Erziehungsbedürftigkeit und weiter nach dem richtigen Verhältnis von Grenzen und Freiräumen, dem Verhältnis von Freiheit und Verbindlichkeit steht. Die Beantwortung dieser Frage ist ein pädagogisch-philosophisches Problem und immer mit dem Menschenbild beziehungsweise mit der Wahrnehmung des Betrachters verbunden und somit werden alle Bemühungen daran gemessen.
Um dennoch offenen Unterricht zu charakterisieren, werden zunächst einige allgemeine Ausführungen von Petra Hanke, die Offenheit vor den Hintergrund des strukturierten Systems Schule stellt, herangezogen. Sie gibt einige Punkte an, die für Offenheit im Unterricht stehen können und beschreibt diese.[38]
- Offenheit steht für die Vielfalt und Verschiedenheit der individuellen Lernbedürfnisse und Lernmöglichkeiten der Kinder als pädagogischer Leitgedanke.
Daraus ergibt sich der Anspruch aus der Offenheit des Unterrichts für die Vielfalt und Verschiedenheit der individuellen Lernbedürfnisse und Lernmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler, indem jedem Einzelnen, unter Berücksichtigung des Erziehungs- und Bildungsauftrags der Schule, Lerngelegenheiten eröffnet werden, die dem Individuum bestmöglich gerecht werden.
- Offenheit steht für ein konstruktivistisches Verständnis von Lernen.
Einem solchen Verständnis vom Lernen liegt die Erkenntnis der konstruktivistischen Lerntheorien zugrunde, dass sich das Lernen immer als individueller Konstruktionsprozess abzeichnet. Dieser erfolgt in aktiver Auseinandersetzung des Lernenden in anregenden sozialen Lernumwelten und vollzieht sich im Kontext zu individuellen Vorwissensstrukturen und Vorerfahrungen.
- Offenheit steht für die Entfaltung einer Beziehungsstruktur.
Individuelle Konstruktionsprozesse werden möglich in einer Beziehungskultur, in der Vielfalt und Verschiedenheit in den Lernbedürfnissen und Lernmöglichkeiten als gleichwertig akzeptiert sind und eine Atmosphäre der Achtung und Ermutigung, des Vertrauens und Verständnisses füreinander vorherrscht. Dies geht mit einem Menschenbild einher, in dem jedes Kind mit seiner individuellen Biografie als willig und fähig respektiert wird.
Dialektisches Verständnis von Offenheit
Im Hinblick auf die Lernbedürfnisse, Lernmöglichkeiten und Bildungsansprüche jedes einzelnen Kindes ist die Lernkultur geprägt von dialektisch aufeinander bezogenen linearen Strukturen und vernetzten, offenen Strukturen, welche die Wahl zwischen mindestens zwei Optionen voraussetzen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Dialektik linearer und offener Strukturen im offenen Unterricht
In dieser Dynamik ergeben sich für die Kinder einige Möglichkeiten zur Mit- und Selbstbestimmung in verschiedenen Ebenen und das umso mehr der Unterricht offene Strukturen aufweist.
Offener Unterricht kann daraus folgendermaßen zusammengefasst werden. Er beschreibt sich mit der individuellen Lernaktivität als Ausgangspunkt und Ziel pädagogischer Bemühungen. Die individuelle Lernaktivität als individueller Konstruktionsprozess erfolgt dabei in anregenden sozialen Lernumwelten und vollzieht sich im Kontext zu individuellen Vorwissensstrukturen und Vorerfahrungen. Im Offenen Unterricht sind Vielfalt und Verschiedenheit in den Lernbedürfnissen und Lernmöglichkeiten als gleichwertig akzeptiert und eine Atmosphäre der Achtung und Ermutigung, des Vertrauens und Verständnisses füreinander sind vorherrschend. Die Strukturen des offenen Unterrichts geben dem Kind die Möglichkeit zur Mitbestimmung.
In einem interessanten Beitrag zum Thema offener Unterricht äußert sich Franz Hammerer zur Offenheit in den Bereichen pädagogischer Optimismus, dialogischer Verbundenheit und dem Umgang mit dem Fehler.[39] Hierbei wird näher in einige pädagogische Wirklichkeiten eingedrungen und im Zusammenhang mit der Frage nach Offenheit behandelt. Im ersten Bereich, dem pädagogischen Optimismus, kommt dieser als positive Erwartungshaltung zum Ausdruck. Ein Vertrauen, dass ein Kind mehr schaffen kann, als im Moment realisierbar scheint. In dieser zuversichtlichen Erwartung, in der das Selbstvertrauen des Kindes keimt, das Sich-etwas-zutrauen, in dieser Zuversicht liegt der pädagogische Optimismus, der Grundlage für das Öffnen von Unterricht ist. Nur wer diese Zuversicht hat und wer überzeugt ist, dass Kinder alleine lernen können und wollen, kann Freiräume und Offenheit schaffen.
Offensein im Sinne einer dialogischen Verbundenheit würde bedeuten, ein Kind als Mensch und Persönlichkeit verstehen zu wollen und ernst zu nehmen. Im Unterricht kann sich diese Offenheit im Umgang mit den Gedanken der Kinder ausdrücken. Schnell wird im Unterricht klar, ob der/die Lehrende nur an richtigen Antworten interessiert ist, um möglicherweise mit dem Lernstoff schnell voranzukommen, oder ob der Gedanke des Kindes miteinbezogen wird, vielleicht sogar gemeinsam besprochen wird. Es lässt sich in Klassen immer wieder beobachten, wie die Aktivität steigt, wenn der/die Lehrende mehrere Meinungen einholt, bei Unklarheiten ernsthaft nachfragt oder auf Aussagen der Kinder zurückgreift und damit zeigt, dass die Gedanken jedes Einzelnen ein Teil des Bodens für das gemeinsame Durchdringen einer Sache sind. Die Offenheit in dialogischer Verbundenheit erfordert also Achtsamkeit im Umgang und im Gespräch mit den Kindern.
Offenheit zeigt sich deutlich im pädagogischen Umgang mit dem Fehler. Häufig handeln Lehrende wie eine “schnelle Eingreiftruppe“. So kommt es, dass Lehrende sich auf Fehler stürzen und dem Kind vorhalten. Die folgende Situation soll den problematischen Umgang mit dem Fehler verdeutlichen. Eine Lehrerin fragt: “Wie viel ist drei plus vier?“ Einige Kinderhände schießen in die Höhe. Ein Kind wird nach dem Ergebnis gefragt. Es sagt voller Überzeugung: „Drei plus vier ist gleich acht!“ „Nein, das ist nicht richtig“, antwortet die Lehrerin und fragt nach ein paar Sekunden: “Wer kann ihm helfen?!“ „Ich, ich, ich“, tönt es durch die Klasse. Ein Kind wird aufgerufen und sagt stolz das richtige Ergebnis. Was ist aber mit dem anderen Kind, ist ihm mit dem Vorsagen der richtigen Antwort geholfen? Meistens nicht, im Gegenteil, das Kind ist zum zweiten Mal in seinem Irren bestätigt worden. Dieser Ablauf hat weder die Sache wirklich geklärt, noch den Schüler, der sich verrechnet hat, unterstützt.
[...]
[1] Vgl. Peschel 2006, S. 40
[2] Vgl. Arnold aus Altenburg 2000, S. 15
[3] Vgl. Wilkner 1956, S. 4f
[4] Pestalozzi aus Wilkner 1956, S. 4
[5] Diesterweg aus Wilkner 1956, S. 4
[6] Vgl. Wilkner 1956, S. 5
[7] Vgl. King aus Konrad 2008, S. 32
[8] Vgl. Konrad 2008, S. 33
[9] Horney & Ruppert 1970, S. 995 ff
[10] Vgl. Flehming 2007, S. 237
[11] Horney & Ruppert 1970, S. 995
[12] Asselmeyer aus Haberl & Hammerer 2004, S. 186
[13] Vgl. Eickhorst aus Haberl & Hammerer 2004, S. 186
[14] Vgl. Fischer aus Eickhorst in Haberl & Hammerer 2004, S. 186
[15] Vgl. Montessori aus Bacher & Egouli 2000, S. 8
[16] Alberti 1986, S. 298
[17] Vgl. Rülcker nach Eickhorst in Haberl & Hammerer 2005, S. 186
[18] Peschel 2006, S. 16
[19] Vgl. Peschel 2006, S. 16
[20] Vgl. Konrad 2008, S. 4
[21] Vgl. Weinert 1982 aus Konrad 2008, S. 17
[22] Vgl. Konrad & Wosnitza 1995 aus Konrad 2008, S. 17
[23] Vgl. Dubs 1996 aus Konrad 2008, S. 18
[24] Vgl. Horney & Ruppert 1970, S. 995
[25] Vgl. Zimmermann und Bandura 1994 aus Konrad 2008, S. 41
[26] Vgl. Konrad 2008, S.40ff
[27] Vgl. Csíkszentmihályi 1992 aus Konrad 2008, S. 44
[28] Vgl. Montessori aus Bacher & Egouli 2000, S. 8
[29] Vgl. Deitering 1995 aus Peschel 2006, S. 17
[30] Vgl. Connel und Grolnick 1992 aus Konrad 2008, S. 44ff
[31] Vgl. Krapp 1996 aus Konrad 2008, S. 46
[32] Vgl. Peschel 2006, S. 16
[33] Vgl. Deci und Ryan 1993 aus Konrad 2008, S.47
[34] Deci und Ryan 1993 aus Peschel 2006, S. 17
[35] Vgl. Hammerer 1994, S. 19 und Hanke 2005, S. 39
[36] Vgl. Hanke 2005, S. 39
[37] Vgl. Peschel 2006, S. 16
[38] Vgl. Hanke 2005, S. 41
[39] Vgl. Hammerer aus Freund, Gruber & Weidinger 1998, S. 38 Inhaltsangabe
- Arbeit zitieren
- Benjamin Gsaxner (Autor:in), 2010, Offener Unterricht - Ein mögliches Konzept zur Unterstützung von selbstständigem Lernen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/153995
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