"La utopía arcaica". Eine kulturwissenschaftliche Diskussion über Moderne in Peru


Diplomarbeit, 2004

168 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Zur Semantik
2.1 Utopie
2.1.1 Allgemeines zur Begriffsgeschichte
2.1.2 ״Utopie“ als aktueller Diskurs
2.1.3 Utopien und Utopisches in Peru
2.1.3.1 Mythische Utopien
2.1.3.2 Historische Utopien
2.1.3.3 Politisch-ökonomische Utopien
2.1.3.4 Kulturell-literarische Utopien
2.2 Archaisch
2.2.1 Allgemeines zur Begriffsgeschichte
2.2.2 ״Archaisch“ als ״traditionell“
2.2.3 Archaisch-Traditionelles in Peru
2.2.3.1 Mythisches
2.2.3.2 Historisches
2.2.3.3 Politisch-Ökonomisches
2.2.3.4 Kulturelles
2.3 Oxymoron: Archaische Utopie
2.3.1 Mythos / Logos
2.3.2 Zyklisches / Lineares Zeitverständnis
2.3.3 Gemeinschaft / Gesellschaft
2.3.4 Vormoderne / Moderne
2.4 Bestimmung des Begriffs als Oxymoron
2.4.1 Kulturkonflikt und ״archaische Utopie“
2.4.2 Auflösung des Oxymorons: Funktionalisierung der Begriffe

3. Literarische Formen der archaischen Utopie:
Indigenismo und Neo-Indigenismo
3.1 Vorgeschichte und Vorläufer des Indigenismo
3.1.1 Zwei Schlüsselepochen: Conquista und 19. Jahrhundert
3.1.2 Der Proto-Indigenismo: Manuel Gonzalez Prada
3.1.3 Hispanismo, Modernismo, Indianismo
3.2 Der Indigenismo
3.2.1 Der politische Indigenismo
3.2.2 Die Existenzbedingungen des Indigenismo
3.2.3 Der literarische Indigenismo
3.2.3.1 Definition und Entwicklung des literarischen Indigenismo
3.2.3.2 Luis E. Valcárcel: ״Tempestad en los Andes“
3.3 Indigenistische Romankunst: ״El mundo es ancho J ajeno“
3.3.1 Inhaltsangabe
3.3.2 Die Erzählsituation: Auktorialer Erzähler
3.3.3 Wichtige Figuren und innerer Aufbau des Romans
3.3.4 Zeit: Mythos und Geschichte
3.3.5 Raum: Comunidad und Nation
3.4 Der Neo-Indigenismo
3.4.1 Neo-Indigenismo als Begriff
3.4.2 Die Unterschiede zum orthodoxen Indigenismo
3.4.3 José Maria Arguedas: Die Biographie
3.4.4 José Maria Arguedas: Das Werk
3.5 Neo-indigenistische Romankunst: ״Los ríos profundos“
3.5.1 Inhaltsangabe
3.5.2 Die Erzählsituation: Ich-Erzähler
3.5.3 Wichtige Figuren um den Protagonisten
3.5.4 Zeit: Erinnerung und Gegenwart
3.5.5 Raum: Geschlossenheit und Befreiung
3.5.6 Die Synthese: Ernestos magische Weitsicht
3.6 Vergleich der Romane nach Escajadillos Kriterien

4. Mario Vargas Llosa: ״La utopía arcaica“
4.1 Mario Vargas Llosa: Geistiger Werdegang
4.1.1 Vorbilder und Weltbilder
4.1.2 Politische Romane und Literaturtheorie
4.2 ״La utopía arcaica“
4.2.1 Rationalismus und Wissenschaftsgläubigkeit
4.2.1.1 Mythisches Denken als archaisch und irrational
4.2.1.2 Mythisches Denken als literarisches Mittel
4.2.1.3 Der ״postmoderne“ Mythos
4.2.2 Fortschritt statt Rückblick
4.2.2.1 Zyklisches Denken als archaisch
4.2.2.2 Historische Wahrheit versus subjektive Geschichte
4.2.2.3 Linearität und Teleologie der Historie
4.2.3 Kapitalismus statt Kollektivismus
4.2.3.1 Kollektivistisches Denken als archaisch
4.2.3.2 Der Sozialismus - ein überholtes System
4.2.3.3 Der Neoliberalismus und die ״informelle Wirtschaft“
4.2.4 Eine Moderne nach europäischem Vorbild
4.2.4.1 Die Ablehnung des Archaischen und des Utopischen
4.2.4.2 Modernisierung als unvereinbar mit der archaischen Utopie
4.2.4.3 Die homogenisierende Moderne

5. Kritik an Vargas Llosas Position I[37]
5.1 Cornejo Polar: Das Konzept der Heterogenität [137]
5.1.1 ״Escribir en el aire“ [138]
5.1.2.1 Der Beginn der Heterogenität I[39]
5.1.2.2 Versuche zur Homogenisierung
5.1.2.3 Die heterogene Modernisierung
5.1.2.4 Der indi genistis che Roman
5.2 Nestor García Concimi: Das Konzept der Hybridität
5.2.1 Vormoderne, Moderne, Postmoderne
5.2.2 Der Begriff der Hybridität

6. Schlußbetrachtung

Literaturverzeichnis

״Wenn einer träumt,
bleibt es Utopie -
wenn viele träumen,
wird es Wirklichkeit.“

Volksweisheit aus Lateinamerika[1]

״Nunca se me ha ocurrido nada ni he podido hacer nada que sea más asombroso que la realidad. [...] No hay una sola línea en ninguno de mis libros que no tenga su origen en un hecho real. [...] Lo único que sé sin ninguna duda es que la realidad no termina con el precio de los tomates. [...] En Comodoro Rivadavia, que es un lugar desolado al sur de Argentina, el viento polar se llevó un circo entero por los aires y al día siguiente las redes de los pescadores no sacaron peces del mar, sino cadáveres de leones, jirafas, elefantes. [...] Basta con leer los periódicos, o abrir bien los ojos.“

Gabriel García Marquez (zum Begriff des Magischen Realismus)[2]

1. Einführung

Wie kann eine Moderne für Peru aussehen? Um diese Frage dreht sich allgemein die kulturwissenschaftliche Diskussion, mit der sich die vorliegende Arbeit beschäftigt. Dabei bedingt es die Historie, daß in Peru die Frage nach der Moderne - viel stärker als in Europa - immer einhergeht mit der Frage nach einer peruanisch-nationalen Identität. Zwangsläufig schließt so die Diskussion auch immer die Frage nach den Traditionen, dem Indio und seiner Rolle bei der Gestaltung der Zukunft des Landes mit ein.

Die aktuelle Diskussion der vergangenen Jahrzehnte hat sich insbesondere an der Posi­tion von Mario Vargas Llosa entzündet. Dessen Haltung zu den Lragen nach dem Indio, nach Identität und Nation, Moderne und Modernisierung auf literarischer wie poli­tischer Ebene schlägt sich unter anderem in dem 1996 veröffentlichten La Utopia arcai­ca. José María Arguedas y las ficciones del indigenismo nieder, einer Sammlung von Essays rund um das Werk des Schriftstellers José Maria Arguedas.

Darin analysiert Vargas Llosa das gesamte Werk Arguedas‘ und gelangt zu dem Schluß, seine Erzählkunst sei insgesamt ״una hermosa mentira“[3] - ״a la que califica co- то utopía arcaica, ,porque surge de las cenizas de esta sociedad arcaica, rural, tradíció - nal, mágica (folclórica en el sentido mejor de la palabra)‘“[4]. Laut Vargas Llosa findet sich das Konzept der ״archaischen Utopie“ erstmals in den Chroniken der Conquista und wird von den Intellektuellen des Indigenismo wiederaufgenommen. Hierin sieht Vargas Llosa den Ausgangspunkt der Werke Arguedas‘ - er meint, der Indio der argue- dianischen Welt sei fiktiv im Sinne von frei erfunden: nicht nur, weil er einen Teil dieser ״schönen Lüge“ darstelle, sondern vor allem, weil Arguedas in seinem Innersten ein ״ecólogo cultural“[5] sei, der danach strebe, den Indio von den Lastern der Moderne rein zu halten.

Innerhalb dieser Analyse macht Vargas Llosa seinen eigenen Standpunkt klar, was die Lrage nach dem Indio und der Moderne betrifft. Damit fordert er zugleich die Kritiker heraus, die nicht der Meinung sind, daß Arguedas‘ Indio reine Liktion und die ar­chaische Utopie eine Schimäre sei und die andere Vorstellungen von einer möglichen Moderne für Peru haben.

So ist also unter den peruanischen Intellektuellen eine weitreichende Diskussion über den Indio, Identität und Moderne in Gang gekommen. Gegenstand dieser Arbeit ist es, die Entwicklung dieser Diskussion vom Indigenismo über Arguedas bis hin zu Vargas Llosa und der Kritik an seinem Ansatz nachzuvollziehen. Dabei enthält der Begriff der ״Utopia arcaica“ sozusagen die gesamte Debatte, insofern er Bezug nimmt auf Zukunft und Vergangenheit, auf Moderne und Tradition. Und man kann ihn als Oxymoron lesen: Das ״Utopische“ wird mit Künftigem und Wünschenswertem assoziiert, das ״Archaische“ hingegen mit Vergangenem und überhohem.

Entsprechend ist diese Arbeit an diesem oxymoralen Begriff entlang aufgebaut. In einem ersten Teil sollen die Semantiken der beiden Teilbegriffe ״Utopie“ und ״archaisch“ untersucht werden. Dabei stellte ich jeweils zunächst die allgemeine Ety­mologie dar, um dann zu den für Peru spezifischen Inhalten zu gelangen. Danach werden die Begriffe wieder zusammengeführt und der Gehalt des Oxymorons unter­sucht, den sie darstellen. Hier lassen sich vier Basisgegensätze herausarbeiten, die der ״archaischen Utopie“ als Widerspruch von Vergangenheit und Zukunft zugrundeliegen. Des weiteren möchte ich eine Möglichkeit aufzeigen, dieses Oxymoron auf theore­tischer Ebene aufzulösen.

In einem zweiten Teil soll beschrieben werden, welche Formen die ״archaische Utopie“ in der peruanischen Literatur angenommen hat - die des Indigenismo und die des Neo- Indigenismo. Dazu skizziere ich zunächst Voraussetzungen, Vorgeschichte und Vor­läufer des Indigenismo, worauf eine Darstellung seiner politischen und insbesondere seiner literarischen Ausprägung folgen. Als herausragendes Beispiel indigenistischer Romankunst werde ich El mundo es ancho y ajeno von Ciro Alegría interpretieren. An­schließend soll damit der sogenannte literarische Neo-Indigenismo verglichen werden, den insbesondere José Maria Arguedas verkörpert. Exemplarisch werde ich dessen Roman Los ríos profundos analysieren.

In einem dritten Teil wird die Position von Mario Vargas Llosa erörtert. Zunächst schildere ich seinen geistigen Werdegang und seine Vorbilder. Dann werden in bezug auf La Utopia arcaica die Antworten diskutiert, die Vargas Llosa auf die Frage nach einer peruanischen Moderne gibt - im Hinblick auf die vier Kategorien des Oxymo­rons. Hierbei wird auch deutlich gemacht, welche Meinungen anderer Autoren Vargas Llosa übernimmt oder aber kritisiert.

In einem vierten Teil möchte ich knapp die Ansätze zweier ausgewähher Kuhurwissen- schaftler besprechen, die - explizit oder implizit - Kritik an Vargas Llosas Position ge­übt haben und alternative Vorstellungen von einer Moderne vertreten: Antonio Cornejo Polar und sein Konzept der Heterogenität sowie Néstor García Canclini und seinen Be­griff der Hybridität.

In der Schlußbetrachtung ordne ich die Ansätze dann noch in einen größeren Rahmen ein, zeige, an welchem Kernproblem sich die Meinungen spalten, und ziehe Bilanz aus der Diskussion.

In Lateinamerika waren aus historischen Gründen Politik und Literatur stets sehr eng verbunden, weswegen sie auch in dieser Arbeit abwechselnd erscheinen, wobei der Fo­kus auf der Literatur liegt. Dabei besteht die Arbeit aus zwei Arten von Abschnitten: In den einen werden Informationen bereitgestellt, die zum Verständnis der Diskussion nö­tig sind und bestimmte Hintergründe verdeutlichen; in den anderen wird die kultur­wissenschaftliche Diskussion dargestellt, die in bezug auf die Frage nach der Moderne gegen Ende des 19. Jahrhunderts eingesetzt hat. Dazu gehören zahlreiche Sub­diskussionen, etwa diejenige um ein funktionierendes politisches System für Peru eben­so wie diejenige um eine nationale Literatur.

Der rote Faden, der sich dabei durch beide Arten von Abschnitten zieht, ist ebendiese Frage: wie eine Moderne für Peru aussehen kann, und welche Rolle die autochthone Bevölkerung dabei spielt.[6]

2. Zur Semantik

Zunächst sollen der Begriff der ״archaischen Utopie“ zerlegt und seine Bestandteile ״Utopie“ und ״archaisch“ getrennt analysiert werden. Dazu werden jeweils erst die all­gemeine Bedeutung und die historische Entwicklung der beiden Einzelbegriffe darge­stellt und dann ihre spezifischen Semantiken in bezug auf Peru untersucht.

2.1 Utopie

2.1.1 Allgemeines zur Begriffsgeschichte

Gemeinhin gilt als historischer Ursprung des Begriffs Utopie das Kunstwort ״Utopia“ aus Thomas Morus‘ Staatsroman De optimo rei publicae statu deque nova Ìnsula Uto­pia (״Vom besten Zustand des Staates und über die neue Insel Utopia“; 1516). Morus bildete den Begriff aus zwei griechischen Vokabeln: topos für Ort, ou für die Negation, also latinisiert u-topia für Nicht-Ort, Nirgend-Ort. In Utopia zeichnet er den Entwurf einer neuen, glücklichen Gesellschafts- und Staatsordnung, den die Zukunft einlösen soll. Dieser Idealstaat wird auf die Insel Utopia verlegt, von der im Stil einer Reisebeschreibung berichtet wird. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, daß es ihn auf der Welt (noch) nicht gibt, daß er (noch) irreal ist:[7] Utopia existiert weder im Raum noch in der Zeit.

In der Folgezeit wird Morus‘ Schrift mit anderen Idealstaatsentwürfen parallelisiert. Der Begriff dient fortan zur Bezeichnung für Platons Politeia ebenso wie für die großen Renaissance-Utopien Nova Atlantis von Francis Bacon und Civitas Solis von Tommaso Campanella gebraucht. Die ״Utopie“ wird zur literarischen Gattung: dem utopischen Staatsroman. Wichtig ist ihre historische Verwurzelung: Sie nimmt ihren Aus­gangspunkt jeweils von einer als mangelhaft, schlecht empfundenen Realität, zu der sie ein Gegenmodell entwirft. Dabei geht sie vom homo faber aus, der sich eine glückliche Lebensordnung erst schaffen muß. Ihre Konzeption einer besten Staatsverfassung weiß die Utopie an einem fernen Ort und/oder in einer zukünftigen Zeit realisiert.[8] Ab Mitte des 16. Jahrhunderts meldet sich Kritik. Man wirft den utopischen Staats- entwürfen vor, wirklichkeitsfremd und unerreichbar zu sein. Damit wird der ent­scheidende Konflikt in der Utopiediskussion geboren: Ist eine Utopie ein Nicht-Sein, ein abstraktes Ideal, das nur Kritik an den bestehenden Verhältnissen transportiert und dem man sich bestenfalls annähern, das man aber nie erreichen kann - oder ist sie ein Noch-nicht-Sein, letzten Endes realisierbar und damit auch ein gültiges Ziel für alles Handeln?

Der Begriff der Utopie weitet sich zu einer allgemeinen politischen Denkform aus. Nach der Französischen Revolution[9] wird er zumeist pejorativ verwendet und dient als politischer Kampfbegriff. Er ist hinreichend allgemein geworden, um in allen poli­tischen Programmen die Differenz zwischen Ideal und Wirklichkeit kritisch zu mar- kieren,[10] also eine unrealistische Perspektive politischen Handelns zu bezeichnen. Uto­pie bedeutet nunmehr Schimäre, phantastisches Ideal. Als positive Bezeichnung für die eigenen sozialen Entwürfe wählen die Autoren stattdessen ״Kommunismus“ oder ״Sozialismus“.

Ab den 1840er Jahren trifft der Vorwurf des ״Utopismus“ dann Sozialismus und Kom­munismus. Doch Karl Marx und Friedrich Engels stellen der Polemik einen ausgearbei­teten wissenschaftlichen Sozialismus entgegen und erklären, daß der Sozialismus keine Utopie und die sozialistische Theorie eine Wissenschaft sei. Sie vertreten den An­Spruch, wissenschaftliche Aussagen über zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen formulieren zu können.[11]

So wird die Starre Entgegensetzung von Utopie und Wirklichkeit allmählich aufgelöst. Bedeutsam ist Karl Mannheims Gegenüberstellung von ״reaktionärer“ Ideologie und ״progressiver“ Utopie als zwei verschiedenen Erscheinungsweisen revolutionärer Ideen.[12]

Völlig neu faßt schließlich Ernst Bloch den Utopiebegriff: als anthropologisch be­gründete Kategorie der Hoffnung. ״Utopie“ enthält für ihn alle Elemente des menschli­chen Bewußtseins, in denen sich dessen Verlangen nach einer besseren Welt manifes­tiert. Damit verweist der Begriff weniger auf die objektive Notwendigkeit als vielmehr auf die subjektive Möglichkeit gesellschaftlicher Neuordnungen in der Zukunft. Bloch definiert die Utopie als seelisches Potential zur Überwindung des bloß Tatsächlichen - womit die Utopie aus der Opposition von Wunschbild und Wirklichkeit heraustritt. Sie gilt nun als ״wirklich“ im Sinne des Wirksamen und Zukunftsträchtigen.[13] Blochs Zukunftsphilosophie destruiert also den alten Begriff der Utopie, indem er die beiden Kategorien Wirklichkeit und Möglichkeit in eine Vielzahl von Wirklichkeiten und Möglichkeiten auffächert; dadurch werden die Oppositionen von Wirklichkeit und Unwirklichkeit, von Möglichkeit und Unmöglichkeit unterlaufen, die dem negativen Utopiebegriff zugrundelagen.

2.1.2 ״Utopie“ als aktueller Diskurs

Zusammengefaßt hat der Begriff Utopie heute zwei Bedeutungen. Zum einen bezeich­net er eine ״Denkweise, die die Realitätsbezüge ihrer Entwürfe bewußt oder unbewußt vernachlässigt“. Zum anderen wird darunter eine literarische Denkform verstanden, ״in der der Aufbau und das Funktionieren idealer Gesellschaften und Staatsverfassungen eines räumlich und/oder zeitlich entrückten Ortes konstruiert werden, oft in Form fik­tiver Reiseberichte“[14]. Es ist also offensichtlich, daß die negative Bedeutung des Be­griffs als unrealistische Zukunftsprojektion ebenso überlebt hat wie seine Bedeutung als Bezeichnung für die literarische Gattung der Staatsromane und seine Bedeutung als Entwurf von etwas Idealem.

Was soll eine Utopie als Zukunftsentwurf eigentlich leisten? Erstens sind Utopien prinzipiell als Gegenbilder zur jeweils bestehenden Realität konzipiert, sie leben aus der Spannung zu ihrer jeweiligen geschichtlichen Wirklichkeit: Damit dienen sie der Gesellschaft oder/und dem Individuum dazu, die aktuelle Wirklichkeit kritisch zu be­äugen, indem auf einen Mangel hingewiesen wird. Zweitens liefern Utopien jedoch nicht nur konträre Modelle zur Gegenwart, sondern vielmehr auch Konstruktionen des Hypothetisch-Möglichen: Eine Utopie entwirft etwas Ideales, eine ideale Staatsform oder eine ideale Gesellschaft. Dabei kann man auf einer formalen Ebene zwischen dem Machbaren, Realmöglichen und dem bloß Denkbaren unterscheiden. In jedem Fall bieten Utopien der Gesellschaft oder/und dem Individuum zugleich konkrete Vorschlä­ge und Handlungsanweisungen, wie sich Zukunft möglicherweise gestalten ließe.[15] Innerhalb dieser zweiten Funktion muß differenziert werden: Was unterscheidet das (Zeit-)Utopische dann eigentlich von Eschatologie, Apokalyptik und Chiliasmus bezie­hungsweise Millennarismus? In allen diesen Strömungen werden die gesellschaftlichen Verhältnisse als mangelhaft erfahren, ein Ende der Jetztzeit erhofft und eine Vision von der Zukunft ausgemalt. Von Anfang an ist jedoch das Utopische von den übrigen unter­schieden dadurch, daß in der Utopie der Erfahrung der Mangelhaftigkeit der ״Anspruch des Menschen gegenübertritt, von sich her zu einer Veränderung dieser Verhältnisse fä­hig zu sein“[16]. Das hingegen ist bei keiner der anderen Strömungen der Fall: Hier wird alle Hoffnung auf Gott gesetzt, der seinen eigenen Plan mit der Menschheit verwirklicht. Der Mensch ist daran beteiligt, hat aber keine Steuerungsfunktion inne. Diese Unterscheidung des Utopischen von sonstigen Zukunftsvorstellungen ist wichtig für ein allgemeines Verständnis von Utopie, wird real aber oft vernachlässigt. Oft sind Utopien nicht exklusiv als solche formuliert, oft läßt sich Utopisches nur implizit in einer visionären Theorie auffinden; kein Autor hält sich strikt an eine so enge Definiti­on von Utopie. Aus diesem Grunde fließen häufig eschatologische, apokalyptische und/oder chiliastische Elemente mit ein, was gerade in bezug auf Peru zu sehen sein wird.

2.1.3 Utopien und utopisches in Peru

Untersucht man Utopien, sind zunächst drei Fragen zu beantworten. Erstens: Welchem Genre gehört die Utopie an - welchen Teilbereich des menschlichen Lebens hat sie zum Gegenstandsbereich und skizziert sie als ideal? Es gibt nahezu keine universale Utopie, sondern fast alle Utopien lassen sich herunterbrechen auf einen oder zwei darin verhandelte Teilbereiche, zum Beispiel den politisch-ökonomischen.

Daran knüpft die Frage nach dem Bezug an: Für wen ist die entworfene Staatsform oder Kultur ideal - für ein bestimmtes Land, einen Kulturkreis oder allgemein für die Menschheit?[17] In bezug auf Peru stellt man fest, daß die meisten dortigen Utopisten immer ihr eigenes Land vor Augen hatten: Utopien in oder aus Peru waren immer hauptsächlich auch Utopien für Peru und wollten nicht gleich als Idealvorstellungen auf die ganze Welt übertragbar sein.

2.1.3.1 Mythische Utopien

Das erste, was einem in den Blick gerät, wenn man nach Utopischem in Peru sucht, sind die sogenannten posthispanischen Ursprungsmythen.[18] Sie handeln vom Ursprung der Menschheit und ihrer zukünftigen Entwicklung; und die meisten enthalten Elemente aus der prähispanischen als auch aus der katholischen Religion.

Entscheidend für die Entstehung der mythischen Utopie in den Anden ist das Erlebnis der Conquista, die aus Sicht der Besiegten ein Kataklysmus, eine erdgeschichtliche Ka­tastrophe, war. In der prähispanischen Tradition gab es die Vorstellung des pachacuti, übersetzt etwa: ״die Erde formt sich um“. Gemeint ist damit etwas - eine Persönlich­keit, eine tellurische Kraft -, das das ganze Land und das ganze Leben, das Raum und Zeit auf den Kopf stellt. Der Begriff bezieht sich einerseits auf den Übergang von einem Zeitalter ins nächste, andererseits auch auf das Resultat, also die Umkehrung der Dinge. Für viele der Andenbewohner war die Conquista ein solcher pachacuti, die Um- kehrung der Ordnung. Der Kosmos teilte sich damals in zwei: die untere Welt (.hananpacha) und die obere Welt (hurinpacha), das Licht und die Dunkelheit.[19] Die posthispanischen Mythen dienen den Andenbewohnern nun dazu, diesen pachacuti der Conquista zu verarbeiten.

Von zentraler Bedeutung ist vor allem der ״Inkarri-Mythos“ in seinen verschiedenen Versionen.[20] Der Name der Zentralfigur, Inkarri, ist eine Zusammenziehung aus dem Quechua-Wort Inka und dem spanischen rey (״König“): ״Inka-König“. Eine der be­kanntesten Erzählungen stammt aus dem Ort Puquio im Departamento Ayacucho. Der ״Mythos von Puquio“[21] erklärt den Ursprung und das Schicksal der aktuellen pe- manischen Gesellschaft, die ethnisch geteilt ist.

,Los wamanis (montañas) son los segundos dioses. Ellos protegen al hombre. De ellos nace el agua que hace posible la vida. El primer dios es Inkarrí. Fue hijo del sol en una mujer salvaje. Él hizo cuanto existe sobre la tierra. Amarró al Sol en la cima del cerro Osgonta y encerró al viento para concluir su obra de creación. Luego decidió fundar la ciudad del Cuzco y lanzó una barreta de oro desde la cima de una montaña. Donde ca­yera la barreta construiría la ciudad [...]. Inkarrí fue apresado por el rey español; fue martirizado y decapitado. La cabeza del dios fue llevada al Cuzco. La cabeza de In­karri está viva y el cuerpo del dios se está reconstituyendo hacia abajo de la tierra. Pe­ro como ya no tiene poder, sus leyes no se cumplen ni su voluntad se acata. Cuando el cuerpo de Inkarrí esté completo, él volverá, y ese día se hará el juicio Ünal. Como prueba de que Inkarrí está en el Cuzco, los pájaros de la costa cantan: ,En el Cuzco el rey‘, ,AÍ Cuzco id‘.“[22]

In anderen Versionen finden sich mannigfaltige Variationen der gleichen Themen und zusätzliche Elemente.[23] In einer Version aus Chacaray tritt nach dem Tod Inkams folgende Wendung ein:

,Le cortó la cabeza y la mandó a España. Su cuerpo quedó aquí. Dicen que en España su cabeza está viva, la barba le está creciendo, todos los meses la afeitan. Ahora no hay Inkarrí. Cuando murió, llegó Jesucristo, poderoso del Cielo. El no tiene que ver nada con Inkarrí que está en la tierra. Cristo está aparte, no se mete con nosotros.

Tiene el mundo en la mano como una naranja. Cuando el mundo se voltee, va a re­gresar Inkarrí y va a andar, como en las épocas antiguas. Entonces todos los hombres, cristianos y gentiles, vamos a encontramos. [...]“[24]

Mythisch sind diese Erzählungen, weil sie eine narrative Form haben und sich in einer Denkweise bewegen, die dem westlich-aufgeklärten Rationalismus fremd ist (siehe Kap. 2.3.1). Als Utopien kann man sie bezeichnen, da sie beide einschlägigen Funktionen besitzen: Kritik an der bestehenden Gesellschaftsordnung und Entwurf einer idealen Neuordnung. Deutlich wird das schon daran, daß die meisten Mythosver­sionen aus zwei Teilen bestehen: einem ״Ursprungs“-Teil, der die Herkunft des Men­sehen und die Ordnung der Gesellschaft unter Inkarri erklärt, und einem ״Schicksals“- Teil, in dem die zukünftige Entwicklung entworfen wird.[25] Ähnlich erläutert Ortiz Rescaniere, daß allen Versionen des Inkarri-Mythos ebendiese Grundstruktur gemein­sam ist, nämlich die Zweiteilung der Zeit in zwei unversöhnliche Epochen mit ihren je­welligen repräsentativen Göttern oder Helden.[26] Die Welt der Vergangenheit ist re­präsentiert durch den Helden und Gott Inkarri, die Gegenwart durch seinen Feind, den Gott oder (Anti-)Helden der spanischen Welt, Pizarro-Españarrí und Jesus Christus. Diese beiden großen Perioden folgen aufeinander, sind also voneinander abgetrennt. Doch die Vergangenheit lebt in der Gegenwart fort und ist der Keim der Zukunft[27]: Der Körper des Inka ist in diesem Moment immer noch dabei, sich selbst wiederherzu­stellen. Es wird der Tag kommen, an dem er komplett ist, und dann wird der Inka mit seinem Volk sein.[28]

Als fundamentale Idee steht also im Zentrum des Mythos die ״aktuelle“ Anwesenheit des Inka in der unterirdischen Welt (ukupacha). Inkarri steht für eine vergangene Welt, in der alles in Ordnung war. Damit assoziiert werden im dichotomischen Denken folgende Elemente: der Tag (die Sonne), die Fülle, der Dialog mit der Erde, das Wort, die Wahrheit und die Kultur. Die aktuelle Welt unter Jesus Christus dagegen befindet sich in Unordnung, womit das jeweilige Gegenteil verbunden wird: die Nacht (der Mond), der Hunger, der Abbruch des Dialogs mit der Erde, die Schrift, die Lüge, die Natur oder Anti-Kultur. Mit der Conquista brachten die Spanier den Umbruch von der einen in die andere Welt, indem sie Inkarri enthaupteten.

Nun spricht der Mythos - im Gegensatz zu manchen anderen Utopien - in seinem ersten Teil aber nicht explizit von realen Ungerechtigkeiten. Vielmehr wird die aktuelle ״Unordnung“ der Welt, die Kritik an der Gegenwart implizit verdeutlicht mittels der Metapher, daß Inkams Körper von seinem Kopf getrennt ist. Es ist eine ״verkehrte Welt“[29], in der sich die kosmische Ordnung - mit der Präsenz Inkams - unterhalb des profanen Chaos befindet.[30] Die historische Realität spielt dabei eine untergeordnete Rolle; wichtiger ist das Bild von der Realität, das der Mythos ausdrückt.[31] Im zweiten Teil des Mythos manifestiert sich ein Wirrwarr eschatologischer Elemente, die der Messianismus[32] der andinen Kosmogonie hinzufügt und die sich teilweise aus dem Einfluß durch Evangelisierung und Unterwerfung erklären. Die eschatologische Hoffnung konzentriert sich auf die Wiederherstellung der verlorenen Ordnung durch Inkarri. Dabei darf allerdings, wenn von einer Rückkehr zur Inkazeit die Rede ist, nicht an die historische Inka-Periode gedacht werden. In einer Gesellschaft mit zyklischem Geschichtsverständnis und mündlicher Kultur (siehe Kap. 2.3.2) gestaltet sich die Vergangenheit in der Gegenwart konstant um und wird nicht als unabhängig davon be­trachtet. Für den Andenbewohner hat die Vorstellung vom Inka die grundlegende Be­deutung von ?Ordnungsprinzip“, losgelöst von einer zeitlichen Betrachtung - und die Rückkehr zur Inkazeit bedeutet lediglich die Rückkehr zur Ordnung. Dabei stellt das neue Reich nichts weiter als die symmetrische Inversion der aktuellen Ordnung dar, eine Verkehrung ins ?Richtige“:[33] Inkarri schafft Ordnung, indem er Einheit schafft zwischen den Dichotomien.

2.1.3.2 Historische Utopien

Will man den Fragen nach Vergangenheit, Gegenwart und vor allem Zukunft, die der Mythos beantwortet, historisch nachgehen, merkt man, daß Mythos und Historie bis­weilen nur schwer zu trennen sind.

Eine historische Utopie ist eine Vorstellung von einer idealen Geschichte, genauer: von einem idealen Zeitpunkt in der Geschichte - einem Schlüsselereignis, das idealerweise den weiteren Verlauf der Geschichte eines Volkes bestimmt, oder einer Epoche, in der sich die Gesellschaft in einem für dieses Volk idealen Ordnungszustand befand. Als ?ideal“ gelten jenes Ereignis oder jene Epoche, insofern sie gewisse Werte und Ideal­Vorstellungen transportieren, von denen man sich erhofft, daß sie Leitbild für die Zu­kunft des Volkes bleiben. Dabei wird das ?Historische“ zwangsläufig idealtypisch überformt; es werden ?fiktive“ Elemente hinzugefügt, historische ?Fakten“ werden ver­fälscht. Dieser Prozeß vollzieht sich in einer menschlichen Gruppe, die auf der Suche ist nach einer eigenen Identität. Indem sie sich historische Geschehnisse wiedererzählt, bildet sich eine kollektive, teilweise mythische Vorstellung von der Vergangenheit. Dieser wird im Lauf der Zeit, insbesondere angesichts einer elenden Gegenwart, die Vorstellung des Idealen angehängt. Damit ist eine historische Utopie entstanden.[34] Perus historische Utopie sind, verallgemeinernd, Inkazeit und Inkareich (Tawantinsuyo). Seit der Conquista ist die peruanische Gesellschaft extrem heterogen und fragmentiert, das Zusammenleben ist problematisch. Alberto Flores Galindo führt den Begriff der ?andinen Utopie“ ein und bezeichnet damit

?los proyectos (en plural) que pretendían enfrentar esta realidad. Intentos de navegar contra la corriente para doblegar tanto a la dependencia como a la fragmentación.

Buscar una al (ornali va en el encuentro entre la memoria y lo imaginario: la vuelta de la sociedad incaica y el regreso del inca. Encontrar en la reedificación del pasado la solución a los problemas de identidad.“[35]

In Buscando un inca: identidad y utopía en los Andes (1988) begibt sich Flores Galindo auf die Spur der Utopien, die verschiedene Bewegungen im posthispanischen Peru zu verwirklichen versucht haben. Dabei läßt sich das Inkareich als durchgängiges Motiv ausmachen - zu allen Zeiten der posthispanischen Ära wurde an die inkaische Zeit er­innert: ?Mencionar a los incas es un lugar común en cualquier discurso. A nadie asombra si se proponen ya sea su antigua tecnología o sus presumibles principios éticos como respuestas a problemas actuales.“[36]

Das Erleben der Conquista stellt eine unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung von Utopien in den Anden dar. Der Begriff des pachacuti kommt nun auch bei der his­torischen Utopie zum Tragen: Im engeren Sinne bezeichnet er den Durchgang von einem Zyklus zum anderen, von denen jeder einzelne eine geschätzte Dauer von 500 Jahren besitzt.[37] Dem Ganzen liegt also eine prinzipiell zyklische Zeitauffassung zu­gründe (siehe Kap. 2.3.2). Die Kolonialherrschaft wird so in den Ablauf der Zeiten ein­gebaut, man findet sich damit ab; die Hoffnung wird nun auf den nächsten Zyklus gesetzt, der die Wiederkehr des Inka und der inkaischen Gesellschaft bringen wird. Doch schon im Inkarri-Mythos vermischen sich die ursprüngliche zyklische und die europäische lineare Zeitauffassung. Die Zeit der Conquista trifft sich mit dem Joachim von Fiores Zeitalter des Sohnes:[38] eine Zwischenzeit, die eines Tages an ihr Ende ge­langen wird. Hier geht die zyklische in eine lineare Vorstellung über, die ewige Gegen­wart in die Eschatologie. Man könnte dies auch als den Übergang vom Mythos zur Uto­pie bezeichnen.[39] Die Wiederkehr des Inka und die Wiedererrichtung der inkaischen Gesellschaft erscheinen nicht mehr als zyklisch bedingt, sondern als die endgültige Erlösung, der nichts mehr nachfolgt.

Der Autor, der als ein erster die ?Vision vom Inkareich als verlorener goldener Vergangenheit“[40] hatte und darlegte, war der peruanische Chronist ?Inca“ Garcilaso de la Vega.[41] In seinen Comentarios Reales de los Incas (1609) beschreibt er ein idyllisches Inka-Imperium und eine perfekte Herrschaft der Inka, die ihr Volk human regierten und eine väterliche Justiz ausübten. Die vorinkaische Ära betrachtet er als die der ?Barbarei“[42] und der Verworfenen, das Zeitalter nach der Conquista als das des Ru­ins und der Enttäuschung, auch wenn es durch Christentum und europäische Zivilisati­on vergoldet erschien. Die dazwischen liegende Epoche des Inkareichs ist für ihn die der Zivilisation, des Wohlstands und des Glücks, eine ?im Maße ihres Verlustes idealisierte ,Alte Zeit‘“[43]. Dabei ist Garcilaso zwar eines fremd: das Mitempfinden mit den leidenden Volksmassen; seine Verherrlichung der Vergangenheit bleibt so letztlich eine Apologie von deren Herrschenden.[44] Dennoch dient er lange Zeit als Quelle für Vergangenheitssehnsucht oder Hoffnung.

?Fruchtbar wie wenige [...] braucht seine Konzeption nicht unbedingt historisch zu­treffend zu sein, bleibt aber wirksam im Erzeugen neuer Utopien: Er vermittelt uns eine ideologisierte Version der Geschichte mit der Fähigkeit, neue Ideologien zu erzeugen. So bleibt sein Denken lebendig.“[45]

Zwar gelangte nicht nur der Inkastaat in der Rückschau zu hohen Ehren, sondern bis­weilen auch die vorinkaische Zeit.[46] Doch für die meisten Strömungen blieb die Idee vom Inkareich als perfekter Epoche zentral.[47] Flores Galindo weist auf ein auf ein di­stinktives Merkmal der historischen Utopie hin:

?La idea de un regreso del inca no apareció de manera espontánea en la cultura andina.

No se trató de una respuesta mecánica a la dominación cultural. En la memoria, pre­viamente, se reconstruyó el pasado andino y se lo transformó para convertirlo en una al terna (i va al presente. Este es un rasgo distintivo de la utopía andina. La ciudad ideal no queda fuera de la historia o remotamente al inicio de los tiempos. Por el contrario, es un acontecimiento histórico. Ha existido. Tiene un nombre: el Tahuantinsuyo. Unos gobernantes: los incas. Una capital: el Cusco. El contenido que guarda esta construe- ción ha sido cambiado para imaginar un reino sin hambre, sin explotación y donde los hombres andinos vuelvan a gobernar. El fin del desorden y la obscuridad. Inca signifi­ca idea o principio ordenador.“[48]

Eben das ist das historisch Utopische und, wie Flores Galindo meint, außerdem das ty­pisch Andine: Nicht ein abstraktes Zukunftsmodell wird konstruiert, sondern man greift auf die tatsächliche Vergangenheit zurück, die idealtypisch transformiert wird, um als Zukunftsmodell zu dienen. All die tatsächlichen Grausamkeiten des Inkareichs, das sich selbst nur durch die imperialistische Unterwerfung der bis dato verstreuten Volks­gemeinschaften und ihre ?Gleichschaltung“ als solches konstituieren konnte,[49] werden ausgeräumt; in die historische Utopie werden nur die als großartig erinnerten Elemente des Inkastaates aufgenommen.

Die Verherrlichung des Inkastaates dient bis heute als Grundmuster für Utopien in Pe­ru. So legt auch José Carlos Mariátegui seiner Utopie von einem peruanischen Sozialis­mus ein historisches Ideal zugrunde.

2.1.3.3 Politisch-ökonomische Utopien

Entwürfe von der Zukunft waren in Peru stets mit der Frage nach einer Überwindung der wirtschaftlichen und ethnischen Differenzen verbunden. Gegen Anfang des 20. Jahrhunderts entstand die politisch-literarische Bewegung des Indigenismo und ihr Ver­such, ein ?nationales Projekt“[50] für Peru zu begründen (siehe Kap. 3).

Als Galionsfigur Stand dieser Bewegung der peruanische Essayist José Carlos Mariáte- gui voran, der als der ?erste Marxist Lateinamerikas“[51] gilt. Seine Utopie hat aufgrund ihres revolutionären Inhalts einen Meilenstein in der peruanischen Geistesgeschichte gesetzt. Als Mariáteguis Hauptwerk gehen die Siete ensayos de interpretación de la realidad peruana (1928)[52]. Darin analysiert er zum einen die peruanische Realität in Vergangenheit und Gegenwart; zum anderen entwirft er einen auf Peru zugeschnittenen Sozialismus für die Zukunft.

Revolutionär ist zunächst vor allem, daß in Mariáteguis Analyse erstmals die Ökono­mischen Faktoren herausragendes Gewicht besitzen. Er vertritt die These einer struk­turellen Heterogenität des Wirtschaftssystems in Peru, insofern er die Koexistenz von Elementen dreier verschiedener Ökonomien feststellt:

?[...] en el Perú aetud coexisten elementos de tres economías diferentes. Bajo el ré­gimen de economía feudal nacido de la Conquista subsisten en la sierra algunos reidu­os vivos todavía de la economía comunista indígena. En la costa, sobre un suelo feu­dal, crece una economía burguesa que, por lo menos en su desarrollo mental, da la im­presión de una economía retardada.“ (15)

Die neue Idee, die Mariátegui dabei propagiert, ist die Identifikation des Indioproblems mit dem Problem des Bodens. Er sieht die Verachtung und Verarmung des Indio als ökonomisch und sozial verursacht, weswegen sich eine Lösung auf die Bodenfrage - Zerstörung des Latifundiums, Absage an individualistische Konzepte wie Kleinbesitz - beziehen und gleichzeitig die Beteiligung der indianischen Massen an der nationalen Zukunft sichergestellt werden muß.

Zudem prangert er die Unfähigkeit und Kümmerlichkeit der Bourgeoisie an, die eigent­lieh die kapitalistische Organisation zu leisten hätte. Die Ursache für ihre Schwäche sieht Mariátegui vor allem in der Spanien-treuen und kaum pioniergeistigen Mentalität der kreolischen Eigentümer in der Zeit nach dem kolonialen Feudalismus. Hinzu trete noch die Abhängigkeit vom ausländischen Kapital, das nach der Unabhängigkeit Perus ein organisches Wachstum der Bourgeoisie verhindert und sich bis heute immer gefrä­ßiger ausgebreitet habe.

?Die abhängige Bourgeoisie hat so eine Produktionsweise installier(, die den Indio in seinen alten Bindungen des patemalistischen Klientelismus der Großgrundbesitzer hält und die auch keinen Ansatz dafür bietet, daß eine proletarische Bewegung entspringen könnte.“[53]

Mariáteguis Ziel ist die peruanische Einheit, die Bildung einer Nation auf einem Fundament sozialer Gerechtigkeit. Den Sozialismus als nicht nur ökonomisches, son­dern als nationales Projekt betrachtet er dabei als konkrete Lösung auch für die eth­nischen Probleme. Die ökonomischen Konfliktlinien überlagern in Mariáteguis Sicht alle anderen Bindungen, etwa auch Bestrebungen des Regionalismus. Mariáteguis Pro­gramm läßt sich indessen an wenigen Eckpunkten festmachen.

Erstens verfolgt er die Anpassung des Sozialismus an die nationalen Bedingungen. Das bedeutet, daß der Sozialismus in Peru sich vor allem mit den indianischen Revindika- tionen solidarisieren muß, also mit den Rückforderungen der Andenbewohner. Er muß zu einem agrarischen Kommunismus ausgestaltet werden, der die Kontinuität des rura­len Lebens in Peru sichert. Dabei spricht sich Mariátegui für einen nichtkapitalistischen Weg zum Sozialismus aus, der durch Umgehung oder Verkürzung der kapitalistischen Etappe direkt in eine sozialistische Ordnung hineinführt.[54]

Zweitens verweist Mariátegui bei seiner Vorstellung von einem peruanischen Sozialis­mus stets auf die sozialistische Tradition in der inkaischen Geschichte und indianischen Lebensweise (siehe Kap. 2.2.3.3). Die peruanische Gesellschaft erhalte ihren spezi­fischen Charakter in aktueller Hinsicht dadurch, daß die Comunidad und Elemente eines praktischen Sozialismus in der Landwirtschaft und im Leben der Indios überlebt hätten; dies lasse eine individualistische Ordnung als überflüssig und nicht realisierbar erscheinen. So erfordert und rechtfertigt paradoxerweise gerade die Rückständigkeit seines Landes für Mariátegui den Sozialismus.

Mariátegui verbindet also sein Urteil, daß der Sozialismus an die westliche Zivilisation gebunden sei und daher auch Peru als Teil dieser Kuhurweh - ?Neuspanien“ - von ihm ergriffen werde, mit der These, daß der Sozialismus gleichzeitig seine primitive, aber fortgeschrittenste Lorm in der inkaischen Organisation gefunden habe. Diese Verknüp­fung führt ihn dann zur Einschätzung, in Peru sei aufgrund dieser Ausgangslage ein nichtkapitalistischer Entwicklungsweg möglich. Allerdings läßt er die sozialistische Idee nicht in ihrer vom Inka stammenden, instinktiven Lorm als Quelle der sozialis­tischen Revindikationen gehen; stattdessen beruft er sich auf die mit westlicher Zivili­sation angereicherte, wissenschaftlich-technische Lassung dieses Gedankens als Voraussetzung für die Heraufkunft des modernen Menschen.[55]

Ihre Kraft, so Mariátegui weiter, erhalte die Revolution dabei durch den Mythos: Die soziale Revolution sei die mythische Vision, die der sozialen Bewegung erst den nö­tigen Elan verleihe, indem sie den Willen der Indios formiere und die Massen integrie­re. ?No es la civilización [...] lo que levanta el alma del indio. Es el mito, es la idea de la revolución socialista.“[56] Dies sei der entscheidende Vorteil des Proletariats gegen­über der Bourgeoisie, die keinen Mythos mehr besitze.[57]

Bei alledem orientiert sich Mariátegui an der Nation als Erfüllung des peruanischen So­zialismus und weist auf den revolutionären Charakter des Nationalismus hin. Sein Ziel ist weder das koloniale noch das inkaische - sonst entwürfe er unter Umständen eine historische, keine politische Utopie -, sondern das integrale Peru:

?Die Revindikation, die wir unterstützen, ist die der Arbeit. Es ist die der arbeitenden Klassen, ohne Unterscheidung von Küste und Sierra, von Indio und Cholo. Wenn wir in der Diskussion [...] das Problem des Indio speziell behandeln, dann deshalb, weil es sich in der Praxis auch unterscheidet. Der städtische Arbeiter ist ein Proletarier, der in­dianische Bauer ein Knecht.“[58]

Agrarischen Kommunismus und moderne kollektivistische Gesellschaft hält Mariátegui durchaus für vereinbar, und zwar aufgrund der gleichen Mentalitäten und Arbeits­formen. Der kollektive Geist entspreche der primitiven gleichwohl wie der modernen Gesellschaft, die Comunidad entspreche der modernen Kooperative. Das Industriepro­letariat sei zwar schwach und unterentwickelt, aber dafür könnte sich der Indio von sei­nem natürlich kollektivistischen Denken her in den Protagonisten der sozialistischen Revolution verwandeln.

Auf dieser Basis will Mariátegui die Einheit der revolutionären Bewegung erreichen, die für ihn in der unauflöslichen Gleichzeitigkeit des Kampfes begründet ist: die Arbei­ter gegen das Kapital an der Küste, und die Indiobauern gegen den Feudalismus in der Sierra[59] (siehe auch Kap. 3.2.2).

2.1.3.4 Kulturell-literarische Utopien

?Kultur“ soll in diesem Kontext auf die Literatur Perus eingegrenzt werden, und zwar bezogen auf Mariáteguis Essay ?El proceso de la literatura“[60]. Darin geht Mariátegui der Frage nach, ob es eine peruanische Nationalliteratur gibt beziehungsweise was zu deren Etablierung nötig ist. Zunächst analysiert er chronologisch den Entwicklungspro­zeß der peruanischen Literatur von der Conquista bis heute. In einem Vergleich stellt Mariátegui fest, daß in Westeuropa die eigentliche Nationalliteratur historisch nach der Abspaltung der Sprachen vom Lateinischen entstand, also mit dem Aufkommen der Nationalsprache. Zudem fiel dort die Blüte der Nationalliteraturen mit der politischen Verankerung des Nationalgedankens zusammen, also mit der Herausbildung der Natio­nalstaaten. Zwangsläufig bemerkt er dann: ?La literatura nacional es en el Perú, ???? la nacionalidad misma, de irrenunciable filiación española. Es una literatura escrita, pensada y sentida en español“ (153), auch wenn sich bisweilen mehr oder weniger stark der indigene Einfluß bemerkbar mache. Daß es keine eigene indigen-nationale Literatur gebe, liege dabei zuvörderst an der Tatsache, daß die autochthone Kultur keine eigene Schrift entwickelt hat.[61]

Dieser sprachliche Dualismus zwischen Spanisch und Quechua macht aus der pe- manischen Nationalliteratur also einen Ausnahmefall. Deswegen, meint Mariátegui, könne man auch die üblichen Epochenbegriffe nicht anwenden. Stattdessen teilt er den Prozeß der peruanischen Literatur nach einer eigenen Theorie in drei Stufen ein: eine Kolonialepoche, eine kosmopolitische Epoche und eine nationale Epoche. Während der ersten Epoche sei ein Volk, literarisch gesehen, lediglich eine Kolonie, abhängig von einem anderen Volk. Während der zweiten Epoche assimiliere die Literatur gleichzeitig Elemente aus verschiedenen fremden Literaturen. In der dritten Epoche würden die eigene Persönlichkeit und das eigene Gefühl der Literatur einen harmonischen Aus- dmck erreichen (vgl. 156).

Die Literatur der Kolonialzeit, so Mariátegui, sei nicht peruanisch, sondern spanisch.[62] In ihr habe es nur schlaffe Nachahmer der spanischen Literatur gegeben. Die große Ausnahme sei lediglich Inca Garcilaso, den er ?el primer ,peruano‘“ (154) nennt. ?En Garcilaso se dan la mano dos edades, dos culturas.“ (154). Auch mit der Unabhängig­keit im 19. Jahrhundert entstehe in Pem noch lange keine Nationalliteratur, da wei- terhin der Kolonialstil vorherrschend sei. Dieser sei gekennzeichnet durch die sehn­suchtsvolle Heraufbeschwörung des Vizekönigtums. Als Vertreter der Kolonialstil­Epoche nennt Mariátegui etwa den Konservativen Don Felipe Pardo.

Etwas wirklich Neues sei erst mit Gonzalez Prada in die Literatur eingedrungen, ?ei precursor de la transición del período colonial al período cosmopolita“ (166) gilt. Bei Prada finde sich der Keim eines neuen Nationalgeistes (vgl. Kap. 3.1.2); zugleich bringe er europäische Einflüsse mit in die Literatur. Danach, so Mariátegui, gebe es je­doch wieder einen Rückschritt: Auf Prada folgte vor allem die literarische Restauration der Kolonialzeit bei Riva-Agüero. Nun jedoch gebe es eine revolutionär neue Richtung in der Dichtung, und zwar die indigenistische, als deren Fahnenträger er César Vallejo nennt. Die indigenistische Literatur zeichne sich durch ihren indianischen Charakter aus, der nicht folklorisiere, sondern genuin sei.

Das Utopische an Mariáteguis Analyse findet sich in seinem Modell des dreistufigen Entwicklungsprozesses der Literatur. In seinem Fazit schreibt er:

?En la historia de nuestra literatura, la Colonia termina ahora. El Perú, hasta esta gene­ración, no se había aún independizado de la Metròpoli. Algunos escritores, habían sembrado ya los gérmenes de otras influencias. [...] Hoy la ruptura es sustancial. El ,indigenismo‘, como hemos visto, está extirpando, poco a poco, desde sus raíces, al ,colonialismo‘. Y este impulso no procede exclusivamente de la sierra.“ (231)

Dabei zählt er diejenigen Literaten, die sich zuerst auf die Rassenfrage konzentriert haben, zu den fortschrittlichsten, wie beispielsweise die Co I ó n ida - G a 1 i o n s f i g u 1' Valde- lomar. Desweiteren beschreibt Mariátegui konkreter, was er unter Kosmopolitismus versteht:

,Nos vienen, de fuera, al mismo tiempo, variadas influencias internacionales. Nuestra literatura ha entrado en su período de cosmopolitismo. En Lima, este cosmopolitismo se traduce, en la imitación entre otras cosas de no pocos corrosivos decadentismos oc­cidentales [...]. Pero, bajo este flujo precario, un nuevo sentimiento, una nueva revela­ción se anuncian. Por los caminos universales, ecuménicos, que tanto se nos repro­chan, nos vamos acercando cada vez más a nosotros mismos.“ (23 lf.)

Mariátegui setzt also seine Hoffnung auf einen Kosmopolitismus, der gerade im Ent­stehen begriffen ist und als Durchgangsstadium zu einer wirklichen Nationalliteratur dienen soll. Repräsentiert werde die kosmopolitische Epoche durch die Strömung des Indigenismo, der sich auf den real existierenden Indio konzentriere und ihm eine lite­rarische Stimme verleihen wolle.

Daß der Kosmopolitismus lediglich Übergangscharakter besitzt, begründet Mariátegui damit, daß die indigenistische Literatur nicht ganzheitlich autochthon sei und die Indio-

weit allgemein verzerrend darstelle - was man ihr deswegen nicht vorwerfen dürfe.

?La literatura indigenista no puede damos una versión rigurosamente verista del indio.

[...] Es todavía una literatura de mestizos. Por ello se llama indigenista y no indígena. Una literatura indígena, si debe venir, vendrá a su tiempo. Cuando los propios indios estén en grado de producirla.“ (221)

2.2 Archaisch

2.2.1 Allgemeines zur Begriffsgeschichte

Das Wort ?archaisch“ geht auf das griechische a??a??? (archaios) zurück, das soviel wie ?alt, altertümlich“ bedeutet. In Europa ist das Wort ?Archaismus“ für veraltete sprachliche Ausdrücke seit dem 18. Jahrhundert gebräuchlich. Schließlich greift Anfang des 19. Jahrhunderts auch die Psychologie das Wort ?archaisch“ auf: Die kom­plexe Psychologie c. G. Jungs bezeichnet solche Inhalte und Funktionen als ?archaisch“, die sich durch ihre ?Altertümlichkeit“ auszeichnen. Danach sind haupt­sächlich die Funktionen und die Bilder des Unbewußten archaisch, vor allem die arche­typischen Vorstellungen des kollektiven Unbewußten.

In der Alltagssprache hat ?archaisch“ die allgemeine Bedeutung ?aus sehr früher Zeit stammend, altertümlich“[63]. Unter ?archaischem Denken“ wird heute allgemein das vor­wissenschaftliche Denken verstanden, das durch die ?enge Verknüpfung mit religiösen und mythischen Symbolen, Bildern und Motiven“[64] gekennzeichnet ist. Zudem be­zeichnet die Psychologie damit ?urtümliches, bildhaftes, auch magisches Denken“, das bei ?Naturvölkern, unter bestimmten krankhaften Bedingungen (z. B. bei Psychosen) auch bei Angehörigen von Kulturvölkern“[65] auftritt.

Der Begriff ?archaisch“ hat also verschiedene Dimensionen. Im weiten Sinne ist etwas ?archaisch“, das mit den Anfängen oder Ursprüngen der jeweiligen Sache zu tun hat. Im engeren Sinne tritt ?archaisch“ als semantisches Gegenstück zu ?modern“ auf. Die Verwendung der Begriffe bleibt dabei subjektiv und hängt vom Standpunkt und der Entwicklungsstufe des Betrachters ab. Insofern kann ?archaisch“ wertend oder nicht wertend gebraucht werden. Negativ gesehen heißt archaisch ?unmodern“, also rück­schrittlich. Neutral gefaßt heißt archaisch lediglich ?nicht modern“, also von früher her stammend.

Versucht man nun, diese allzu weite Bedeutung von ?archaisch“ faßbar und handhab­bar zu machen, stößt man auf den Begriff der Tradition.

2.2.2 ?Archaisch“ als ?traditionell“

Kann man etwas, das nicht modern ist, nicht in gewissem Sinne ebensogut ?traditionell“ nennen? ?Traditionell“ ist laut Definition etwas, wenn es herkömmlich, überliefert ist. Unter ?Tradition“ wird allgemein die Übernahme und Weitergabe bezie­hungsweise die weitergegebene Menge von Sitten, Bräuchen, Konventionen, Lebens­erfahrungen und Institutionen verstanden.[66] Ein einzelnes Element dieser Menge nennt man ?eine Tradition“.

Der Tradition als weitergegebener Menge von Sitten, Bräuchen et cetera wird zumeist ein gewisser Einfluß auch in der Gegenwart zugeschrieben - allein aufgrund dessen, daß sie aus der Vergangenheit kommt und deren Weisheit und Erfahrung mit sich bringt.

Ein Kennzeichen der Moderne ist es jedoch, den Einfluß der Vergangenheit zugunsten der Entfaltung der Vernunft zurückzuweisen, die frei von Tradition und Vorurteil ist. Vor dem 17. Jahrhundert blieb Tradition als Quelle der Erkenntnis unangezweifelt. Nach der Aufklärung standen sich dann zwei Lager gegenüber: einerseits die sogenann­ten Antitraditionalisten, die ganz auf eine von der Vergangenheit losgelöste Vernunft setzten, und andererseits die Traditionalisten, die den Traditionsgedanken verteidigten. Letztere versuchen - wenn sie nicht gerade hoffnungslos irrational argumentierten -, die Rationalität aufzuzeigen, die in Traditionen enthalten ist, aber oft übersehen wird. Dabei erweist sich oft, daß viele Traditionen nicht so sehr irrational sind als vielmehr subtile und flexible Entfaltungen der Vernunft in besonderen Anwendungsbereichen.[67] Der Begriff ?traditionell“ hat also ebenso wie ?archaisch“ die Konnotation des Nicht­Modernen. Beide bezeichnen etwas, das von früher her kommt, das nicht modern, son- dem der Vergangenheit verhaftet ist: Traditionen entstammen nicht der ?modernen“ Gegenwart. Zwar implizieren sich beide Begriffe nicht gegenseitig, insofern etwas ?Archaisches“ nicht unbedingt zur Tradition wird, ebensowenig wie etwas ?Traditionelles“ nicht zwangsläufig archaisch im Sinne von urtümlich sein muß. Des­wegen kann man ?archaisch“ unter Umständen auch als Steigerungsform von ?traditionell“ verwenden: wenn etwas nicht nur traditionell, sondern gar archaisch ist. Ein Konzertkritiker beispielsweise könnte eine Musik beschreiben, die ?traditionell, ja fast schon archaisch“ anmutet.

Doch synonym verstehen kann man ?archaisch“ und ?traditionell“ eben unter dem Aspekt, daß sie das ?Modeme“ als gemeinsames Antonym besitzen. Darum kann es be­dingt dasselbe bedeuten, wenn man heutzutage etwa eine Kulturform archaisch und wenn man sie traditionell nennt - nämlich dann, wenn die Kulturform auf Gebräuchen beruht, die aus früherer Zeit stammen. Beim Reden von einer archaischen oder traditionellen Kultur muß indes jedoch nicht gleich an ein Naturvolk gedacht werden, das fernab der hochtechnischen Ausstattung der postindustriellen Gesellschaften lebt. Archaisch-traditionelle Elemente finden sich in allen Kulturen.

Archaisch beziehungsweise traditionell kann eine Kultur in verschiedenen Bereichen sein; im folgenden soll dazu Archaisch-Traditionelles in Pem untersucht werden.

2.2.3 Archaisch-Traditionelles in Peru

Als Musterbeispiel für eine ?archaische“ oder ?traditionelle“ Lebensweise gilt Wissen- schaftlem vielfach das Leben der peruanischen Andenbauern, sofern sie darin noch et­was Ursprüngliches beibehalten haben. Die Quechuas sind offenbar der Inbegriff für ein Volk, das sich nach wie vor auf ?archaische“, also prähispanische Traditionen stützt.[68] Vor allem Arguedas hat mit seinen anthropologischen Forschungen dazu beige­tragen, die Reichhaltigkeit der alten Quechua-Kultur wieder ans Tageslicht zu rücken. ?Archaisch“ meint hier also in erster Linie prähispanisch. Auf den Unterschied, ob eine Tradition originär aus der vorinkaischen oder aus der inkaischen Zeit stammt, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Wenn hier von Archaisch-Traditionellem die Rede ist, dann bezieht sich das schlicht auf die Kulturelemente, die in der Inkazeit vor­handen waren und gepflegt wurden.[69] Das Wissen über die Inkakultur stützt sich dabei auf die Chroniken der Kolonialzeit - im Inkareich gab es ja keine Schriftkultur -, ins­besondere von Garcilaso und Guarnan Poma.[70]

Die Herrschaft der Inka dauerte insgesamt 350 Jahre. Gegen 1200 begann sich in Cuz­CO eine Gemeinschaft von Quechua-sprechenden Bauern und Kriegern zu bilden. Ihre Oberhäupter waren die Inkafürsten. Im 14. Jahrhundert begannen unter dem Inka Vira­cocha die Eroberungen: Die Inkastämme brachen aus ihrem begrenzten Gebiet aus und unterwarfen die Nachbarvölker, beispielsweise die Chimü. Im Laufe der Zeit bauten die Inkas ihre Macht aus und errichteten das Tawantinsuyo, das ?Reich der Vier Himmels­richtungen“ oder auch ?Reich der vier Viertel“. In den Jahren um 1530, als der Spanier Pizarro und seine Mannen das Land schrittweise einnahmen, hatte das Inkareich unter dem Inka Huayna Capac seine größte Ausdehnung erreicht. Damals umfaßte das soge­nannte ?Groß-Peru“ die Gebiete der heutigen Länder Peru, Ecuador und Bolivien bis hin zu Grenzgebieten Kolumbiens und Chiles.[71]

Im folgenden soll nun der Lrage nachgegangen werden, welche archaisch-traditionellen Kuhurelemente aus der Inkazeit überliefert sind und was sich davon möglicherweise bis heute gehalten hat. Dies ist wichtig, um herauszufinden, was an den Traditionen wertvoll und bewahrenswert ist.

2.2.3.1 Mythisches

Die ökonomischen und administrativen Maßnahmen und Institutionen stellten wichtige Stützen für das Inka-Imperium dar, doch nicht die einzigen: Was darüber hinaus die weit auseinanderliegenden Staatsgebiete verband, waren, erstens, der Sonnenkult als gemeinsame Religion und, zweitens, eine gemeinsame Ideologie. Letztere beruhte auf der Vorstellung, daß erst die Inka-Herrscher die Kultur von Groß-Peru samt den so­zialen Einrichtungen geschaffen hätten.

Die sogenannte ?Ursprungslegende“ von Manco Capac und Mama Ocllo, der Gründungsmythos des Inkareichs schlechthin, erklärt den Ursprung des Inkareichs.[72] Laut Arguedas hat Garcilaso die bekannteste Version davon transkribiert:

,Manco Capac y Mama Ocllo fueron creados por el Sol. El mundo estaba poblado por hombres salvajes. La pareja es enviada como héroes civilizadores. Aparecen en el lago Titicaca. Manco Cápac lleva una vara de oro en la mano. Debía fundar la capital del Imperio, la ciudad del Cuzco, en el sitio donde la vara se hundiera de un solo golpe. La pareja se dirige hacia el norte hincando la vara de oro. Llega a Pacarec Tampu (lugar de descanso donde se produce el amanecer). Se detiene en el cerro Huanacaure donde la vara se hunde. Allí levanta un templo dedicado al Sol y convoca a la gente. Manco Cápac enseña a los hombres las artes de la agricultura y la ganadería, la construcción de casas y ciudades, funda el Cuzco y gobierna con leyes justas y clementes.“[73]

In einer anderen Version wird in allen Einzelheiten erklärt, wie der Inka Manco Cápac und seine Schwestergattin Mama Ocllo den Menschen die Zivilisation brachten.[74] Neben Garcilasos Version existieren zahlreiche weitere Fassungen, doch dabei enthal­ten alle Legenden eine gemeinsame Vorstellung: daß vor dem Beginn der Inkaherr­schaft in den peruanischen Gebieten ein Zustand wilder Barbarei geherrscht habe. Erst das Erscheinen der Inkafürsten habe die Bewohner der Hochtäler zu einer eigentlichen Zivilisationsstufe gebracht.

Nun entspricht diese Auffassung keineswegs den historischen Tatsachen. Sie schildert eine Zeit, die Tausende von Jahren früher gewesen war - in der Epoche der Nomaden, der Jäger und Sammler. Der Mythos entstand, als die Inkas zu einem mächtigen Herr­schervolk emporgestiegen waren und sich selbst somit auch als die Bringer von Kultur und Zivilisation sahen. Andere Kulturepochen wurden deshalb aus dem geschichtlichen Bewußtsein verdrängt.[75]

Diese Ursprungsmythen erklären auch die gottgleiche Stellung des Inka. Das Ze­remoniell, das ihn umgab, hatte religiösen Charakter. Denn nach dem Glauben des Volkes stammte der Inka direkt von den ?Sonnenkindern“ Manco Capac und Mama Ocllo ab, war also selbst ein ?Sonnensohn“ und Stand als solcher in dauernder Ver­bindung mit dem Himmelsgestirn. Von ihrer göttlichen Abkunft her begründeten die ?Sonnensöhne“ den Anspruch auf Herrschaft und, darüber hinaus, ihre Funktion als ?ordenadores del mundo“[76].

Man sieht also am Beispiel dieser Ursprungslegende, wie archaische Mythen eine wichtige Rolle im Leben der Indios spielen, insofern sie die Vergangenheit erklären. In indigenistischen Romanen etwa wird oft auf diese alten mythischen Vorstellungen Be­zug genommen.

2.2.3.2 Historisches

Eine archaisch-indigene Konzeption von Historie ist die Lehre von den Zeitaltern der Welt, die in der Inkazeit vorherrschte.[77] Laut den Chronisten hatten die peruanischen Indios eine zyklische Auffassung von Zeit, die die Vergangenheit in vier unveränderli­che Zeitalter ordnete.

Am Anfang der Zeit steht das ursprüngliche Chaos. Daraus erschuf der Schöpfergott Viracocha die erste Menschheit. Seither folgten dann bislang vier Zeitalter; dabei be­gann mit der Conquista ein fünftes Zeitalter, das bis in die heutige Gegenwart andauert. Jedes Zeitalter wurde durch einen kosmischen Kataklysmus zerstört, einen pachacuti (siehe Kap. 2.1.4.1), der die Ordnung auf den Kopf stellte. Wie oben schon erläutert, bezieht sich der Begriff einerseits auf die Übergangsphase von einem Zeitalter ins nächste, andererseits auf das Endergebnis, also die Umkehrung der Dinge.

Laut dem Inka-Glauben fand der letzte Pachacuti mit der Conquista statt: Diese kehrte die Ordnung des Inkareichs um und führte die Menschheit ins fünfte, gegenwärtige Zeitalter. Dieses wird so lange andauem, bis wieder ein neuer Pachacuti Land und Leben, Raum und Zeit transformiert; auch die Gegenwart wird also ausgelöscht werden. Am Ende der Kette von Zeitaltern schließlich steht die endgültige Zerstörung der Welt.

In der Überzeugung, daß die andinischen Völker an fünf Zeitalter glaubten[78], stimmen die Chronisten weitgehend überein. Auf diese Weise gelingt es, die Abfolge der Inka­herrscher vom ersten Zeitalter und bis zur spanischen Conquista zu beschreiben.[79] Die Zyklizität, die in diesem System enthalten ist, besteht in der Vorstellung, daß jedes Zeitalter nach dem gleichen Schema abläuft. Der Pachacuti ist der Tiefpunkt, eine ?Zeit der Finsternis“[80], die an das ursprüngliche Chaos am Anfang der Zeiten erinnert; das Leben steht still[81], weil es vernichtet wurde durch eine Katastrophe. Diese wird biswei­len den vier Elementen, zum Beispiel dem Wasser durch eine Sintflut, oder anderen Plagen zugeschrieben, etwa einer Epidemie. Bei einem Pachacuti erleidet die Menschheit moralisch und rechtlich einen tödlichen Verfall. Die Sterne ziehen sich zu­rück, die Erde bleibt im Finsteren; Götter und Patrone sind ausgelöscht, die Herr­sehenden verlieren all ihre magische Macht und Sterben, die Gesetze sind verkommen, die Sitten sind entartet, das Laster breitet sich aus, und die Materie zerrüttet. Die Men­sehen verlieren ihre Lebenskraft, die Tiere brechen in Rebellion aus. Schließlich erfährt die Harmonie der Natur einen gewaltsamen Bruch; eines ihrer Elemente, aus deren Gleichgewicht sich der Kosmos zusammensetzte, erlangt gegenüber den anderen zuviel Macht und setzt dadurch seine zerstörerische Kraft frei.[82]

Der Katastrophe folgt eine Phase der Erneuerung und der periodischen Wiedergeburt. Der Nullpunkt stellt eine Möglichkeit dar, er trägt das Potential zum Neubeginn in sich: Alles wird von Grund auf durch Gesundes ersetzt, die Welt erfährt eine Auferstehung und kontinuierliche Wiederherstellung der Ordnung. Eine neue Sonne erhebt sich, die erneuerte Lebensenergien mit sich bringt und eine neue Schöpfung symbolisiert, mit Gesellschaften, die vollkommen anders organisiert sind, und Menschen, die an kom­plett neue Gottheiten glauben.

Dieser Aufstieg mündet in eine harmonische Phase des Gleichgewichts, in der alle Elemente der Natur in Balance miteinander Stehen und die moralische und rechtliche Ordnung stabil ist. Doch sobald eines der Elemente beginnt, die anderen zu dominieren, setzt ein Niedergang ein. Das Gleichgewicht in der Natur bricht, Disharmonie stellt sich ein, die Ordnung wird instabil, die Menschheit verfällt. Dies geht so lange, bis mit einem neuen Pachacuti der Kosmos zusammenstürzt und aus dem Nichts schließlich wieder ein neuer Anfang entsteht.

Dieser Teilprozeß wiederholt sich also innerhalb des allgemeinen Systems nach dem immergleichen Ablaufschema. Die stete Folge von Niedergängen und Erneuerungen findet seine Synthese letztlich in der Kontinuität einer stabilen Gesamtheit. Die Lehre von den Zeitaltern hat bedeutende Konsequenzen für das tägliche Leben: Eine solche Konzeption von Zeit impliziert, darüber nachzudenken, wie diese Zeit gelebt werden soll, damit sie nicht endet, und danach zu handeln. Die erreichte Phase des Gleichge­wichts zu erhalten ist das Ziel dieser besonderen Art und Weise, eine Vergangenheit zu organisieren, einer bestimmten Art, das kollektive Gedächtnis zu ordnen. Dabei wird aus der Lehre von den Zeitaltern der Welt ein Leitfaden für die Aktion gemacht, denn sie ist in erster Linie eine Quelle der Reflexion, da sie das Bestehen des menschlichen Lebens in der Zeit gewissermaßen einer Wertung unterzieht.

2.2.3.3 Politisch-Ökonomisches

Weitere Säulen, auf die sich das Inkareich stützte, waren die soziale, die politische und die ökonomische Organisation. Im Grunde verschmolzen im Inkastaat verschiedene Lormen von politischem System: Theokratie, Monarchie, Sozialismus und Kommunis­mus. Das Lundament der ganzen Gesellschaftsordnung, sozusagen die kleinste poli­tische Einheit, bildete dabei die Dorfgemeinschaft. Diese setzte sich zumeist aus einer Großfamilie zusammen, beruhte also auf Blutsverwandtschaft. Dieser Lamilienverband hieß auf Quechua ayllu.[83]

Die Einteilung in Ayllus reicht weit zurück in vorinkaische Epochen, ist also eine Er­findung der halbzivilisierten Andenvölker. Jeder Ayllu lebte ursprünglich sein eigenes Leben als eine in sich geschlossene, politisch, sozial und wirtschaftlich selbständige Einheit. Das Gebiet, über das diese Genossenschaft verfügte, war die unmittelbare Um­gebung des Dorfes. Grund und Boden wurden als gemeinsames Eigentum des Ver- bandes betrachtet und zwischen den einzelnen Kleinfamilien nach bestimmten Grund­Sätzen verteilt.

In vorinkaischer Zeit schlossen sich gewöhnlich verschiedene Ayllus zu größeren Gesellschaften politischen Charakters zusammen. Ein solcher Territorialverband oder Kleinstaat wurde von einem curaca (Vorsteher) regiert, dessen Macht erblich war. Zwi- sehen den Territorialverbänden wurden beständig Kriege um die Ländereien geführt. Mit der Zeit jedoch verbündeten sich oft mehrere Territorialgemeinschaften zu einem militärischen Stammesverband. Als sich die Inkas zu politischem Einfluß erhoben, hatten sie es im Kampf gegen einige solcher Konföderationen ziemlich schwer, etwa gegen die der Collas/Aymarás und die der Chancas.[84]

Bei der Errichtung ihres Reiches Übernahmen die Inkas diese Institutionen von den un­terworfenen Völkerschaften - den Ayllu und die Territorial verbände. Auch die Curacas behielten ihre Stellung, sofern sie sich den neuen Herrschern unter ordneten.[85] Doch im Lauf der Zeit wurde der Ayllu faktisch der neu eingeführten sozialen Ordnung einver­leibt und ging darin auf. Aus Verwaltungsgründen wurde die Bevölkerung von den In­kas gebietsweise in Gruppen zusammengefaßt und eine ganze Hierarchie von Beamten für ihre Betreuung geschaffen.[86]

Ihre Verwaltung bauten die Inka nach einer Strengen Hierarchie auf. An der Spitze des Staates standen die Angehörigen der Inkafamilie. Die oberste Administration übte eine dem Sapay Inca (einziger Inka) treu ergebene Oberschicht aus. Eine Stufe tiefer befanden sich die Angehörigen der cuzqueflischen Großfamilien sowie die Bewohner aus der Umgebung Cuzcos, welche die zahlreichen Reichsbeamten stellten. Unterhalb der Inka-Beamtenschaft rangierten die Curacas, die an Cuzco gebunden wurden, indem sie ihre Söhne dort erziehen lassen mußten. Die unterste Volksschicht bestand in ihrer großen Mehrheit aus den Bauern der unterworfenen Gebiete. Jeder puric (tauglicher Arbeiter) gehörte einem Ayllu an. Er war die Einheit des Sozialsystems und re­präsentierte seinen Haushalt.[87]

Das Wirtschaftssystem, das im Inkareich bestand, wird vielfach als ?landwirtschaftlicher Kollektivismus“ bezeichnet.[88] Das bebaubare Land des ganzen Reiches wurde in drei verschieden große Teile aufgeteilt. Der Ertrag der ersten Katego­rie gehörte der Regierung; die Ernten dienten zur Ernährung des Hofstaates und der Be­amtenschaft. Die Felder der zweiten Kategorie, die ?Ländereien der Sonne“[89], ernährten die Priester und Angestellten im Dienste des Kultes und lieferten Opfergaben für die Götter. Das Ackerland der dritten Kategorie schließlich, das den weitaus größten Teil umfaßte, war für die Ernährung des ganzen Volkes bestimmt.

Aller Grund und Boden war als Besitz des Inka ?Staatseigentum“. Doch die Äcker wurden von den örtlichen Stammesgruppen kontrolliert und zur Bebauung an die ein­zelnen Familien der Dorfgemeinschaft abgegeben. Jede Familie erhielt soviel Land, wie sie zum Leben benötigte; die Aufteilung erfolgte jährlich neu. So wurde die de­zentralisierte Dorfwirtschaft von den Inka weitgehend unangetastet gelassen. Die große Innovation jedoch war, daß die Inkaverwaltung die Voraussetzungen für Gemein­schaftswerke schuf - die Anlage von Wasserleitungen, die Herstellung von Hangtér- rassen und die Erstellung von Straßen und Brücken.

Den Rechten des Dorfbewohners - Zuteilung einer Parzelle, Recht auf ein eigenes Haus, Recht auf Nutzung der Gemeingüter et cetera - standen seine Arbeitspflichten (minka) gegenüber, die Beteiligung an jenen Gemeinschaftswerken. Darüber hinaus wurden die Felder der ersten und zweiten Kategorie von der Dorfbewohnern gemein­sam bearbeitet, ebenso wie die Äcker der ?Bedürftigen“ - Soldaten, Kranken, Waisen et cetera -, und zwar beides vor der Bestellung der eigenen Parzelle.[90] Man kann also in gewisser Weise von einem kollektivistischen Wirtschaftssystem im Inkareich sprechen; diese Vorstellung von einer Verwurzelung des modernen Sozialis­mus in der eigenen Geschichte hat viele Indigenisten darin bestärkt, die Vergangenheit zu verehren.[91]

2.2.3.4 Kulturelles

Das Archaisch-?Kulturelle“ soll sich hier insbesondere auf die Gebiete Wissenschaft, Religion, Ethik, Literatur und Erziehung beziehen, wie sie im Inkareich erschienen.

Die Inka gelten als Hochkultur, was bedeutet, daß sie einen hohen Stand der Entwick­lung erreicht haben.[92] Abgesehen von den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Er- rungenschaften[93] schreibt man ihnen auch auf dem Gebiet der Wissenschaften, ins­besondere der Astronomie, gute Kenntnisse zu. Das Interesse daran erwuchs aus ihrer Existenz als Ackerbauvolk: Die Himmelskörper, ihr Verlauf und ihre Konstellationen waren für die verschiedenen Perioden des Jahres von Wichtigkeit. Regenzeiten und Epochen der Dürre sowie günstige Daten für Saat und Ernte wurden mithilfe der Stel­lungen der Sonne oder bestimmter Sterne errechnet.[94] Die Basis des inkaischen Zeitsys­tems war ein Mondkalender: Ein Jahr hatte zwölf Monde.[95]

Die ursprünglichen Religionen Perus folgten vermutlich einem allgemeinen Grund­muster, unterschieden sich aber in den Details erheblich voneinander. Die Inkas etablierten schließlich eine Art Staatsreligion, während daneben die alten Religionen toleriert wurden. Dies führte im Endeffekt zu einer komplexen Vermischung von Ze­remonien, Praktiken, animistischem Glauben in magische Kräfte und Naturverehrung. Der Glaube war polytheistisch; die wichtigsten spirituellen Wesen seien kurz vorge­stellt.

Viracocha - andere Namen: Pachacamac, Con - ist der oberste Schöpfergott, der aus vorinkaischer Zeit stammt. Im Inkareich war seine Anbetung den höheren Klassen vor­behalten. In weltlichen Angelegenheiten waren die Himmelsgottheiten sowie die Erd- gottheiten wichtiger, die allesamt als Diener des Schöpfergottes galten: Der Sonnengott Inti war die Nationalgottheit der Inka, sofern von ihm die königliche Dynastie ab­stammte und er die Ernten kontrollierte; seine Verehrung war verpflichtend, und ihm war der größte Tempel in Cuzco geweiht.[96] Der Kult der Pachamama, der Erdgöttin oder ?Mutter Erde“, ist vermutlich der elementarste, da sie für die Landwirtschaft sorg- te.[97] Auch viele Sterne wurden mit Namen versehen und als Gottheiten betrachtet.[98] Daneben existierten etwa noch die Apus, die Berggeister, die jedes Ereignis in den Anden steuerten und die Zyklen des Wassers kontrollierten, sowie die Amarus, eben­falls mythische Wesen der Anden.

Zu den Tempeln hatten nur die Priester Zugang. Die religiösen Zeremonien des Volkes fanden nicht in Kirchen, sondern auf großen Plätzen statt. Das größte Fest fand jährlich zur Wintersonnenwende statt. Außerdem war jeder Monat nach den Feierlichkeiten be­nannt, die darin stattfanden und die in die landwirtschaftlichen Aktivitäten integriert waren.

Die Religiosität hängt eng mit der ethischen Einstellung der Indios zusammen. Ihr Denken, das sich an der Beobachtung der Natur orientiert, basiert auf einer Grundvor­Stellung: daß alle Elemente eine harmonische Einheit bilden, deren Gleichgewicht auf­rechterhalten werden muß. Dies gilt für alle Arten von Beziehungen, des Menschen zur Erde und zu den Tieren wie auch der Menschen untereinander. Sämtliche Gegensätze - Tag/Nacht, oben/unten, Kälte/Wärme, Frau/Mann, rechts/links, Leben/Tod et cetera - schließen sich dabei nicht gegenseitig aus, sondern die Extreme ergänzen sich zu einer Einheit. Doch das Gleichgewicht ist nicht automatisch gewährleistet: Schlechte Ernten, Krankheiten, Unglück sind Folgen gestörter Harmonie. Diese muß wiederhergestellt werden, und zwar, sofern es in seiner Macht steht, vom Menschen.[99] Der Mensch muß das Gleiche zurückgeben, was er nimmt, und zwar auf dem Wege der Reziprozität. Das bedeutet zum einen gegenseitige Hilfe der Menschen untereinander, vor allem in den verschiedenen Formen der Arbeitsorganisation innerhalb der Comunidad; zum anderen sind damit Opfergaben an die Natur und die Götter verbunden.[100]

[...]


[1] Aus: terre des hommes, Postkarten-Serie 500״ Jahre Eroberung und Widerstand Lateinamerikas“, Osnabrück.

[2] Garcia Marquez, zitiert nach: Sanchez Ferrer 1990, 88.

[3] Vargas Llosa 1996, 84.

[4] Santisteban 2004a.

[5] Vargas Llosa 1996, 29.

[6] An dieser Stelle möchte ich noch auf einige formale Besonderheiten dieser Arbeit hinweisen. Erstens sei erwähnt, daß mit den fremdsprachlichen Begrifflichkeiten auf verschiedene Weise verfahren wurde. Zitate auf Spanisch wurden weitestgehend im Original übernommen; Quechua-Ausdrücke wurden kur­siv gesetzt, und in Klammem wurde bei der erstmaligen Erwähnung die deutsche Bedeutung hinzuge­fügt; spanische Fachbegriffe sowie Quechua-Ausdrücke, die häufig gebraucht wurden, wurden begrenzt eingedeutscht, das heißt, ohne besondere Kennzeichnung belassen und großgeschrieben (beispielsweise Indigenismo oder Ayllu).

Zweitens sei in bezug auf die Bezeichnung der indigenen Bevölkerung Perus folgendes klargestellt: Re­lativ neutral ist der Begriff indígena; dennoch wird weiterhin oft vom indio gesprochen und ge­schrieben, weswegen ich diesen Begriff auch gebraucht habe; vgl. hierzu auch Kap. 2.4.1.

[7] Vgl. Klaus/Buhr 1975, 1249.

[8] Vgl. Gnüg 1999, 9.

[9] AİS nach der Französischen Aufklärung offenkundig zu werden scheint, daß sich die Ziele und idede der Aufklärung, ihr Fortschrittsoptimismus und ihr Vertrauen in die menschliche Rationalität nicht realisiert haben, wird auch die Utopie als eine bestimmte Denkform der Kritik unterzogen; vgl. Klaus/Buhr 1975, 1250.

[10] Vgl. Hölscher 1982, 405ff.

[11] In der Schrift Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (1883) schätzt Engels die Sozialutopien nach Morus als wichtige, aber durch die marxistische Wissenschaft überholte Phase des Sozialismus ein; vgl. Engels 1973 sowie Klaus/Buhr 1975, 1250 und Gnüg 1999, 12. Er stellt fest, daß die ״großen Utopisten“ den Sozialismus zwar vorbereitet, entsprechend der ״unreifen Klassen- läge“ aber ״unreife Theorien“ aufgestellt hätten. Erst mit den ״Entdeckungen“ der ״maleri al isli scheu Geschichtsauffassung“ und des ״Geheimnisses der kapitalistischen Produktion [...] wurde der Sozialis­mus eine Wissenschaft“ (Friedrich Engels, zitiert nach: Dierse 2001, 518).

[12] Zur Erklärung von Sozialrevolutionären Umbrüchen in der Geschichte greift Mannheim auf die mar­xistische Unterscheidung von ״Sein“ und ״Bewußtsein“ einer Gesellschaft zurück: Entspricht das Be­wußtsein nicht mehr dem ״Seinsgefüge“ der Gesellschaft, so bilden sich neue, revolutionäre Ideen - die als progressive ״Utopien“ oder als reaktionäre ״Ideologien“ erscheinen. Utopie und Ideologie unter- scheiden sich in ihrer Fähigkeit, eine neue Harmonie von Sein und Bewußtsein zu begründen. Vgl. Klaus/Buhr 1975, 1253 und Dierse 2001, 520.

[13] Vgl. Hölscher 1982, 413.

[14] Meyers Taschenlexikon 1995, Bd. 23, 66.

[15] Utopieentwürfe sind zudem gekennzeichnet durch formalisierende Selektion von Untersuchungs­gegenständen; außerdem unterliegen sie einem Zwang zur Systematisierung. Das begründet zum einen das Hauptproblem der Staatsromane: ihre ästhetische Langeweile. Zum anderen sind Selektion und Sys­tematisierung aber eine unabwendbare Bedingung für Utopien. Siehe hierzu Voßkamp 1982a, 4.

[16] H0mmes 1974, 1571.

[17] M0rus‘ Utopia wandte sich zwar konkret gegen die damalige englische Gesellschaft, vertrat aber überdies den Anspruch, als Entwurf eines ideden Staates allgemeingültig zu sein, also als Vorbild für alle existierenden Staaten dienen zu können.

[18] In verschiedenen Andenregionen Perus, die geographisch weit auseinander liegen, wurden im 20. Jahrhundert diverse Quechua-Erzählungen entdeckt, die aus der Zeit nach der spanischen Conquista stammen.

[19] Vgl. z. B. Flores Galindo 1988, 40f.

[20] Es existieren vermutlich rund 15 Versionen, weswegen er eher einen ״mythischen Zyklus“ darstellt. Die ersten Versionen wurden von José Maria Arguedas, pemanischem Schriftsteller und Ethnologen, gegen Mitte des 20. Jahrhunderts zusammengetragen. Alejandro Ortiz Rescaniere erweiterte die Samm­lung, nachdem er sich in diversen Andendörfem verschiedene Mythen von Einheimischen mündlich hatte vortragen lassen.

[21] In der Version, wie sie Arguedas nacherzählt; vgl. Arguedas 1998, 174f. und Ortiz Rescaniere 1973, 129ff.

[22] Arguedas 1998, 175; vgl. auch Ortiz Rescaniere 1973, 141f.

[23] In einer Variante, die Ortiz Rescaniere in Huamanga zu Ohren kam und die auch in anderen Regionen verbreitet ist, hat Inkarrí beispielsweise eine Frau namens Collarri, mit der zusammen er unermüdlich durch die Welt reist und den Menschen die Landwirtschaft bringt.

[24] Ortiz Rescaniere 1973, 132.

[25] In anderen Ursprungsmythen findet sich die gleiche Zweiteilung, etwa beim Adaneva-Mythos aus Vi­cos; vgl. dazu Ortiz Rescaniere 1973.

[26] Daß Inkarri Gott und Held in einem war, entspricht der Quechua-Religion im Inkareich. Diese war weit mehr als eine bloße Staatsreligion nach heutigem Verständnis: Staat und Religion waren viel Stär­ker ineinander verwoben, insofern der Inka als gottgleich gal( und gottähnliche Attribute besaß - etwa das Gold des Sonnengottes. Die Religion des ״Tawantinsuyo“ (des Inka-Reiches) und ihre Mythen hatten die rudimentäre und ursprüngliche Religiosität der Ureinwohner überlagert, wobei die wesentli­chen Elemente der Urreligionen - etwa Pantheismus, Animismus, Magie - jedoch auch unter den Inka erhallen blieben (vgl. auch Kap. 2.1.3.4).

[27] Ausdruck dafür, daß die beiden verschiedenen Zeitalter als Teile desselben Systems betrachtet werden, ist in einigen Versionen des Mythos der Hinweis auf die Verwandtschaft der repräsentativen Gottheiten: In der Version von Huamanga beispielsweise sind Inkarri (Held) und Pizarro (Antiheld) Brüder; vgl. Ortiz Rescaniere 1973.

[28] Zum prähispanischen Denken, das in seinen Raum- und Zeitvorstellungen sowie in seiner sozialen Ordnung auf strikten Dichotomien (oben/unten, Tag/Nacht etc.) basierte, siehe z. B. Ossio 1973.

[29] Ferrero 1973, 420.

[30] In der Interpretation Ferreros; vgl. Ferrerò 1973, 420.

[31] Generell ist es nicht Intention eines Mythos, die historische Realität abzubilden; vielmehr ist er My­thos Ausdruck eines Bildes, das der Mensch in einer gegebenen Gesellschaft von der Realität hat, in der er lebt - und dieses Bild ist so wahr, wie diese Gesellschaft ״wahr“ ist; vgl. Pease 1973, 446. Ein ganz konkretes historisches Vorbild hat der Inkarri-Mythos - wie alle Mythen - natürlich dennoch, und zwar in der Enthauptung des letzten Inka Atahualpa durch den Eroberer Pizarra 1633 in Cajamarca.

[32] Unter ״Messianismus“ versteht man gemeinhin Emeuerungsbewegungen, deren kritisches Potential sich in der Erwartung eines dem christlichen Messias vergleichbaren Heilbringers äußert. Messianismus ist häufig mit der Hoffnung auf die Wiederkehr des urzeitlichen ״Goldenen Zeitalters“ (vgl. Chiliasmus) und mit einer Reaktion auf die Bedrohung durch eine überlegene Kultur verbunden; vgl. Meyers Großes Taschenlexikon 1995, Bd. 14, 195.

[33] Vgl. Ossio 1973a, XXIII.

[34] Für das jüdische Volk beispielsweise gilt der Auszug aus Ägypten als das höchste historische Eréig- nis, auf das sich seine Kultur stützt. Dabei steht außer Frage, daß sich dieses Ereignis historisch nicht so vollzogen hat, wie es die Bibel erzählt. Aber das spielt auch keine Rolle; entscheidend ist, daß und warum das Volk Israel diese Geschichte zu einer ideden Geschichte gemacht hat. Das wichtigste is­raelische Fest, das Pessach, erinnert Jahr für Jahr an den Exodus, der zur Metapher wurde: Der konkrete Auszug aus der ägyptischen Gefangenschaft wurde zum Symbol für den Auszug in die Freiheit, ins versprochene Gelobte Land, und damit zugleich zum Grundstein für die Selbstkonstitution des jüdischen Volkes als Volk. Der Exodus steht bei den Juden für das Vertrauen auf das Versprechen Gottes, als freies, auserwähltes Volk in einem eigenen Land leben zu dürfen. Er ist als ״ideale Geschiehte“ in das Selbstverständnis des Judentums eingegangen, insofern er die definitive Legitimation des freien Volkes Israel liefert. Daß in den darauffolgenden Jahrhunderten den Juden erneut Schlimmes wider­fuhr, tat mithin ihrem Glauben keinen Abbruch, für die Freiheit bestimmt zu sein.

[35] F10res Galindo 1988, 19.

[36] F10res Galindo 1988, 19.

[37] Das ist die Ansicht des argentinischen Forschers Imbelloni, wie Flores Galindo sie wiedergibt; vgl. Flores Galindo 1988, 40.

[38] J0achim von Fiore gilt als Vater des Chiliasmus, einer prophetischen Geschichtsdeutung, die sich auf Aussagen der Johannes-Apokalypse beruft. Laut Fiore folgt auf das Zeitalter des Vaters (Zeitalter des Alten Testaments) das Zeitalter des Sohnes (des Neuen Testaments), deren Ende er für das Jahre 1260 erwartete. Danach sollte das tausendjährige Zeitalter des Geistes anbrechen. Vgl. Meyers Taschenlexi­kon, Bd. 4, 238f.

[39] S0 Henrique Urbano, erwähnt bei Flores Crai indo 1988, 43.

[40] Sarkisyanz 1985, 3.

[41] Garcilaso, der sich selbst den Beinamen ״Inca“ gab, war Sohn einer inkaischen Prinzessin und eines spanischen Offiziers, also ein Mestize der gebildeten Oberschicht. Er gilt bisweilen als ״erster amerikanischer Schriftsteller“ (Sarkisyanz 1985, 4) und als Ideengeber des Indigenismo, der zu Inka-Welt und zu spanischer Renaissance gehört und dem ein ״Mestizen-Bewußtsein“ (ebd.) zugeschrieben wird.

[42] J0SĆ Tamayo Herrera, zitiert und übersetzt bei: Sarkisyanz 1985, 96.

[43] J0SĆ Tamayo Herrera, zitiert und übersetzt bei: Sarkisyanz 1985, 96.

[44] Vgl. Sarkisyanz 1985, 5.

[45] J0SĆ Tamayo Herrera, zitiert und übersetzt bei: Sarkisyanz 1985, 97.

[46] S0 entwarf beispielsweise die Erlösungsbewegung Taqui Onqoy, die eine Wiederversöhnung mit den andinen Gottheiten anstrebten, eine andere Utopie: Sie predigten nicht die Rückkehr zur Inkazeit, son­dem stattdessen die Wiederauferstehung der huacas, der lokalen Gottheiten. Es ging ihnen also auch um eine Rückkehr der Vergangenheit, allerdings um die der vorinkaischen Zeit. Vgl. z. B. Flores Galindo 1988.

[47] ״Inkaismus“ heißt darum die Geistesrichtung, die im Inkareich ein Goldenes Zeitalter sah und die in den später entstehenden Indigenismo miteinfloß.

[48] F10res Galindo 1988, 47.

[49] Diese dunkle Seite des Inkareichs wird auch bezeichnet als ״leyenda negra“; vgl. Z. B. Flores Galindo 1988, 50.

[50] Diesen Begriff verwendet insbesondere Günther Maihold (siehe 1987, 2). Unter einem ״nationalen Projekt“ versteht er die ״Gesamtheit von Vorstellungen über das von der Nation gewünschte Gesell­Schaftsmodell, den Entwicklungsstil und die Form ökonomischer und soziopolitischer Organisation“, die ״ideengeschichtlich begründet zumindest für den Zeitraum einer Generation Gültigkeit besitzen“. Ein nationdes Projekt ist also nichts wesentlich anderes als eine Utopie, die nicht nur die Zukunft beschreibt, sondern auch direkte Versuche startet, die Gegenwart zu verändern.

[51] Antonio Melis, zitiert und übersetzt bei: Maihold 1978, 1.

[52] Die Seitenangaben in Klammem in diesem Kap. 2.1.3.3 und dem folgenden Kap. 2.1.3.4 beziehen sich auf: Mariátegui 1979.

[53] Maihold 1987, 336.

[54] Mariátegui geht also äußerst unorthodox mit dem klassischen Marxismus um: Dieser hält erst nach der vollständigen Entwicklung des Kapitalismus den Übergang zum Sozialismus für möglich; vgl. Maihold 1987, 337f.

[55] Vgl. Maihold 1987, 349.

[56] Dies schreibt Mariátegui (Mariátegui 2003) im Vorwort zu Tempestad en los Andes von Luis E. Val- cárcel (siehe Kap. 3.2.3.2), das er ״la obra de un creyente“ nennt: ״Aquí no están precisamente los prin­cipios de la revolución que restituirá a la raza indígena su sitio en la historia nacional; pero aquí están sus mitos.“ (Mariátegui 2003)

[57] Mariátegui folgt mit dieser Vorstellung explizit dem Denken von George Sorel und seiner Lehre vom Mythos; siehe dazu z. B. Mariátegui 2003 und Sorel 1981.

[58] J0SĆ Carlos Mariátegui, zitiert und übersetzt bei: Maihold 1987, 35.

[59] Vgl. Maihold 1987, 355f.

[60] Der Essay ist als letztes Kapitel en (hal len in den Siete ensayos.

[61] Somit habe auch keine eigene Literatur wachsen können, die ja gerade als geschriebener und lesbarer Text definiert ist: Literatur ist in einem grundlegenden Sinn jeder auf der Basis eines (Schrift-)Zeichensystems festgehaltene und damit lesbare Text (״Literalität“ gegenüber ״Oralität“), also ein anhand eines materiden Zeichensystems gegebener Sinnzusammenhang; vgl. Meyers Taschenlexikon 1995, Bd. 13, 163. Die Kultur der Indios sei auf der Stufe der gesungenen Lieder, der erzählten Sagen und der getanzten dramatischen Vorführungen, kurz: auf der Ebene der Oral itat, stehengeblieben. Die heutige Schrift und Grammatik des Quechua sind ursprünglich eine spanische Errungenschaft.

[62] Mit der spanischen Sprache, so Mariátegui, habe die Conquista eine schon entwickelte Literatur nach Peru verpflanzt, die dort ihre eigene Geschichte durchmachte. Beispielsweise hätten die Spanier eine Er­Zählgattung mitgebracht, bei der das Epos schon auf dem Weg zum Roman gewesen sei. Und der Roman charakterisiere eigentlich die mit Reformation und Renaissance beginnende Literaturepoche, in­sofern er die Geschichte des Individuums in der bürgerlichen Gesellschaft sei. In Amerika jedoch sei die in Spanien zur Zeit der Conquista degenerierende Epik wieder zu neuem Leben erwacht, da der Erőbe- rer dort den neuen Stoff vorfand, den er episch ausdrücken konnte.

[63] Duden 1996, 122.

[64] Meyers Taschenlexikon 1995, Bd. 2, 97.

[65] Meyers Taschenlexikon 1995, Bd. 2, 97. Hier wird schon ersichtlich, wie abwertend der Begriff oft gebraucht wird.

[66] Vgl. Meyers Taschenlexikon 1995, Bd. 22, 166.

[67] Vgl О‘Hear 1998, 445.

[68] Zwar leben sie nicht als abgekapselte Naturvölker, sondern sind natürlich den Kräften von Akkuimration und Transkulturation ausgesetzt. Relevant ist hier lediglich, daß es in der peruanischen Sierra noch viele ״alte“ Traditionen gibt, die immer noch gepflegt werden.

[69] In vorinkaischer Zeit lebten mehrere kleinere Indiovölker auf dem Gebiet der heutigen Andenstaaten; die Inkas unterwarfen die anderen Völker schließlich und dehnten ihr Reich aus. Die Kultur der Inkas blieb jedoch durchdrungen von den Gebräuchen der verschiedenen unterworfenen Völker, die darin leb­ten.

[70] zwar haben die Chronisten umfangreiche Darstellungen der Inkakultur verfaßt. Diese können aber kaum als neutral bezeichnet werden; denn durch die späte Verschriftlichung, die ja erst zu Zeiten der Conquista stattfand, haben immer schon fremde, spanische Einflüsse und Machtinteressen an den Dar­Stellungen mitgewirkt.

[71] Vgl. Bollinger 1985, 55.

[72] Sie gehört also zu den prähispanischen Mythen, die vor der Conquista entstanden; im Gegensatz dazu versuchen die pav/hispanischen Mythen vor allem, das historisch umwälzende Ereignis der Conquista einzuordnen (siehe Kap. 2.1.4.1).

[73] Vgl. Arguedas 1998, 173L, LN 2.

[74] Vgl. Garcilaso, zitiert und übersetzt bei: Sarkisyanz 1985, 88ff.

[75] Vgl. Bollinger 1985, 56.

[76] Ossio 1992, 104.

[77] Insgesamt betrachtet folgt die Zeitauffassung der Völker Altamerikas zwei Größenordnungen. Die erste davon bezieht sich auf den eigentlichen Kalender, mit seinen Tagen, Mondzyklen, Jahren und Jahrhunderten. Die zweite ist die Lehre von den Zeitaltern der Welt: eine Skizze der mythischen Chro­nologie; vgl. Imbelloni 1979, 45.

[78] Die Einteilung in vier vergangene und ein gegenwärtiges Zeitalter entspricht auch der inkaischen Konzeption des Raums: Das Tawantinsuyo war in vier suyos geteilt, die den vier Himmelsrichtungen nachempfunden waren. Das fünfte Element, das zugleich integraler Bestandteil des Gesamtreichs war

und doch ein Sonderstellung einnahm, sofern es Zentrum und Herzstück des Inkareichs darstellte, war Cuzco.

[79] Vgl. Zuidema 1973, 12ff. und Ossio 1973a, 188f.

[80] Vgl. tabelloni 1979, 61.

[81] S0 findet es sich in den ältesten und ursprünglichsten Quellen; in den modernisierten und abge­schwächten Versionen wird das Konzept der Zerstörung ersetzt durch jenes der Kontinuität: Die Aktivi­tät der menschlichen Wesen hört nicht auf, sie bewegt sich lediglich in einer Unordnung. Diese muß sich einen neuen Anfangspunkt suchen, der im Moment der Wiederherstellung des Gleichgewichts ge­boren wird.

[82] Vgl. auch im folgenden: tabelloni 1979, 372f.

[83] Bisweilen wurde der Ayllu mit dem klassischen Clan verglichen; wesentliche Unterschiede zwischen beiden bestehen jedoch darin, daß es im Ayllu - im Gegensatz zum Clan - keinen Totemismus gab, daß Endogamie als Fortpflanzungsprinzip praktiziert wurde und daß man die Abstammung väterlicherseits rechnete. Vgl. Karsten 1949, llOf. und Mason 1969, 174f.

[84] Vgl. Karsten 1949, 112.

[85],,In derselben Weise wurden die meisten anderen Sitten und Gebräuche [...] in der Hauptsache unbe­rührt gelassen. Sie wurden nur soweit umgeformt [...], wie es notwendig war, um sie dem [...] neuen Re­gierungssystem anzupassen. Es zeugt von der Größe der Inkaherrscher, daß sie sich der Gefahr bewußt waren, alte Einrichtungen gewaltsam abzuschaffen und neue übereilt einzuführen. Das Alte wurde be­wahrt, soweit es wertvoll und verwendbar war. Solche Duldung kennzeichnet die Inka sowohl in so­zialen wie in religiösen Fragen. Diese Staatsklugheit erklärt ihren Erfolg bei der gigantischen Aufgabe, die ungleichartigen Kleinstaaten und Kulturen der Anden zu der [...] politischen Einheit zusammenzu­schmelzen, wie sie das Inkareich [...] war.“ (Karsten 1949, 112)

[86] Die Ayllus wurden relativ unbedeutende Elemente in der großen Organisation, überdies mußten sie sich an Unternehmungen für das Imperium beteiligen, an denen sie kein Interesse hatten. Vgl. Mason 1969, 177.

[87] Vgl. Mason 1969, 179 und Böllinger 1985, 62.

[88] S0 z. B. Mason 1969, 181 und Böllinger 1985, 64.

[89] Böllinger 1985, 63.

[90] Vgl. Bollinger 1985, 65.

[91] Zum Wirtschaftssystem der indianischen Comunidades, vor allem in der Kolonialzeit, siehe auch Escobedo Mansilla 1997.

[92] Kennzeichen für eine Hochkultur sind unter anderem: eine hierarchisch geschichtete Sozi­alverfassung; spezialisierte Berufsgruppen; Urbanität; marktorientierte Wirtschaftsweise; ein Tribut­oder Steuersystem; die Existenz einer Verwaltungsbürokratie; das Vorhandensein einer Schrift oder

schriftanaloger Bedeutungsträger; Monumentalbauten und andere entwickelte künstlerische Ausdrucks­formen. Vgl. Meyers Taschenlexikon 1995, Bd. 9, 307.

[93] An materiellen Formen seien erwähnt: (1) die technische Entwicklung und Architektur (Terrassierung von Ackerland, Straßenbau, Errichtung von öffentlichen Bauten), wobei Rad und Reittiere unbekannt waren; dafür verfügten sie durch das System der Arbeitsteilung über fast unermeßliche Arbeitskräfte. ״Die Faktoren Arbeitskraft und Zeit spielten eben in jener Epoche des indianischen Selbstverständnisses eine völlig andere Rolle [...].“ (Bollinger 1985, 72); (2) das Kunsthandwerk (Tonkeramiken, Schmuck, Textilien); (3) das mnemotechnische Hilfsmittel der Knotenschnur (quipu), mit der Zahlenwerte und Gegenstände festgehalten werden konnten. Vgl. Bollinger 1985, 87ff. und Mason 1969, 230ff.

[94] Vgl. Bollinger 1985, 100. Im Paipalai bei Nazca befindet sich der größte ״Kalender“ der Welt: Scharrbilder im Sand, die vermutlich teilweise nach astronomischen Gesichtspunkten angelegt wurden.

[95] Die zwölf Mondzyklen bleiben rund elf Tage hinter dem Sonnenjahr zurück, so daß vermutlich rund alle drei Jahre ein Lunarmonat eingefügt wurde, um den Kalender wieder anzupassen; vgl. Mason 1969, 228.

[96] Daneben gab es den Donner- oder Wettergott (Шара), der für den Regen zuständig war, und den Mondgott (mamaquilla), der die Ehefrau des Sonnengottes war und auf dem vor allem der Kalender mit seinen Festen und Arbeiten basierte.

[97] Pachamama wurde vor allem im Hochland verehrt; zusätzlich oder analog dazu gab es an der Küste die Meergöttin (Cochamama), die für das Fischen sorgte.

[98] über den Götterglauben hinaus pflegten die Indios den Spi ri mal ismus und verehrten beinahe alles Merkwürdige oder Außergewöhnliche als magische Kraft; dies konnten lebendige Wesen wie leblose Gegenstände sein. Ниаса bezeichnet ursprünglich einen ״heiligen Ort“, eine feste Kultstätte, die einen solchen Geist beherbergte. Auch der Fetischkult war verbreitet. Vgl. Mason 1969, s, 206ff.

[99] Wenn das Gleichgewicht der Elemente zu stark gestört ist und vom Menschen nicht mehr korrigiert werden kann, kommt es, kosmisch gedacht, zu einem Pachacuti.

[100] Diese Vorstellungen wurzeln in der Naturbeobachtung der Menschen. Sonne und Mond beispielsweise bewirken im Zusammenspiel, daß das Leben das Gleichgewicht von Wärme und Kälte benötigt. Anderes Beispiel: die geographischen Gegebenheiten – da nicht alle Nutzpflanzen auf allen Höhenstufen gleich gut gedeihen, waren die Ayllus immer bemüht, oben und unten Land zu besitzen um so eine ausgeglichene Ernährung zu erreichen. Vgl. Kohmäscher 1995, 15ff.

Ende der Leseprobe aus 168 Seiten

Details

Titel
"La utopía arcaica". Eine kulturwissenschaftliche Diskussion über Moderne in Peru
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg  (Fakultät Sprach- und Literaturwissenschaften)
Note
1
Autor
Jahr
2004
Seiten
168
Katalognummer
V159417
ISBN (eBook)
9783668795778
ISBN (Buch)
9783668795785
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mario Vargas Llosa, Peru, Utopie, Mythos, Indio, Indigenismo, José María Arguedas, archaisch, politisch, literarisch, Neo-Indigenismo
Arbeit zitieren
Christine Ulrich (Autor:in), 2004, "La utopía arcaica". Eine kulturwissenschaftliche Diskussion über Moderne in Peru, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/159417

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