Videospiele als interaktive Fiktionen - Zur Literarizität der Neuen Medien


Diplomarbeit, 2009

94 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 EINLEITUNG

2 LITERARIZITÄT

3 SPEZIFIKA VON VIDEOSPIELEN
3.1 EINE KURZE VIDEOSPIELGESCHICHTE
3.2 VIDEOSPIELE ALS SPIELE
3.3 VIDEOSPIELE ALS ERZÄHLUNGEN
3.4 VIDEOSPIELE ALS INTERAKTIVE FIKTIONEN

4 BIOSHOCK
4.1 GENRE UND SPIELPRINZIP
4.2 SETTING UND GESCHICHTE.
4.3 BESONDERHEITEN DER ERZÄHLERISCHEN VERMITTLUNG.
4.4 ZEIT
4.4.1 Ordnung
4.4.2 Dauer
4.4.3 Frequenz.
4.5 MODUS UND STIMME
4.5.1 Distanz
4.5.2 Fokalisierung
4.5.3 Erzählsituation
4.6 BIOSHOCK IN DER TRADITION LITERARISCHER DYSTOPIEN
4.6.1 Bioshock als dystopischer Raum
4.6.2 Objektivismus und Religion in Rapture
4.7 ZUR LITERARIZITÄT VON BIOSHOCK

5 MAX PAYNE
5.1 GENRE UND SPIELPRINZIP
5.2 SETTING UND GESCHICHTE.
5.3 BESONDERHEITEN DER ERZÄHLERISCHEN VERMITTLUNG.
5.4 ZEIT
5.5 MODUS UND STIMME
5.6 MAX PAYNE ALS KRIMI DER HARD-BOILED SCHOOL
5.7 ZUR LITERARIZITÄT VON MAX PAYNE.

6 SCHLUSS.

7 LITERATURVERZEICHNIS

1 Einleitung

Viele wissenschaftliche Arbeiten über das Neue Medium Videospiel1 beginnen mit einer apologetischen Präambel, die das Fehlen wissenschaftlicher Diskurse zum Gegenstand beklagt und legitimierend auf die Rekordumsätze des Videospielemarktes verweist, um kritische Leser von der Relevanz der angestellten Betrachtungen zu überzeugen (vgl. Fisler 2006: 2). Diese Strategie mag nötig sein angesichts der teils recht kulturpessimistischen öffentlichen Meinung, welche den Gegenstand als Kinderspielzeug oder Killerspiel (vgl. Stöcker 2005: 1; Hanke 2008: 7) abstraft, ist aber dennoch irreführend.

Der Stellenwert des Videospiels, welches „bereits dem Kartenverkauf an der Kinokasse den Rang abläuft“ (Hanke 2008: 7), lässt sich freilich nicht nur an seiner ökonomischen Bedeutung festmachen. Videospiele sind nämlich nahezu seit ihrer Entstehung in den sechziger Jahren als eigenständiges Kulturphänomen, Kunstform und wissenschaftliches Forschungsobjekt relevant (vgl. Fisler 2006:2). Besonders in den neunziger Jahren entdeckten Geistes- und Kulturwissenschaften Videospiele als Gegenstand. Sogar ein eigener Wissenschaftsbereich, die rein spieltheoretische Ludologie sowie die interdisziplinär ausgerichteten game studies, existiert, eine definitive einheitliche Theorie des Videospiels jedoch nicht (vgl. Seda 2008: 57; Hanke 2008: 7).

Zu den ersten am Videospiel interessierten Forschungsrichtungen zählte indes die angloamerikanische Literaturwissenschaft (vgl. Hanke 2008: 7.), welche schon 1985 die Geburtsstunde der Computerspielphilologie einläutete mit Mary Ann Buckles’ „Interactive Fiction as Literature: The Storygame Adventure“ (Seda 2008: 57), einer Arbeit, die sich damals fast aufgedrängt haben muss aufgrund der durch das Medium Text bedingten Nähe der frühen Adventure-Spiele zur Literatur2. Im deutschen Raum setzt man sich erst seit wenigen Jahren intensiv aus Sicht der Literaturwissenschaft mit dem Videospiel auseinander3. Generell ist festzustellen, dass ein Großteil der literaturwissenschaftlichen Arbeiten dem Bereich der Narratologie zuzuordnen ist, da das storytelling in den meisten Videospielen immer mehr in den Mittelpunkt rückt und sich die Breitenwirkung dieses Neuen Mediums durch die Einbindung von Geschichten beständig steigert (vgl. ebd.: 104).

Angesichts der umfassenden Narrativisierungstendenzen und dem entsprechenden Interesse der interdisziplinär ausgerichteten Literaturwissenschaft (vgl. ebd.) ist die Frage berechtigt, ob das Videospiel überhaupt als literarisch einzustufen ist und sich als Gegenstand der Literaturwissenschaft eignet. In Anbetracht der engen Wechselbeziehungen zwischen Videospielen und traditionellen erzählerischen Medien, wie Literatur und Film (vgl. Neitzel 2000: 49), stellt sich überdies die Frage, inwiefern das Videospiel die Konventionen literarischer Erzähltexte aufgreift und vielleicht sogar den legitimen Nachfolger des Romans darstellt. In dieser Arbeit soll dem Videospiel deshalb, stellvertretend für die Neuen Medien, ein gewisser Grad an Literarizität nachgewiesen werden. Im Kontext eines erweiterten Textbegriffs und der Medienunabhängigkeit der Erzählung werden zu diesem Zweck ausschließlich literaturwissenschaftliche Kategorien und Verfahren auf die interaktiven Fiktionen des Videospiels angewendet.

Es wird also angenommen, dass trotz der grundsätzlichen Unterschiedlichkeit von Literatur und Videospiel im interaktiven Medium Mittel und Inhalte literarischer Narration eingegliedert werden. Besonderes Interesse gilt deshalb im Rahmen dieser Arbeit den Erzählstrukturen im videospielerischen Diskurs. Diese sollen mit gängigen Definitionen von Narrativität abgeglichen werden und mit Hilfe narratologischer Konzepte von Gerard Genette (1998) untersucht werden, um das narrative Potential von Videospielen einzuschätzen und um überdies festzustellen, wie Videospiele Geschichten erzählen und welche neuen Erzählmöglichkeiten sie durch Kombination von Spiel und narrativen Elementen mittlerweile bieten.

„What narratives there is in videogames is usually tacked on as backstory, or is comprised of non-interactive full motion videos.“ (Tavinor 2005: 35), obwohl dies vielen videospielerischen Erzählungen vorgeworfen werden kann, soll dennoch in dieser Arbeit exemplifiziert werden, dass gelungene interaktive Fiktionen durchaus Erzählung und Spiel miteinander vereinen, und noch dazu recht vielfältige Erzählmittel einsetzen können.

Weiterhin soll durch Rekurrenz auf genretheoretische Monographien nachgewiesen werden, dass in Videospielen stattfindende Erzählungen in der Tradition literarischer Romangenres stehen, da vermutet wird, dass sich die intermedialen Gemeinsamkeiten über allgemeine Strukturprinzipien, Motive, Figurenkonstellationen bis hin zu Handlungsschemata erstrecken, und sogar explizite Verweise auf konkrete literarische Werke vorzufinden sind. Schließlich wird erhofft durch die Kombination und praktische Anwendung von Erkenntnissen der literaturwissenschaftlichen Genre- und Erzähltheorie, die Literarizität des Videospiels beispielhaft zu untersuchen und nachzuvollziehen, wie in jenem Medium erzählt wird.

Als erstes ist das historisch wandelbare Konzept der „Literarizität“ zu klären und ein diesbezüglicher Arbeitsbegriff zu entwickeln, der einerseits den Eigenheiten der Literatur gerecht wird, andererseits die intermediale Suche nach dem Literarischen ermöglicht. Im darauf folgenden Kapitel wird das Videospiel und seine spezifischen Besonderheiten vorgestellt. Dabei soll neben einem kurzen Überblick über die Entstehung der interaktiven Fiktionen der Eigenständigkeit des Videospiels als Nebeneinander von Spiel und Erzählung Rechung getragen werden.

Den Schwerpunkt dieser Arbeit bildet anschließend im vierten und fünften Kapitel die praktische Untersuchung der beiden Videospiele4, Bioshock und Max Payne, welche an entsprechender Stelle näher vorgestellt werden. Im Zuge der beiden Fallstudien5, die von Beschreibungen des jeweiligen Spielprinzips und -genres eingeleitet werden, wird versucht, die Vorüberlegungen über die Besonderheiten von Videospielen als interaktive Fiktionen mit einzubeziehen, und Erzählstrukturen sowie Analogien zu literarischen Genres zu erforschen, um schließlich die Literarizität der beiden Titel einzuschätzen. In diesem Kontext wird die These aufgestellt, dass Bioshock als interaktiver Nachfolger des dystopischen Romans des 20. Jahrhunderts und Max Payne als Erbe des Kriminalromans der hard-boiled- school gelten können.

2 Literarizität

Der Begriff „Literarizität“ bezeichnet die besonderen Eigenschaften der Texte, die in den Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft fallen (vgl. Weimar 1998: 443; Antor 1998b: 376), also [...] dasjenige, was alle literarischen Texte „zur Literatur macht“, die Qualität, die in allen literarischen Werken manifest ist, und wodurch wir sie als Literatur erkennen und benennen können. (Van Peer 1998: 111)

Die Bestimmung von Literarizität, der „differentia specifica“ von Literatur, ist somit direkt vom verwendeten Literaturbegriff abhängig (Antor 1998b: 376).

Jedoch herrscht in der Literaturwissenschaft kein Konsens darüber, wie ihr Gegenstand zu definieren ist (vgl. Grabes 1981: 1). Einigkeit besteht nur darin, dass der Begriff „Literatur“ sehr weit gefasst werden kann, so dass er alles Geschriebene und alles Gedruckte, also jede Art von Text, umfasst (vgl. Weimar 1998: 443). Da in der Gegenwart mitunter ein stark erweiterter Textbegriff gebraucht wird, könnte eine solch extensive Definition von Literatur „alle kulturellen Systeme und ihre Produkte [...], die für Menschen bedeutsam sein können“, also auch Videospiele, mit einschließen (Korte 2004: 81).

Ein derartiger Literaturbegriff ist zwar gut geeignet, um Computerspiele als literaturwissenschaftlichen Gegenstand zu qualifizieren, verspricht aber ohne Modifikation im Bezug auf die Fragestellung keinen großen Erkenntnisgewinn, da erhofft wird zu zeigen, dass die Literarizität von Videospielen über ihre bloße Eigenschaft als Bedeutungssystem hinausgeht. Für diese Arbeit wird folglich ein intensiver Literaturbegriff benötigt, der weitere Faktoren im Hinblick auf Literarizität berücksichtigt.

Über eine solche Bestimmung von Literatur im engeren Sinne ist sich jedoch die Literaturwissenschaft uneins (vgl. Grabes 1981: 2). Verfolgt wird die Frage nach dem Wesen von Literatur bereits seit der Antike, ohne dass man zu einem einheitlichen Literaturbegriff im engeren Sinne gekommen wäre (vgl. Korte 2004: 80). Ziel dieses Kapitels ist es deshalb nicht die historische Wandelbarkeit des Literaturverständnisses nachzuzeichnen, es sei dennoch erwähnt, dass Literatur allein im letzten Jahrhundert als „Bildungspotential, als psychischer oder existentieller Ausdruck, als dichterisches Kunstwerk, als soziales Dokument, als Agglomerat von Textsorten, als Kommunikationsmittel“ definiert wurde (Arntzen 1984: 143). Man kann also an der Möglichkeit Literatur im engeren Sinne eindeutig zu bestimmen zweifeln (vgl. Grabes 1981: 7).

Das Fehlen eines einheitlich definierten Gegenstands wird gemeinhin in der Literaturwissenschaft dennoch nicht als nachteilig erachtet (vgl. Weimar 1998: 447). Dies zeigt einerseits, dass die Bestimmung des Literaturbegriffs weniger der Klassifikation des Gegenstands als vielmehr der Legitimation wissenschaftlicher Verfahren dient (vgl. ebd.). Andererseits impliziert das Problem des Literaturbegriffs, dass die Vielfalt und historische Wandlungsfähigkeit der Literatur nicht verallgemeinernd in eine Definition gezwängt werden kann, „denn erst wo man sie [...] in ihrer Eigentümlichkeit zu verstehen anfängt, beginnt auch die aufregende und verwandelnde Wirkung von Literatur“ (Arntzen 1984: 143).

Es wird also weder dem Gegenstand gerecht, noch ist es leistbar, dieser Arbeit eine endgültige Definition von Literatur, ein Bündel von Literarizitätskriterien, das alle literarischen Texte abbildet, zu Grunde zu legen. Es muss folglich ein eingeschränkter Arbeitsbegriff von Literarizität gewählt werden, welcher der „Eigentümlichkeit“ von Literatur gerecht wird und nicht derart auf das Medium Videospiel zugeschnitten wird, dass beliebige Charakteristika literarischer Texte wahllos aus dem Kontext herausgelöst werden. Denn dies würde genauso wenig den Besonderheiten von Literatur gerecht werden und die Grenzen zwischen Begriffsbestimmung und Verfahrenslegitimation verwischen.

Da normalerweise kein Zweifel daran besteht - auch wenn es trivial erscheinen mag -, dass beispielsweise Orwells 1984 als dystopischer Roman des 20. Jahrhunderts literarisch ist und in den Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft fällt, orientiert sich die Bestimmung von Literarizität in dieser Arbeit an wissenschaftlich gesicherten Besonderheiten, die einzelne Textgruppen einer literarischen Gattung gemeinsam haben.

Denn wir finden uns in der Literatur immer einzelnen Texten gegenüber, die primär nicht auf ihre Literarizität hin, also auf ihre Zugehörigkeit zur Literatur schlechthin, sondern daraufhin betrachtet werden, ob sie etwa lyrisches Gedicht oder eine Erzählung oder ein Trauerspiel sind bzw. zu sein behaupten. (Arntzen 1984: 99)

Die „literarische Qualität“ kann so abhängig davon bestimmt werden, ob „Gattungsintentionen“ realisiert werden (Arntzen 1984: 108). In diesem Zusammenhang wird angenommen, dass das Phänomen Literatur nicht materiell gebunden sondern auch in anderen Medien zu finden ist. Aufgrund der zu untersuchenden These, dass Videospiele insofern literarisch sind, als dass sie interaktive Geschichten6 erzählen, die erprobte Grundmuster der Literatur aufweisen, bietet es sich folglich an, für die Beurteilung ihrer Literarizität, die Gattung der Epik, genauer gesagt, die Eigenschaften narrativer Texte, die sich in Roman und Erzählung realisieren (vgl. Arntzen 1984: 107), zu Grunde zu legen. Denn „der Grundaspekt des Romans ist, dass eine Geschichte erzählt wird“ (Forster 1949: 34).

Die Frage nach der Literarizität von Videospielen im Rahmen dieser Arbeit zielt also darauf ab, den videospielerischen „Diskurs der Erzählung“ zu beschreiben, das Verhältnis von erzählten Geschichten und ihrer erzählerischen Wiedergabe (Genette 1998), und inwiefern dies in den Kontext der Literatur eingebettet ist. Das Beschreibungsinventar der strukturalistisch geprägten Narratologie ist zu diesem Zweck besonders geeignet ist, da es sich primär auf literarische Erzählgenres wie Romane oder Kurzgeschichte bezieht (vgl. Nünning 2002a: 6). Die Annahme, dass neben den Erzählmechanismen im Computerspiel auch dessen Erzählinhalte Gemeinsamkeiten zu Romangenres aufweisen, wird zusätzlich mit ausgewählten Werken aus dem Bereich der Genretheorie abgeglichen.

Bevor die Literarizität von Videospielen praktisch untersucht wird, gilt es, im nächsten Kapitel den Gegenstand und seine Geschichte im Hinblick auf seine Narrativität vorzustellen, den spezifisch spielerischen Charakter des Mediums zu berücksichtigen und im Rahmen dieser Vorüberlegungen zu klären, inwiefern Videospiele überhaupt als Erzählungen zu betrachten sind.

3 Spezifika von Videospielen

Videospiele, ein „Kulturphänomen des digitalen Zeitalters“, sind computerbasierte Applikationen, die den Neuen Medien zugerechnet werden (Seda 2008: 28). Um ein Computerspiel zu spielen, benötigt man entweder einen PC samt Monitor oder eine Spielkonsole, die mit einem Fernsehgerät verbunden ist. Mit Hilfe einer Spielesoftware erzeugen diese Plattformen ein interaktives Spielerlebnis für einen oder mehrere Nutzer, die gegen den Computer oder gegen andere Mitspieler antreten. Gesteuert wird ein Videospiel über bestimmte Eingabegeräte, sogenannte Game Controller7. Der Spieler erhält für seine Eingaben eine audio-visuelle Rückmeldung durch Monitor und Lautsprecher, die als Ausgabegeräte für das virtuelle Geschehen fungieren. Oft erfolgt auch eine haptische Rückkopplung über die Eingabegeräte, manche Joypads verfügen zum Beispiel über Vibrationsmotoren, welche Erschütterungen oder sonstige Bewegungen in der Spielwelt fühlbar machen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Das Videospiel

Die im Rahmen dieser technischen Ausgangssituation stattfindenden Computerspiele werden im literaturwissenschaftlichen Diskurs als „interaktive Fiktionen“ eingestuft (vgl. Seda 2008: 16; Walter 2001: 13; Neitzel 2000: 17; Kücklich 2002: 178), was darauf hinweist, dass sie weder bloß Spiele noch Erzählungen im klassischen Sinne sind. Ob diese Bezeichnung zutreffend ist und wie genau sich diese beiden Kulturtechniken im Rahmen des „Interactive Storytelling“ zueinander verhalten, ist nun Erkenntnisinteresse (Seda 2008: 104), und wird vorerst anhand eines Überblicks über die Entstehung der interaktiven Videospielgeschichten skizziert.

3.1 Eine kurze Videospielgeschichte

1961 entwickelt der Student Steve Russel das erste Videospiel namens Spacewar (Russel 1976), in welchem sich zwei Spieler mit Raumschiffen bekämpfen und dabei die Anziehungskraft der Sonne meiden müssen (vgl. Neitzel 2000: 165). Zwar setzte sich die Weltraumschlacht nur aus ASCIIbasierten Zeichen und Ziffern zusammen, doch dieses Eindringen in den Bildraum hinter der Mattscheibe, der nicht mehr nur ein passiv wahrgenommener Ort der Darstellung war, sondern nun zu einem interaktiven - wenn auch sehr abstrakten - Handlungsraum wurde, markierte die Geburtsstunde der Videospiele (vgl ebd.: 57).

Leider war dieses Vergnügen in den sechziger Jahren Informatikern vorbehalten, da nur sie Zugang zu den teuren Computern hatten. Nicht früher als 1971 entwickelte Atari-Gründer Nolan Bushnell die erste Spielhallenversion von Spacewar und die kommerzielle Vermarktung der Videospiele begann (vgl. Seda 2008: 82).

Im gleichen Jahrzehnt entstand vor dem Hintergrund des aufkommenden Heimspielemarktes das textbasierte (Colossal Cave) Adventure (Crowther 1976), welches als Prototyp des gleichnamigen Adventure-Genres zahlreiche Nachfolger inspirierte (vgl. Gogolin 2005: 9). Ausschließlich durch Text wird in diesen Titeln eine der Fantasy-Literatur angelehnte Welt erschaffen, unter anderem mit versteckten Schätzen und einer Erzählung, die „bei der maximalen Punktzahl endet“ (vgl. ebd.). Der Spieler schlüpft in die Rolle des fiktiven Abenteurers, indem er aus einem begrenzten Repertoire verschiedener Textbausteine einfache Befehle zusammensetzt, während das „unter der literarischen Oberfläche liegende Programm“ eine menschliche Reaktion auf die Eingabe nachahmt (vgl. ebd.). Hier eine kurze Sequenz aus Adventure:

[...] You are standing at the end of a road before a small brick building. Around you is a forest. A small stream flows out of the building and down a gully. >enter building -That’s not something you can enter. >search building -You find nothing of interest. [...] >go south -In Forest >look -You are in an open forest, with a deep valley to one side. [...] >fuck you -Real adventurers do not use such language [...] >examine forest -The trees of the forest are large hardwood oak and maple, with an occasional grove of pine or spruce. [...] This time of year visibility is quite restricted by all leaves but travel is quite easy if you detour around the spruce and berry bushes. (zitiert nach Neitzel 2000: 188ff.)

(Colossal Cave) Adventure als erstes narratives Text-Abenteuer und Spacewar als erster action- und geschicklichkeitsorientierter Arcade-Titel begründeten zwei Entwicklungslinien, in die sich die meisten Videospiele der siebziger und achtziger Jahre einordnen lassen (vgl. Seda 2008: 77ff.). Unter Arcade-Spielen versteht man die Automaten in Spielhallen, sogenannten „Penny Arcades“. Im Gegensatz zu den rätsellastigen Adventures für zu Hause, in welchen die Geschichte eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, sind Spielautomaten immer auf schnelle Reaktion und Gefechte unter Zeitdruck ausgelegt (vgl. ebd.: 83). Da jeder Versuch einen Münzeinwurf erfordert, ist die Spielzeit oft nur kurz. Es kann in der Spielhalle also kaum eine Geschichte erzählt werden, während man sich in Adventures zeitlich ungebunden durch eine Fantasiewelt bewegt, Entscheidungen trifft und die Handlung vorantreibt. Beide Lager sollten sich im Laufe der Zeit stetig annähern um schließlich zu interaktiven Videospielgeschichten zu verschmelzen (vgl. ebd.: 104.).

Die Annäherung beider Traditionen äußert sich heute verstärkt im Aufkommen sogenannter Mischgenres [...]. Dabei stellt sich weniger die Frage, ob diese eher zu den Actionspielen oder mehr zu den Adventure Games zu rechnen sind - vielmehr interessiert, wie Momente der Interaktivität bzw. Narrativität ineinandergreifen. (ebd.: 105)

Während die Adventure-Spiele der siebziger Jahre durch textuelle Mittel Narrativität erzeugten, waren die Arcade-Action-Titel aufgrund der abstrakten, eher symbolischen Graphik auf spielexterne oder „paratextuelle“ Hilfsmittel angewiesen (Gogolin 2005: 7). So verwiesen Verpackungen, Automatengehäuse und Anleitungen auf spielfremde erzählerische Inhalte, und der Nutzer musste sich den Rest vorstellen, d. h. die Striche und Punkte zu einer Weltraumschlacht werden lassen (ebd.).

Im Zuge des technischen Fortschritts der achtziger Jahre und der wachsenden Bedeutung der Heimcomputer und -konsolen wurde ebenso die Traditionslinie der Arcade-Spiele narrativer, auch weil der Konsument für Spielmodule teuer bezahlte und länger unterhalten werden wollte (vgl. Seda 2008: 8). Dank verbesserter Graphik steigerte sich zuerst die Ikonizität der dargestellten Objekte, und schließlich wurden aus abstrakten Werkzeugen und pixeligen Gefährten anthropomorphe Geschöpfe, die umrahmt von einfachen Heldengeschichten als Protagonisten oder Antagonisten zusätzlich eine narrative Funktion erhielten (vgl. Gogolin 2005: 8ff.).

Abbildung 2: The Evolution of Mario

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Als Beispiel früher Figurenpersonalisierung und ihrer entsprechenden narrativen Einbettung sei auf Nintendos Klempner Mario (Nintendo 1985) verwiesen, den wohl bekanntesten Protagonisten der Videospielgeschichte. Seine Berühmtheit ist nicht nur seinem erweiterten Aktionsrepertoire (Laufen, Rennen, Klettern, Springen, Schießen) geschuldet, sondern auch darauf zurückzuführen, dass er mit rotem Overall und Baseballkappe, blauem Hemd und Schnurrbart weit individueller aussah als alle seine Vorgänger (vgl. Neitzel 2000: 181ff.). Dabei ist Marios Design eher ein Zufallsprodukt, welches auf die graphische Beschränktheit der frühen Achtziger zurückzuführen ist. Da nicht genug Bildpunkte für eine nuancierte Darstellung seiner Gesichtszüge zur Verfügung standen, sparte man sich Mund und Lippen und nutzte einfach ein paar braune Pixel als Bart. Ähnlich simpel gestaltet sich auch die stereotype Geschichte, die in allen Mario- Inkarnationen, auch in der Filmadaption, die gleiche ist: Prinzessin Peach, Marios Freundin, wird vom Kontrahenten Bowser entführt und der kleine Klempner muss sie retten (vgl. ebd.).

Größer waren die erzählerischen Möglichkeiten der Adventure- Traditionslinie, welcher aufgrund des Mediums Text eine gewisse Nähe zur Literatur attestiert wird (vgl. Gogolin 2005: 9; Seda: 2008: 92). So basierte die Geschichte, die der Spieler oft „in medias res“ nachvollzog, meist auf Literaturadaptionen des Fantasy-Genres, z. B. auf denen Tolkiens (vgl. ebd.).

Dabei war das Interaktionspotential dieser „interaktiven literarischen Erzählung[en]“ (Seda 2008: 93) aufgrund der vorproduzierten Handlungsstränge nicht so groß wie in action-orientierten Spielen. Dies gibt Anlass zu der Vermutung, dass eine in sich geschlossene Geschichte nur auf Kosten der spielerischen Interaktivität geschaffen werden kann, was in Kapitel 3.4 näher zu erläutern sein wird.

In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre profitierten die Abenteuerspiele ebenfalls von den gehobenen technischen Standards, und aus Text- wurden Graphik-Adventures. Zuerst illustrierten statische Bilder das Spielgeschehen. Dann entstanden navigierbare, zweidimensionale Handlungsräume, wobei die Befehlseingabe immer noch über ein Feld am unteren Bildschirmrand erfolgte. Mitte der neunziger Jahren etablierten sich schließlich die ersten dreidimensionalen Adventures mit intuitiverer „halbautomatische[r] und kontextsensitiver[r] Entscheidungsnavigation“ per Mausklick (Gogolin 2005: 10).

In den Neunzigern betraten auch die Spiele der Arcade-Tradition die dritte Dimension und entwickelten sich überdies weiter, indem sie ihr erzählerisches Potential beständig steigerten. Hauptsächlich unter dem Einfluss anderer Medien, vor allem dem des Films, wurden weitere narrative Elemente integriert (vgl. ebd.).

As the games’ visuals developed, games began using different styles of lighting, different points of view, continuity editing, and other techniques from film and television. Games became more character centered. Visually, backgrounds had more scenery and became locations, and there was often more narrative context surrounding the action of the game. By the 1990s, video games had title screens, cutting between different sequences, multiple points of view, multiple locations, and increasingly detailed storylines. (Wolf 2001: 32)

Zu den Erzählkonventionen zählten in diesem Kontext animierte Filmsequenzen am Anfang und Ende des Spiels. Diese Pro- und Epiloge gehörten nicht zum eigentlichen Spielablauf, sondern dienten der erzählerischen Rahmung. Hinzu kamen eingeschobene Zwischensequenzen, die jedoch für das konkrete Spiel ebenso ohne Bedeutung blieben, was darauf hinweist, dass Spiel und Erzählung zwei disparate Phänomene sind (vgl. Seda 2008: 88).

Inzwischen werden die Geschichten den Videospielen nicht mehr bloß „übergestülpt“, sondern die Erzählung strukturiert das interaktive Geschehen und umgekehrt. Das Zusammenwirken von Interaktivität und Narrativität, welches in den meisten Genres stattfindet, „erweist sich [...] als zunehmend konstitutives Moment des modernen Computerspiels“ (ebd.): Die Aktionen des Spielers werden als Handlungen des Protagonisten durch die Erzählung motiviert, die wiederum durch das Bestehen der Spielpassagen angetrieben wird (vgl. ebd.).

Die meisten aktuellen Videospiele8 bieten derweil eine Erzählung mit Hilfe von explizit narrativen Elementen, wie animierten Filmsequenzen oder Dialogen. Diese sind bei Vertretern der Entwicklungslinie entscheidungskritischer Adventures stärker ausgeprägt als in der Tradition zeitkritischer Arcade-Action (vgl. Gogolin 2005: 11). Im Zuge der umfassenden Narrativisierung des noch jungen Mediums verbinden sich jedoch beide Kategorien miteinander zu genannten Action-Adventure- Mischformen, die einen beträchtlichen Anteil der kommerziell erfolgreichen interaktiven Fiktionen ausmachen (vgl. ebd.).

Die Fusion dieser beiden gegensätzlichen Tendenzen zeigt, dass sich Videospiele im Spannungsfeld zwischen Interaktivität und Narrativität bewegen und dokumentiert die Evolution des Mediums

„[...] von einer unkommerziellen Randerscheinung zum populären Medienangebot des Interactive Storytelling und damit bedeutenden Wirtschaftsfaktor einer zusammenwachsenden Unterhaltungsindustrie [...]. (Seda 2008: 104)

Repräsentierten anfangs hauptsächlich Kinder und Jugendliche die Zielgruppe des Videospielemarktes, so wurde indessen die kulturelle Breitenwirkung und ökonomische Relevanz der Computerspiele stark erweitert, dank realistischerer Formen der Audiovisualisierung, neuer Interaktionspotentiale und der Einbindung traditioneller Erzählinhalte und -mechanismen aus Literatur und Film (vgl. ebd.). Inwieweit dabei literarische Grundmuster von Bedeutung sind, gilt es in den Kapitel 4 und 5 praktisch zu prüfen, nachdem der spielerische und narrative Charakter der interaktiven Fiktionen separat beleuchtet wurde.

3.2 Videospiele als Spiele

Um die Charakteristika von Videospielen besser zu verstehen, ist es sinnvoll, sie formal mit traditionellen Formen des Spiels zu vergleichen und sich die grundlegende kulturelle Relevanz dieses Phänomens bewusst zu machen. Letztere wurde schon von Friedrich Schiller hervorgehoben, welcher die ganzheitliche Bedeutung des Spiels für den Menschen wie folgt auf den Punkt bringt:

Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. (Schiller 1986: 8)

Demnach wundert es nicht, dass der vieldeutige Begriff „Spiel“ unterschiedlichste Bereiche menschlicher Existenz betrifft. So steht er [...] als Metapher für verschiedenste geistige (Schöpfung, Zeit, Phantasie), natürlich-ästhetische (Wind, Licht, Farben), technisch-mediale (Geräte, Karten, Würfel, Computer), künstlerische (Musik, Theater) oder sonstige kulturelle (Wettkampf, Sport) Phänomene [...]. (Seda 2008: 21)

Diese Aufzählung illustriert einerseits, wie mühevoll die eindeutige begriffliche Bestimmung dieser Kulturform ist, und lässt andererseits ihre wissenschaftliche Relevanz erahnen, die sie beispielsweise als Gegenstand für die philologische und soziologische Forschung qualifiziert und, wie bereits erwähnt, zur Entstehung einer eigenen Wissenschaft, der Ludologie, geführt hat.

In dem phänomenologisch-anthropologischen Werk Homo Ludens (1938), erklärt Johan Huizinga den Prozess des Spielens sogar zum Ursprung aller Kultur. Als stete Betätigung des Menschen versteht er das Spiel, welches alle gesellschaftlichen Bereiche durchzieht, Kultur schafft, und somit älter ist als alle Kultur (vgl. Huizinga 1938: 9). Auch wenn sich das Wesentliche des Spiels für den Anthropologen jeglicher rationalen Erklärung entzieht, so ist es doch formal beschreibbar (vgl. ebd. : 12):

Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel also zusammenfassend eine freie Handlung nennen, die als „nicht so gemeint“ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich [...] von der gewöhnlichen Welt abheben. (ebd. : 22)

Formal ist das Spiel also eine freie Handlung innerhalb eines vom Alltag abgegrenzten Raums. In diesem Spielfeld gelten bestimmte Regeln, jedoch herrschen keine äußeren Zwänge, da das Spiel räumlich und zeitlich von der Realität isoliert ist. Die freien Entscheidungen des Spielers stellen eine stochastische Größe dar, welche die Offenheit der Spieldramaturgie bedingt (vgl. Walter 2001: 60).

Britta Neitzel bezeichnet diese fundamentale Spielstruktur, die auch Videospielen zu Grund liegt, als „determinierte Indetermination“ was bedeutet, dass die Handlungsmöglichkeiten reglementiert sind, deren Auswahl hingegen indeterminiert ist, also dem Spieler obliegt (vgl. Neitzel 2000: 27). Analog zu den Rahmenbedingungen des klassischen Spiels findet man in Bildschirmspielen ein Regelwerk, auf dessen Grundlage der Computer die freien Handlungen des Spielers prüft und sanktioniert (vgl. Walter 2001:69) und auch das Spielfeld ist - vor allem was seine Darstellungsebene innerhalb der Bildschirmränder betrifft - begrenzt. Neben der zum einen technischen, zum anderen regelbedingten Eingrenzung sind Videospiele weiterhin, wie viele traditionelle Spiele, durch Fiktion abgegrenzt, da Spielfiguren und Kontext fiktiv sind (vgl. Neitzel 2000: 48), was bekanntlich meist auch auf Figuren und Ereignisse in der Literatur zutrifft.

Das interaktive Moment ist allen Spielen gemein (vgl. Seda 2008: 22). Der Hauptunterschied zu anderen Spielformen ist jedoch, dass das Videospiel als Wettkampf gegen eine Maschine zu betrachten ist. Damit einher geht in vielerlei Hinsicht ein spielerisches Ungleichgewicht zwischen Mensch und Rechner. So muss die Komplexität der im Computer ablaufenden Prozesse reduziert werden [...] auf ein menschliches Maß, auf eine Ebene, die eine Reaktion und einen Umgang mit ihnen erlaub[t] und so ein Angstpotential abbau[t]. (Neitzel 2000: 32)

Obwohl der Computer die Modalitäten des Spiels bestimmt, bleibt er mithin ein schlagbarer Gegenspieler, was auch darauf zurückzuführen ist, dass Spiele abgeschlossen werden müssen, einerseits weil der Spieler ein neues Exemplar kaufen soll, andererseits - wie im nächsten Abschnitt ausgeführt wird - weil sie Geschichten erzählen. Wenn der Spieler also gegen den Computer spielt, wird er letztendlich gewinnen und sich überlegen fühlen, vorausgesetzt er unterwirft sich den Spielregeln. Denn der Spieler hat theoretisch unendlich viele Versuche den Computer zu bezwingen, indem er solange aus den vorgegebenen Spielzügen wählt, bis er sich im richtigen Moment für die korrekte Handlungsalternative entschieden hat, und somit die gestellte Aufgabe erfüllt (vgl. ebd.: 32).

In diesem Kontext ist es wichtig, dass die Spieldesigner den Schwierigkeitsgrad delikat ausbalancieren, damit sich frustrierende und motivierende Momente die Waage halten. Berücksichtigt wird indes auch, dass der Schwierigkeitsgrad im Laufe des Spiels analog zur Lernkurve des Nutzers steigen muss. Dementsprechend wird das Repertoire an Handlungsmöglichkeiten im Zuge des Spielfortschritts erweitert. Hinzu kommen meist zahlreichere und anspruchsvollere Gegner oder schwierigere Rätsel. Hat der Spieler das Spiel erlernt und die steigende Komplexität gemeistert, so endet das Spiel in der Regel und die Maschine ist geschlagen (vgl. ebd.).

Einen weiteren Unterschied zu nicht-computerbasierten Spielformen stellt das „Ungleichgewicht des Wahrnehmungspotentials“ zwischen Mensch und Maschine dar (Neitzel 2000: 37). Denn die zahlreichen Bedeutungsebenen zwischenmenschlicher Kommunikation müssen bei der Interaktion mit einem Computer ausgeblendet werden, da dieser nur auf eindeutige Eingaben reagiert (vgl. ebd.). Insofern muss der Spieler die Verständigung mit seinem elektronischen Gegner erlernen, das heißt, er muss sich einprägen, welche der vielen Tasten9 welche Aktion auslöst und diese situationsgerecht auswählen.

Die eingeschränkte Wahrnehmung des Computers bedingt ferner den konstitutiven Status der von ihm bestimmten Regeln. Während bei der Anwendung gesellschaftlicher Verhaltensregeln ein Spielraum besteht, führt das nicht Beachten der Regeln im virtuellen Raum zum direkten Ausschluss (vgl. ebd.).

Vergleicht man Videospiele mit materialbezogenen Spielen, wie Fußball, oder Imaginationsspielen, wie z. B. „Räuber und Gendarm“, so fällt noch ein elementarer Kontrast auf: Die realen Handlungen des Spielers werden in die Ebene der Darstellung ausgelagert (vgl. Neitzel 2000: 56). Das Spielgerät „verdoppelt“ sich quasi, die technische Vorrichtung erzeugt ein Bild, wo sich der eigentliche Spielablauf vollzieht (ebd.: 54). Die Grenzen zu dieser Ebene werden vom Spieler mit Hilfe der Eingabegeräte ständig überschritten, da das Spiel ohne seinen Input nicht funktionieren kann. Der Spieler sieht und handelt, um die dargestellten Auswirkungen seiner Handlungen wiederum zum Anlass für neue Aktionen zu nehmen. Britta Neitzel unterscheidet deshalb zwischen einer Handlungsperspektive, die allen Spielen gemein ist, und einer Beobachtungsperspektive (vgl. Neitzel 2000: 56).

Die Beobachtungsperspektive beschreibt die Position, von der aus der Spieler das Spielgeschehen wahrnehmen kann. Sie organisiert also, wie der Kamerastandpunkt im Film, den Blickwinkel, unter dem das Geschehen dargestellt wird, d.h. den Point-of-View im rein räumlichen Sinn. (Neitzel 2000: 57)

Wie sich noch zeigen wird, ist es für die narratologische Analyse der videospielerischen Erzählsituation überaus wichtig, die Beobachtungs- perspektive von der narrativen Perspektive beziehungsweise dem Fokalisierungsmodus10 zu differenzieren.

Videospiele unterscheiden sich also von herkömmlichen Spielen durch den Computer als Spielgerät und Gegner, durch die Darstellung einer imaginären Welt, in welcher der Spieler über Eingabegeräte handelt und durch die damit einhergehende ständige Grenzüberschreitung zwischen realer und virtueller Welt. Die Unterscheidbarkeit einer Repräsentations- und einer Handlungsebene gibt außerdem einen ersten Anhaltspunkt für die Einstufung von Videospielen als narrativ. Denn sie bedingt laut Neitzel (2000: 58) die strukturelle Nähe der Videospiele zur literarischen Erzählung, die sich als „[...] Vermittlung [1.] realer oder fiktiver Vorgänge [2.] durch einen Erzähler an einen Rezipienten“ ebenfalls über zwei Ebenen verfügt (Antor 1998a: 158).

3.3 Videospiele als Erzählungen

Wie im kurzen Überblick in Kapitel 3.1 bereits dargelegt, prägen umfassende Narrativisierungstendenzen die Entwicklung von Videospielen. In den Spielbesprechungen der Fachpresse nimmt das Nacherzählen der jeweiligen Geschichte in der Regel einen genauso großen Stellenwert ein, wie beispielsweise die Beschreibung der Spielmechanik oder der Graphik. Dass Videospiele überhaupt nacherzählbar sind, legt eine narrative Lesart zu Grunde (vgl. Neitzel 2000: 1). Es bleibt allerdings festzustellen, inwieweit sie als primär nicht-literarische Medien theoretischen Konzepten von Narrativität genügen und sich als Gegenstand der Narratologie eignen.

Die früher in erster Linie strukturalistisch orientierte Narratologie ist derzeit durch transgenerische, intermediale sowie interdisziplinäre Tendenzen gekennzeichnet (vgl. Nünning 2002b: i). So hat sich ihr Gegenstandsbereich um literarische Gattungen, wie Lyrik oder Drama, und um narrative Formen anderer Medien, wie Film oder Cartoon, die ehemals als „nicht-narrativ“ galten, erweitert (vgl. ebd.). Dabei greift die literaturwissenschaftliche Erzähltheorie vermehrt auf interdisziplinäre Forschungsergebnisse, die der Linguistik oder der Psychologie zum Beispiel, zurück (vgl. ebd.). Diese Entwicklungen sind durch die Erkenntnis bedingt, dass das Narrative allgegenwärtig ist, „[...] in einer Vielzahl von Gattungen, Texttypen und Medien in Erscheinung tritt“ und nicht auf konkrete literarische Texte eingegrenzt werden kann (Nünning 2002a: 9): „Erzählen ist intermedial“ (Wolf 2002: 23). Die große Bandbreite an narrativen Formen und die „Allgegenwart von stories in der heutigen Medienkulturgesellschaft“ befriedigen scheinbar ein „anthropologisches Grundbedürfnis des Menschen“ (Nünning 2002a: 9).

Bei der Erweiterung des narratologischen Gegenstandsbereichs spielt indes eine wichtige Rolle, wie weit der Begriff „Narrativität“ definiert wird (vgl. Nünning 2002a: 6). Narrativität im engeren Sinne stützt sich auf den discourse und umfasst nur Erzählungen, die neben der Ebene der Geschichte über eine erzählerische Vermittlung verfügen (vgl. ebd.). In diesem Kontext macht die strukturalistisch geprägte Erzähltheorie primär literarische Erzählgenres wie Romane oder Kurzgeschichten zu ihrem Gegenstand, die eine „zeitlich organisierte Handlungssequenz“ verbal vermitteln (Nünning 2002a: 6). Beispiele für diese enge Begriffsbestimmung sind sowohl Genettes Untersuchung des „Diskurs der Erzählung“, die das Verhältnis von erzählten Geschichten und ihrer erzählerischen Wiedergabe in den Mittelpunkt stellt (Genette 1998), als auch Stanzels Theorie des Erzählens, welche die Mittelbarkeit zum konstitutiven Gattungsspezifikum erklärt (Stanzel 1991).

Wird das Kriterium der Mittelbarkeit vernachlässigt, kann Narrativität im weiteren Sinne auch in nicht-literarischen Formen realisiert werden, zum Beispiel „[...] through language, film, pantomime, dancing and so on“ (Prince 1982: 81), solange eine Geschichte vorhanden ist. So erklärt Chatman auch nicht-textuelle Manifestationen von Erzählung „[...] in various media“, wie Filmen, Dramen und Cartoons, zum Gegenstand einer „general narratology“ (Chatman 1990: 2).

[...]


1 Unter dem Oberbegriff „video game“ werden im Englischen sowohl PC-Spiele als auch Konsolenspiele zusammengefasst. Im Deutschen bezeichnet jedoch der Ausdruck „Videospiel“ nur letztere Konsolenspiele. Da die meisten Spiele - auch die hier untersuchten Exemplare - gleichermaßen auf PC und Heimkonsole erscheinen, werden die Begriffe „Videospiel“ und „Computerspiel“ in dieser Arbeit synonym benutzt.

2 Mehr zu den Entwicklungslinien des Videospiels in Kapitel 3.1

3 Vgl. v.a. Neitzel 2000, Walter 2001, Kücklich 2002, Gogolin 2005, Seda 2008.

4 Nirgends zeigen sich die Schwächen eines philologischen Ansatzes mehr als bei nichtnarrativen Vertretern des Videospiels wie Sport-, Renn- oder Puzzlespielen. Es sei deshalb darauf hingewiesen, dass Max Payne und Bioshock bewusst gewählt wurden und nicht stellvertretend für alle, sondern nur für jene Single-Player-Videospiele, die einen Story-Modus besitzen, untersucht werden.

5 Da sich das im Vergleich zur Literatur recht junge Erzählmedium Videospiel rapide weiterentwickelt, räumt die Praxisanalyse dem aktuelleren Spiel Bioshock mehr Platz ein, auch weil sich beide Titel aufgrund ihres Status als Videospiele bezüglich der Erzählstrukturen nur bedingt unterscheiden.

6 Die „Geschichte“ wird im Rahmen dieser Arbeit vom Begriff des Plots abgegrenzt als „[...] eine Erzählung zeitlich aufeinanderfolgender Begebenheiten“ in Anlehnung an Forster (Forster: 1949: 36)

7 Die gängigsten Eingabegeräte sind Maus und Tastatur auf dem PC sowie Joypad oder früher Joystick auf der Videospielkonsole.

8 Natürlich gibt es einige Videospielgenres, bei welchen die Frage nach ihrer Literarizität wenig Sinn macht, wie beispielsweise Renn- und Sportsimulationen oder Puzzles à la Tetris, die fast gänzlich auf narrative Elemente verzichten und das Spiel in den Vordergrund stellen.

9 Das Joypad der Sony Playstation 3 besitzt bespielsweise zwei Analogsticks (kleine Steuerknüppel), die auch wie Tasten gedrückt werden können, ein Steuerkreuz, vier Schultertasten und sechs Knöpfe auf der Front.

10 Zum Thema Fokalisierung vergleiche Genette 1998: 134ff.

Ende der Leseprobe aus 94 Seiten

Details

Titel
Videospiele als interaktive Fiktionen - Zur Literarizität der Neuen Medien
Hochschule
Justus-Liebig-Universität Gießen  (Institut für Anglistik)
Note
1
Autor
Jahr
2009
Seiten
94
Katalognummer
V157308
ISBN (eBook)
9783640702664
ISBN (Buch)
9783640702763
Dateigröße
1976 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Der Verfasser öffnet dem Leser die Augen für die innere Dynamik und für die inhärenten Herausforderungen - an die Adresse der Macher (...) und die der Wissenschaftler. Offene Augen sind dabei vonnöten, ein offener Kopf und die Artikulationsfähigkeit des stets neugierigen Experten. Yann Martin verfügt über diese Vorraussetzungen, die dem Schwärmer abgehen. Und deshalb hat er nicht nur seinem Untersuchungsgegenstand einen Dienst erwiesen, sondern auch die Beschäftigung damit auf eindrückliche Weise legitimiert. (...) sehr gut (1)"
Schlagworte
Videospiel, Literatur, Narratologie, Genette, Dystopie, Bioshock, max payne, interaktiv, erzählen, literarizität, neue medien, erzählung, narrativ, fiktion, hard-boiled, erzählerische vermittlung, videospiele, spiel, kunst, gaming, games, video games, video game, interdisziplinär, intermedial, fokalisierung, computerspiel, philologie, kulturwissenschaft, anglistik
Arbeit zitieren
Yann Martin (Autor:in), 2009, Videospiele als interaktive Fiktionen - Zur Literarizität der Neuen Medien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/157308

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