Rauschtrinken bei Kindern und Jugendlichen und evidenzbasierte Alkoholkontrollpolitik

Über die hohe Bedeutung der Verhältnisprävention


Livre Spécialisé, 2010

343 Pages


Extrait


Inhalt

Vorwort

Synopse der gesundheitspolitischen Aussagen zur Prävention in den Partei programmen der im Bundestag vertretenen Parteien (2007 bis 2009)

1. Einleitung

2. Epidemiologie des Alkoholmissbrauchs bei Kindern und Jugendlichen

3. Trinkkulturen

Erster Exkurs: Alkohol als „Kulturgut“? – Von der Kultur des Wegsehens zur Kultur des Hinschauens

4. Das Rauschtrinken bei Kindern und Jugendlichen
4.1. Rauschtrinken
4.2. „Komatrinken“, „Kampftrinken“ und „Kofferraumsaufen“
4.3. Binge drinking
4.4. Akute Alkoholvergiftung
4.5. Früher Beginn des Alkoholkonsums und das Rauschtrinken bei Kindern und Jugendlichen

5. Eine Risikodiskussion
5.1. Risikogruppen von Kindern und Jugendlichen für Alkoholmissbrauch
5.2. Risikofaktoren für Alkoholmissbrauch im Kindes- und Jugendalter
5.3. Funktionen des Alkoholkonsums im Kindes- und Jugendalter
5.4. Alkoholabhängigkeit
5.5. Ein Fallbeispiel: Die 16-jährige „Jessica

6. Zahlen, Daten und Fakten
6.1. Was bedeutet „Evidenz“ bei wissenschaftlichen Studien?
6.2. Was ist eigentlich Alkoholkontrollpolitik?
6.3. Zahlen, Daten und Fakten

7. Alkoholprävention
7.1. Verhaltensprävention
7.2. Verhältnisprävention
7.3. Präventionstheorien, Menschenbild und ethische Aspekte
7.4. Akteure, Gegenakteure und Best practice-Instrumente der globalen und europäischen Alkoholkontrollpolitik
7.5. Erhöhung der Alkoholpreise
Zweiter Exkurs: Prohibition in den USA 1900 bis 1933
Dritter Exkurs: Alkoholkontrollpolitik in Skandinavien
7.6. Entwicklung von Alkohol-Aktionsplänen in der EU
7.7. Alkoholkontrollpolitik in Deutschland Vierter Exkurs: Die Entwicklung des Branntweinmonopols in Deutschland
7.8. Gute Chancen der Alkoholprävention durch Gemeindemobilisierung
7.9. Diskussion alkoholpolitischer Massnahmen am Beispiel des Schutzes der deutschen Jugend vor weinhaltigen Premixgetränken

8. Zusammenfassung und Ausblick
8.1. Verhaltenspräventive Massnahmen
8.2. Verhältnispräventive Massnahmen
8.3. Ausblick

9. Anhang
9.1. Tabellen und Abbildungen
9.1.1. Tabellen
9.1.2. Abbildungen
9.2. Abkürzungsverzeichnis
9.3. Autorenverzeichnis
9.4. Sachverzeichnis
9.5. Alkohol-Maßeinheiten
9.6. Internationale, europäische und nationale Organisationen und Projekte zur Alkoholprävention
9.7. Das “European Alcohol and Health Forum
9.8. Deutsches Jugendschutzgesetz vom 01.01.2009, § 4, Abs. 1 und § 9, altersabhängige Abgabe von Alkoholika
9.9. Das Bundesmodellprojekt „Hart am Limit“ (HaLT)
9.10. Mindestalter für den Verkauf und Ausschank von Alkohol in den EU-Staaten, in Norwegen und in der Schweiz (Stand: 2009)

10. Internet-Linkverzeichnis

11. Literaturverzeichnis

12. Verzeichnis der verwendeten Zeitschriften/Periodika nach Verlagsstandorten

Vorwort

Angesichts der teils alarmierenden Nachrichten in den Medien über das Ausmaß und die Folgen des jugendlichen Alkoholkonsums, wird der Ruf nach Alkoholprävention immer lau-ter. Doch häufig scheint es mit diesem Ruf nicht ganz ernst gemeint zu sein, nach dem Motto „Problem benannt – Problem gebannt“. Was in der Prävention wirklich geschieht, was tat-sächlich umgesetzt wird, wieviel Geld Prävention kostet und wo es herkommen soll, inte-ressiert meist nur noch die Fachöffentlichkeit und Kommunalpolitiker, die in ihren Gemein-den die Folgen des ausufernden Alkoholkonsums im öffentlichen Raum ausbaden müssen.

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber, welche Prävention wirklich wirkt, spielen in den medialen Debatten kaum eine Rolle. Sie weisen jedoch in eine eindeutige Richtung: die bevölkerungsweit wirkungsvollste Prävention setzt bei den Strukturen und Verhältnissen an und ist zudem nicht teuer. Verhältnispräventive Maßnahmen sind meist mit gesetzlichen Regelungen verbunden. Sie können beispielsweise steuernd in Herstellung und Vermarktung alkoholischer Getränke eingreifen oder sie können den Zugang zu Alkoholika regeln. Sie erfordern von Bund, Ländern und Gemeinden in der Regel keine oder nur geringfügige finanzielle Investitionen. Maßnahmen dieser Art haben sich sowohl in Deutschland als auch international als besonders wirksam bei der Reduzierung alkoholbedingter Schäden erwie-sen, auch und gerade bei Jugendlichen. Daher empfehlen WHO und Europäischer Rat den Regierungen dringend, verhältnispräventive Maßnahmen in ihre Präventionsstrategien auf-zunehmen.

Häufig wird diese Art der Alkoholpolitik in der Öffentlichkeit nicht als Prävention wahrge-nommen und angesehen. A u f k l ä r u n g muss daher im doppelten Sinne verstanden wer-den, als Information über Risiken und Folgen von Alkoholkonsum als auch als Information über die hohe Bedeutung, die der Verhältnisprävention zukommt. Hierzu liefert das vorlie-gende Buch einen umfänglichen und praxisnahen Beitrag.

Wirksame Prävention darf die Verhältnisprävention nicht außer Acht lassen. Sie führt bevöl-kerungsweit und nicht nur individuell zu messbaren Reduzierungen alkoholbedingter Schä-den. Verhaltensprävention darf darüber nicht vernachlässigt werden. Sie muss sich auf die Ansätze in ihrem Feld konzentrieren, die sich als wirksam erwiesen haben. Aufklärungskam-pagnen können als Chance für die Bewusstmachung von alkoholbedingten Problemen ge-nutzt werden. Sie helfen, den Boden für teils unpopuläre Interventionen wie z.B. gesetzliche Regelungen vorzubereiten.

Hamm, 02.11.2010

Gabriele Bartsch, Grundsatzreferentin der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) e. V.

Synopse der gesundheitspolitischen Aussagen zur Prävention in den Parteiprogrammen (2007 bis 2009)

der im Bundestag vertretenen Parteien

Quelle: www.medi-deutschland.de/seite.php?seite=660, aufgerufen 01.11.2010

Alle politischen Parteien wollen Prävention -

doch für welche Strategien entscheiden sie sich?

DIE LINKE Programm(-eckpunkte), Dortmund, März 2007

„Gesundheit ist keine Ware, sondern ein Menschenrecht! … (Dringlich sind) …ein größeres Gewicht von Vorbeugung und Nachsorge…“ (Die Linke 2007, 12)

CSU Grundsatzprogramm, München, September 2007

„Vorrang für Prävention. Die CSU setzt sich für eine präventive Gesundheitspolitik und ge-sunde Lebensverhältnisse ein… Dazu gehören auch Gesundheitserziehung, Gesundheitsvor-sorge, Prävention durch Arbeitsschutz, Umweltschutz, Verbraucherschutz, Schutz vor Passiv-rauchen und psychosoziale Betreuung von Kranken sowie Aufklärung und Beratung, um Ge-sundheitsgefährdungen wie Übergewicht, Rauchen und Alkohol zu vermeiden.“

(CSU 2007, 110)

SPD Hamburger Programm, Hamburg, Oktober 2007

„Vorsorgende sozialdemokratische Gesundheitspolitik will Krankheit vermeiden, Gesundheit erhalten und Unterschiede in den Gesundheitschancen abbauen. Wir streben gesunde Le-bensverhältnisse für alle Menschen an und fördern gesundheitsbewusstes Verhalten…“

„Jedes Kind hat ein Recht darauf, gesund aufzuwachsen.“ (SPD 2007, 38 und 58)

CDU Grundsatzprogramm, Hannover, Dezember 2007

„Eine besondere Bedeutung kommt in Zukunft der Prävention zu…“

„CDU und CSU bekennen sich nachdrücklich zu einer Stärkung von Prävention und Gesund-heitsförderung im deutschen Gesundheitswesen. Prävention ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“ (CDU 2007, Kurzfassung, 7; Langfassung, 23 ff.)

Bündnis 90/Die Grünen Europawahlprogramm, Dortmund, Januar 2009

„BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stehen für eine Politik, die die Gesundheit schützt und diese ge-gen jedwede Attacken von Lobbygruppen verteidigt…“

„Grüne Verbraucherpolitik legt einen weiteren Schwerpunkt auf die Organisation von Verbraucherinnen und Verbrauchern als Marktmacht. Es geht um gleiche Augenhöhe im Marktgeschehen… Wir wollen die Menschen vor gesundheitlichen Gefahren und steigenden Umweltbelastungen schützen…“

„Wir wollen für Kinder und Jugendliche Lobby sein.“

(Bündnis 90/Die Grünen 2009, 48, 62 und 126)

FDP Deutschlandprogramm, Hannover, Mai 2009

„Die Prävention gewinnt immer stärker an Bedeutung. Insbesondere die demographische Entwicklung und die Zunahme von Volkskrankheiten, die durch einen gesunden Lebens-wandel weitgehend vermeidbar wären, tragen dazu bei…

Dazu bedarf es einer zielgruppenorientierten, umfassenden Aufklärung…

Gezielt muss denjenigen geholfen werden, für die der Staat eine ganz besondere Verantwor-tung trägt und für diejenigen, die es nicht oder nur eingeschränkt aus eigener Kraft schaffen, gesund zu leben. Das betrifft insbesondere Kinder und sozial Benachteiligte… Das liberale Menschenbild, das auf freier Selbstbestimmung beruht, verlangt Freiheit von Sucht und Ab-hängigkeit. Um dies zu erreichen, setzt liberale Drogen- und Suchtpolitik auf die drei Säulen Prävention, Therapie und, wo notwendig, Repression. Der Suchtmittelkonsum in Deutsch-land führt zu einer großen Zahl vorzeitiger Sterbefälle, zu erheblichen Krankheitshäufungen, großem persönlichen Leid, sozialen Schäden und hohen Kosten für die Gesellschaft. Die le-galen Suchtmittel Alkohol und Tabak stellen nach wie vor eine große Herausforderung dar, ebenso wie Medikamentenmissbrauch… Aufgrund der besonderen Schutzbedürftigkeit von Kindern und Jugendlichen muss die Einhaltung der bestehenden Jugendschutzbestimmun-gen sichergestellt werden. Oberste Priorität hat für die FDP die Einrichtung flächendecken-der Präventionsprogramme. Prävention muss früh, wenn möglich bereits im Kindesalter, ein-setzen, damit Suchtkrankheiten erst gar nicht entstehen. Gleichzeitig muss bei denen, die bereits begonnen haben zu konsumieren, ein frühzeitiger Ausstieg gefördert werden. Bereits bei Jugendlichen finden sich hochriskante Konsummuster exzessiven Trinkens bis zur Alko-holvergiftung. In den letzten Jahren ist die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die mit einer Alkoholintoxikation in Krankenhäuser eingeliefert wurden, deutlich gestiegen. Diese Entwick-lung muss gestoppt werden. Dabei darf es nicht zu einer Ausweitung der Verbotspolitik kom-men. Notwendig ist eine Präventionsstrategie mit angemessener finanzieller Ausstattung. Die Wissenschaft hat gezeigt, dass die Kombination von Information und Aufklärung mit strukturellen Maßnahmen erfolgreich ist. Erwachsene müssen über einen verantwortungs-bewussten Umgang mit Suchtmitteln informiert und für ein Vor-bildverhalten für Kinder sen-sibilisiert werden. Suchtkranken muss frühzeitig und umfassend geholfen werden. Besonders Kinder aus suchtkranken Familien müssen mit Hilfeangeboten erreicht werden. Therapieziel ist ein unabhängiges Leben…

Bei Kindeswohlgefährdung müssen die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe angehalten werden, sich ein umfassendes Bild über den Lebensalltag von Kindern im Familienkontext zu bilden und frühzeitig präventive Hilfe anzubieten. Dies erfordert eine angemessene perso-nelle Ausstattung der Jugendämter. Die Elternkompetenz in Familien sollte durch Modelle der Frühprävention gestärkt werden. Dies gilt auch für niedrigschwellige Angebote durch Fa-milienhebammen und Kinderschwestern auf kommunaler Ebene.“

(FDP 2009, 19 ff.)

1. Einleitung

Das allgemeine Desinteresse an der Problematik des Alkoholmissbrauchs steht in einem ei-gentümlichen Missverhältnis zur hohen gesellschaftlichen Schadensbilanz durch Alkohol. „Kein anderes Konsumgut, nicht einmal Tabak, hat so viele negative Auswirkungen auf den Körper“ (Babor et al. 2005, 35, vgl. Leung 1986). Alkoholkonsum ist schon in der mittleren Adoleszenz weit verbreitet. Das Phänomen des frühen kindlichen und jugendlichen Rausch-trinkens kann nicht getrennt von den aktuellen Rahmenbedingungen der Gesellschaft be-trachtet werden. Es gibt enge Zusammenhänge zwischen dem Rauschtrinken von Jugendli-chen und Erwachsenen, der Haltung der Bürgerinnen und Bürger zum Alkoholkonsum, der praktizierten Alkoholkontrollpolitik und der zunehmenden marktliberalen Ökonomisierung aller Bereiche der Gesellschaft. Alkohol, chemisch eigentlich Ethyl alkohol (C2H5OH), ist ein Zellgift, aber auch eine in Deutschland gesellschaftlich weitgehend akzeptierte Alltagsdroge. Diese Tatsache macht es heute so schwierig, der Öffentlichkeit die Notwendigkeit evidenz-basierter alkohol politischer Massnahmen verständlich zu machen. Forschungsergebnisse können in der praktischen Politik von Nutzen sein: „Der Unterschied zwischen guter und schlechter Alkoholpolitik ist nicht abstrakt, sondern oft eine Frage von Leben oder Tod“ (Babor et al. 2005, 277). Die meisten Schäden durch Alkohol könnten vermieden werden, wenn es gelänge, den Gesamtalkoholkonsum, also den durchschnittlichen Pro-Kopf-Konsum, zu senken. Damit wäre jeder Alkoholkonsument, gleich welchen Alters, Adressat bevölke-rungsbezogener Präventionsmassnahmen. Und viele Bürger/innen werden dafür Verständnis zeigen, wenn sie sachgerecht informiert und aufgeklärt werden. Neben der Höhe des Ge-samtalkoholkonsums sind die Trinkkonsummuster für alkoholassoziierte gesundheitliche und soziale Probleme bedeutsam (ebd., 66 und 100). Exzessiver Alkoholkonsum und Rauschtrin-ken sind besonders problematisch. Auch für das Rauschtrinken gilt der Satz, den die frühere Bundesdrogenbeauftragte Marion Caspers-Merk (SPD) wiederholt geäußert hat: „Es gibt kei-ne ‚harten‘ und ‚weichen‘ Drogen, es gibt lediglich ‚harte‘ und ‚weiche‘ Konsummuster“.

Wenn über das komplexe Thema Jugend und Alkohol diskutiert wird, geschieht dies teilwei-se recht emotional. In den Medien wird das Rauschtrinken allzu oft als Problem bei Jugend-lichen effektvoll präsentiert, obwohl es in allen Altersstufen praktiziert wird. In der Debatte um das Rausch- und Komatrinken von Jugendlichen hilft eine Dramatisierung oder Bagatelli-sierung der alkoholassoziierten Störungen nicht weiter. Eine sachgerechte Information und Diskussion der Risiken des Alkoholkonsums ist notwendig. Es geht in der Konsequenz auch nicht um Verbote oder Eingriffe in Persönlichkeitsrechte, sondern vielmehr um Hilfen, Schutz vor vermeidbaren (!) alkoholassoziierten Schäden und Schadensminimierung (Harm reducti-on) durch eine zielführende Regulation des Alkoholmarktes. In der Literatur besteht hohe Übereinstimmung darin, dass mit Nachdruck durchgesetzte politische Massnahmen gegen Produktion, Marketing und Verkauf von alkoholischen Getränken eine größere primärprä-ventive Public Health-Wirkung entfalten können, wesentlich schneller greifen und wesent-lich kostengünstiger sind, als Massnahmen der Verhaltensprävention, die auf die Alkohol-konsument/innen zielen. Das setzt jedoch voraus, dass die Umsetzung der verhältnispräven-tiven Massnahmen auch ausreichend und konsequent kontrolliert wird.

Das Buch bietet als Nachschlagewerk eine immense Fülle an aktuellen Informationen. Der Anhang ist in dieser Publikation wesentlich umfangreicher als der Textteil gehalten. Er soll dem wissenschaftlich interessierten Leser helfen, weitere Recherchen zu betreiben und über die Verzeichnisse der aktuellen Fachliteratur, Fachzeitschriften und Internetadressen Infor-mationen schneller zu finden.

E inerseits soll ein kompakter Überblick über den aktuellen Diskussionsstand zum Rausch-trinken bei Kindern und Jugendlichen und zur evidenzbasiertenAlkoholkontrollpolitik gege-ben werden. Ziel ist die Förderung eines tieferen Verständnisses für die Alkoholpolitik in Deutschland mit ihren Voraussetzungen und Rahmenbedingungen und die Förderung einer neuen „Kultur des Hinschauens“. Zielgruppen sind Politiker/innen, Praktiker/innen in Schule, Jugendhilfe, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Suchthilfe und Medizin und interessierte Bür-ger/innen. – Andererseits folgt ein Appell: Die Politik wird nachdrücklich zur Umsetzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse in konkretes politisches Handeln aufgefordert. Sie sollte Massnahmen mit den höchsten Evidenzstärken zur Reduktion sowohl des Pro-Kopf-Kon-sums, wie des jugendlichen Alkoholkonsums umsetzen, um den Gesundheits-, Kinder- und Jugendschutz besser als bisher gewährleisten zu können. Nicht nur der Autor vertritt die These, dass dies im Bereich der Verhältnisprävention bisher noch unzureichend und wenig konsequent geschah. Auf der Basis einer klaren und quellengestützten Argumentation wer-den dafür nachvollziehbare Praxisbeispiele und Belege geliefert. Weil es sich um eine globale Problematik handelt, werden ausgewählte Aspekte und Interdependenzen der internationa-len, europäischen und deutschen Alkoholforschung und -politik dargestellt. Moderne evi-denzbasierte Präventionsmassnahmen werden als alkoholpolitische Handlungsstrategien aufgezeigt. Die allgemeine Darstellung wird noch um Exkurse über (1) die Alkoholkultur, (2) die Prohibition in den USA, (3) die Alkoholkontrollpolitik der skandinavischen Staaten und (4) das Branntweinmonopol in Deutschland, sowie um einige Ergebnisse der Klinikforschung in der Dietrich Bonhoeffer Klinik ergänzt.

Die Lektüre könnte sich lohnen, wenn sie dem Leser dazu verhilft, einige evtl. verinnerlichte Alkoholmythen, Stereotype und Halbwahrheiten kritisch zu reflektieren. Denn Mythen wie: „der Staat verdient an Alkoholsteuern“, „die Schweden sind eine Nation von Alkoholikern, weil sie auf den Fähren exzessiv Alkohol trinken“ oder „ein paar Gläser Alkohol sind doch nicht schädlich“, basieren auf einer relativen Uninformiertheit der Bürger/innen und fördern eher die vielfach beklagte „Kultur des Wegschauens“. Sie bewahren den Status Quo in der Al-koholpolitik und verhindern einen Paradigmenwechsel in der Haltung zum Alkohol.

Jürgen Schlieckau ist Diplom-Pädagoge, Sozialtherapeut und Pädagogischer Leiter in der Dietrich Bonhoeffer Klinik, Fachkrankenhaus für abhängigkeitskranke Jugendliche und junge Erwachsene in Großenkneten-Ahlhorn. Er ist Autor und Co-Autor einer Reihe von Fachbei-trägen zu Fragen der Erziehung und Kommunikation, des Alkohol- und Drogenmissbrauchs bei Kindern und Jugendlichen und der Behandlung von jungen Abhängigkeitskranken.

2. Epidemiologie des Alkoholmissbrauchs bei Kindern und Jugendlichen

Zwar geht der Alkoholkonsum in Deutschland allgemein langsam zurück (seit den 70er Jah-ren ca. 1 Liter pro Kopf pro Jahrzehnt). Tranken die Deutschen in den 70er Jahren noch ca. 14 Liter reinen Alkohol pro Kopf und Jahr, so lag der Pro-Kopf-Jahresverbrauch 2008 bei 9,9 Litern reinen Alkohol und damit doppelt so hoch wie im Weltdurchschnitt (DHS 2009a, vgl. WHO 2006). Deutschland zählt immer noch zur Weltspitze beim Alkoholverbrauch (vgl. Ba-bor et al. 2005; Abb. 1: 5. Platz weltweit; bzw. Eurobarometer 2010: 3. Platz in Europa bei der 12-Monats-Prävalenz). Der Pro-Kopf-Konsum ist ein verläßlicher Indikator für die aus dem Konsum alkoholischer Getränke resultierenden gesundheitlichen, sozialen und volks-wirtschaftlichen Schäden (DHS 1997). Fast 10 Millionen Deutsche trinken Alkohol in gesund-heitlich riskanter Form. Deutsche Jugendliche trinken häufiger und mehr Alkohol als Jugend-liche in anderen europäischen Ländern (ESPAD 2007). Alkohol ist die am Weitesten verbrei-tete psychoaktive Substanz. In der Drogenaffinitätsstudie der Bundeszentrale für gesund-heitliche Aufklärung (BzgA) gaben im Jahr 2008 rund drei Viertel (75,8%) der 12- bis 17-Jäh-rigen an, schon einmal Alkohol getrunken zu haben (BZgA: DAS, 2008, 4). Die Belastung in der Bevölkerung durch vermeidbare(!) Krankheitsfolgen liegt bei Alkohol ähnlich hoch, wie bei Tabak. „Episodischer exzessiver Alkoholkonsum im Kindes- und Jugendalter … stellt in Deutschland ein relevantes gesundheitliches Problem dar und geht mit vielfältigen Risiken einher“ (Stolle et al. 2009, 323). Neuen internationalen Forschungsergebnissen zufolge be-trinken sich in westlichen Ländern weniger Jungendliche als in Osteuropa (Kuntsche et al. 2010). Suchtmittelkonsum hat viel mit uns selbst zu tun. Es zeichnet sich ab, dass das mode-rate Trinken von Alkohol an Bedeutung verloren hat. Aber die signifikante Zunahme (p <0,5) des exzessiven Rauschtrinkens bei einer Minderheit von Kindern und Jugendlichen und die Verdoppelung der Fallzahlen behandlungsbedürftiger Jugendlicher mit akuten Alkoholver-giftungen seit 2000 bereiten den Ärzten und Suchtexperten zunehmend Sorgen (vgl. Stolle et al. 2009, 324). Die Bundesdrogenbeauftragte teilte in einer Pressemitteilung mit: „25.700 Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 20 Jahren wurden 2008 stationär behandelt. Das entspricht einer Steigerung um 11 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.“ (Bundesdrogenbeauf-tragte, PM vom 15.12.2009). Der Trend zum Rauschtrinken setzt sich offenbar fort. Kran-kenkassen melden, dass die Zahl der alkoholbedingten Krankenhausaufenthalte 2009 im Ver-gleich zum Vorjahr erneut angestiegen war (vgl. Techniker Krankenkasse vom 12.05. 2010), gerade auch bei Gymnasisaten (DAK 2010). Über 80 Millionen Europäer ab 15 Jahren prakti-zierten Binge drinking mindestens einmal wöchentlich. 24% von ihnen, ca. 19 Millionen eu-ropäische „Binge drinker“, seien 15 bis 24 Jahre alt (Anderson 2007). Jugendliche und junge Erwachsene zeigen dieses Trinkkonsummuster von Alkohol demnach überproportional häu-fig. Nach den Daten der Drogenaffinitätsstudie 2008 ist davon auszugehen, dass etwa 8,2% der Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren einen riskanten oder gefährlichen Alkohol-konsum aufweisen (BZgA 2008). Dennoch praktizieren Menschen aller Altersklassen (außer Kinder unter 11 Jahren), quer durch alle sozialen Schichten, Binge drinking.

Abbildung 1: Anteile der Alkoholabhängigen an der Gesamtbevölkerung und registrierter Pro-Kopf-Konsum in Litern reinen Alkohol nach WHO-Regionen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Anmerkung: Deutschland zählt zur WHO-Region Europa A. WHO-Regionen: vgl. Tabelle 2.

Quelle: Babor et al. 2005, 49f.

Gelegentlicher Alkoholkonsum verursacht jedoch insgesamt mehr alkoholassoziierte Proble-me, als der Hochkonsum von Alkohol (vgl. Fillmore et al. 2006). Dazu eine kurze Darstellung des Alkoholverbrauchs je Einwohner nach Alkoholsorten sowie der in aktuellen epidemiolo-gischen Studien ermittelten Prävalenzraten:

Abbildung 2: Trend des durchschnittlichen Verbrauchs an Bier, Wein, Schaumwein und

Spirituosen je Einwohner in Deutschland 2001-2005 (in Litern)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

* Weinwirtschaftsjahr 01.09.-31.08.; ** ab 2002 incl. Spirituosen-Mischgetränke umgerechnet auf durchschnittlich 33 Vol. %.

Es ist zu beachten, dass bei Befragungen Probanden zu geringe Konsummengen angeben und zu wenige Hochrisikokonsumenten erreicht werden.

Der regelmäßige Alkoholkonsum hat, ähnlich wie das Rauchen, erfreulicherweise zwischen 2002 und 2009 auch bei jüngeren Jugendlichen abgenommen, nachdem seit Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts noch ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen war . Dennoch stagniert der Alkoholmissbrauch in Deutsch-land auf extrem hohem Niveau: Es wird zu viel und zu riskant Alkohol getrunken. Nach Lu-xemburg, Irland, Ungarn und Tschechien steht Deutschland beim Alkoholkonsum der über 15-Jährigen mit 9,9 Litern reinem Alkohol pro Kopf (2007, 2008) weltweit an 5. Stelle aller Staaten . Nach der Eurobarometer-Studie steht Deutschland bei der 12-Monats-Prävalenz zusammen mit Österreich sogar an 3. Stelle hinter Irland und Rumänien . Insgesamt sinkt der Bier- und Spirituosenkonsum leicht, während der Weinkonsum in den letzten 10 Jahren anstieg (Gaertner et al. 2010, 21).

Tabelle 1: Ergebnisse epidemiologischer Studien zum Alkoholkonsum Jugendlicher

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Entwicklung des regelmäßigen Alkoholkonsums bei 13- und 15-Jährigen, mindestens einmal wöchentlich

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quellen: HBSC-Studien 2002 und 2006 (modifiziert)

Während die Prävalenzraten des wöchentlichen Alkoholkonsums bei Erwachsenen ab 25 Jahren weiter sinken, steigen sie seit 2005 bei den 12- bis 17-jährigen Jugendlichen ebenso wie bei den 18- bis 24-jährigen jungen Erwachsenen bei beiden Geschlechtern wieder an. Dieser Gesamtanstieg ist auf den vermehrten Konsum von Bier, bier- bzw. weinhaltigen Mischgetränken und von Spirituosen zurückzuführen, der besonders von männlichen Ju-gendlichen im Alter von 16 bis 17 Jahren betrieben wird. Bei Mädchen ist dieser Anstieg größer als bei Jungen (BzgA 2007). Die Alkoholwirtschaft berichtete von einem Absatzanstieg an Biermischgetränken von 17,7% in 2006, bzw. 18,2% in 2007 (Deutscher Brauer-Bund 2009).

Abbildung 4: Häufigkeit des wöchentlichen Alkoholkonsums bei den 12- bis 17-Jährigen im letzten Jahr, mind. einmal pro Woche, in Prozent

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: BZgA 2007 (modifiziert)

Bei einer Minderheit dieser Kinder und Jugendlichen gab es einen besorgniserregenden An-stieg der Rate schwerer Alkoholintoxikationen. Der Trend zum Binge drinking als Trinkkon-summuster - das Institut für Therapieforschung spricht in seiner Studie von Rauschtrinken - nahm in den vergangenen zehn Jahren auch bei den jungen Erwachsenen kontinuierlich zu.

Abbildung 5: Trends der 30-Tage-Prävalenz des Rauschtrinkens bei 18- bis 24-Jährigen (mindestens einmal in den letzten 30 Tagen), fünf oder mehr Gläser Alkohol bei einer Trinkgelegenheit, 1995 bis 2006

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: IFT 2006 (modifiziert)

Bei den männlichen und weiblichen Jugendlichen verlaufen die entsprechenden Trends der 30-Tage-Prävalenz des Rauschtrinkens in den BZgA-Studien von 2004, 2005, 2007 und 2008 jeweils unterhalb der Anteile von jungen Erwachsenen . Zu berücksichtigen sind dabei jedoch die den Studien jeweils zu-grundeliegenden, z. T. unterschiedlichen Definitionen von Binge drinking. Während 2004 und 2005 von der BZgA erfragt wurde, wie oft 5 oder mehr alkoholische Getränken hinter-einander getrunken wurden, wurde 2007 erhoben, wie oft dieselbe Menge an einem Tag konsumiert wurde.

Der Anteil der deutschen Jugendlichen, die in den letzten 30 Tagen mindestens einmal Binge drinking praktiziert haben, blieb im Zeitraum 2004 bis 2008 relativ konstant, wie die folgen-de Abbildung zeigt und liegt im internationalen Vergleich relativ hoch.

Abbildung 6: Trends der 30-Tage-Prävalenz des Binge drinking (Konsum mindestens einmal in letzten 30 Tagen) bei den 12- bis 17-Jährigen 2004, 2005, 2007 und 2008 in Prozent

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: BzgA, DAS 2008, 5 (modifiziert)

In einer Studie der Krankenkasse DAK gaben 43 Prozent der Befragten im Alter von 12 bis 18 Jahren an, mindestens einmal im Monat mehrere alkoholische Getränke direkt hintereinan-der zu konsumieren. Allerdings waren nur 17 Schulen und 4116 Schüler in die Studie einbe-zogen. Hierbei gaben z. B. Gymnasiasten an, auch wegen Leistungsdruck zu trinken . Diese Befunde könnten auf eine weitere Zunahme des Binge drinking bei Jugendli-chen, besonders auch bei Gymnasiasten, hindeuten. Größere epidemiologische Studien wie ESPAD und HBSC sollten daher zur Exploration und Identifizierung neuer Alkoholkonsum-trends beitragen. Regelmäßiges Binge drinking gehört offenbar für viele Jugendliche zum All-tag. Manche Jugendliche meinen, „Saufen, bis der Arzt kommt ...“,

- sei cool und
- steigere das Ansehen.

Alkohol steht bei ihnen als Stimmungsmacher im Vordergrund. Ein „Kampftrinker“ will als Erster seinen Rausch haben oder die größte Menge Alkohol von allen getrunken haben, um im Mittelpunkt zu stehen. Dagegen wird ein alkoholabhängiger Mensch von vielen Mitbür-ger/innen immer noch ausgegrenzt und stigmatisiert. Es muss aber gesagt werden:

Exzessives Rauschtrinken oder „Flatratesaufen“ ist in Wirklichkeit total uncool. Mit Rauschtrinken lernt man nur, optimal krank zu werden!

Die „Alkopop-Generation“ der 12- bis 16-jährigen Jugendlichen aus den Jahren 2002 bis 2004 befindet sich 2010 in der Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen. Diese Jugendlichen wurden durch die damalige Alkopopwerbung dahin gehend geprägt, dass Spirituosen bei ihnen be-liebter wurden, als in anderen Altersgruppen. Im Marktsegment der spirituosenhaltigen Al-kopops gab es seit 2004 bei den Kindern und Jugendlichen, bei Mädchen und Jungen, an-ders als beim Rauschtrinken mit Bier, Spirituosen und bier- und weinhaltigen Mischgeträn-ken, einen deutlichen Rückgang im Konsum. Für den Absatz von Biermischgetränken ergab sich 2007 z. B. ein Zuwachs von 8,7% zum Vorjahr (2006: 26,5% zum Vorjahr; ).

Dies geschah vermutlich durch

a) die Einführung der Alkopop-Sondersteuer, die Bundeskanzler Schröder 2004 letztlich mit der Kanzlermehrheit durchsetzen konnte,
b) die intensive Aufklärung in den Medien und
c) die öffentliche Diskussion der Risiken des Alkopopkonsums.

Kinder und Jugendliche verfügen über geringere finanzielle Mittel und sind stärker preissen-sibel als Erwachsene . Zur vertiefenden Information und Lektüre der Alkopops-Debatte .

Die folgende Abbildung zeigt den erfreulich deutlichen Rückgang im monatlichen Konsum spirituosenhaltiger Alkopops bei den 12- bis 17-Jährigen im Zeitraum von 2004 bis 2008. Durch das Alkopopsteuergesetz und ggf. durch weitere Wirkfaktoren wurde also das Ziel er-reicht, den Kinder- und Jugendschutz sicherzustellen und dieses Marktsegment erfolgreich zu regulieren.

Abbildung 7: Häufigkeit des monatlichen Konsums von spirituosenhaltigen Alkopops bei den 12- bis 17-Jährigen (m/w) 2004, 2005, 2007 und 2008, in Prozent

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: BzgA, DAS 2008, 7

Ein ähnlich erfreulicher Abwärtstrend zeigte sich in den bisher 14 Querschnittstudien, die in der Dietrich Bonhoeffer Klinik von April 2004 (einige Monate vor Einführung der Alkopop-sondersteuer) bis Oktober 2010 halbjährlich durchgeführt wurden, beispielsweise bei der Le-benszeitprävalenz des Konsums von Alkopops (tatsächlicher Konsum, mindestens einmal im Leben) bei den 14- bis 25-jährigen Patient/innen der Klinik .

Die Patient/innen hatten weit überwiegend eine Polytoxikomanie (Abhängigkeiten von Alko-hol, Tabak, Cannabis, Amphetaminen, Opiaten und weiteren Suchtsubstanzen), sowie Dop-peldiagnosen im Bereich psychischer, sozialer und psychiatrischer Störungen entwickelt. Sie berichteten von einem Einstieg in den Substanzmissbrauch, den sie i. d. R. mit Tabak und Al-kohol gefunden hatten. Dieser Befund entspricht der von for-mulierten Entwicklungssequenz des Drogenkonsums, in der davon ausgegangen wird, dass der Konsum legaler Drogen dem (harten) Konsum von illegalen Drogen, unabhängig vom kul-turellen und historischen Hintergrund, vorausgeht. Die Patient/innen der Klinik haben i. d. R. einen Haupt- oder Förderschulabschluss oder ein Schulabgangszeugnis, selten die Mittlere Reife oder das Abitur erreicht. Sie sind überwiegend von Geburt Deutsche, wohnen überwie-gend bei Angehörigen, sind alleinstehend, erwerbslos und kinderlos. Sie sind durchschnittlich 19 bis 20 Jahre alt und waren vor der Behandlung durchschnittlich seit sieben Jahren abhän-gigkeitskrank.

Abbildung 8: Lebenszeitprävalenz des Konsums von spirituosenhaltigen Alkopops (vor der Therapie) bei 14- bis 25-jährigen Patienten (m/w) der Dietrich Bonhoeffer Klinik, Daten aus 14 klinikinternen Querschnittsstudien

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Schlieckau 2010

3. Trinkkulturen

Das Wort "Alkohol" stammt aus dem Arabischen und wurde von Paracelsus 1520 wieder auf-gegriffen. Das seit Jahrtausenden beliebteste Getränk wird zu unterschiedlichsten Anlässen als Nahrungsmittel, als Genussmittel, als psychoaktive Substanz oder als „Heilmittel“ konsu-miert. Menschen in verschiedenen Regionen der Welt gehen unterschiedlich mit Alkohol um. Bestimmte Völker können v. a. genetisch bedingt schlechter mit Alkohol umgehen, wie z. B. die indigenen Völker oder die Aborigines in Australien. Es gibt in verschiedenen Regionen der Welt unterschiedliche Trinkkulturen, die sich über lange Zeiträume entwickelt haben (Pitt-man 1967):

a) Abstinenzkulturen gibt es z. B. in Saudi-Arabien und im Iran. Alkoholkonsum gilt in diesen Kulturen als unnormal und wird gesellschaftlich geächtet. Eine Ausnahme stellt der heuti-ge Iran mit dem in der Bevölkerung stark verbreiteten Opiatmissbrauch dar.
b) Ambivalenzkulturen gibt es z. B. in Norwegen, Schweden, Finnland, Island, USA und Kana-da. Der Alkoholkonsum wird in diesen Kulturen prohibitiv eingeschränkt, es kommt je-doch mitunter zu explosiven Trinkkonsummustern.
c) Permissivkulturen gibt es z. B. in Deutschland, der Schweiz, Österreich, Spanien und Itali-en. Der Alkohol ist in diesen Kulturen ein Konsumgut. Regelmäßiger Alkoholkonsum gilt als normal, dagegen wird der Alkoholrausch (außer in extremen Permissivkulturen) nur bedingt akzeptiert.

Die folgende Tabelle zeigt die in den verschiedenen Regionen der Welt meistgetrunkenen und daher marktbeherrschenden Alkoholsorten.

Tabelle 2: Vorherrschende Alkoholsorten nach Regionen der Welt

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Babor et al. 2005 (modifiziert)

Die Industrie generiert über das Marketing ihrer Produkte immer neue Konsumbedürfnisse, um Umsatzsteigerungen zu erreichen. Das ist zunächst ein normaler Vorgang im Wirtschafts-leben. Wer in industriell entwickelten Ländern die Botschaften der Freizeit- und Konsumgü-terindustrie kritisch reflektiert, die heute allgemein die Einstellungen und Orientierungen der Verbraucher zum Konsum beeinflussen sollen, wird aber auch Prozesse der zunehmenden Kommerzialisierung und Entgrenzung des Lebens sowie den möglichen Suchtcharakter von …

- Flatrateessen (“binge eating”, „all-you-can-eat“, z. B. Brunchen),
- All- inclusive-Urlaub, d. h. möglichst viel Konsum für wenig Geld,
- Flatrate-Trinken bis zum Koma (“all you can drink”),
- Exzessiven Marathonlauf-Serien einzelner Sportfans,
- Doping im Sport,
- Telefon-, Handy-, Fernseh- und Internet-Flatrates,
- Fernsehshows, wie z. B. „Wer wird Millionär?“,
- Markenklamotten, usw.

Allein diese Aufzählung macht deutlich, dass es in unserer Alltagswelt viele Verlockungen zum grenzenlosen Konsum-“Vergnügen“ gibt. Manche Menschen reagieren in der Tat auf die „Spaßgesellschaft“ mit extremen Konsumverhaltensmustern, die mitunter einen süchtigen Charakter annehmen können. Der Mensch kann sich in einen unersättlichen Konsum verlie-ren. Dies wird zum Beispiel zunehmend in der Glücksspielindustrie (Lotterien, Spielhallen und Casinos, Spielbanken, Sportwetten, Online-Glücksspiel, usw.) und in der Computerspie-leindustrie deutlich. Die mit diesen Angeboten und Verhaltensmustern verbundenen Werte sind äußerer Natur. Wenn Glück nur noch über grenzenloses Vergnügen und monetären Er-folg definiert und maximiert werden kann und innere Werte gesellschaftlich veröden, wird der Mensch mit dieser Verdinglichung der Werte am Ende wahrscheinlich recht unglücklich werden. Es ist auch vornehme Aufgabe der Kirchen, zu diesem kulturellen Wandel Stellung zu beziehen, einen neuen gesellschaftlichen Diskurs zur Pflege des Gemeinsinns und gegen die ausschließlich materialistische Sinnvermittlung und Gier einer Konsumgesellschaft zu moderieren.

Erster Exkurs: Alkohol als „Kulturgut“? –

Von der Kultur des Wegsehens zur Kultur des Hinschauens

Alkohol hat nicht generell etwas mit Kultur zu tun. „Weinanbau und Alkoholkonsum haben zwar eine lange Tradition in Europa, von ‚Kultur‘ kann man aber nur sprechen, wenn Alkohol in sehr geringen Mengen und zu bestimmten Zeiten und Orten getrunken bzw. gar nicht ge-trunken würde. Alkoholbedingte Verkehrstote und -verletzte, verprügelte Frauen und Kinder sowie Suizide von Jugendlichen sind die Kehrseiten der Medaille „Kulturgut“, die die Gesell-schaft nur ungern wahrhaben möchte“ (DHS 2008a).

Alkohol ist bei Jugendlichen der führende Risikofaktor für Tod und Behinderung (WHO 2006). „Gesundheitliche Risiken aufgrund von Alkoholkonsum werden häufig unterschätzt“ (Bartsch 2007). Diesen Umständen ist nicht allein mit technischen Argumenten zu begegnen. Es macht auch eine ethische und Grundwerte-Diskussion erforderlich, die den Rahmen die-ses Buches jedoch sprengen würde und hier nur angerissen werden kann, die aber noch zu führen ist.

Es geht in der Diskussion um Jugend und Rauschtrinken nicht um Verbote. Kinder und Ju-gendliche wollen eine normative Orientierung und brauchen einen effektiven Schutz. Die El-tern und die Gesellschaft sind ihnen beides schuldig.

Die Deutschen haben kulturell bedingt eine permissive (d. h. erlaubende, gewährende, J. S.) Haltung zum Alkoholkonsum. 80% bis 90% der Bevölkerung konsumiert gelegentlich Alkohol . Was wir heute brauchen, ist eine Einstellungsänderung gegenüber den Risiken des Alkohol- und Drogenkonsums. Es kann, wie gesagt, nicht darum gehen, All-tagsdrogen pauschal zu verteufeln. Aber es sollte darum gehen, die Gefährdungen durch den Substanzmissbrauch zu verdeutlichen. Dazu gehört die gesundheitliche Aufklärung über Al-kohol und Drogen und die damit verbundenen Risiken. Es geht sowohl um den Abbau von unbegründeten elterlichen Ängsten vor dem Missbrauchsverhalten Jugendlicher und von möglichen Vorurteilen vieler Bürger/innen gegenüber Abhängigkeitskranken, wie um kon-krete und evidenzbasierte Massnahmen zur Gesundheitsförderung.

Nach dem Konzept der Punktnüchternheit sollte Alkohol komplett gemieden werden:

1. am Arbeitsplatz,
2. bei der Bedienung von Maschinen,
3. im Straßenverkehr,
4. beim Sport,
5. in der Schwangerschaft und während der Laktation (Stillzeit),
6. bei Medikamenteneinnahme und nach Behandlung einer Alkoholabhängigkeit

(vgl. DHS, 2008).

Aber auch in der Freizeit stellt exzessives Trinken eine Un-Kultur dar. Gefordert ist m. E. ein Paradigmenwechsel in der Haltung zum Alkohol als Genussmittel und Zellgift, wie er bei-spielsweise in unserem Nachbarland Frankreich seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts vorgelebt wird. Dort heißt es in etwa:

„Es ist unnormal, exzessiv Alkohol zu konsumieren“.

Daher sollte Schluss sein mit der Kultur des Wegsehens.

Wir brauchen eine Kultur des Hinschauens, um den Gesundheits-, Kinder- und Jugendschutz konsequenter als bisher umzusetzen.

Eine hohe Krankheitsbelastung durch (vermeidbaren!) Alkoholmissbrauch kann sich die Ge-sellschaft nicht nur aus ethischen und gesundheitsökonomischen Gründen, sondern auch volkswirtschaftlich immer weniger leisten .

Mehr noch: Die Bürgerinnen und Bürger sollten ihre Volksvertreter in den Parlamenten mit Nachdruck mit der Aufforderung zur Umsetzung der seit Jahren bekannten und wissen-schaftlich gesicherten, evidenzbasierten Alkoholpräventionsstrategien unterstützen. Weil es in demokratischen Gesellschaften immer um einen Interessenausgleich gehen muss, braucht es eine gesellschaftliche Risikodiskussion und einen viel stärkeren Gegendruck gegen die starke politische Einflussnahme der Alkohollobbyisten, denen es bisher gelungen ist, ihre Kli-entel-Interessen weitestgehend durchzusetzen. Es geht daher um eine zielführende Ent-scheidung im Konflikt zwischen wirtschaftsliberaler Marktgestaltung und staatlicher Regulie-rung des Alkoholmarktes zugunsten von Public Health-Ansätzen. Um evidenzbasierte alko-holpolitische Strategien umzusetzen, reicht der nationale Rahmen der Politik jedoch immer weniger aus. Der Markt für Alkohol und Alkoholwerbung ist ein europäischer und globaler Markt geworden. Alkoholische Getränke und Alkoholwerbung überqueren die Ländergren-zen. Die Alkoholindustrie ist international gut vernetzt, agiert multinational und muss sich unter hohem Konkurrenzdruck global ständig neue Märkte schaffen. Eine Public Health-Poli-tik mit einer drogenpolitischen Gesamtstrategie muss daher vornehmlich auf internationaler und europäischer Ebene durchgesetzt und koordiniert werden :

A. Auf internationaler Bühne entwickelt vornehmlich die WHO Initiativen (seit Jahrzehnten).
B. Auf EU-Ebene gibt es bereits einen mit dem Europäischen Parlament abgestimmten Handlungsplan der Europäischen Kommission. Seit 2007 ar-beitet das Europäische Alkohol- und Gesundheitsforum (European Alcohol and Health Forum), in dem alle relevanten europäischen Alkohol-Interessengruppen, sowie Non-Pro-fit-Organisationen und Public Health-Interessengruppen vertreten sind (vgl. den Anhang, 9.7.), der europäischen Politik als Beratergremium zu. Die Mitglieder des Forums ver-pflichten sich, geeignete Präventionsstrategien auch selbst umzusetzen. Leider wird die-ses Forum noch stark von der Alkohollobby dominiert.
C. Auf nationaler Ebene muss ebenfalls eine drogenpolitische Gesamtstrategie und ein Akti-onsplan Alkohol formuliert und umgesetzt werden.
D. Neben europäischen und nationalen Aktionsplänen gilt es, durch Gemeindemobilisierung auf lokaler Ebene vernetzte Hilfen zu schaffen, um mit den vor Ort versammelten Akteu-ren evidenzbasierte kommunale Präventionsstrategien nachhaltig umzusetzen . Je weniger die Bereitschaft auf höherer politischer Ebene (Länder, Bund, EU) vorhanden ist, wirksame Alkoholkontrollmassnahmen zu unterstützen, desto wichtiger können lokale Initiativen zur Schadensreduzierung werden . Ne-ben Staat, Behörden, Kirchen, Verbänden, Unternehmen, Gewerkschaften, Profit- und Non-Profit-Organisationen und anderen Akteuren kann der Einzelne in der Kommune durch bürgerschaftliches Engagement einen guten Beitrag für einen verbesserten Kinder- und Jugendschutz leisten (Holder et al. 2000, Greater London Authority 2003).

Insgesamt aber muss es auch gelingen, den einzelnen Bürger besser als bisher über die Risi-ken des Alkoholmissbrauchs zu informieren, damit er sich leichter ein Urteil über geeignete Präventionsstrategien machen kann.

Um sich den Themen „Rauschtrinken von Kindern und Jugendlichen“ und „Alkoholkontroll-politik“ zu nähern, müssen zunächst noch einige Begriffe klar definiert werden.

4. Das Rauschtrinken bei Kindern und Jugendlichen

Die „Alkoholsozialisation“ beginnt nach Wiedig und Weber (2002, 108ff.) schon im Vorschul-alter durch das „Lernen am Modell“.

Die Jugend ist die Lebensphase zwischen der Kindheit und dem Erwachsensein. Dieser Über-gangsprozess verläuft individuell höchst unterschiedlich. In der Jugend lösen sich die Men-schen allmählich aus der Bindung zu den Eltern heraus. Jugendliche haben u. a. ein natürli-ches Bedürfnis nach Grenzüberschreitung. Sie haben heute häufig ein kulturell vermitteltes Bedürfnis nach einem kontrollierten Rausch: Martinic und Measham sehen im Rauschtrin-ken den Versuch von Jugendlichen, einen „kontrollierten Kontrollverlust“ („controlled loss of control“) zu praktizieren (Martinic & Measham 2008, 262). Dies geschieht zu einer Zeit, in der viele Eltern in der Erziehung wenig Orientierung anbieten (können), wenig Grenzen set-zen und nicht mehr darauf achten, Rituale des Alkoholkonsums zu vermitteln und vorzule-ben, die eine Funktion für die Begrenzung gesundheitlicher Risiken hätten („harm reducti-on“, vgl. Flammer 1991). Natürlich sollten Erwachsene zuerst einmal selbstkritisch ihre eige-nen Trinkkonsummuster überprüfen (Vorbildfunktion) und dann in der Kindererziehung risi-koarme Trinknormen vermitteln (siehe dazu das Kapitel zur Alkoholprävention). Es ist aus-serdem entscheidend, zu fragen, ob der Jugendliche zu einem gegebenen Zeitpunkt bereits über die notwendige Reife verfügt, auf dem schmalen Grad des von ihm bewusst praktizier-ten Trinkverhaltensmusters Grenzen einzuhalten und nicht ungewollt in riskante Situationen (Verkehrsunfälle, ungeschützter Geschlechtsverkehr, Gewalt, usw.) zu geraten. „Die Kinder und Jugendlichen sehen nicht mehr ihre kritische Grenze, wann genug ist und trinken bis zur Bewusstlosigkeit weiter“, sagte 2004 Lutz Bauer, Oberarzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Vivantes-Klinikum in Berlin über die akut intoxikierten behandlungsbedürftigen Teenager und fügte hinzu: „... unsere Jüngste war elf. Sie hatte 2,3 Promille Alkohol in sich“.

Um sich wissenschaftlich dem Phänomen des Rauschtrinkens zu nähern, empfiehlt sich zu-nächst der Blick in die einschlägige Forschungsliteratur, die immer noch stark US-amerika-nisch dominiert ist. Forschungsarbeiten können über verschiedene Suchsysteme gezielt re-cherchiert werden, etwa über PubMed, MEDLINE und PsychINFO, mit folgenden Suchbegrif-fen in Englisch, Deutsch und weiteren Sprachen:

Binge drinking oder episodic heavy drinking oder intoxication oder drunkenness, mit: Preva-lence, Epidemiology, Survey, Adults, Young people, Adolescents, Europe, Accidents, Injuries, Intentional injuries, Unintentional injuries, Crime, Violence, Aggression, Domestic violence, Child abuse, Suicide, Murder, Homicide, Heart disease, Cardiovascular diseases, Strokes, Pri-ce, Tax, Legal age, Availability, Advertising, Drink driving, Education, Massmedia, Informa-tion, Server training, Bars, Communities, Treatment, Safety.

4.1. Rauschtrinken

Rauschtrinken bezeichnet ein Trinkkonsummuster von Alkohol, das zu einem Rausch führen soll.

Der Alkoholrausch kann begrifflich von einer kaum merklichen Beeinträchtigung (leichter Schwips) über eine Berauschung und einen starken Rausch (Vollrausch) bis zur komatösen Bewusstlosigkeit (extremes „Komatrinken“, s. u.) reichen. Dies kann zu Problemen bei der Interpretation des Begriffes Rauschtrinken führen. Die Europäische Schülerstudie ESPAD fragte 2003 daher explizit nach der Stärke der Räusche, von „nur etwas beschwipst“ bis „sturzbetrunken“ und „so schwer berauscht, dass ich nicht mehr auf den eigenen Beinen ste-hen konnte“. So konnten mit den ESPAD-Studien differenzierte Daten erhoben werden.

Ältere Jugendliche und junge Erwachsene praktizieren das Rauschtrinken am Häufigsten. Ge-legentliche Rauschtrinker verursachen die meisten alkoholbezogenen Probleme. Dieser Um-stand wird in der Literatur als Präventions-Paradoxon bezeichnet (Kreitman 1986, vgl. Ros-sow & Romelsjö 2006 und Uhl 2005f, 6f.). G. Rose verstand unter dem Begriff „Präventions-paradoxon“, anders als Kreitman, den Umstand, dass sinnvolle und erfolgreiche bevölke-rungsbezogene Massnahmen aus der persönlichen Sicht der Mehrheit der Bürger durchaus als sinnlos aufgefaßt werden können (G. Rose 2001).

Uhl & Springer weisen darauf hin, dass bei Bevölkerungsumfragen das Ausmaß der alkohol-assoziierten Probleme bei starken Trinkern systematisch unterschätzt werde (Uhl & Springer 1996).

Bei jedem Alkoholrausch sterben Gehirnzellen ab. Regelmäßiges Betrinken führt zu einem schlechteren Gedächtnis und verminderter Intelligenz. Schlaganfälle und Herzrhythmusstö-rungen können direkt durch einen schweren Rausch ausgelöst werden. Die Unfallgefahr ist für Betrunkene in allen Bereichen um ein Vielfaches erhöht.

Die Beeinträchtigungen der Psyche sind abhängig von...

- der Blutalkoholkonzentration (BAK; das Maximum wird nach 45 bis 75 Minuten erreicht),
- den Persönlichkeitsmerkmalen,
- der Erfahrung im Umgang mit Alkohol (Anpassung, Lernen),
- der Umgebung und Wirkungserwartung,
- dem Mischkonsum mit Alkohol und anderen Drogen.

Durch den Rausch sind eingeschränkt...

- Bewegungssinn, Gleichgewichtssinn,
- Reaktionszeit (Grenzwert: 0,4 Promille; Eckardt et al. 1998b),
- Urteilsvermögen,
- Emotionen, Sensibilität.

Rauschzustände können wie folgt klassifiziert werden:

Tabelle 3: Einteilung der Rauschzustände nach Feuerlein et al.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Ab einer BAK von 4,0 Promille beginnt bei Erwachsenen das alkoholische Koma mit möglicher Todesfolge nach Ersticken, Kreislauf- und Atemstörungen. BAK-Promilleangaben gelten für Erwachsene!

Quelle: Feuerlein et al. 1998

Rauschtrinken führt häufig zu Schäden z. B. durch Unfälle, Gewalt, usw. Die große COGA-Stu-die grenzte spezifische Genregionen ein, die mit dem Alkoholrisiko assoziiert sind, konnte aber keine Gene für Alkoholismus identifizieren (Rose et al. 2001, Dick et al. 2002). Zu den neurobiologischen Aspekten des Rauschtrinkens und dem dopaminergen System s. Stolle et al. 2009, 326f. und vgl. Abel 1988, Peterson et al. 1990, Goodlett & Peterson 1995, Finckh et al. 1997, Kono et al. 1997, Brown et al. 2000, De Bellis et al. 2000, Mann 2002, 2008, Agartz et al. 2003, Hiller-Sturmhövel & Swartzwelder 2004, Nagel et al. 2005, Sowell et al. 2005, Zeigler et al. 2005, Spear & Varlinskaya 2006, Tapert & Schweinsberg 2006, DHS 2008, IAS 2009b, Beutel in: www.diakonie-baden.de/aktuelles/binge-drinking.htm.

4.2. „Komatrinken“, „Kampftrinken“ und „Kofferraumsaufen“

„Komatrinken“, „Kampftrinken“ und „Kofferraumsaufen“ sind, ähnlich wie der Begriff Rauschtrinken, ungenaue deutsche Begriffe für den exzessiven Alkoholmissbrauch.

Der Begriff „Komatrinken“ bedeutet den Konsum einer Alkoholmenge, die ein Koma hervor-ruft. Als Koma (griechisch „tiefer Schlaf“) bezeichnet man eine Form der Bewusstlosigkeit, bei der das Individuum auch durch starke äußere Stimuli, wie wiederholte Schmerzreize, nicht geweckt werden kann.

Die Begriffe „Kampftrinken“ oder „Kofferraumsaufen“ werden oft synonym mit dem Begriff „Komatrinken“ verwandt und legen den Fokus begrifflich weniger auf das Erreichen eines komatösen Zustandes, sondern auf das Ziel des Sieges im Wettbewerb um das Trinken der höchsten Alkoholmenge bei einem Trinkgelage.

Diese Begriffe entsprechen nicht dem Begriff Binge drinking. Die wissenschaftliche Begleit-studie des HaLT-Projektes fasst die Motive für schwere Alkoholintoxikationen in vier Haupt-gruppen zusammen: (1) Wetten und Trinkspiele, (2) Exzessives Trinken als Zeitvertreib, (3) Naivität und Unwissenheit im Umgang mit Alkohol und (4) Trinken als Problemverdrängung (PROGNOS AG 2007, vgl. Kuttler 2009 und DAK 2010).

Da bei einem schweren Rauschzustand akute Lebensgefahr bestehen kann, ist eine intensiv-medizinische Behandlung notwendig. Das alkoholische Koma beginnt meist bei einer Blutal-koholkonzentration (BAK) von über 4,0 Promille (bei Erwachsenen! Anm. d. Verf.). Bei etwa 5,0 Promille liegt die Letalität (bei Erwachsenen! Anm. d. Verf.) bei rund 50% (DHS 2003). Tödlich wirkt in der Regel eine Dämpfung des Atemzentrums, das Verschlucken des Erbro-chenen mit anschließendem Ersticken oder die starke Unterkühlung Betrunkener, die im Winter komatös im Freien liegen bleiben.

Bedenklich ist nicht, wenn ein 18-Jähriger sich etwas beschwipst fühlt, sondern wenn er eine hohe Alkoholtoleranz entwickelt hat, auch bei großen Alkoholmengen keine Anzeichen von Beeinträchtigung zeigt und sich nicht berauscht fühlt (BMA 1995, Uhl et al. 2005).

Vielfach geübte Praxis der Event-Gastronomie waren in den letzten Jahren Veranstaltungen mit "Flatrate-Angeboten" für alkoholische Getränke. Diese zielten erkennbar auf die Verab-reichung von Alkohol an Betrunkene ab und provozierten geradezu das Komatrinken. Dies ist also ein konkretes Beispiel dafür, wie der Jugendschutz mit Füßen getreten wurde. Solche Veranstaltungen sind nach geltendem Recht unzulässig (Gaststättengesetz, § 20). Die vor-malige Drogenbeauftragte Sabine Bätzing begrüßte das Verbot von Flatrate-Partys: „Angebo-te zum Rauschtrin­ken sind unverantwortlich. Ein verantwortlicher Um­gang mit Alkohol wird be­sonders bei Jugendlichen und jungen Menschen durch diese Angebote deutlich unterlau-fen“ (BMG, PM 2009). Weil Jugendlichen oft noch ein Maßstab fehlt, braucht es neben der Erziehung und Verhaltensprävention gesetzliche Regelungen zur Marktregulierung. Bereits im Vorfeld kann das Marketing entsprechender Veranstaltungen verboten werden, da die Annoncierung solcher Veranstaltungen ein klares Indiz für die Abgabe von Alkohol an Be-trunkene darstellt. Die Durchführung von Flatratepartys muss gemäß Gaststättengesetz, § 4 Abs. 1 Nr. 1 und § 15 Abs. 2 zum Widerruf der Gaststättenerlaubnis führen (Anm. d. Verf.)!

4.3. Binge drinking

Das Binge drinking trat als problematisches Phänomen in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA besonders an den Colleges auf. Viele US-Studien zum Binge drin-king wurden daher bereits vor dem Jahr 2000 durchgeführt („College Alcohol Study“ CAS 1994, 1997, 1999 und 2001: Wechsler et al. 1994, 1998, 2000b, 2001e; Schulenberg et al. 1996, u. a.). Längs­schnittanalysen zeigten, dass die Rate niedrig­frequenter und abstinenter College-Studieren­der zugenommen hatte, die Rate an Binge drin­kern aber über die Zeit sta-bil geblieben war. In Europa war dieses Trinkkonsummuster bei Kindern und Jugendlichen bereits bekannt, wurde aber ca. 10 Jahre später als in den USA, ab dem Jahr 2000 auffällig und dann auch zunehmend von europäischen Forschern untersucht. Dies erfolgte zuerst durch die 2. und 3. Prävalenzschätzung in der Schweiz 1997 und 2002 (Wicki, Gmel et al. 2005; die 4. Prävalenzschätzung folgte 2007. Vgl. für Deutschland BzgA, Drogenaffinitäts-studien 2004 und 2007).

Deutschland liegt beim Binge drinking im europäischen Vergleich im oberen Drittel. Da im angloamerikanischen und auch im skandinavischen Raum andere Trinkkonsummuster und eine andere Alkoholpolitik praktiziert werden, sind die Ergebnisse von Studien aus diesen Re-gionen nur bedingt auf die Verhältnisse in Mitteleuropa und Deutschland übertragbar. Ein Großteil der bisherigen Forschungsergebnisse zum Binge drinking liegt uns bisher aber aus US-amerikanischen Studien vor. Leider sind hierzulande die Forschungsmittel im Suchtbe-reich begrenzt. In den letzten Jahren wurde allerdings auch die europäische Suchtforschung etwas intensiviert.

Umgangssprachlich bedeutet Binge drinking das Trinken von Alkohol bei einem Trinkgelage („to binge on something“ = „sich mit etwas vollstopfen“); in der Epidemiologie bedeutet es Rauschtrinken. - Doch wie lautet nun die gebräuchliche Definition des Binge drinking?

Binge drinking bezeichnet ein Trinkkonsummuster von Alkohol, bei dem in einer Episode

fünf Gläser oder mehr (Trinkeinheiten) einer Alkoholsorte getrunken werden.

Diese heute allgemein anerkannte und überwiegend gebräuchliche Definition der Epidemio-logen geht auf Wechsler et al. (1994) zurück und ist unscharf. Ein Glas enthält ca. 10g bis 12g reinen Alkohol. Man spricht also von Binge drinking, wenn z. B. samstagabends mindestens 5 Glas Bier oder 5 Glas Wein oder 5 Glas Spirituosen o. ä., insgesamt mindestens 60g reiner Al-kohol bei einer Trinkgelegenheit (Episode) getrunken werden. Im klinischen Bereich ist die-se Definition von Binge drinking weniger von Bedeutung, da es in der Behandlung von Per-sonen mit starkem Alkoholmissbrauch teilweise um wesentlich höhere Alkoholkonsummen-gen geht. Jedoch kann diese weltweit gebräuchliche Definition gute kulturübergreifende Hin-weise auf die Verbreitung des Binge drinking ermöglichen.

Es gibt noch eine ganze Reihe anderer (regional und/oder inhaltlich unterschiedlicher) Defi-nitionen von Binge drinking (Alcohol Concern 2003, NIAAA 2004, Schuckit 2006a, WHO 2009, u. a.). „ The US based National Institute of Alcohol and Alcoholism (NIAAA) defines binge drinking as a pattern of drinking alcohol that brings the blood alcohol concentration (BAC) to 0.8g/l or above. For the typical adult, this pattern corresponds to consuming 70g alcohol or more (male) or 56g or more (female) in about two hours“ (NIAAA 2007, zitiert nach Ander-son 2008, 15). In Großbritannien ist Binge Drinking als Konsum von acht oder mehr Trinkein-heiten bei Männern und sechs oder mehr Trinkeinheiten bei Frauen definiert (eine Getränke-einheit entspricht dort 7,9g Alkohol: Alcohol Concern 2003). In den USA wird „Binge drin-king“ meist auf ein Zeitfenster von zwei Stunden bezogen (Stolle et al. 2009, 324). Das Natio-nal Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism in den USA orientiert sich seit 2007 am Blutal-koholwert (0,8 Promille und mehr bei Erwachsenen: NIAAA 2004, 2007), was letztlich pro-blematisch ist, da es den typischen Erwachsenen nicht gibt. Die WHO bezeichnet den „Konsum einer großen Menge Alkohol“ als Binge drinking (WHO 2009b). Seit 2007 wird bei ESPAD der Terminus „Heavy Episodic Drinking“ statt Binge Drinking benutzt. Daher muss bei der Interpretation von Studienergebnissen jeweils beachtet werden, von welcher Definition des Binge drinking im Studiendesign ausgegangen wurde.

In vielen angelsächsischen Ländern wird statt von Gläsern von „Standarddrinks“ (die exakt 10g reinen Alkohol enthalten) gesprochen. Dieser Terminus wird als Recheneinheit verstan-den. So wird z. B. in Australien auf verkauften Getränken angegeben, wie viele Standard-drinks sie enthalten (www.alcohol.gov.au/internet/alcohol/publishing.nsf/Content/standard, aufgerufen am 03.08.2009). Die Alkoholhersteller ermitteln die durchschnittlichen Volu-men-Prozente Alkohol in einer Getränkesorte und geben diese bekannt.

Tabelle 4: Australische Formel zur Umrechnung in Standarddrinks

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das Langenscheidt Handwörterbuch Englisch (Messinger, 1994) übersetzt „Binge“ mit „Gela-ge“, mit „über mehrere Tage andauernden Feiern mit starkem Alkoholkonsum“ sowie mit „ei-nen Draufmachen“, also mit einer „Sauftour“. Im deutschen Sprachraum wird „Binge drin-king“ oft auch mit Begriffen wie „Kampf“-, „Wett“-, „Kofferraum-“ und „Komatrinken“ (s. o.) gleichgesetzt, die eine Reihe erheblich andere Bedeutungen haben, was eine einheitliche Verwendung des Begriffes Binge drinking noch komplizierter macht. In diesem Buch wird da-her in der Folge, der Einfachheit halber, die von Epidemiologen bevorzugte Definition des Binge drinking von Wechsler et al. (2004) benutzt.

Jeder fünfte deutsche Jugendliche trinkt einmal im Monat 5 Gläser oder mehr Alkohol (BZgA 2009). Diese Menge gefährdet bereits die körperliche und geistige Entwicklung von Jugend-lichen (Seitz, Bühringer & Mann 2008). Beim Binge drinking muss u. U. noch nicht einmal ein Rausch auftreten. Erfahrene Trinker, die bereits eine höhere Toleranz gegenüber Alkohol entwickelt haben, müssen nach 5 Gläsern jedenfalls noch keinen deutlichen Rausch verspü-ren. Sie meinen oft, dass sie viel Alkohol vertragen können, ohne beeinträchtigt zu sein. Sie merken aber in der Gewöhnung an den Alkohol nicht (oder wollen es nicht wahrhaben), dass sie sich möglicherweise schleichend auf dem Weg in eine Alkoholabhängigkeit befinden oder sogar bereits alkoholabhängig geworden sind. Auch das Risiko im Umgang mit Spirituosen ist nicht zu unterschätzen. Im Gegensatz zu Bier oder Wein kann dem Körper durch Spirituosen in kurzer Zeit eine erheblich größere Menge Alkohol zugeführt werden. Es kommt dann oft gar nicht zu den bekannten Ausfällen nach Bier- und Weinkonsum, wie z. B. Müdigkeit, Reak-tionsschwächen, Übelkeit, Erbrechen und allmählichem Abbau von Alkohol. Dieser Schutz-mechanismus entfällt bei großen Mengen Spirituosen, und eine Vergiftung tritt überra-schend schnell und plötzlich auf. Der Körper muss dann mit der gesamten Menge Alkohol auf einmal fertig werden. Ein paar Gläser Alkohol können also sehr wohl recht gefährlich sein, nicht nur für den Organismus eines Jugendlichen. Der Mythos, ein paar Gläser Alkohol scha-deten nicht (s. o.), stimmt so nicht.

Zudem muss man erstens berücksichtigen, dass Kindern bis zur Pubertät noch nicht alle drei, sondern bestenfalls zwei funktionierende Alkoholabbauenzyme im Körper zur Verfügung ste-hen. Daher persistieren nach exzessiver Alkoholzufuhr vorübergehend hohe Alkoholmengen im Körper und wirken besonders schädigend auf alle Organe, besonders aber auf das noch in der Entwicklung befindliche Gehirn.

Man muss zweitens sehen, dass der Körper von Kindern im Vergleich zum Körper Erwachse-ner ein viel kleineres Volumen bietet, in dem sich die Alkoholmenge verteilen kann.

Man muss drittens bedenken, dass Mädchen und Frauen im Vergleich zu Männern durch ihr i. d. R. geringeres Körpervolumen, eine geringere Alkoholabbaurate, prozentual weniger Kör-perflüssigkeit und einen größeren Fettanteil deutlich weniger Alkohol vertragen.

Viertens ist darauf hinzuweisen, dass Kinder von alkoholkranken Eltern häufig mehr Alkohol zu sich nehmen müssen, um überhaupt die gleiche Rauschwirkung verspüren zu können, wie andere Gleichaltrige. Sie reagieren durch ihre genetische Disposition enzymatisch anders auf Alkohol als Kinder von gesunden Eltern.

In der DAK-Studie von 2007 wurde deutlich, dass rauchende Jugendliche deutlich häufiger zum "Rauschtrinken" (Binge drinking) neigen, als nichtrauchende Jugendliche. So gaben 62% der rauchenden Schüler an, im letzten Monat mindestens einmal fünf oder mehr Gläser Al-kohol direkt hintereinander getrunken zu haben (Nichtraucher: 20%). Besonders stark sei dieser Unterschied bei den 11- bis 15-Jährigen. In dieser Gruppe sei die Häufigkeit für "Binge drinking" bei den rauchenden Schülern sogar fast fünfmal so hoch wie bei den nicht rau-chenden Schülern (52% vs. 11%: Morgenstern et al./DAK 2007, 7).

Die Studie der SFA-ISPA von 2009 in der Schweiz brachte folgendes Ergebnis: Je häufiger die älteren Geschwister sich betrinken und je geringer die elterliche Fürsorge ist, desto eher trinken auch die jüngeren Geschwister auf problematische Weise. Selbst bei guter Fürsorge der Eltern habe sich gezeigt, dass die jüngeren Kinder eher zum Rauschtrinken neigten, wenn dies die älteren Geschwister auch praktizierten (Gossrau-Breen et al./SFA-ISPA 2009).

Der (vorübergehende) Konsum verschiedener psychotroper Substanzen ist viel typischer für das Jugendalter als der Konsum nur einer einzigen Droge (z. B. Alkohol). „Jugendliche, die über ‚Binge drinking‘ berichten, konsumieren zu einem hohen Prozentsatz weitere psycho-trope Substanzen“ (Stolle et al. 2009, 325). Ebenso kommt es häufig vor, dass Jugendliche mit Alkoholproblemen zusätzliche komorbide psychische, psychiatrische oder soziale Störun-gen aufweisen. Psychiatrische Störungen können sowohl Ursache als auch Folge einer Ab-hängigkeitserkrankung sein.

Abbildung 9: Beziehungen zwischen Alkoholkonsum, intermediaten Variablen und alkoholbezogenen Folgestörungen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quellen: Rehm et al. 2004, Babor et al. 2005 (modifiziert)

4.4. Akute Alkoholvergiftung

Man muss unterscheiden: Während Binge drinking ein Trinkverhalten beschreibt, ist die Al-koholvergiftung die entsprechende körperliche Reaktion auf den exzessiven Alkoholkonsum. Alkohol (Ethanol/Äthylalkohol, C2H5OH) ist ein Zellgift und ein Rauschmittel /eine Droge, wirkt bereits in kleinen Mengen und schädigt Körperorgane und Nervenzellen .

Die akute Alkoholvergiftung ist in ihrer Wirkung auf das Zentrale Nervensystem (ZNS) eine „… reversible, körperlich begründbare, exogene Psychose“ (Feuerlein et al. 1998).

Im Kindes- und Jugendalter treten alkoholmissbrauchende Kinder und Jugendliche klinisch vor allem durch folgende Störungen in Erscheinung:

- akute Alkoholintoxikation (WHO, ICD-10: F10.0),
- schädlicher Gebrauch/ Missbrauch von Alkohol (WHO, ICD-10: F10.1),
- Alkoholabhängigkeitssyndrom (zumeist bis zur beginnenden Chronifizierung, WHO, ICD-10: F10.2).

Dabei können nach L. G. Schmidt drei Gruppen von exzessiven Trinker/innen unterschieden werden, deren Trinkkonsummuster sich von der Frühadoleszenz über die mittlere Adoles-zenz bis ins frühe Erwachsenenalter verschieden entwickeln (sog. Trajektorien, Schulenberg et al. 1996, Hill et al. 2000 und vertiefend Chassin et al. 2002, Maggs & Schulenburg 2006 sowie Schmidt, LG 2009, 471). Unterschieden werden frühe Binge drinker, eine „Late-onset-Gruppe“ mit späterem Binge drinking und eine „fling drinkers-Gruppe“ mit entwicklungs-bedingt begrenztem Binge drinking (Schmidt, LG 2009, 470). Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes und des Bundesministeriums für Gesundheit mussten in Deutschland seit 2000 immer mehr Kinder und Jugendliche mit der Diagnose „akute Alkoholintoxikation“ stationär im Krankenhaus behandelt werden. Dies seien im Jahr 2007 z. B. 3.779 Kinder im Alter von 10 bis 15 Jahren gewesen. Es kam bei Jugendlichen deutlich häufiger als im vergangenen Jahrhundert zu Todesfällen nach starker Alkoholvergiftung. Die tödliche Alkoholkonzen-tration im Blut habe in einigen Fällen unter 3‰ gelegen (Hollstedt & Rydberg 1977, bzw. bei 1,8‰ bis 6‰: Schmidbauer & vom Scheidt 1998, 40). Dagegen habe in den 60er Jahren ein 4-jähriges Mädchen mit einer BAK von 7,4‰ unter intensivmedizinischer Behandlung über-lebt (Dickerman et al. 1968).

Abbildung 10: Einweisungen in Krankenhäuser wegen akuter Alkoholintoxikation, 2000 bis 2008, gestaffelt nach Alterskohorten

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Statistisches Bundesamt: www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/ Content/statistik… (Stand: 20.01.2010)

Die Einweisungen in Krankenhäuser wegen akuter Alkoholintoxikationen haben sich nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Zeitraum 2000 bis 2008 bei allen Altersklassen verdoppelt und bei den 15- bis 20-Jährigen sogar verdreifacht. Akute Alkoholvergiftungen und sog. Komasaufen sind also nicht allein ein jugendspezifisches Problem!

Die Behandlung im Krankenhaus wird von der Schwere der Alkoholvergiftung bestimmt. Es kann in der Akutbehandlung erforderlich sein, eine Magenspülung vorzunehmen, Infusionen mit Glukose- und Elektrolyt-Lösungen durchzuführen, um den Flüssigkeitsverlust auszuglei-chen, ggf. bei schweren Kreislauf- oder Atemstörungen eine Beatmung oder eine Hämodia-lyse-Therapie (Blutreinigung) durchzuführen (DHS 2009a, 5; Schneider et al. 2008). Die Vital-parameter (Puls, Atemfrequenz, Blutdruck) müssen dabei regelhaft überwacht werden, da es sich oft um eine lebensbedrohliche Vergiftung handelt.

Abbildung 11: Einweisungen in Krankenhäuser wegen akuter Alkoholintoxikation,

2000 bis 2008, alle Altersklassen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Statistisches Bundesamt 2009 (modifiziert)

Betrachtet man den Trend bei den 10- bis 20-Jährigen, so hat sich die Zahl der Krankenhaus-behandlungen von 2000 bis 2008 fast verdreifacht (Steigerung um 270 Prozent)!

Abbildung 12: Einweisungen von 10- bis 20-jährigen Kindern und Jugendlichen in Krankenhäuser wegen akuter Alkoholintoxikation, 2000 bis 2008

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Statistisches Bundesamt 2009 (modifiziert)

4.5. Früher Beginn des Alkoholkonsums und das Rauschtrinken bei Kindern und Jugendlichen

Nun ist das Trinken großer Mengen von Alkohol in kurzer Zeit kein neues Phänomen. Neu und besorgniserregend ist nur der sehr frühe Einstieg vieler Kinder in dieses Alkoholkonsum-verhalten und speziell in das frühe Trinken großer Spirituosenmengen.

Zum Vergleich: Nach dem 2. Weltkrieg begannen Adoleszente durchschnittlich erst etwa mit 18 Jahren, 1965 begannen sie mit 17,5 Jahren (Schmidt, LG 2009) mit dem regelmäßigen Al-koholkonsum (v. a. Bier!). Heute beginnen viele Kinder ca. fünf Jahre früher, im Alter zwi-schen 11 und 14 Jahren, bzw. durchschnittlich mit 13,2 Jahren, mit Alkohol zu experimentie-ren (Settertobulte & Richter 2007). Bekannt ist das Muster des gemeinsamen exzessiven Be-säufnisses von Kindern und Jugendlichen mit hochprozentigen alkoholischen Getränken wie Wodka und Tequila im außerfamiliären Kontext an Wochenenden. Jugendlichen steht heute mehr Geld (auch für Alkohol) zur Verfügung, als noch vor 15 Jahren. Der Trend, dass Kinder immer noch früher in den Alkoholkonsum einsteigen, konnte mittlerweile gebrochen werden (Ravens-Sieberer & Nickel 2007, 20).

Der erste Rausch wird von Kindern zum Teil bereits kurz nach dem ersten Alkoholkonsum, im Alter von durchschnittlich 13,9 Jahren erlebt. In der Regel geschieht dies im Rahmen der Peer group (Settertobulte & Richter 2007, Stumpp et al. 2009) im sog. „dritten Sozialraum“, wie die Soziologen (Löw & Sturm 2005) sagen, d. h. außerhalb von Familie („erster Sozial-raum“) und Schule/Beruf („zweiter Sozialraum“). Die Peer group ist dabei sowohl ein Ex-perimentierraum, als auch ein Risikoraum.

Die 14- bis 25-jährigen Patienten der Dietrich Bonhoeffer Klinik, eine Gruppe von Hochrisiko-konsument/innen berichteten vom Einstiegsalter beim Konsum von Alkopops wie folgt:

Abbildung 13: Einstiegsalter beim Konsum von spirituosenhaltigen Alkopops bei 14- bis 25-jährigen Patienten (m/w) der Dietrich Bonhoeffer Klinik in Jahren, aggregierte Daten aus 14 Querschnittsstudien 2004 bis 2010

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Schlieckau 2010; Zahlen geben das durchschnittliche Einstiegsalter an.

Man muss dabei berücksichtigen, dass die Patient/innen der Klinik vor Beginn der Entwöh-nungsbehandlung im Durchschnitt bereits seit etwa sieben Jahren abhängigkeitskrank wa-ren. Daher hatten sie bereits vor dem großen Hype auf die Alkopops 2002/2003 mit 11 bis 14 Jahren zuerst andere Drogen (Tabak, andere Alkoholsorten, Cannabis) missbraucht. Die Alko-pops wurden von den meisten Patient/innen später als Begleitdroge benutzt. Erst bei den neueren Querschnittstudien in der Klinik ab 2009 wurde deutlich, dass die spirituosenhalti-gen Alkopops auch bei ihnen recht früh (ab 14 Jahren), noch in den ersten Jahren der Sucht-karriere und zeitgleich mit dem großen Hype auf die Alkopops 2002/2003, eine Rolle gespielt hatten. Die ab 2011 folgenden Querschnittstudien bei den zukünftigen Patient/innen wer-den erst noch Aufschluss darüber geben müssen, ob das Einstiegsalter beim Alkopop-Kon-sum noch weiter gesunken war. Erst dann könnte man feststellen, ob die Alkopops bei den Patient/innen der Klinik tatsächlich auch eine Funktion als Einstiegsdrogen gehabt hatten. Diese These kann jedenfalls für die Gruppe der Patient/innen der Dietrich Bonhoeffer Klinik nach den bisherigen Befunden der Klinikforschung noch nicht endgültig verifiziert werden.

Die Toleranz gegenüber Alkoholtrinkmengen ist bei Jugendlichen im Vergleich zu Erwachse-nen ungewöhnlich hoch. Insbesondere für Mädchen hatte sich bereits kurz nach der Jahr-tausendwende durch die süßen spirituosenhaltigen Alkopops die Schwelle zum Einstieg in den Alkoholkonsum gesenkt. Jugendliche berauschen sich aber nicht mit Alkopops, die zu-meist ca. 5 Vol.-% Alkohol enthalten, sondern vornehmlich mit wesentlich höherprozenti-gen Spirituosen. Die Alkopops-Welle war bereits 2004 deutlich abgeebbt. Der exzessive Alko-holkonsum bei Kindern und Jugendlichen hat seit 2005 besonders unter dem Einfluss der niedrigen Alkoholpreise, die sich seit Jahrzehnten unter der Inflationsrate entwickelt hatten und insofern immer weiter absanken, und der Flatrate- und Lifestyle-Werbung wieder zuge-nommen. Das Rauschtrinken von Alkohol verstärkte sich dadurch weiter. Nach Stolle et al. haben Jugendliche, die vor dem 15. Lebensjahr regelmäßig Alkohol konsumieren, gegen-über jungen Erwachsenen, die erst mit 20 Jahren regelmäßig Alkohol konsumieren, ein vier-fach höheres Risiko, alkoholabhängig zu werden (Grant, Stinson & Harford 2001, Dawson. Li & Grant 2008, Stolle et al. 2009, 326).

Der Drogen- und Suchtrat der Bundesregierung hatte es sich in seinem Arbeitsprogramm vom 6. März 2006 daher zum Ziel gesetzt, die Quote der regelmäßig Alkohol konsumieren-den 12- bis 17-jährigen Jugendlichen bis 2008 auf unter 18 Prozent zu senken. Nach der Drogenaffinitätsstudie 2008 war dies erfolgreich gelungen: Bei den 12- bis 17-Jährigen tran-ken 2008 17,4 Prozent regelmäßig Alkohol, 2004 waren es noch 21,2 Prozent (BZgA, DAS 2008). Der Trend zum exzessiven Trinken, das sog. „Binge Drinking“, ist dagegen weiterhin ungebrochen; dies sind der Anlass und die zentrale Thematik für dieses Buch.

Jugendliche, die sich häufig nach der Schule oder am Abend treffen, konsumieren regelmäs-siger Alkohol und berichten häufiger Alkoholrauscherfahrungen (HBSC 2006). Jugendliche, deren Eltern nicht wissen, wo (im „dritten Sozialraum“) ihre Kinder den Samstagabend ver-bringen, konsumieren mehr Alkohol (ESPAD 2007). Real- und Hauptschüler trinken häufiger regelmäßig Alkohol als Gymnasiasten (vgl. dagegen die DAK-Studie 2010!). Jungen und Mäd-chen, die ihre schulischen Leistungen als durchschnittlich und schlechter einschätzen, trin-ken ebenfalls regelmäßiger Alkohol (HBSC 2006). Aus der qualitativen Studie des Instituts für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen, „Einflussfaktoren, Motivation und Anreize zum Rauschtrinken bei Jugendlichen“, geht hervor, dass

(1.) Jugendliche überwiegend aus „Spaß“ trinken, aber es fänden sich auch
(2.) Hinweise auf Alkoholkonsum zur „Bewältigung von Stress und von Problemen“

(Stumpp et al. 2009).

Jugendliches Rauschtrinken finde vorwiegend zusammen mit Freunden bei gemeinsamen Treffen

- an privaten Orten, wie z. B. in der sog. „sturmfreien Bude“,
- im Partykeller,
- auf dem privaten Gartengrundstück oder
- auf öffentlichen Plätzen, wie z. B. Supermarktparkplätzen, Bushaltestellen, Busbahnhöfen, Plätzen vor Diskotheken und Jugendtreffs, Half-Pipes oder in Parks

statt (vgl. HBSC 2007).

Vor dem Besuch von Diskotheken und Lokalen findet häufig das typische sog. „Vorglühen“ statt, bei dem sich Jugendliche bereits mit Alkohol berauschen. In Diskotheken selbst prakti-zieren sie i. d. R. keinen exzessiven Alkoholkonsum. Nach dem Diskotheken-Besuch wird oft weitergetrunken. An all diesen kaum von Erwachsenen besetzten Orten können Jugendliche ungestört agieren und ihre Spielräume nutzen. Die Trinkzeiten seien dabei in der Peer group, in der das Rauschtrinken eine soziale Norm darstelle, häufig ritualisiert und relativ klar fest-gelegt. Bekannt sei

- das Wochenend-Besäufnis von Jugendlichen am Freitagabend oder Samstagabend,
- das Besäufnis nach Sportveranstaltungen und
- das Rauschtrinken anlässlich offizieller und besonderer Events (z. B. Geburtstage, Karne-val, Silvesterparty; vgl. Stumpp et al. a. a. O.).

In der Tübinger Studie wird eine 17-Jährige zitiert: „... da bin ich, glaube ich 14 geworden … da habe ich immer mehr getrunken, es war nicht mal eine halbe Wodkaflasche, dann habe ich angefangen zu kotzen, das war nicht mehr schön. Am nächsten Tag hatte ich solche Kopf-schmerzen, da habe ich mir geschworen, ich trinke nie mehr Alkohol“ (Stumpp et al. 2009, 20).

Ein extremes Beispiel, das 2007 häufig in den Medien berichtet wurde, war der Alkoholtod nach fünfwöchigem Koma des 16-jährigen Schülers Lukas W. Er hatte in einer Berliner Bar am 25.02.2007 bei einem durch den Wirt initiierten Wetttrinken innerhalb einer Stunde mehr als 40 Tequila (38 Vol.-% Alkohol) getrunken.

6,2% der 12- bis 17-Jährigen weisen riskante tägliche Konsummengen von Alkohol auf. Wie-tere 2,0% trinken täglich Alkoholmengen, die auch für Erwachsene gefährlich hoch sind (BZgA 2009). Im Zuge der Berichterstattung in den Medien über Alkoholexzesse Jugendlicher wurde das Trinken großer Alkoholmengen in der Bevölkerung vor allem als Problem der Ju-gend wahrgenommen, obwohl es zahlenmäßig vor allem Erwachsene betrifft. 2/3 der er-wachsenen Bevölkerung trinken aber keine großen Mengen Alkohol und „bingen“ auch nicht.

Der frühe Beginn des Alkoholkonsums, insbesondere des Rauschtrinkens, gilt als Risikofaktor für die spätere Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit. Je früher der Beginn, umso größer sind die Risiken und desto schlechter ist die Prognose für das Individuum (Tucker et al. 2003). Die Entwicklung des Trinkens zielt bei den Jugendlichen häufig darauf ab, mehr Kon-trolle über den Alkoholkonsum und das mit ihrer Lebenswelt zusammenhängende Verhal-ten zu erreichen, gleichzeitig aber auch eine Trinktoleranz zu entwickeln, um größere Men-gen vertragen zu können, ohne gleich mit extrem negativen Folgen konfrontiert zu sein.

Erlernte Trinkverhaltensweisen setzen sich häufig fort, unterstützt vom vorgelebten Verhal-ten Erwachsener. Dieses Konsumverhalten wird sehr stark von der Einstellung der Eltern, des Freundeskreises und des sozialen Umfeldes (Jugendgruppen, Sportvereine, Jugendzentren u. ä.) geprägt. Das Vorbild Erwachsener spielt ebenso eine gewichtige Rolle für das Trinkver-halten der Jugendlichen, wie der Wunsch, in Gleichaltrigengruppen dazuzugehören. Der Ein-fluß der Eltern ist i. d. R. sogar noch größer, als der Einfluß der Peer group, wie Untersu-chungen zeigen. Viele Jugendliche erwarten, wie gesagt, von ihren Eltern Orientierung, klare Regeln und Konsequenz. Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen lockeren Regeln im Elternhaus und exzessivem Trinkverhalten von Jugendlichen. Dies gilt besonders für die Aus-gangsregel und die Trinkregel, die jeweils durch die Erziehung im Elternhaus vermittelt wer-den müssen. So zeigt beispielsweise eine Längsschnittstudie aus Island, dass sich elterliches Erziehungsverhalten bei 14-jährigen Jugendlichen als einer der stärksten Prädiktoren für das Trinkmuster, das diese Jugendlichen später als 17-Jährige entwickelt haben, erwies (vgl. Jär-vinen & Room 2007, 165). Eine pädagogische Studie mit ähnlichem Ergebnis wurde in Ham-burg und Schleswig-Holstein durchgeführt, Anm. d. Verf. Kombinierte Eltern-, Kinder-, und Familientrainings, Elternerziehungsprogramme und Angebote der systemischen Familienbe-ratung können eine Hilfestellung sein, wenn Eltern bezüglich der Erziehung und Alkoholprä-vention Hilfe suchen. Diese Hilfen sind in Deutschland bisher aber nur vereinzelt gängige Pra-xis. Für manche Jugendliche ist Alkohol ein wichtiges Mittel bei der Freizeitgestaltung und bei der Kontaktaufnahme (vgl. zusammenfassend Weichold et al. 2008). Dies ist besonders dann der Fall, wenn Alkohol nur einseitig als reizvoll und positiv erlebt und ohne erkennbare Alternativen benutzt wird, z. B. wenn jugendspezifische lebensweltorientierte Angebote feh-len oder eine frustrierende soziale Umwelt gegeben ist und echte (berufliche) Perspektiven fehlen. Wenn Jungen und Mädchen eine attraktive Freizeitgestaltung geboten wird, kann diese von ihnen selbst als interessante Alternative zum exzessiven Trinken wahrgenommen werden. Allerdings sind freizeitpädagogische Aktionen noch zu selten evaluiert worden. Es fehlt noch an pädagogischer Ergebnisforschung, welche die Bestimmung von Evidenzstär-ken auf höherem Evidenzniveau erst ermöglicht. Ausnahmen sind z. B. das Frühinterventi-ons- und Elternerziehungsprogramm „Triple-P“ oder bestimmte Projekte in der Out-door-Pä-dagogik.

Der übermäßige und wiederholte Konsum wird auch als Alkoholabusus oder Alkoholmiss-brauch (Alkoholkonsum mit nachweislich schädlicher Wirkung) bezeichnet und deutet auf ernste Probleme hin. Je früher der Alkohol eine Bedeutung im Sinne kurzfristiger Scheinlö-sungen für Konflikte gewinnt, desto größer ist die Gefahr von Missbrauch und Abhängigkeit. Schauen wir uns die entwicklungspsychologische Ebene an. Jugendliche werden bei über-mäßigem Alkoholkonsum in ihren Entwicklungsaufgaben behindert. Entwicklungsaufgaben im Jugendalter sind u. a. die Entwicklung intellektueller und sozialer Kompetenzen, das Erler-nen von Normen und Werten, die Identitätsfindung, die Partnersuche, schulische und beruf-liche Bildung (Erikson 1976, Keupp 1999 und 2002, Fend 2003). Die Pubertät ist allgemein eine schwierige Zeit der Identitätsfindung. Alkohol erschwert die Entwicklung einer stabilen Persönlichkeit. Besonders gefährdet seien Jugendliche, die unter schweren Belastungen und Traumastörungen leiden, z. B. Unsicherheit, Versagensangst, Einsamkeit, extreme Lebenser-fahrungen wie (sexuelle) Missbrauchs- und Gewalterlebnisse usw. (Stimmer & Müller-Teus-ler 1999). Jugendliche verhalten sich ohnehin riskant und erleben noch zu wenig die negati-ven gesundheitlichen und sozialen Folgen ihres süchtigen Verhaltens. Jugendliche zeigen eine hohe Risikobereitschaft, nicht nur beim Trinken von Alkohol - auch das ist jugend-typisch. Andere dissoziale Aktivitäten bei randständigen Jugendlichen sind beispielsweise Diebstähle, Prügeleien, Vandalismus (McClellan & Teplin 2001) und körperliche Gewalt, ex-treme „Mutproben“, politischer Radikalismus, Rassismus. Dahinter verbergen sich oft Ängs-te, Minderwertigkeitsgefühle, „Wut im Bauch“, Suche nach Anerkennung und Teilhabe, der Wunsch nach Zuwendung, die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, usw. Dörner hat einmal sinngemäß gesagt, der Mensch lebe vom ersten bis zum letzten Atemzug mit der Liebe und leide darunter. Dieses Leiden an der Liebe manifestiert sich im Ausprobieren von Beziehungen und besonders an den bekannten Wendepunkten der Reifung eines Menschen, z. B. in der Pubertät und in der Adoleszenz, an denen die Suche nach einer befriedigenden Identität eine zentrale Bedeutung für Jugendliche erlangt (zu Genderfragen vgl. Fillmore et al. 1991, Leifman 2002, Mäkelä et al. 2005, Gildemeister & Robert 2008). Die Peer group wird häufig zur Bühne der Selbstinszenierung (Keupp 1999) und hat (als „Ersatzfamilie“) mitunter vorübergehend mehr Anerkennung zu bieten, als die Familie. Unterschiedliche Motive und Wirkerwartungen werden von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit dem Rauschtrinken verknüpft (Kraus et al. 2008, Stolle et al. 2009). Alkoholexzesse können, wenn es keine „Spassgründe“ dafür gibt, Signale für die sich verbergende innere Not mancher randständiger Jugendlichen sein. Das betrifft besonders die durch ihre familiäre Sozialisation und psychische und psychiatrische Störungen vorgeschädigten Jugendlichen. Jugendliche reagieren besonders stark gegenüber den positiven Wirkungen von Alkohol, die in der Enthemmung und Erleichterung soziale Kontakte liegen (verminderte Sensitivität für Alkohol-Folgestörungen, Schuckit 1994, Schuckit et al. 2001, Spear & Varlinskaya 2006). Auch hohe Stresssensitivität scheint die Entwicklung von Alkoholstörungen zu begünstigen (Finn & Pihl 1987, Schuckit et al. 2001).

5. Eine Risikodiskussion

Um es noch einmal zu betonen: Es geht weder um eine Dramatisierung, noch um eine Baga-tellisierung von Alkoholproblemen, sondern um eine sachliche Information und Diskussion über die Risiken des Alkoholkonsums. Deutschland liegt im europäischen Vergleich mit 9,9 Litern reinen Alkohol pro Kopf der Bevölkerung und Jahr (Zahl von 2008, das entspricht 145 Litern Bier pro Jahr: DHS 2009) mit an der Spitze im Pro-Kopf-Verbrauch von Alkohol. Der nichtregistrierte Konsum wird für Deutschland 2003 auf 1 Liter pro Kopf der Bevölkerung geschätzt ((Gaertner et al. 2010, 29). Hoch- und Niedrigkonsumländer in Europa nähern sich im Alkoholkonsum an. Alkohol kann rund um die Uhr erworben werden. Der Alkoholkonsum geht, wie gesagt, im langjährigen Trend leicht zurück, und die Abstinenzrate nimmt zu. Aber durch häufigeres Rauschtrinken nehmen Gesundheitsrisiken zu (Anderson 2007). Es gibt in Deutschland zzt. ca. 1,7 Mio. Alkoholabhängige und mindestens ebenso viele Menschen, die einen regelmäßigen Missbrauch von Alkohol praktizieren. „Best Practice “-Präventionsstra-tegien sind in Deutschland bisher nur ansatzweise, am besten noch im Straßenverkehr umgesetzt.

5.1. Risikogruppen von Kindern und Jugendlichen für Alkoholmissbrauch

Die Suchtforschung identifiziert folgende Risikogruppen, in denen Jugendliche und junge Er-wachsene besonders häufig eine Alkoholabhängigkeit entwickeln:

- Jugendliche, die in Risikofamilien aufwachsen (Stichworte: Alkohol-/Drogenmissbrauch, Disharmonie, Strukturmangel, Migrationshintergrund),
- Jugendliche, die vorübergehend Mitglied einer ungünstigen Peer group sind (Stichworte: Konformitätsdruck, Statushandlung, „cool sein“),
- Menschen mit psychiatrischen Auffälligkeiten (Stichworte: ADHS, Störung des Sozialverhaltens, Traumastörungen, usw.) und geringer Selbstwirksamkeitserwartung,
- Menschen mit einer beruflichen Tätigkeit, die leichten Zugang zu alkoholischen Getränken bietet.

Aus der Forschung ist weiter bekannt, dass folgende Vulnerabilitätsfaktoren* bei Jugendli-chen und jungen Erwachsenen die Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit häufig begünsti-gen:

- ungünstige Temperamentsmerkmale (leichte Irritierbarkeit, Impulsivität und Stimulati-onssuche),
- verminderte Fähigkeit zum Gratifikationsaufschub,
- Defizite in den sozial adaptiven Fähigkeiten,
- das Bedürfnis nach der entspannenden Wirkung des Alkohols.

*) „Vulnerabilität (lat. vu.lnus, vu.lneris Wunde, Verletzung) für: Verletzbarkeit; (psychologische) Bezeichnung für die durch genetische, organische, biochemische, psychische und soziale Faktoren bedingte individuelle Disposition, auf Belastungen überdurchschnittlich stark mit Spannung, Angst, Verwirrung bis hin zu psycho-tischer Dekompensationen zu reagieren“ (Pschyrembel 1999).

Besonders gefährdet sind Kinder von alkoholkranken Eltern (KVA) - das Risiko ist etwa sechsfach höher, als bei Kindern gesunder Eltern (Klein 2008). Kinder von Alkoholikern (KVA) spüren weniger die Alkoholwirkung und trinken daher tendenziell mehr Alkohol.

In einer Vielzahl von Studien (z. B. Cotton 1979, McKenna & Pickens 1981, Hesselbrock et al. 1982, Zobel et al. 1994) wurde nachgewiesen, dass Alkoholabhängige überzufällig oft aus Familien stammen, in denen bereits ein Elternteil oder beide abhängig waren. Auch die Er-fahrungen der Dietrich Bonhoeffer Klinik aus 30 Jahren stationärer Behandlung von jungen Patient/innen mit substanzbezogenen Störungen in bestätigen dies eindrücklich.

Kinder von Alkoholikern (KVA), und zwar insbesondere Söhne, müssen als Risikogruppe für die Entwicklung von Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit angesehen werden. In verschie-denen Untersuchungen zeigte sich, dass Söhne von Alkoholabhängigen als junge Erwachsene auf Alkohol anders reagieren, als Vergleichspersonen. Im Einzelnen ergab sich, dass sie frü-her Alkohol zu trinken beginnen, dass sie einerseits die berauschenden Effekte des Alkohols erst bei einer höheren Konzentration von Alkohol im Körper wahrnehmen - also mehr trin-ken müssen, um den gleichen berauschenden Effekt zu spüren, wie Vergleichspersonen. Sie reagieren weniger mit Gleichgewichtsstörungen, werden schneller alkoholabhängig (Schmidt, LG 2009, 473). Die später einsetzenden unangenehmen Effekte nehmen sie eben-falls in geringerem Maße wahr (Klein & Zobel 1997). Es fehlt offenbar ein natürliches Warn-zeichen. Die Ursache liegt wohl im Bereich der serotonergen Neurotransmission (Heinz & Beck 2009). Zu den von Kindern von Alkoholikern selbst am häufigsten berichteten Erfah-rungen gehört die der Unberechenbarkeit des elterlichen Verhaltens (s. z. B. Cork 1969). Diese bezieht sich verstärkt auf den Alkohol trinkenden, aber auch auf den jeweils anderen (meist als co-abhängig bezeichneten) Elternteil. Ankündigungen, Versprechungen, Vorsätze, usw. werden oft nicht eingehalten, aber auch uneindeutiges Belohnungs- und Bestrafungs-verhalten herrscht vor. Suchtkranke Eltern können die kindlichen Bedürfnisse nach Liebe, Wärme, Nähe und Zuneigung, nach Anerkennung usw. nicht oder nur unzuverlässig erfüllen. Winnicott hat dies treffend sinngemäß in dem Bild beschrieben, wenn das Kind nie den "Glanz im Auge der Mutter" gesehen habe, werde es später anfällig für eine Suchtentwick-lung sein. Zu den Töchtern von Alkoholikern vgl. Eng et al. 2005. Diese ca. 2,65 Millionen deutschen Kinder und Jugendlichen brauchen besonderen Schutz (Klein 2008 a und b, vgl. UN 1989!). Die amerikanische Psycho-biologieprofessorin Shirley Y. Hill formulierte in Bezug auf die Risikogruppe der Kinder aus Suchtfamilien die Forderung nach radikaler Aufklärung mit den Worten "You have to know your risks". Aufklärung ist auch für andere Risikogruppen wichtig. Weitere Risikogruppen für Alkoholabhängigkeit sind

- Jugendliche , die früh psychosozialen Stressoren ausgesetzt waren. Diese setzen infolge einer verminderten Affekt- und Impulskontrolle Alkohol zur Stressdämpfung ein (Kessler et al. 1996, Windle & Windle 1997);
- Jugendliche, die als Kinder eine ADHS-Störung in Kombination mit einer Verhaltensstö-rung entwickelt haben (Wlens et al. 1997) und
- Jugendliche, die ein ängstliches Verhalten und Depressivität aufweisen. Hier können ex-treme Traumatisierungen, wie Verwahrlosung, Gewalt oder Missbrauch, vorangegangen sein (Sher et al. 1997, Brook et al. 1998, Wittchen et al. 1998, Armstrong & Costello 2002, Rummel 2010, 203).

Zudem ist zu berücksichtigen, dass bei der Entwicklung der Alkoholabhängigkeit verschiede-ne Faktoren interagieren (vgl. Abb. 14).

Die wichtigsten Faktoren für die Entwicklung der Alkoholabhängigkeit sind:

- genetische Faktoren,
- die Eigenwirkung des Alkohols im Körper und
- psychosoziale Einflüsse (z. B. widrige familiäre Umstände, Scheitern von Entwicklungsauf-gaben im Jugendalter).

Jugendliche, die große Mengen Alkohol auf einmal konsumieren, müssen Hemmungen in der Entwicklung ihres Gehirns in Kauf nehmen. Dieses wichtige Organ wird durch Alkohol am stärksten gefährdet. Das Gehirn übernimmt etwa bis zum 17. Lebensjahr seine Funktionen und entwickelt sich noch bis über das 21. Lebensjahr hinaus, z. B. die Region des präfronta-len Kortex mit dem (glutamatergen) Hemmungssystem. Das Gehirn von Kindern und alten Menschen sei wesentlich anfälliger gegenüber der akuten Alkoholwirkung, als jenes von er-wachsenen Menschen mittleren Alters. Insbesondere Hirnregionen, die an Lernprozessen beteiligt sind, werden durch Alkoholkonsum geschädigt (De Bellis et al. 2000). „Die Gehirn-strukturen, die für das Lernen zuständig sind, sind zehn Prozent kleiner als bei nicht trinken-den Jugendlichen“, sagt Dr. Martin Beutel, leitender Arzt der Kraichtal-Kliniken. Es gebe fast kein Organsystem, das nicht durch Alkoholmissbrauch geschädigt werden könne. Organisch seien Jugendliche anfälliger für Alkoholschäden, als Erwachsene. Makroskopisch zeigt sich ei-ne alkoholbedingte Nervenzellschädigung als Hirnatrophie. Aufgrund des wissenschaftlichen Kenntnisstandes empfahl das Wissenschaftliche Kuratorium der DHS 2003 folgende Regeln (für Erwachsene) für den Umgang mit alkoholischen Getränken:

1. Die risikoarme Schwellendosis im Umgang mit Alkohol beim gesunden Menschen ohne zusätzliches genetisches oder erworbenes Risiko liegt beim Mann bei 24g Alkohol pro Tag und bei der Frau bei 12g Alkohol pro Tag. Dies entspricht etwa 0,5 bis 0,6 Liter Bier oder 0,25 bis 0,3 Liter Wein mit einem durchschnittlichen Alkoholgehalt, für Frauen die Hälfte.
2. Auch bei dieser Alkoholdosis sollten mindestens 2 alkoholfreie Tage pro Woche eingehal-ten werden (Kornhuber 2001). Diese Grenzwerte sind erneut weiter nach unten korrigiert worden (Burger et al. 2004, DHS 2010, in: www.dhs.de/, aufgerufen 31.07.2010).

Achtung: Bei der Angabe derartiger Grenzwerte ist zu bedenken, dass diese im Laufe der Jahre auf Grund neuer Forschungsergebnisse immer weiter nach unten korrigiert werden mussten! Außerdem lassen sich diese Grenzwerte auf Kinder und Jugendliche nicht anwenden. Kinder sollten gar keinen Alkohol trinken und Jugendliche sollten Alkohol weitgehend vermeiden, um Störungen in ihrer Entwicklung zu verhindern (Harm reduction-Ansatz: Seitz, Bühringer & Mann 2008). Jugendliche sind für Langzeitschädigungen des Gehirns anfälliger als Erwachsende (IAS 2009 b). Jugendliche sollten daher Alkohol weitgehend meiden, um einen negativen alkohol-assoziierten Effekt auf das noch in der körperlichen, psychischen und sozialen Entwicklung befindliche Individuum zu verhindern (DHS 2008a).

5.2. Risikofaktoren für Alkoholmissbrauch im Kindes- und Jugendalter

Seit der Jahrtausendwende nehmen Alkoholvergiftungen bei Kindern und Jugendlichen zu. Das Trinkverhalten einer nur kleinen Hochrisikogruppe ist als problematisch zu betrachten. Der Erstkonsum von Alkohol verlagert sich zunehmend von einem familiären („erster Sozial-raum“) in einen außerfamiliären Kontext („dritter Sozialraum“)(DHS 2009a).

Erleichtert wird der Alkoholkonsum von Kindern und Jugendlichen durch

- extrem niedrige Alkoholpreise in Verbindung mit einem Anstieg des verfügbaren Einkom-mens der Eltern,
- eine größere verfügbare Taschengeldmenge (Erschwinglichkeit, vgl. Lintonen et al. 2000),
- eine auf (leicht beeinflussbare) Kinder und Jugendliche zielende Imagewerbung,
- die hohe Verfügbarkeit von Alkohol durch die hohe Dichte der Verkaufsstellen und
- lange Ladenöffnungszeiten in Deutschland.

Folgende Risikofaktoren für das „Binge drinking“ sind zu beachten:

- Genetische Belastung und Gen-Umwelt-Interaktion,
- Besonders niedrige Alkoholpreise („Affordability“) bei gleichzeitig größerer Menge an verfügbarem (Taschen-)Geld,
- Großer Einfluss der Alkohol-Imagewerbung,
- Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten (2003 und 2006),
- Hohe Dichte der Verkaufsstellen („Availability“),
- (unbehandelte) Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS),
- Störung des Sozialverhaltens,
- Andere komorbide psychische und psychiatrische Störungen,
- Eltern mit riskanten Alkohol-/Drogenkonsummustern,
- Inkonsistenter, nicht eingreifender („laissez-faire“-) Erziehungsstil der Eltern, keine oder inkonsistente erzieherische Begleitung des Abschnittes Jugend,
- Fehlende Orientierung, fehlende Vorbilder und fehlende Konsumregeln,
- Exzessiv Alkohol konsumierende Peers,
- Schwierige Lebensumstände des Jugendlichen, Trinken als Bewältigungsstrategie,
- Niedriger sozioökonomischer Status,
- Psychische, soziale und leistungsmäßige Überforderung des Jugendlichen,
- Starke Impulsivität („sensation seeking“),
- Übersteigerte Neugier („novelty seeking“),
- Kultur des Wegsehens mit Bagatellisierung der Alkoholproblematik

(vgl. Sullivan & Farrell 2002).

Risiken des Missbrauchs von Alkohol sind:

- Unerfahrenheit des Jugendlichen im Umgang mit Alkohol,
- Alkoholbedingte Unfälle,
- Alkoholbedingte Gewalt (Leplow 2004),
- Alkoholbedingter ungeschützter Geschlechtsverkehr (La Brie et al. 2005, ESPAD 2007),
- Chronifizierung des Alkoholmissbrauchs, Alkoholabhängigkeit,
- Erfrieren oder Ertrinken nach exzessivem Alkoholmissbrauch, Ersticken an Erbrochenem,
- Suizid(-versuche) nach exzessivem Alkoholmissbrauch,
- Verlieren des Bewusstseins bei hoher Alkoholintoxikation (bei unerfahrenen Kindern/Ju-gendlichen bereits ab 1,5 Promille),
- Alkoholtod durch Atemlähmung.

Die Leber von Kindern kann Alkohol nur bedingt abbauen. Geringe Mengen, z. B. 2 Eßlöffel Spirituosen können bei Kleinkindern schwere Vergiftungen hervorrufen. 0,5 Promille Alkohol im Blut kann als Intoxikation bei jüngeren Kindern zur Bewusstlosigkeit führen. Kleinkinder versinken dann oft schlagartig vom wachen Zustand in eine tiefe Bewusstlosigkeit - ein Fall für den Notarzt. Bei über 3 Promille Blutalkoholgehalt beginnt (bei Erwachsenen!) die schwe-re akute Alkoholvergiftung, die im schlimmsten Fall zum Tod durch Atemstillstand führen kann. Für ein Kind kann daher ½ Flasche Cognac tödlich sein. Die Leber kann sich über die Fettleber und die Zirrhose umbilden. Dadurch wird weniger Alkohol abgebaut, die Ammoni-akkonzentration steigt. Dies kann zum ZNS-Zelltod führen.

2006 war jeder 25. Jugendliche mindestens fünfmal in eine Gewaltsituation als Opfer oder Täter verwickelt (Zentrale Geschäftsstelle Polizeilicher Kriminalprävention 2007). Auch Gewalt in der Öffentlichkeit spielt eine Rolle. Wenn der Konsum von Alkohol und Drogen zu Gewalt führt, müssen Täter zur Verantwortung gezogen werden und die Konsequenzen tragen. Eine Täterarbeit, etwa im Antigewalttraining, ist sinnvoll und wird auch in vielen Schulen, Jugendhaftanstalten und z. B. in der Dietrich Bonhoeffer Klinik umgesetzt . Sie ist jedoch kein Ersatz für elterliche Fürsorge und Erziehung oder ggf. für staatliche Sanktionen. Die Opfer von Gewalt brauchen bestmögliche und proaktive Unterstützung.

5.3. Funktionen des Alkoholkonsums im Kindes- und Jugendalter

In der Forschung werden grob zwei divergierende Motivationsstränge zum „Binge drinking“ unterschieden (Stumpp et al. 2009, vgl. die Übersichtsarbeit von Stolle et al. 2009, 325):

- eine Gruppe von Jugendlichen konsumiert eher in Erwartung von Spass, Sensation und vereinfachten Sozialkontakten,
- eine andere Gruppe von Jugendlichen konsumiert zur Spannungsreduktion, zur Stressbe-wältigung und zur Regulierung negativer Affekte.

Als gewisser Mangel im monozentrischen pädagogischen Forschungsdesign der Tübinger Studie kann gesehen werden, dass bei den Probanden keine weitergehende psychische und psychiatrische Differentialdiagnostik zur Abklärung gesundheitlicher Gründe für das Rausch-trinken durchgeführt wurde.

Funktionen des Alkoholkonsums können sein:

- Ermöglichung sozialer und psychosexueller Kontakte und Gruppenerlebnisse,
- Abbau von Hemmungen,
- Einsatz von Alkohol als Belohner,
- Milderung von Stress, Dämpfung der emotionalen Erregungszustände,
- Ausprobieren subkultureller Lebensstile,
- Vermeintliche Bewältigung von Entwicklungsaufgaben,
- Kompensation oder Verdrängung von Entwicklungsproblemen,
- Demonstration von Trinkfestigkeit als „Initiationsritus“ und Statussymbol,
- Erleben des Rausches als Grenzüberschreitung,
- Ausbruch aus einem reglementierenden Schul- und Ausbildungsalltag,
- Binge Drinking als Antwort auf unerfüllte jugendliche Sehnsüchte.

Weitere Aspekte des Rauschtrinkens bei Jugendlichen sind:

- Lust am Rausch und an Grenzerfahrungen,
- Naivität und Unwissenheit im Umgang mit Alkohol,
- Langeweile,
- Neue Qualität des Rauschtrinkens,
- Neue Freizeittrends und “Trinkmoden“,
- Konsum aus der Flasche,
- Zeitlich vorverlagerte und aus der Familie in den öffentlichen Raum verschobene Probier-phase (Uhl et al. 2008),
- Verkürzung des Schonraumes Kindheit,
- Trinkspiele und Wetttrinken,
- Veränderte Erziehungsstile,
- Geringere soziale Kontrolle,
- Größere Griffnähe des Alkohols.

Jugendliche überschätzen die Verbreitung von Alkoholerfahrungen unter Gleichaltrigen oft stark. Viele Jugendliche erleben Sinnverlust, depressive Verstimmungen und psychische Überlastung und zeigen Tendenzen, einer aktiven Problemlösung auszuweichen. Dies kann zu vermehrtem Alkoholkonsum führen.

„Prozesse sozialer Interaktion in Peer-Kontexten rücken damit genauso in den Mittelpunkt wie jugendkulturelle Selbstinszenierungen und sozialräumliche Aneignungsprozesse“ (Stumpp et al. 2009, 7). Jugendliche kommunizieren und leben in anderen Netzwerkstruktu-ren, als Erwachsene. Die „Kulturdroge Alkohol“ wird als Genussmittel und geselligkeitsför-derndes Medium bei der Freizeitgestaltung und der Kontaktaufnahme in Gruppen Gleichal-triger eingesetzt. Die Gleichaltrigengruppe gibt Zusammenhalt. Das kann u. a. im gemeinsa-men Alkoholmissbrauch symbolisiert werden. Die Abgrenzung von der Erwachsenenwelt ge-schieht in der Hinwendung zu bestimmten Gruppennormen in Jugendlichen-Cliquen. Das ist zunächst zeitlos jugendtypisch. Mit dem Alkoholkonsum wird andererseits auch der spätere Erwachsenen-Status vorweggenommen: Wenigstens zum Schein können Jugendliche sich wie Erwachsene fühlen, mit dem „Recht, sich zu betrinken“. Unter der Genderperspektive stellt sich das Phänomen „Binge drinking“ differenziert dar: Renommierkonsum wird beson-ders von männlichen Jugendlichen betrieben (Guilamo-Ramos et al. 2005). Sie können geschlechtliche Identitätsprobleme scheinbar bewältigen. Alkohol dient dabei als Gefühls- und Spannungsregulativ und als Enthemmungsmittel und löst zeitweise Ängste und Unsi-cherheit auf. Mädchen trinken oft in gemischten Gleichaltrigengruppen mit und unterwer-fen sich so der Gruppentrinknorm, um dazuzugehören und von den männlichen Mitgliedern der Gruppe anerkannt zu werden. Sie greifen als suchtkranke Mädchen zusätzlich oder alter-nativ zu Medikamenten oder entwickeln z. T. Essstörungen oder zeigen aufgrund früher Stö-rungen selbstverletzendes Verhalten. Neu ist aber seit einigen Jahren, dass auch reine Mäd-chencliquen das Rauschtrinken praktizieren. Im lebenswelt-orientierten Ansatz der Präven-tion versucht man, die Jugendlichen in ihren Lebensvollzügen vor Ort zu verstehen und zu begleiten. Die Genderperspektive ist in der Erziehung und Prävention immer zu berücksich-tigen.

Alkoholkonsum ist seit Jahrtausenden Teil unserer Alltagskultur. Alkoholkonsum wird heute aber beliebig und selbstverständlich betrieben und hat keine kulturelle Sonderrolle mehr. Das nehmen Kinder und Jugendliche wahr und nutzen diesen Freiraum für sich (Tabubruch). „… besonders im Jugendalter sind die Entwicklungen von Identität und Kohärenzgefühl aufs Engste miteinander verknüpft, und werden sehr häufig über jugendkulturelle Ausdrucks-formen hergestellt. Auch objektiv gesundheitsgefährdende Verhaltensmuster werden dabei von vielen Jugendlichen durchaus als Stärkung des Kohärenzgefühls erlebt“ (Stumpp et al. 2009, 9, vgl. Keupp 2002).

Eltern sollten darauf achten, dass Kinder generell keinen Alkohol trinken. Sie sollten sich um ihr Vorbildsein bemühen, mit ihren Kindern darüber sprechen und darauf hinwirken, dass diese als Jugendliche so spät wie möglich mit dem Alkoholtrinken beginnen und dabei so we-nig wie möglich Alkohol trinken (Harm reduction-Ansatz). Durch Eltern vermittelte „Initia-tionsriten“ wirken, z. B. die rituelle Trinkerlaubnis für etwas Alkohol anlässlich der Konfirma-tion. Rituale dienen normalerweise der Verhinderung exzessiven Trinkens durch soziale Kon-trolle. Die soziale Kontrolle ist heute jedoch wegen der vermehrten Toleranz der Gesellschaft gegenüber dem exzessiven Trinken gestört (dies sagt der etwas unglücklich gewählte Begriff „permissiv-funktionsgestörte Kultur“ aus). Elterlicher Substanzmissbrauch sowie Normen-bildungen Gleichaltriger, auch mangelnde mütterliche Fürsorge in der frühen Kindheit, gel-ten als prägend für den Trinkstil heranwachsender Jugendlicher (Berman & Noble 1993, Sø-rensen et al. 2006). Alkoholkonsum spricht elementare Bedürfnisse und Wünsche an. Loka-le Verfügbarkeit von alkoholischen Getränken und Preisgestaltung sowie die direkte und vor allem indirekte Alkoholwerbung spielen dabei eine wesentliche Rolle (Anderson & Baumbach 2006). Konsummuster, die sich in der Kindheit und Jugend ausprägen, verfestigen sich im Erwachsenenalter, wenngleich die besonders exzessiven Konsummuster häufig im weiteren Entwicklungsverlauf abnehmen („maturing out“, Maggs & Schulenburg 2006). Dennoch sind diejenigen, die schon früh exzessiv Alkohol missbraucht haben, vorgeschädigt und haben daher häufig eine schlechte Prognose. Und Jugendliche sind besonders gefährdet, weil sie sich leichter von der Lifestyle- und Imagewerbung ansprechen lassen und ein beson-ders ausgeprägtes Risikoverhalten zeigen.

Bei Schwierigkeiten in der Erziehung sollte professionelle Hilfe eingeschaltet und der Kon-takt zur Schule gesucht werden.

5.4. Alkoholabhängigkeit

Die Alkoholabhängigkeit wurde 1968 von der als Krank-heit anerkannt. Allgemein definiert die WHO den einmaligen bis ständigen Konsum ohne medizinische Notwendigkeit bzw. in einer übermäßigen Dosierung als Missbrauch einer Dro-ge. Missbrauch liegt auch vor bei Konsum in unpassenden Situationen, z. B. im Straßenver-kehr oder in der Schwangerschaft. Alkoholismus ist im Sinne der Reichsversicherungsord-nung (RVO) juristisch als Krankheit anerkannt. Kriterien des für die Krankheit sind das Nicht-aufhören-können und der Verlust der Selbstkontrolle. Daher haben Betroffene ein Recht auf Behandlung. Das urteilte 1980, dass die Alkoholabhängigkeit keine selbst verschuldete Krankheit sei. Das Gesetz zum Schutze der Ju-gend in der Öffentlichkeit verbietet den Verkauf und die Abgabe alkoholischer Getränke an Jugendliche unter 16 Jahren bzw. unter 18 Jahren.

Die weltweite alkoholbedingte Krankheitsbelastung wird mit der Maßeinheit DALY gemessen („Disability Adjusted Life Years“, Global Burden of Disease Study der WHO: Rehm et al. 2003a, 2003b, 2004 und 2005). DALYs sind behinde-rungsadjustierte Lebensjahre. Es geht um die durchschnittlich durch Alkoholmissbrauch di-rekt und indirekt verlorenen Lebensjahre. Ein Jahr ohne Lebensqualität wird hier mit eins ge-wichtet, während ein Jahr mit optimaler Lebensqualität nicht zählt. Die Maßeinheit QUALY (qualitätsadjustierte Lebensjahre) zählt dagegen ein Jahr mit optimaler Lebensqualität voll, ein Jahr mit mittlerer Lebensqualität halb und ein Jahr ohne Lebensqualität gar nicht. Die Summe aus DALYs und QUALYs entspricht der Zahl der Lebensjahre. Männer sind viel häufi-ger als Frauen von alkoholassoziierten Krankheitsbelastungen betroffen. Nach Caetano und Babor ist bei Jugendlichen eine Trennung von Alkoholmissbrauch- und -abhängigkeit gar nicht exakt möglich (Caetano & Babor 2006, 111ff.), so dass weiterer Forschungsbedarf be-steht. Eine Alkoholabhängigkeit liegt dann vor, wenn mindestens drei der sechs Kriterien gemäß ICD-10 (WHO 2000a, s. u. Tabelle 5) erfüllt sind. Es ist zu beachten, dass bei Jugendli-chen bereits ein Behandlungsbedarf besteht, wenn neben dem Alkoholmissbrauch psychi-sche, psychiatrische oder soziale/dissoziale Störungen vorliegen. Denn sie müssen nicht erst das Vollbild der Alkoholkrankheit entwickelt haben, um ernsthafte Entwicklungsstörungen i. V. m. Alkoholmissbrauch aufzuweisen. Dabei unterscheidet sich die juvenile (jugendliche) Alkoholabhängigkeit mit schweren Intoxikationen und initialer Toleranz von der Alkoholab-hängigkeit Erwachsener mit ihren typischen Entzugserscheinungen und klassischer Toleranz-entwicklung (Caetano & Babor 2006).

Auch mildere Formen der Gewöhnung oder Abhängigkeit sind mit einem erhöhten Grad al-koholbezogener Probleme verbunden. Vereinfachend lassen sich die Entstehungsbedingun-gen der Alkoholkrankheit durch das bekannte Dreiecksschema („Trias“) darstellen:

Abbildung 14: Entstehungsbedingungen der Alkoholkrankheit

Alkohol

Individuum Umgebung

Quelle: DHS 2003

Das von Elvin Morton Jellinek bereits 1951 konzipierte bio-psycho-soziale Modell der Alko-holkrankheit mit genereller Progression ist in empirischen Studien meist bestätigt worden.

Jugendliche, die alkoholkrank werden, erreichen in der Regel noch nicht die letzte chroni-sche Phase der Alkoholabhängigkeit. Diese Progression der Störung geschieht eher im Er-wachsenenalter. Deshalb kann bereits ein auffälliges Trinkverhalten über einen längeren Zeitraum ein Indiz für dahinterliegende ernste Probleme sein.

Abbildung 15: Phasenmodell der Alkoholabhängigkeit

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Jellinek 1958 (modifiziert)

Ob ein Mensch überhaupt alkoholkrank wird, bzw. wie lange er braucht, um alkoholkrank zu werden und wie lange dann die einzelnen Phasen der Alkoholabhängigkeit dauern, hängt von den körperlichen und psychischen Eigenschaften des Menschen und von seiner Umwelt ab. Jedoch kann das Vollbild einer Alkoholabhängigkeit umso früher entstehen, je früher der Einstieg in den regelmäßigen exzessiven Alkoholkonsum stattfindet. Das Fatale an der Pro-gression der Alkoholkrankheit ist, dass sie schleichend stattfindet und dass man meist zu spät merkt, wann jemand alkoholabhängig geworden ist. Manchmal merken es die Eltern als Letzte, dass ihr Kind einen kritischen Alkoholmissbrauch betreibt, zumal Binge drinking heute meist außerhalb des Elternhauses stattfindet.

Eltern fragen oft nach Zeichen, die auf ein Alkoholproblem hinweisen können. Dies sind u. a.:

- Alkoholgeruch,
- Gerötete Bindehaut der Augen,
- aufgedunsenes, oft gerötetes, aber auch fahles Gesicht,
- Typische Hautveränderungen und Nägelveränderungen,
- Zittern der Hände (Tremor),
- Erhöhte Schweißneigung (feuchte Hände),
- Gangunsicherheit (etwas breitbeinig, tapsig gehen),
- Magen-Darm-Störungen,
- Morgendlicher Brechreiz,
- Erhöhte Reizbarkeit,
- verminderte Impulskontrolle und Stresstoleranz,
- Schlafstörungen,
- Konzentrationsmangel, Vergesslichkeit,
- Leistungseinbußen.

Für die psychische Gesundheit ist die Beziehungsqualität in der Eltern-Kind-Beziehung als Umweltfaktor von hervorragender Bedeutung! So wurde berichtet, dass mangelnde mütter-liche Fürsorge in der frühen Kindheit tatsächlich mit späteren Alkoholproblemen assoziiert ist (Sørensen et al. 2006). Es ist aber wichtig, dass Eltern, die sich über das Verhalten ihres Kindes Sorgen machen, nicht in Panik bzw. dem Kind gegenüber in Drohgebärden verfallen. Vielmehr sollten sie sich zunächst über die Risiken informieren und dann konsequent, ge-meinsam mit dem Jugendlichen, geeignete Hilfen suchen. Außerdem reduzieren sehr viele (eher psychisch „robuste“) Jugendliche, die eine Zeit lang einen kritischen Alkoholmiss-brauch praktizieren, als Erwachsene wieder ihren Alkoholkonsum, auch ohne ernste Folge-störungen zu erleiden oder alkoholabhängig zu werden. Exzessive Konsummuster werden eingestellt, funktionale soziale Erwachsenenrollen werden übernommen („maturing out“: Stolle et al. 2009).

Sehr gute Protektivfaktoren sind für den Jugendlichen vorhanden, wenn

- die Beziehung zwischen Eltern und Kind eine gute Qualität hat und von gegenseitigem Vertrauen geprägt ist,
- der Jugendliche insgesamt gesund aufwächst und in seinen psychischen und körperlichen Eigenschaften robust ist,
- der Jugendliche gelernt hat, Grenzen zu akzeptieren und sich in einem sozial gesunden Umfeld zu bewegen,
- der Jugendliche bereits eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung entwickeln konnte und
- der Jugendliche in der Schule (Wells et al. 2007, Cox et al. 2007) bzw. in der Berufsausbil-dung erfolgreich ist.

Falls mehrere dieser Protektivfaktoren bei dem/der Jugendlichen wirksam sind, ist es recht unwahrscheinlich, dass er/sie ein Alkoholproblem entwickeln wird.

Im ICD-10 wird zwischen dem schädlichen Alkoholgebrauch (ICD-10: F10.1) und der Alkohol-abhängigkeit (ICD-10: F10.0) unterschieden. Die toxische Wirkung durch Alkohol kann außer-dem mit den Ziffern ICD-10: T51.0, T51.1, T51.2, T51.3, T51.8 und T51.9 differenziert kodiert werden. Eine Diagnose „Abhängigkeit“ wird nur gestellt, wenn irgendwann während des letzten Jahres drei oder mehr der sechs Kriterien (s. u.) gleichzeitig erfüllt waren. Es ist je-doch einschränkend zu sagen, dass die Diagnosekriterien des ICD-10 für Erwachsene erstellt wurden (s. o.) und dass man bei Kindern und Jugendlichen noch eine speziellere Diagnostik durchführen muss (Stichwort: auffälliges Verhalten, Grant & Dawson 1997). Die Alkohol-abhängigkeit wird im DSM-IV unter der Ziffer 303.90 beschrieben. Im neuen DSM-V (Deve-lopment) wird der Begriff „Abhängigkeit“ vermieden; stoffgebundene Abhängigkeitserkran-kungen werden vielmehr als „Substance-related disorders“ (substanzbezogene Störungen) bezeichnet.

Tabelle 5: Diagnostische Kriterien der Alkoholabhängigkeit

1. Starker Wunsch oder Zwang, Alkohol zu trinken;
2. Kontrollverlust in Bezug auf die Menge, den Beginn oder das Ende des Konsums;
3. Körperliche Entzugserscheinungen bei Konsumstopp oder Konsumreduktion;
4. Toleranzentwicklung bei gleichzeitiger Reduzierung der Effekte;
5. Vernachlässigung anderer Interessen und Tätigkeiten, um stattdessen zu konsumieren, Alkohol zu beschaffen, oder sich vom Konsum zu erholen;
6. Weiterer Alkoholkonsum trotz nachgewiesener körperlicher Spätfolgen.

Auswertungshinweis: Wenn drei der sechs Kriterien im vergangenen Zeitraum eines Jahres einmal gleichzeitig zutrafen, wird die Diagnose gestellt.

Quelle: WHO 2000a, ICD-10: F10

Der CAGE-Fragebogen (Ewing 1984) ist ein kurzes, international anerkanntes und in der Pra-xis bewährtes Screening-Instrument zur Erfassung von Alkoholmissbrauch/-abhängigkeit:

Tabelle 6: CAGE-Fragebogen

1. Haben Sie jemals daran gedacht, weniger zu trinken?
2. Haben Sie jemals bei anderen Menschen Anstoß erregt, weil Sie nach deren Meinung zu viel trinken?
3. Haben Sie sich jemals wegen Ihres Trinkens schuldig gefühlt?
4. Haben Sie jemals morgens als erstes Alkohol getrunken, um sich nervlich zu stabilisieren oder einen Kater loszuwerden?

Auswertungshinweis: Bei zwei und mehr Ja-Antworten ist schädlicher Gebrauch/Alkoholmissbrauch oder eine Alkoholabhängigkeit wahrscheinlich.

Der Lübecker Alkoholismus Screening Test (Rumpf, Hapke & John 2002) kann in der Diagnos-tik schnell eingesetzt werden, ist jedoch ebenfalls für Erwachsene entwickelt worden:

Tabelle 7: Lübecker Alkoholismus Screening Test (LAST)

1. Sind Sie immer in der Lage, Ihren Alkoholkonsum zu beenden, wenn Sie das wollen?
2. Haben Sie schon einmal das Gefühl gehabt, dass Sie Ihren Alkoholkonsum verringern sollten?
3. Haben Sie schon einmal wegen Ihres Alkoholtrinkens ein schlechtes Gewissen gehabt oder sich schuldig gefühlt?
4. Haben Ihre (Ehe-)Partner oder Ihre Eltern oder andere nahe Verwandte sich schon einmal über Ihr Trinken Sorgen gemacht oder sich beklagt?
5. Haben Sie wegen des Trinkens einmal Probleme am Arbeitsplatz bekommen?
6. Ist Ihnen schon einmal gesagt worden, Sie hätten eine Störung der Leber (z.B. Fettleber oder Leberzirrhose)?
7. Waren Sie einmal in einem Krankenhaus wegen Ihres Alkoholkonsums?

Auswertungshinweise: Jede "Ja"-Antwort der Fragen 2 bis 7 wird mit einem Punkt gewertet, bei Frage 1 wird eine "Nein"-Antwort mit einem Punkt bewertet. Die Autoren gehen davon aus, dass bei einer Summe von 2 oder mehr Punkten ein Alkoholmissbrauch oder eine Alkoholabhängigkeit vorliegt.

Quelle: Rumpf, Hapke & John 2002

Die DHS empfiehlt: „Menschen mit einem genetischen Risiko für alkoholassoziierte Erkran-kungen sollten nur gelegentlich (sporadisch) Alkohol zu sich nehmen (DHS 2008, vgl. Seitz & Stickel 2007). Hierzu gehören:

1. Individuen, bei denen mindestens ein Elternteil alkoholabhängig ist,
2. Individuen mit einer positiven Familienanamnese für Brustkrebs und Dickdarmkarzino-men,
3. Menschen mit erworbenen Erkrankungen, die durch Alkohol verschlechtert werden könn-ten, sollten ebenfalls eine Reduktion des Alkohols durchführen. Hierzu zählen Menschen mit gastrointestinalen Erkrankungen, wie z. B. gastroösophagiale Refluxerkrankungen, Dickdarmpolypen, Colitis ulcerosa, Pankreaserkrankungen, Lebererkrankungen (Hepatitis B und C, Hämochromatose und nicht alkoholische Fettlebererkrankungen), Stoffwechsel-erkrankungen, wie Hypoglykämien, bestimmte Fettstoffwechselerkrankungen, Gicht, Por-phyrie, kardiologische Erkrankungen wie Kardiomyopathie und Rhythmusstörungen ein-schließlich Vorhofflimmern mit absoluter Arrhythmie, Menschen mit Hypertonus, Men-schen mit Erkrankungen von Muskulatur und Knochen, neurologischen Erkrankungen, wie z. B. periphere Neuropathie, psychiatrische Erkrankungen wie Demenz oder Depression,
4. Zusätzliche Risiken, die eine alkoholassoziierte Erkrankung stärken, sollten beim Konsum von Alkohol gemieden werden oder reduziert werden. Hierzu zählt Zigarettenrauchen, schlechter Zahnstatus und schlechte Mundhygiene und die Einnahme von bestimmten Medikamenten (Methotrexat, Parazetamol, Isoniazid, Antiepileptika, zentral wirksame Psychopharmaka, Aspirin, nicht steroidale Antirheumatika). Die Einnahme von Alkohol und Vitamin A oder ß-Carotin ist gefährlich, da hierbei Lebererkrankungen und Krebs ent-stehen kann“.

Am häufigsten treten alkoholbedingte Störungen gemeinsam mit Angsterkrankungen auf (Cargiulo 2007, Steves et al. 2008). Die Selbstmedikationshypothese geht davon aus, dass viele Angstpatienen ihre Symptome mit Alkohol mindern. Ebenfalls häufig kommen neben alkoholbedingten Störungen Depressionen vor. Als Folge exzessiven Trinkens finden sich auch ausgeprägtere Depressionen mit Suizidalität. Patienten mit Manien neigen dazu, in der manischen Episode exzessiv Alkohol zu konsumieren. Auch Impulskontrollstörungen oder hy-perkinetische Störungen treten bei substanzmissbrauchenden Jugendlichen häufiger auf (Kessler et al. 1996). Bei meist männlichen Patienten mit dissozialen Persönlichkeitsstörun-gen und Borderline-Persönlichkeitsstörungen entwickelt sich nicht selten früh eine Alkohol-abhängigkeit.

Patienten mit schizophrenen Psychosen zeigen zunehmend auch Alkoholprobleme, wobei die Diagnose einer Schizophrenie bei Jugendlichen, häufig in Form der hebephrenen Schizo-phrenie, im weiteren Verlauf erst noch über mehrere Jahre abgesichert werden muss.

Abschließend sollen drei Typologien bekannter Alkoholforscher den Blick auf die Alkoholab-hängigkeit abrunden. Alle drei Typologien eignen sich jedoch nur bedingt für die Beschrei-bung der Alkoholabhängigkeit im Jugendalter, wobei die Typologie nach Babor noch am ge-eignetsten erscheint, weil sie nicht allein auf den Alkoholabusus fokussiert.

Tabelle 8: Typologie der Alkoholabhängigkeit nach Jellinek

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: DHS 2003

Tabelle 9: Typologie der Alkoholabhängigkeit nach Cloninger

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: DHS 2003

Tabelle 10: Typologie der Alkoholabhängigkeit nach Babor

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: DHS 2003

Mehrere prospektiv-longitudinale Studien erlauben mittlerweile Aussagen über unterschied-liche Verläufe des Alkoholkonsums von der frühen Adoleszenz bis ins Erwachsenenalter (Vi-ner & Taylor 2007, Steinhausen et al. 2008). 50% bis 70% der Alkoholabhängigkeiten seien genetisch determiniert, 30% bis 50% von ihnen seien durch Umweltfaktoren bestimmt (Mann 2002).

Die folgende Tabelle zeigt, in welchen Hilfesystemen Alkoholabhängige (aller Altersklassen, J. S.) tatsächlich Hilfe in Anspruch nehmen. Die Summe der Prozentwerte ergibt mehr als 100 Prozent, weil Betroffene oft in mehreren Einrichtungen Hilfe suchen:

Tabelle 11: Verteilung der Alkoholabhängigen nach Behandlungsorten

- Niedergelassene Fachärzte 80,0%
- Allgemeinkrankenhäuser 34,5%
- Fachstellen Sucht (ambulant) 7,0%
- Psychiatrische Kliniken 3,1%
- Fachkliniken (medizinische Reha) 1,7%

Quelle: Mann 2002

Fallbeispiel: Die 16-jährige „Jessica“

„Jessica“ wohnt in einer westdeutschen Kleinstadt. Sie absolvierte vor Beginn des Klinikauf-enthaltes eine 14-tägige Entgiftungsbehandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Sie kam 16-jährig mit einer Polytoxikomanie (Alkohol- und Cannabisabhängigkeit) und einer Traumastörung unmittelbar aus der Entgiftung zur Aufnahme in die Dietrich Bonhoeffer Kli-nik, um sich wegen ihres fortgesetzten Alkohol- und Cannabismissbrauchs einer sechsmona-tigen stationären Entwöhnungsbehandlung zu unterziehen. Sie wurde von einem Streetwor-ker aus der ambulanten Jugendhilfe in die Klinik begleitet, der sie zuvor zwei Monate ambu-lant betreut hatte. Er hatte dafür gesorgt, dass sie sich in einer Fachstelle Sucht auf die sta-tionäre Entwöhnung vorbereitete.

„Jessica“ hat einen alkoholabhängigen Vater, der verstorben ist und eine medikamentenab-hängige Mutter. Nachdem sie im Elternhaus früh Gewalt durch den Vater erfahren und Trau-ma- und Bindungsstörungen entwickelt hatte, hatte ein Nachbar nach einem erneuten Ge-waltvorfall das Jugendamt eingeschaltet, das die häusliche Situation prüfte und nach Ge-richtsbeschluss „Jessica“ im Alter von 2 ½ Jahren in eine Pflegefamilie gab. Ihren leiblichen Eltern wurde das Sorgerecht entzogen. Doch auch die Pflegeeltern kamen mit „Jessica“ kaum zurecht, und so kam es zu starken Beziehungskonflikten. Die Pflegefamilie wechselte dreimal den Wohnort. Als „Jessica“ 7 Jahre alt war, verstarb bereits ihr leiblicher Vater, zu dem sie seit der Trennung von den leiblichen Eltern keinen Kontakt mehr hatte, an Alkoholfolgestö-rungen. Im Alter von 8 Jahren kam sie wegen einer Angststörung in eine Kinder- und Ju-gendpsychiatrie in stationäre Behandlung.

Sie besuchte ab 6 Jahren die Grundschule, unterbrochen nur durch den Psychiatrieaufent-halt, doppelte nach einem Schulwechsel die 5. Klasse der Hauptschule und kam anschlies-send wegen ihrer Lern- und Verhaltensstörungen in die 6. Klasse einer Förderschule.

Sie begann mit 10 Jahren zu rauchen, anfangs nur 5 Zigaretten täglich, mit 11 ½ Jahren rauchte sie eine Schachtel pro Tag. Mit 11 Jahren leerte sie heimlich angebrochene Likörfla-schen in der Bar der Pflegeeltern. Mit 12 Jahren trank sie in einer Mädchenclique mit 5 bis 7 anderen minderjährigen Mädchen an Wochenenden Alkohol. Sie trank freitag- und sams-tagabends zunächst spirituosenhaltige Alkopops und weinhaltige Premixgetränke, mitunter auch Liköre, in der Regel bis zu 8 Flaschen Alkopops oder Weinmixgetränke zu einer Trink-gelegenheit (Binge drinking). Das Ritual war immer gleich. Die Mädchen ließen sich den Alko-hol von älteren Jugendlichen abends in einer Tankstelle besorgen und tranken in der Clique die Flaschen hinter einem Verbrauchermarkt in ihrem Wohnort leer. Erste Rausch- und Kon-trollverlusterfahrungen mit Alkohol hatte „Jessica“ mit 12 Jahren. Sie berichtete von Erbre-chen, Kopfschmerzen und Gewalttaten (Körperverletzungen, die sie in betrunkenem Zu-stand Anderen zufügte). Den Pflegeeltern stahl sie häufiger Geld, um sich den Alkoholkon-sum zu finanzieren. Die Pflegeeltern merkten in dieser Zeit erstmals, dass etwas mit „Jessica“ nicht stimmte. Sie bemerkten ihre Alkoholfahne und fanden Likörflaschen, die sie in ihrem Kleiderschrank versteckt hatte. Sie reagierten mit Beschimpfungen und Vorwürfen und be-gannen, „Jessica“ täglich zu kontrollieren. Mit 13 Jahren trank sie in der Clique und auch allein bereits fast täglich bis zu ½ Flasche Wodka, Kirschlikör und gelegentlich Tequila. Einmal konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, wie sie nach Hause kam (Filmriss). Sie begann den Cannabismissbrauch mit gelegentlichem Joint-Rauchen in einer Clique gleichaltriger Jungen, die sich regelmäßig ganz in der Nähe ihrer Wohnung auf einem Parkplatz trafen. Von nun an hielt sie sich abwechselnd in beiden Cliquen auf. Bereits ein halbes Jahr später rauchte sie täglich zwei Gramm Marihuana mit „Bong“ (hartes Konsummuster). Mit 14 Jahren begann sie das morgendliche Trinken von Kirschlikör, fehlte öfter tageweise in der Schule und trank und kiffte zunehmend auch allein, außerhalb ihrer beiden Cliquen. Die Pflegeeltern gaben ihr mitunter Ausgehverbote und schlossen sie auch einmal in ihr Zimmer ein. „Jessica“ begann, ihre Pflegemutter zu schlagen und zu treten, es blieb nicht mehr bei den üblichen gegen-seitigen Beschimpfungen. Mit 15 Jahren wussten auch die Pflegeeltern schließlich nicht mehr weiter und wandten sich an das Jugendamt.

„Jessica“ erhielt einen Erziehungsbeistand und kam für kurze Zeit in die stationäre Jugend-hilfe, wo sie wegen eines exzessiven Alkohol- und Cannabiskonsums und Schlägereien in der Einrichtung sofort auffällig wurde.

Eine ambulante Behandlung (Einzeltherapie) in einer Fachstelle Sucht führte noch nicht zum Erfolg. Sie kam wegen ihres Alkoholabusus mit 15 Jahren dreimal in eine stationäre Entgif-tung in ein Krankenhaus und wurde jeweils unmittelbar nach erfolgter Entgiftung wieder mit Alkohol und Cannabis rückfällig.

Sie kam bald in die Pflegefamilie zurück. Seit dieser Zeit kümmerte sich zusätzlich zum Erzie-hungsbeistand der Streetworker der ambulanten Jugendhilfe um sie, nachdem sie sich in der Stadt einer neuen Clique von älteren Jugendlichen, die Cannabis, Amphetamine und u. a. auch Kokain missbrauchten, angeschlossen hatte und mit ihnen durch die Straßen zog. Er fand den Zugang zu ihr über die aufsuchende Arbeit.

In der Entwöhnungsbehandlung wurde sie zunächst am dritten Behandlungstag mit Alkohol (Wodka) rückfällig. Sie hatte die Klinik heimlich verlassen und wurde von Erziehern der Klinik, die nach kurzer Zeit ihre Abwesenheit festgestellt hatten, vor einer nahen Tankstelle mit ei-ner Wodkaflasche angetroffen und in die Klinik zurückgebracht. Sie wurde in ein Ausnüchte-rungszimmer verlegt, weiterbehandelt und erzieherisch sanktioniert. Sie musste nach der Ausnüchterung einen Bericht schreiben und den Alkoholrückfall am nächsten Tag in der The-rapiegruppe bearbeiten.

Bereits in der Aufnahmediagnostik und später in der Psychotherapiegruppe wurden u. a. ihre Traumastörung, ihre Bildungsdefizite, ihre sozialen Störungen und die von ihr verinnerlichten Werte des Drogenmilieus deutlich. Erste therapeutische und pädagogische Ziele waren da-her die Stabilisierung der Abstinenzmotivation und das Gelingen der sozialen Integration in die Stationsgruppe. In der Therapiegruppe traf sie auf Patientinnen mit einem ähnlichen Schicksal, die ihr z. T. gute Rückmeldungen gaben, wenn sie sich am Gruppenprozess betei-ligte. Zur Bezugstherapeutin entwickelte sie bald ein Vertrauen, weil sie sich von ihr ernst ge-nommen fühlte. So traute sie sich immer mehr zu, über ihre Erfahrungen, Gefühle und Kon-flikte zu sprechen. Sie nahm an der Indikationsgruppe „Raucherentwöhnung“ teil, verharrte aber noch bis zum 3. Behandlungsmonat in der Phase der Absichtslosigkeit und machte dann mit begleitender Unterstützung einen ersten Versuch mit einem Rauchstopp.

„Jessica“ nahm vormittags jeweils für sechs Wochen an der Arbeitstherapie im Haushalt, im Garten und im klinikeigenen Café sowie am Klinikunterricht teil. Sie musste anfangs häufiger zur Arbeit und zum Unterricht geholt werden, machte in der ersten Zeit viele zusätzliche Pausen und störte durch ihr aggressives Verhalten Andere in der Arbeit und beim Lernen. Sie gewöhnte sich aber bald an die festen Arbeits- und Unterrichtszeiten und -inhalte und wurde ruhiger. Sie merkte bald, dass sie durch die Schule und Arbeit eine Beschäftigung fand, die es ihr leichter machte, den Tag zu überstehen.

Mit „Jessica“ wurde zudem eine regelmäßige Sportteilnahme und Steigerung ihrer Fitness vereinbart. Sie blieb zunächst sehr zurückhaltend und nahm erst nach drei Wochen regel-mäßig dreimal wöchentlich am Sport teil. Sie spielte gern Fußball und holte sich dabei Aner-kennung bei Mitpatienten. Sie nahm auch am gerätebezogenen Fitnessprogramm und an Waldläufen teil und konnte ihre Fitness steigern. Nach einem Cannabisrückfall ließ sie in ih-rer sportlichen Aktivität etwas nach und nahm erst 14 Tage später erneut regelmäßig am Sport teil. Sie profitierte vom strukturierten Tagesablauf und vom verbindlichen Sportange-bot. Beides wirkte ihrer Regressionsneigung entgegen. Sie konnte zunehmend eine Identifi-kation mit sportlichen Werten, wie Fairness und sportlichem Ehrgeiz, aufbauen. Sie konnte ihre Teamfähigkeit erhöhen (Abbau von Behinderungen gemäß ICF). Sie wurde insgesamt ru-higer und begann, ein positives Körpergefühl zu entwickeln. Ihr gefiel besonders die Mög-lichkeit, sich mit dem Fußballspiel oder mit dem Waldlauf beschäftigen zu können. Sie plan-te, später in der Frauenfußballmannschaft eines Sportvereins Mitglied zu werden.

Im Klinikalltag wurde deutlich, dass „Jessica“ auch dazu neigte, sich über Provokationen negative Zuwendung zu holen. In der Milieutherapie war die Präsenz des Bezugserziehers als verlässliche und empathische „elterliche“ Bezugsperson wichtig. Das szenische Verstehen und Aushalten der extremen „Spaltungs“- und Entwertungsmechanismen der Patientin war für die Behandlung von zentraler Bedeutung. Der Prozess der autoritativen Nacherziehung beinhaltete die geduldig wiederholte Konfrontation mit unangemessenem Verhalten, das Setzen von Grenzen und das konsequente Fordern. Die Rekreationstherapie zielte zudem auf die Erweiterung ihrer Teilhabemöglichkeiten in der Freizeit. Sie beteiligte sich an von Erzie-hern begleiteten Freizeitprojekten und Ausflügen und wurde Mitglied im Billardteam und im Büchereiteam, wo sie ein wenig Verantwortung übernahm. Nach einer durch alte Konflikte reaktualisierten Krise und dem erwähnten Cannabisrückfall während der ersten Heimfahrt zu den Pflegeeltern sowie einem Muskatnuss-Rückfall in der Klinik am zweiten Tag nach die-ser Heimfahrt folgten negative erzieherische Sanktionen, Rückfallbearbeitung und Weiter-behandlung. Die durch Tages- und Wochenpläne vorgegebene Tagesstruktur entlastete „Jes-sica“. Erzieher und Lehrer ermutigten sie durch gezielte Förderung von Aktivitäten zum Ab-bau von Behinderungen (gemäß ICF) und zur weiteren Entwicklung brachliegender Kompe-tenzen. So konnte sie ihre Begabungen reaktivieren und nahm auch an Antigewalt-, EDV- und Bewerbungstrainings teil. „Jessica“ entwickelte neue Zielvorstellungen: Erreichen eines Schulabschlusses, Bewerbung um einen Ausbildungsplatz, weiterer Abbau dissozialer Verhal-tensweisen und Verbesserung ihrer Fitness und ihrer sozialen Kompetenzen in einem Sport-verein. Sie konnte eine Alkoholabstinenz entwickeln. Sie verließ die Klinik nach sechs Mona-ten, um in einer kooperierenden Einrichtung mit stationärer Nachsorge ihre Abstinenzfähig-keit weiter zu festigen und in der Schule für abhängigkeitskranke Jugendliche, mit der die Nachsorgeeinrichtung ebenfalls im Verbund zusammenarbeitet, ihren Hauptschulabschluss nachzuholen.

Dieses fiktive, jedoch für Patient/innen der Dietrich Bonhoeffer Klinik durchaus nicht untypi-sche Fallbeispiel steht zunächst für sich selbst.

Es wurde deutlich, dass „Jessica“ seit ihrer Geburt (und wohl auch vorgeburtlich) über einen langen Zeitraum Störungen entwickelte (u. a. Traumastörung, Angststörung). Die Eltern und Pflegeeltern fühlten sich mit ihrer Erziehung überfordert. „Jessica“ praktizierte nach der Me-narche einen exzessiven Alkoholmißbrauch und entwickelte schließlich eine juvenile Tabak-, Alkohol- und Cannabisabhängigkeit (Polytoxikomanie). Das häufige klinische Bild komorbider Störungen bei juveniler Alkoholabhängigkeit wird an diesem Fallbeispiel deutlich.

Durch die stationäre Entwöhnungsbehandlung konnte „Jessica“ aus ihrer gewohnten „nas-sen“ Umgebung (dem „3. Sozialraum“ mit trinkenden und kiffenden Peers) herausgeholt werden und eine konsequente Nacherziehung im „4. Sozialraum“ Klinik erfahren, die so im „1. Sozialraum“ (leibliche Familie und Pflegefamilie) aus verschiedenen Gründen nie hinrei-chend möglich war. Sie erhielt eine Chance, sich zu erholen und nachzureifen, sich an feste Strukturen und Rituale zu gewöhnen und Perspektiven zu entwickeln, die ihr in Zukunft po-tenziell eine verbesserte Teilhabe an der Gesellschaft („1. und 3. Sozialraum“) und am Be-rufsleben („2. Sozialraum“) ermöglichen. Diese neue Entwicklung vollzieht sich nicht geradli-nig, wie die Beispiele von Rückfällen mit Wodka, Cannabis und Muskatnuss und die episodi-schen Krisen während der Behandlung zeigen. Und dennoch erhielt „Jessica“ mit der statio-nären Therapie eine Chance, einen neuen Sinn im Leben und einen höheren Grad an Selbst-wirksamkeit zu finden und ihr Leben neu zu ordnen.

Merke:

„Exzessives Trinken ist unnormal,

man lernt nur, optimal krank zu werden“.

Nicht nur jede Bürgerin und jeder Bürger

sind aufgefordert, genauer hinzuschauen.

Auch der Staat muss Gesundheit fördern.

6. Zahlen, Daten und Fakten

6.1. Was bedeutet „Evidenz“ bei wissenschaftlichen Studien?

In diesem Buch ist viel die Rede von „evidenzbasierten“ Präventionsstrategien. Das Wissen darüber ist entstanden auf der Basis von gut angelegten wissenschaftlichen Studien mit ho-her „Evidenz-“stärke. Gemäß der Empfehlung des Europarates von 2002, basierend auf den Guidelines von AHPCR 1995 und SIGN 1999 und nach dem Vorschlag der Arbeitsgemein-schaft derWissenschaftlichenMedizinischenFachgesellschaften(AWMF) werden wissen-schaftliche Studien nach vier "Evidenz-"stärken in "Evidenz-"klassen bewertet (Sacket et al. 1996, SIGN 1999, ÄZQ 2000, Europarat 2002):

Tabelle 12: „Evidenz“-stärken von wissenschaftlichen Studien

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Der Bezug zur Empfehlung wird i. d. R. nach 3 Empfehlungsklassen vorgenommen:

A) Empfehlung ist belegt durch schlüssige Literatur von insgesamt guter Qualität, die min-destens einen RCT enthält ("Evidenz"klassen Ia, Ib),
B) Empfehlung ist allgemein begründet durch gut durchgeführte nicht-randomisierte klini-sche Studien ("Evidenz"klassen IIa, IIb, III),
C) Empfehlung ist belegt durch Berichte / Meinungen von Expertengremien, Konsensuskon-ferenzen und oder klinischer Erfahrungen anerkannter Autoritäten; weist auf das Fehlen direkt anwendbarer klinischer Studien guter Qualität hin ("Evidenz"klasse IV).

Ein Konsens ist vorhanden, wenn mindestens 75% der Teilnehmer zustimmen. Stimmen we-niger als die Hälfte der Teilnehmer zu, liegt kein Konsens vor (Hoffmann et al. 2004, 986). Die Konsensusstärke in Konsensuskonferenzen ist dann stark, wenn mindestens 95% der Teil-nehmer zustimmen.

Leider sind viele klinische Untersuchungen und Therapien immer noch nicht hinreichend „evidenzbasiert“ und in der Fachliteratur und auf Kongressen und Fachtagungen lediglich als Expertenmeinungen publiziert. Dennoch sind solche Therapien akzeptabel, solange es noch keine Therapien mit höherer Evidenzstärke gibt. Gray konstatiert, “The absence of excellent evidence does not make evidence-based decisionmaking impossible; what is required is the best evidence available, not the best evidence possible” (Gray 2001).

6.2. Was ist eigentlich Alkoholkontrollpolitik?

Der Begriff Alkoholkontrollpolitik wurde ursprünglich in Skandinavien geprägt. Noch zur Jahr-tausendwende, vor zehn Jahren, war er in Deutschland fast unbekannt und galt in der Ge-sundheitspolitik „fast als Luxusproblem“ (Babor et al. 2005, 5). Er bezieht sich als umfassen-des Gesamtkonzept sowohl auf die Angebots-, wie auf die Nachfrageseite der Alkoholpolitik und integriert ganz unterschiedliche Strategien und Massnahmen auf unterschiedlichen Ebe-nen, die sich auf das Individuum, den Staat und einzelne Problembereiche wie z. B. Alkohol und Schwangerschaft, Alkohol am Steuer, usw. beziehen können. Alkoholkontrollpolitik ist auch eine Querschnittsaufgabe der Politik, die nicht in einem Politikfeld allein (z. B. in der Gesundheitspolitik) bewältigt werden kann. Eine Kurzdefinition des Begriffs Alkohol-kontrollpolitik oder kurz: Alkoholpolitik bietet die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen:

Als Alkoholkontrollpolitik bezeichnet man alle politischen Massnahmen, die bei Herstel-lung, Vermarktung und Verbrauch von alkoholischen Getränken steuernd eingreifen und die auf eine Reduzierung der Folgeschäden des Alkoholkonsums abzielen. Dies kann bedeuten, den Markt zu regulieren, den gesundheitlichen Schutz der Bürger und Bürgerinnen zu stärken oder spezifische Probleme, wie z. B. Alkohol am Steuer, zu bekämpfen“ (DHS, Factsheet 2007d).

Die verschiedenen Felder der Alkoholkontrollpolitik werden in Kapitel 7 näher erläutert.

6.3. Zahlen, Daten und Fakten

In der Folge werden aus der Forschung bekannte aktuelle Zahlen, Daten und Fakten zu Alko-hol ohne Diskussion und Bewertung mit Quellenangaben in Kurzform dargestellt.

- Alkoholmenge: In einem kleinen Glas Bier (0,33 Liter), einem kleinen Glas Wein (0,125 Li-ter) oder einem Schnapsglas (0,04 Liter) sind 10g bis 12g reiner Alkohol enthalten. Die durchschnittlich konsumierte Menge Alkohol bleibt bei Jugendlichen bis 16 Jahre eher ge-ring, steigt dann aber sprunghaft an und bleibt auf hohem Niveau (BZgA 2009).
- Einstiegsalter/Mindestalter für den Konsum von Alkohol: Ein höheres gesetzliches Min-destalter für den Erwerb und Konsum von Alkohol führt zu einem verringerten Alkohol-konsum, zu einem niedrigeren Pro-Kopf-Verbrauch von Alkohol (Nelson 2003, ScHARR 2008, 186f.) und zu weniger Verkehrsunfällen (Wagenaar 1981, 1986, Wagenaar & May-bee 1986, Saffer & Grossman 1987a und b, O’Malley & Wagenaar 1991, Klepp et al. 1996, Voas & Tippett 1999, Wagenaar & Toomey 2000).
- Lebenszeitprävalenz: 2007 hatte etwa die Hälfte der 12-Jährigen erste Erfahrungen mit Alkohol gemacht (Stolle et al. 2009, 324). Zwei Drittel der 12- bis 15-Jährigen haben schon einmal Alkohol getrunken. Fast alle 15 bis 16 Jahre alten Schüler/innen haben in ihrem Le-ben schon einmal Alkohol getrunken (>90%: Currie et al. 2000, BZgA 2009).
- Wöchentliche Prävalenz: Von 1993 bis 2002 verdoppelte sich der Anteil der 13-Jährigen mit wöchentlichem Alkoholkonsum; der Anteil der 15-Jährigen stieg um 44%.
- Regelmäßiger Alkoholkonsum: Mit Beginn des 21. Jahrhunderts vergrößerte sich die Gruppe der regelmäßigen Konsumenten zwischen 12 und 25 Jahren zunächst von 30% (2001) auf 34% (2004); die wöchentliche Trinkmenge stieg zusätzlich von 40g auf 60g an (das entspricht 4 Gläsern Wein, 3 großen Gläsern Bier oder ¼ Flasche Spirituosen: vgl. BZgA-Studie 2004). Das Muster des Alkoholkonsums verfestigt sich bei Jugendlichen bis zum Alter von 17 Jahren so weit, dass ein Drittel regelmäßig mindestens einmal wöchent-lich trinkt (BZgA 2009). Bei den Jungen trinken mehr Haupt- und Realschüler als Gymna-siasten regelmäßig. Bei Mädchen ist das Verhältnis umgekehrt! Jugendliche mit Migrati-onshintergrund trinken seltener regelmäßig Alkohol als andere (Lampert & Thamm 2007).
- Binge drinking: Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen der Verfügbarkeit von Alko-hol und Binge drinking (Chaloupka & Wechsler 1996, ScHARR 2008, 37). Seit 1995 steigen in den meisten europäischen Staaten die Binge drinking-Raten bei Jugendlichen an (vgl. Anderson 2008, 24f.). Von 2005 bis 2007 stiegen die Fallzahlen des Binge drinking bei Ju-gendlichen von 20% auf 26% an (BMG 2008b). Gymnasiasten zeigen insgesamt weniger riskante Verhaltensweisen (BZgA 2009). Dagegen zeigt die DAK-Studie von 2009/2010, dass Gymnasiasten häufiger als Hauptschüler bingen und vermehrt wegen Leistungsdruck bingen (DAK 2010). Dies zeigt möglicherweise einen neuen Trend auf und sollte genauer untersucht werden. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland beim Binge drinking im oberen Drittel (Eurobarometer 2007). Binge drinking in der Jugendphase ist mit neu-rokognitiven Störungen und z. T. mit Aufmerksamkeitsdefizit- und anderen Störungen verbunden und kann Hirnstrukturen und -funktionen verändern (Tapert et al. 2004).
- Rauscherfahrung: 50% der 14-Jährigen berichteten 2007 von ersten Trunkenheitserleb-nissen (Stolle et al. 2009, 324). Der erste Rausch fand durchschnittlich mit 15,5 Jahren statt. Die Rate der Jugendlichen mit mehrmaligen Rauscherfahrungen stieg europaweit an (ESPAD-Studie 2003, deutsche HBSC-Teilstudie 2003). Die Zeitspanne zwischen erster Al-koholerfahrung und erster Rauscherfahrung wird immer kürzer (in der Studie von Stumpp et al. 2009: erster Rausch mit 13,9 Jahren).
- Akute Alkoholintoxikationen: Die im Krankenhaus behandelten akuten Alkoholintoxika-tionen stiegen bei 10- bis 20-Jährigen von 12.000 Fällen (Jahr 2000) auf 23.000 Fälle (Jahr 2007) an (BMG: Drogen- und Suchtbericht 2008). Dies ist besonders besorgniserregend.
- Alkoholabhängigkeit: Sucht ist ein Public Health-Problem. 5% der Männer und 1% der Frauen sind jedes Jahr in Europa alkoholabhängig (DHS 2007c). In Deutschland gelten 160.000 Kinder und Jugendliche bis zum 25. Lebensjahr als abhängig oder gefährdet. So-wohl erhöhte Trinkmengen, als auch Binge drinking kann das Risiko einer Alkoholabhän-gigkeit erhöhen (Grant & Harford 1990, Muthen et al. 1992, Dawson & Archer 1993, Hall et al. 1993, Caetano & Tam 1995, Midanik et al. 1996, Caetano et al. 1997, Farrell et al. 2001, Caetano & Cunradi 2002).
- Risikogruppen 1: Über 90% der akut intoxikierten Jugendlichen hatten Spirituosen, pur oder gemixt, konsumiert. Die Mehrzahl kam aus stabilem Umfeld, 1/3 waren „Problemju-gendliche“. Junge Mädchen sind besonders gefährdet (Kuttler 2008).
- Risikogruppen 2: 10% der Deutschen können nicht oder nur schlecht mit Alkohol umge-hen und konsumieren 50% der alkoholischen Getränke (Hüllinghorst/DHS 2008a).
- Risikogruppen 3: Kinder von Alkoholabhängigen (KVA): 2,65 Mio. Kinder und Jugendliche bis 18 J. sind Kinder von Suchtkranken, sie haben ein etwa 6-fach höheres Risiko, sucht-krank zu werden. Fast jedes fünfte Kind wächst in einer suchtbelasteten Familie auf (Klein 2008), 5 bis 9 Millionen sind es europaweit (Anderson 2008, 10). Kinder aus Familien mit stark trinkenden Eltern haben ein höheres Risiko, Opfer von Kindesmissbrauch zu werden (Rossow 2000). 16% der Kindesmissbrauchsfälle sind auf Alkoholmissbrauch zurück zu führen (vgl. English et al. 1995, Ridolfo & Stevenson 2001).
- Fetales Alkoholsyndrom (FAS): Es kann zu Früh- und Fehlgeburten kommen. Zwischen ca. 2.000 Kinder (Löser 1995, Hüllinghorst 2008, www.nacoa.de/fakten) und ca. 4.000 Kinder (Drogenbeauftragte der Bundesregierung 2009) werden jährlich mit dem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) geboren. FAS tritt damit doppelt so häufig auf wie das Down-Syndrom. 10.000 Neugeborene in Deutschland leiden jährlich an den gesundheitlichen Folgen des Alkoholkonsums ihrer Mütter während der Schwangerschaft (www.nacoa.de). Punktnüchternheit kann gesundheitliche Risiken für das ungeborene Leben minimieren: Es sollte in der Schwangerschaft am besten gar kein Alkohol getrunken werden (Fitzgerald 1988, Abel & Sokol 1991, Weiner et al. 1999, Eustace et al. 2003, Mengel 2006). Dagegen ist nach heutigem Kenntnisstand nach der Geburt des Kindes ein geringer und moderater Alkoholkonsum nicht grundsätzlich riskant für den Säugling (ein Rechenbeispiel dazu bietet Uhl 2005f, 17f.). Folgende Krankheitsfolgestörungen können bei Alkohol-Embryopathie für das Neugeborene auftreten: Minderwuchs, geistige Retardierung, Gesichtsveränderungen, Skelettfehlbildungen, Herzfehler, Hyperaktivität, in schweren Fällen Organmissbildungen, Konzentrations- und Lernstörungen, usw. (Streissguth et al. 1990 und 1994, Olson et al. 1992, Mattson et al. 2001, Sood et al. 2001, Jacobson & Jacobson 2002, Chen et al. 2003, Koditowakko et al. 2003, Gunzerath et al. 2004, Spohr 2006, Wedding 2007, Bertrand 2009). Zwischen 1:1.000 und 1:690 der Lebend-Geburten weisen die o. g. Symptome auf, jährlich mindestens etwa 2.200 Fäl-le. Etwa 40% dieser Kinder stammen von chronisch alkoholkranken Müttern, ca. 1/3 der vorgeschädigten Kinder bleiben geistig schwer behindert. Höchstens 20% der Kinder mit dem Vollbild der Alkohol-Embryopathie können eine normale Schule besuchen, etwa 40% derselben zeigen Verhaltensstörungen. Die Berufsfähigkeit ist bei über 50% von ihnen fraglich oder ausgeschlossen (Davis 1992). Das FAS verursacht nicht unerhebliche Kosten (Bloss 1994; zur Prävention des FAS: Hankin 1994c). In Frankreich z. B. wurden 2001 über 700 Kinder mit dem Fetalen Alkoholsyndrom geboren. Dort leben schätzungswiese mehr als 60.000 Personen mit diesem Syndrom (Datenexpertise nach Durchführung von zwei epidemiologischen Studien in Nordfrankreich und La Réunion (INSERM, Expertise collec-tive September 2001).
- Alkohol und Sexualität: Alkohol kann das Anbahnen romanischer Beziehungen unter-stützen (Weichold et al. 2008). „Binge drinking“ ist mit früher sexueller Aktivität, häufig wechselnden Sexualpartnern, einer höheren Rate ungewollter (Teenager-)Schwanger-schaften (Naimi et al. 2003, La Brie et al. 2005), Geschlechtskrankheiten, Unfruchtbarkeit und alkoholbelasteter Schwangerschaften mit dem Risiko des Fetalen Alkoholsyndroms für das Ungeborene assoziiert (Cooper 2002, Stolle et al. 2009, 326). Riskanter Alkohol-konsum ist über riskantes Sexualverhalten klar verbunden mit erhöhtem Risiko für sexu-ell übertragbare Krankheiten: 8 von 11 Studien weisen dies nach (u. a. Leigh & Stall 1993, Kovacs et al. 2002, Leigh 2002, Cook & Clark 2005, Stein et al. 2005, ScHARR 2008, 236).
- Alkohol und Gender: In fast jeder Kultur trinken erwachsene Männer mehr Alkohol, als erwachsene Frauen. Männer trinken zu einer Gelegenheit mehr als Frauen zur gleichen Gelegenheit (Fillmore et al. 1991, Wilsnack, Vogeltanz & Wilsnack 2000). Insgesamt trin-ken Männer im Vergleich zu Frauen die doppelte bis dreifache Menge Alkohol (Leifman 2002, Mäkelä et al. 2005). Männer praktizieren drei- bis sechsmal so oft Binge drinking als Frauen (Bloomfield et al. 1999, Ramstedt & Hope 2003).
- Alkohol und Suizidalität: Alkoholabhängigkeit ist mit einem erhöhten Risiko für Suizide oder Suizidversuche verbunden (Cargiulo 2007, ScHARR 2008, 235). Rauschtrinken ist der Hauptrisikofaktor für Suizide (Andrews & Levinsohn 1992, Lesage et al. 1994, Rossow 1996, Beautrais 1998). Eine Reduzierung des Alkoholkonsums kann zu einer Reduzierung der Anzahl männlicher Suizide und Suizidversuche führen (ScHARR 2008, 63). Ein Sechstel aller Suizide werden europaweit von episodisch stark Alkohol Trinkenden verübt.
- Alkohol und Gewalt: Bei 9,1% aller aufgeklärten Delikte spielte Alkoholeinfluss eine Rolle (Polizeiliche Kriminalstatistik 2004). 7% bis 80% der Kriminalität ist europaweit auf Alko-holintoxikationen zurückzuführen (Murdoch, Pihl & Ross 1990, Salomaa 1995, Rehn, Room & Edwards 2001, Bühringer et al. 2002, Leontaridi 2003, Alcohol Policy Network 2005, MacDonald et al. 2005, Anderson 2008, 10). 40% aller Mörder praktizierten ein starkes episodisches Rauschtrinken und verursachten europaweit jährlich 2.000 Fälle von Totschlag oder Mord sowie 17.000 Verkehrstote (Anderson 2008, ebd.). Fast jeder dritte Gewaltakt wird unter Alkoholeinfluss begangen. 16% bis 71% der häuslichen Gewalt und der Gewalt gegen Intimpartner und 16% aller Kindesmisshandlungen sind europaweit auf Alkoholintoxikationen zurückzuführen (Anderson 2008, ebd.). Studien in Schweden und Norwegen zeigten, dass es einen Zusammenhang zwischen Alkoholverkäufen am Samstag und häuslicher Gewalt gibt (Olsson & Wikström 1982, Nordlund 1985). Durch Alkohol-konsum wird man eher zum Täter oder Opfer von Gewalttaten, als andere Menschen (Po-lizeiliche Kriminalstatistik 2004 und 2009, DHS 2007c). Unabhängig voneinander sind star-ker episodischer Alkoholkonsum, Häufigkeit des Alkoholkonsums und Trinkmenge mit dem Risiko von Aggressionen verbunden (Wechsler et al. 1994, 1995 und 1998, Klein 1996a, Komro et al. 1999, Bonomo et al. 2001, Homel et al. 2001, Swahn 2001, Richard-son & Budd 2003, Swahn & Donovan 2004, Wells et al. 2005). Eine große Zahl von Studien weist nach, dass mit starkem Alkoholkonsum das Risiko steigt, in Gewalttaten verwickelt zu werden (Rossow et al. 2001, Greenfield & Henneberg 2001). Rauschtrinken ist ent-scheidend für Gewaltereignisse (Lenke 1990, Dawson 1997, Norström 1998, Parker et al. 1998, Wells et al. 2000, Rossow 2001, Babor et al. 2005, 93). Bei höherer Häufigkeit von Berauschung gibt es ein erhöhtes Gewaltrisiko (Dawson 1997, Rossow et al. 1999, Wells et al. 2000). Je höher der Alkoholkonsum, desto ernster wird die Gewalttat (Gerson & Preston 1979, Martin & Bachman 1997, Sharps et al. 2001 Rummel 2010, 203). Bei moderatem Alkoholkonsum gibt es ein leicht erhöhtes Risiko für Gewalt (Dawson 1997, Rossow 2000, Wells et al. 2000). Bei Personen mit kritischem Alkoholkonsum und bei Alkoholabhängigen gibt es ein signifikant erhöhtes Risiko für Gewalt (Pernanen 1991, Rossow et al. 2001). Die Häufigkeit häuslicher Gewalt ist abhängig von Pro-Kopf-Konsum (Norström 1993, Lipsey et al. 1997, Greenfield 1998, Mirrlees-Black 1999, Abbey et al. 2001, Caetano et al. 2001, Brecklin & Ullmann 2002, White & Chen 2002). Kindesmiss-handlung hat keinen signifikanten Zusammenhang mit dem Pro-Kopf-Konsum. Starker Alkoholkonsum erhöht das Risiko von Kindesmisshandlungen (Rossow 2000) und von Gewalt in der Ehe (Quigley & Leonard 1999, BMFSFJ 2008). Es gibt einen Zusammenhang von Kindesmisshandlung und Ressourcen bzw. allgemeinem Funktionieren der Familie (Windle 1996). Familie kann insofern als „gefährlicher Lebensraum“ bezeichnet werden (DHS, Jahrbuch Sucht 2010). Zwischen Durchschnittskonsum von Alkohol und Gewalt gibt es einen linearen Zusammenhang (Dawson 1997, Rossow 2000, Wells et al. 2000, WHO 2002d). Bei stark Alkohol Konsumierenden gibt es ein erhöhtes Risiko, Opfer von Gewalt zu werden (Room & Rossow 2001, Rossow et al. 2001). Laut ESPAD neigen 13- bis 17-jährige Jugendliche mit problematischem Alkoholkonsum aufgrund reduzierter Selbstkon-trolle überproportional häufig zu Gewalttaten (DHS: Jahrbuch Sucht 2010). Bisher gibt es keinen kausalen Zusammenhang von Alkoholkonsum und Ehescheidungen. Eine Erhöhung der Alkoholpreise kann Gewaltkriminalität reduzieren, besonders auch für unter 21-Jährige (Markowitz 2000, Saffer 2001, ScHARR 2008, 74). Eine Erhöhung der Preise für reinen Alkohol um 1% kann die Wahrscheinlichkeit für Frauen, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden, um 5,34% verringern (Markowitz 2000, ScHARR 2008, 73).
- Alkohol am Steuer: Alkoholkonsum kann bei starken Trinker/innen und nach Trinkepiso-den von gelegentlichen Trinker/innen signifikant zu Unfällen im Strassenverkehr führen (O’Donnell 1985, Single & McKenzie 1992, Fahrenkrug & Rehm 1994, Gruenewald et al. 1996, Adrian et al. 2001, Cherpitel et al. 2003a und b, ScHARR 2008, 234). Jugendliche ex-zessive Trinker/innen fahren häufiger Fahrrad ohne Helm, fahren häufiger alkoholisiert Auto oder steigen zu alkoholisierten Fahrern ins Auto ein (Stolle et al. 2009, 325). Mit zu-nehmendem Alkoholisierungsgrad steigt das Unfallrisiko. Personen mit regelmäßigem Al-koholkonsum werden erst mit einer BAK um 0,8 Promille im Straßenverkehr ähnlich ge-fährlich wie „Alkoholabstinente“ (Uhl 2005f, 16). Bei etwa einem Drittel aller schweren Verletzungen spielte Alkohol als Verursacher ein Rolle (Zatonski & Manczuk 2007). 12% der Verkehrstoten (jeder 8. Verkehrstote) gehen auf das Konto von Alkohol (Statistisches Bundesamt 2006b, BMG 2008b). Insbesondere durch alkoholisierte Beifahrer wird das Unfallrisiko noch erhöht (Vollrath et al. 1998). Verkehrsunfälle sind die Haupttodesursa-che für Teenager. Jährlich gibt es ca. 130.000 Führerscheinentzüge und ca. 100.000 Anordnungen zur MPU (Medizinisch-Psychologischen Untersuchung)(rausch 03/2010, 15).
- Alkohol und Schule: Es gibt einen Zusammenhang von Alkohol und Schulschwänzen (Ab-sentismus). Dies wird z. B. in England viel stärker wahrgenommen, als bisher in Deutsch-land (Best et al. 2006, IAS 2009b).
- Alkohol im Betrieb: 5% bis 10% der Beschäftigten in Unternehmen haben Probleme mit Alkohol. 25% bis 30% der Arbeitsunfälle geschehen alkoholbedingt (Drogen- und Suchtrat 2008). Es gibt einen signifikanten Zusammenhang von Rauschtrinken und Arbeitsplatz-problemen (Rehm & Rossow 2001).
- Alkoholfolgestörungen 1: Alkoholkonsum ist verantwortlich für über 60 verschiedene Fol-gekrankheiten und stellt nach (1) Tabakkonsum und (2) Bluthochdruck und vor (4) Über-gewicht, (5) Cholesterin, (6) Bewegungsmangel und (7) ungesunder Ernährung das dritt-höchste Risiko für (vermeidbare) Krankheit und Tod dar (Rehm et al./WHO: Global Burden of Disease Study 2004, Babor et al. 2005, Anderson & Baumberg 2006, Mann 2008, DHS 2009a).
- Alkoholfolgestörungen 2: Unter 40-Jährigen gibt es dreimal häufiger alkoholbedingte Klinikaufenthalte, als bei Jugendlichen (Statistisches Bundesamt 2006a). Jedes fünfte Krankenhausbett ist ein „Suchtbett“ (Mann 2008). 22% der Deutschen trinken Alkohol in schädigendem Ausmaß. Es gibt in Deutschland ca. 2 Mio. Alkoholabhängige. Nur 1% der Kranken befinden sich in stationärer Entwöhnungsbehandlung.
- Alkoholfolgestörungen 3: Alkoholmissbrauch (1,7 Mill. Deutsche) führt stärker zu Behin-derungen und zu Krebs, als zum Tod (DHS 2003). Das Krebsrisiko steigt bei Männern im mittleren Alter von 14 pro 100.000 (bei Abstinenz) auf 50 pro 100.000 (bei täglichem Konsum von 40g Alkohol); Frauen sind vor allem von Brustkrebs betroffen (Anderson & Baumberg 2006). Das Lungenkrebs-, Ösophaguskrebs- und Leberzirrhoserisiko startet ab 25g Alkohol pro Tag (Corrao et al. 2004, vgl. ScHARR 2008, 233). Ein erhöhtes Risiko für Magenkrebs und Darmkrebs liegt ab 30g Alkohol pro Tag vor (Cho et al. 2004, Moskal et al. 2007, ScHARR 2008, 233).
- Alkoholfolgestörungen 4: Hoher Alkoholkonsum erhöht das Risiko für einen Schlaganfall (Hillborn & Kaste 1982, Kunst et al. 1998, Corrao et al. 1999, Reynolds et al. 2003, Rehm 2003, Dalstra et al. 2004, ScHARR 2008, 229f.) und für Leberschäden (Li 2008). Das Risiko für Angststörungen und Drogenabhängigkeit ist bei Alkoholabhängigkeit erhöht (Komorbi-dität: Cargiulo 2007). Dagegen gilt eine zunächst angenommene positive protektive Alko-holwirkung gegen koronare Herzkrankheiten heute als umstritten (Trevisan et al. 2001a und b und 2004, Murray et al. 2002, Gmel et al. 2003, Britton & Marmot 2004, vgl. Uhl 2005f, 19, Rehm, Taylor & Patra 2006).
- Alkoholfolgestörungen 5: Chronischer Alkoholmissbrauch verkürzt die Lebenserwartung um durchschnittlich 23 Jahre (BMG, Gesundheitsbericht für Deutschland 1998, Tolstrup et al. 2004, Doll et al. 2005, Castelnuovo et al. 2006). Jährlich sterben ca. 42.000 Personen in Deutschland, deren Tod direkt oder indirekt mit Alkohol in Verbindung steht (DHS 2001), bzw. 74.000 Personen, die durch riskanten Alkoholkonsum oder die Kombination aus Tabak- und Alkoholkonsum sterben (Gaertner et al. 2010, 21). Über 10% der Todesfälle junger Frauen und ca. 25% der Todesfälle junger Männer stehen i. Z. m. Alkoholkonsum (John & Hanke 2002b, Anderson & Baumberg 2006). Der Tod tritt bei einem Blutalkohol-spiegel von 1,8 bis über 6 Promille ein. Dabei ist zu beachten, dass Kinder bereits bei geringeren Mengen starke Vergiftungen erleiden und dass Säuglinge bei kleinsten Men-gen Alkohol in lebensbedrohliche Zustände geraten können.
- Alkoholassoziierte Kosten 1: Ein Rettungseinsatz für einen stark Betrunkenen mit an-schließendem Krankenhausaufenthalt kostet durchschnittlich ca. 3.000 Euro. Die Entgif-tung eines Jugendlichen im Krankenhaus kostet die Krankenkasse ca. 500 Euro (DStGB 2009, 6).
- Alkoholassoziierte Kosten 2: Die volkswirtschaftlichen Kosten durch alkoholbezogene Krankheiten sind erheblich und werden in Deutschland pro Jahr auf ca. 20 Mrd. Euro ge-schätzt (Bühringer et al. 2000). Das entspricht 650 Euro pro Haushalt/Jahr (DHS 2007c). Höhere Zahlen nennt die DHS für das Jahr 2002 auf ihrer Homepage : „Die Kosten alkohol-bezogener Krankheiten werden für das Jahr 2002 auf insgesamt 24,4 Mrd. € geschätzt. Diese Summe entspricht 1,16 % des Bruttoinlandsproduktes. 69,8 % der Gesamtkosten wurden durch Männer verursacht“ (Konnopka & König 2007, DHS 2010). Die Schäden sind höher als der ökonomische Nutzen. Der Staat ist über die Steuereinnahmen kein „Gewin-ner“, weil die Schäden den Nutzen der Alkoholsteuereinnahmen weit überwiegen.

Einschränkend teilen Neumann und Töpfer mit, dass es bei der Schwierigkeit, valide Aus-sagen über die aktuelle Gesamtbelastung der deutschen Volkswirtschaft durch alkohol-assoziierte Schäden zu gewinnen, noch sinnvoller sei, jeweils Kosten-Nutzen-Analysen einzelner konkreter alkoholkontrollpolitischer Massnahmen vorzunehmen vgl. jedochund den neueren Bei-trag von. John unterscheidet hier zwischen Alkoholfolgekrank-heiten und alkoholassoziierten Erkrankungen, wie z. B. Hypertonie.

- Alkoholassoziierte Kosten 3: Europaweit entstanden 2003 im Zusammenhang mit Alkohol 125 Mrd. € materielle Kosten und 270 Mrd. € immaterielle Kosten (Anderson & Baumberg 2006, 3f.). Die Schäden sind auch auf der europäischen Ebene höher als der ökonomische Nutzen. Die Staatengemeinschaft gehört in der Kosten-Nutzen-Rechnung trotz Steuerein-nahmen ebenfalls zu den Verlierern.
- Alkoholwirtschaft: Die Alkoholindustrie gehört mit ca. 750.000 direkten Arbeitsplätzen zu den größten Industriezweigen Europas. Zur Alkohollobby gehören Hersteller (Landwirt-schaft, Brauereien, Brennereien, Weinbauern, Zulieferer), Investoren, Banken, Internatio-nale und nationale Lobbyverbände und Konzerne (z. B. Bacardi, Diageo, CEPS, BSI, Deut-scher Brauerbund, deutscher Weinbauverband u.a.), Internationale Organisationen (z. B. Weltbank, EFTA), Werbefirmen, der Handel (z. B. Metro, Aldi, Lidl u. a.), Spediteure, die Gastronomie (mit ihrer Vertretung DeHoGa), Spielhallen, Diskotheken, Glashütten, Tank-stellen, Sportverbände (Sponsoring!), Medien (Werbeeinnahmen!), der Tourismus, z. T. der Staat (Steuereinnahmen, mögliche Verflechtungen mit der Alkohollobby), u. a. Der Handel umfasst 9 Mrd. Euro der EU-Handelsbilanz. Wirksame Alkoholkontrollpolitik führt aber nicht notwendigerweise zu Arbeitsplatzverlusten (Anderson & Baumberg 2006). Wer weniger Geld für Alkohol ausgibt, kann mehr für andere Waren ausgeben. So berechnete z. B. die Weltbank für den Tabakmarkt, dass in den USA mittelfristig mehr Arbeitsplätze entstünden, wenn Tabak dort von einem Tag auf den anderen verschwinden würde.
- Alkoholpreise: Der Zusammenhang zwischen Alkoholpreisveränderungen und Alkohol-folgestörungen wurde intensiver untersucht, als alle anderen alkoholkontrollpolitischen Massnahmen (Ornstein 1980, Ornstein & Levy 1983, Godfrey 1988, Leung & Phelps 1991, Österberg 1995 und 2001, USDHHS 1997, Rabinovich et al. 2009, Wagenaar et al. 2009). Ökonometrische Studien sind für viele europäische Staaten verfügbar. Sie zeigen u. a., dass Jugendliche bei höheren Alkoholpreisen weniger Alkohol konsumieren, und zwar besonders jene Jugendlichen, die häufig und viel Alkohol trinken. Umgekehrt nehmen generell Alkoholfolgestörungen zu, wenn die Alkoholpreise sinken, wie eine Vielzahl von Studien zeigen (Huitfeldt & Jorner 1972, Lau 1975, Ornstein 1980, Ornstein & Levy 1983, Ahtola et al. 1986, Grossman et al. 1987, Coate & Grossman 1988, Olsson 1991, Laixuthai & Chaloupka 1993, Chaloupka & Wechsler 1996, Österberg 1995, 2000, Cook & Moore 2002, Farrell et al. 2003, Gius 2005, Trolldal & Ponicki 2005), oder wenn die verfügbare Taschengeldmenge größer wird (Lintonen 2000). Eine große US-amerikanische Studie zeigte, dass eine 10-prozentige Verteuerung der Alkoholpreise eine Abnahme des Binge drinking um 8 Prozent zur Folge hatte (Sloan et al. 1995). Viele Studien zeigen außerdem, dass Verteuerungen von Alkohol zur Reduzierung der Anzahl von Verkehrsunfällen und Verletzungen, beson-ders bei jungen Fahrer/innen, führen (Saffer & Grossman 1987a und b, Evans et al. 1991, Chaloupka et al. 1993 und 2002, Kenkel 1993, Sloan et al. 1994, Mullahy & Sindelar 1994, Ruhm 1996, Dee 1999, Mast et al. 1999, Grossman & Markowitz 1999, Dee & Evans 2001; zu anderen Alkoholmissbrauchsfolgen vgl. Cook & Moore 1993, Saffer 2001, Grossman & Markowitz 2001, Mattews et al. 2005). Die alkoholspezifischen Steuern (Bier, Schaum-wein, Zwischenerzeugnisse, Spirituosen) sind in Deutschland seit 27 Jahren (1982) nicht erhöht worden (DHS 2010). Die Weinsteuer liegt in Deutschland seit 84 Jahren (als die Winzer 1926 in Bernkastel-Kues das Finanzamt stürmten und damit die Reichsweinsteuer zu Fall brachten, bei 0,00 (Euro). Eine Biersteuer von unter 0,1 Euro pro Liter entspricht praktisch fast der Nichtbesteuerung bei Wein. Auch auf europäischer Ebene geht der mittelfristige Trend der Alkoholpreise und -steuern zur Verbilligung, weil Regierungen von Staaten mit unterschiedlichen Alkoholpreisniveaus zur Verringerung der Alkoholsteuern neigen, um den Alkoholschmuggel u. a. negative Effekte zu begrenzen (vgl. das Beispiel Finnland, S. 93ff.). Dagegen erwies sich die Erhöhung von Alkoholpreisen als besonders wirksam für die Senkung alkoholbedingter Schädigungen. Höhere Preise für alkoholische Getränke wirken sich protektiv aus für Jugendliche und Menschen, die viel Alkohol trinken (Stehr 2007, ScHARR 2008, 56, Chisholm et al. 2009, RAND Europe 2009).

Der Alkoholkonsum von Jugendlichen ist hoch alkoholsteuer-elastisch . Jugendliche sind preissensibler . Fatale Folgen hatten etwa spezielle Marketingstrategien bei Produkten, die von Jugendlichen bevorzugt werden, z. B. Promotionsverkäufe bei Alkopops, immer volle Wodkagläser, Flatrateange-bote, Happy hours, temporär starke Preissenkungen, etc. . Höhere Alkoholpreise reduzieren die Häufigkeit des Alkohol-konsums und das Binge drinking (heavy drinking: ). In Gesellschaften mit hohem Alkoholkonsum (z. B. in Deutschland) sind Steuer-erhöhungen für Alkoholika höchst effektiv .

- Alkoholwerbung: 2008 gab die deutsche Alkoholindustrie 552 Mill. Euro für Werbung aus (DHS 2009d, Gaertner et al. 2010, 22). Sie setzt besonders auf die sog. Imagewerbung, die bei Kindern und Jugendlichen erfolgreicher als reine Produktwerbung ist (Covell 1992). Diese hat direkten Einfluss auf die positive Konsumerwartung der Jugend-lichen (Grube & Wallack 1994, Grube 1995, Austin & Nach-Ferguson 1995, Wyllie et al. 1998a, Chen & Grube 2002, Fleming et al. 2004, Chen et al. 2005, ScHARR 2008, 131f.). Dabei wird Jugendlichen der Alkoholkonsum als soziale Norm vermittelt. Sechs gut designte prospek-tiv-longittudinale US-amerikanische und eine belgische Studie zeigten, dass der Umfang der Alkoholwerbung und der Medienpräsenz von Alkoholwerbung die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass Jugendliche mit dem Alkoholkonsum beginnen, den Umfang des Alkohol-konsums und die Anzahl der Trinkgelegenheiten beeinflussen (Robinson et al. 1998, Wingood et al. 2003, Stacy et al. 2004, Van den Bluck & Beullens 2005, Ellikson et al. 2005, Snyder et al. 2006, Sargent et al. 2006/McClure et al. 2006). In einer Studie des IFT-Nord wurden 398 Kinofilme inhaltsanalytisch ausgewertet. Alkohol wurde in 88 Pro-zent dieser Filme konsumiert. Das Risiko für Probierkonsum von Alkohol verdoppelt sich, wenn die Trinkszenen besonders lang waren (Hanewinkel et al./IFT 2007). Jugendliche unter 17 Jahren und Mädchen sprechen stärker als junge Erwachsene bzw. Jungen auf Alkohol-werbebotschaften an (Dring & Hope 2001, Jernigan et al. 2004, ScHARR 2008, 171f.). Die enge Verbindung von Alkoholwerbung und Sport verschafft dem Zellgift Alkohol ein be-sonders positives Image. Die Bewertung der Produktqualität und der Werbebotschaf-ten durch Jugendliche hat eine hohe Relevanz für ihre Konsumentscheidungen (Pinkleton et al. 2001). Alkoholwerbung wirkt sich steigernd auf den Alkoholkonsum von Jugendlichen aus (Anderson 2007, DAK 2009). Eine aktuelle britische Studie zeigt, dass Alkoholwerbung immer noch gezielt an Jugendliche gerichtet wird (Hastings, BMA, O. J.). Ein vollständiges Werbeverbot (auch für indirekte Werbung) würde zweifellos einen weiteren Rückgang des monatlichen Alkoholkonsums um 24% und des Binge drinking bei Jugendlichen um 44% bewirken (Saffer & Dave 2003 und 2006, ScHARR 2008, 194ff.), auch wenn dies eine Massnahme mit nur mittlerer Evidenzstärke wäre und z. B. den Medien und den Fußballverbänden (z. B. der DFL) nicht gefallen würde. Staaten mit Alkoholwerbeverboten haben geringere Prävalenzraten für Alkoholmissbrauch (Saffer 1991, ScHARR 2008, 190).

7. Alkoholprävention

Drei generelle evidenzbasierte Zielsetzungen bestimmen die Suchtprävention bei Kindern und Jugendlichen:

(1) Stärkung der Kinder und Jugendlichen in ihrer abstinenten Haltung.
(2) Hinausschieben des Konsumbeginns so weit wie möglich.
(3) Reduzierung der Konsummenge bzw. risikoarmer Konsum („safer use“, „harm reduction“).

Ein konkretes Ziel der EU-Kommission und der Bundesregierung ist heute die Senkung des jährlichen Pro-Kopf-Verbrauchs reinen Alkohols in Deutschland von zzt. 10 Litern auf 8 Liter (WHO 2006, zitiert nach Hüllinghorst 2008, EU-Kommission 2006, Drogen- und Suchtrat 2008). Dieses Ziel im Rahmen einer bevölkerungsbezogenen Strategie wurde ursprünglich von der WHO angeregt (Dagegen fordert die DHS als Ziel 7,1 Liter: Bartsch et al./DHS 2008, 5). Die DHS geht in ihren Forderungen z. T. deutlich weiter als der Drogen- und Suchtrat der Bundesregierung.

Im Folgenden lautet die erste These, dass die gegenwärtige Alkoholkontrollpolitik in Deutschland und in weiten Teilen Europas hinsichtlich einzelner mittel- bis hochevidenzba-sierter Instrumente noch nicht ausreichend zielführend sei. Diese These soll anhand beste-hender Gesetze, Regelungen und Aktionspläne verifiziert werden. Durch zahlreiche Studien als besonders effektiv belegte angebots- und nachfrageorientierte Strategien im Bereich der Verhältnisprävention, wie z. B. Preiserhöhungen, Reduzierung der Verfügbarkeit von Alkohol und Alkoholwerbeverbote, die von Experten seit Jahrzehnten gefordert werden, wurden bis-her noch kaum umgesetzt. Stattdessen wurden einige Strategien der Verhaltensprävention und weniger effektive bzw. auf niedrigem Evidenzniveau liegende Strategien der Verhältnis-prävention propagiert, welche nicht wirklich dazu geeignet sind, kurzfristig und nachhaltig die Nachfrage und das Angebot von Alkohol zu regulieren.

Eine zweite These lautet, politische Parteien und Regierungen lassen sich durch einen star-ken Einfluss der Alkohol-Lobbyisten innerhalb und außerhalb der staatlichen Stellen zu leicht unter Druck setzen bzw. zu Massnahmen verleiten, die nicht (primär) den Public Health-Zie-len dienen. Sie betreiben dann im Ergebnis überwiegend eine Klientelpolitik, in der die Parti-kularinteressen der Alkoholindustrie stärker Berücksichtigung finden, als das Gemeinwohl. Teilweise werden Positionspapiere der Alkohollobbyisten wortwörtlich in regierungsamtliche Verlautbarungen übernommen. Diese These müsste jedoch mit einer speziellen Untersu-chung der komplexen realen Verflechtungen zwischen Politik und Alkoholwirtschaft über-prüft werden und kann hier nicht verifiziert werden.

Bevor die Alkoholkontrollpolitik weiter beschrieben und diskutiert werden kann, müssen zu-nächst noch verschiedene Präventionsbegriffe (in Kurzform) definiert werden:

Tabelle 13: Präventionsbegriffe

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

7.1. Verhaltensprävention

Mit der Verhaltensprävention ist laut Uhl ein „demokratisch-emanzipatorischer Präventions-ansatz“ verbunden (Uhl 2005f). Schlagworte hierzu sind: „Empowerment“ (Hilfe zur Selbst-hilfe), „Partizipation“, „Risikokompetenz“ und „Problemorientierung“ (WHO 1984 und 1986, Rose 2001, Uhl 2005f). Im Bereich der individuellen suchtbezogenen Hilfen gibt es ver-schiedene Präventionsangebote: ambulante Beratung, ambulante und stationäre Entgif-tungsbehandlung, ambulante, teilstationäre, stationäre Entwöhnungsbehandlung, psychia-trische Versorgung und Selbsthilfe. Viele ältere Suchtpräventionsprogramme

a) sind entweder überhaupt noch nicht evaluiert worden,
b) haben keine zielführende Wirkung oder
c) liegen auf niedrigem Evidenzniveau.

Die Effektgrößen von Verhaltenspräventionsprogrammen sind insgesamt klein, aber nach-weisbar. Zur Evaluationsforschung und Evidenz dieser Programme siehe die Zusammenfas-sung in Kapitel 8.1.

Das breite Massnahmenspektrum der Verhaltensprävention reicht von der Frühintervention (selektive und indizierte Prävention, z. B. mit dem Projekt „HaLT – Hart am Limit“) über Ein-zelberatungen in Krankenhäusern oder Beratungsstellen sowie zielgruppenspezifische Alko-holprävention (selektive und indizierte Prävention, z. B. „Keine Kurzen für die Kurzen“) bis hin zu Aufklärungskampagnen (universelle und Primärprävention, z. B. Kampagne "Alkohol? Kenn Dein Limit.", „Alkohol – Verantwortung setzt die Grenze“, Kampagne „Na Toll!“/„Bist Du stärker als Alkohol?“, „Lieber schlau als blau“, „Sucht hat immer eine Geschichte“ (NRW), „Aktionswoche Alkohol“, Kampagne der Polizei gegen Alkoholmissbrauch und Gewalt, Kam-pagne „Jugendschutz – wir halten uns dran“, Wettbewerb „Alkohol – Irgendwann ist der Spaß vorbei“). Aus der Forschung gibt es bereits seit längerer Zeit Hinweise darauf, dass evidenzbasierte Kurzinterventionsprogramme zur sekundären Verhaltensprävention bei ris-kantem Alkoholkonsum zielführend sind (Baer et al. 1992, Bien, Tonigan & Miller 1993, Freemantle et al. 1993, Kahan, Wilson & Becker 1995, Richmond et al. 1995, Dimeff 1997, Wilk, Jensen & Havighurst 1997, Aubrey 1998, Marlatt et al. 1998, Gentilello et al. 1999, Monti et al. 1999, Poikolainen 1999, Borsari & Carey 2000, D’Amico & Fromme 2000, Irvin, Wyer & Gerson 2000, Larimer et al. 2001, Longabaugh et al. 2001, Larimer & Cronce 2002, Miller & Willbourne 2002, Moyer et al. 2002, D’Onofrio & De-gutis 2002, Berglund, Thelander & Jonsson 2003, Emmen et al. 2004, Ballesteros et al. 2004a und b, Whitlock et al. 2004, Cuijpers, Riper & Lemmens 2004, Dinh-Zarr et al. 2004, Bertholet et al. 2005, Mello et al. 2005, Kaner et al. 2007). Das Bundesmodellprojekt „HaLT“ zur indizierten Prävention verknüpft Massnahmen der Verhaltens- und Verhältnisprävention und spricht gleichzeitig Jugendliche und Erwachsene an. Das Projekt bezieht den Kontext ein, in dem jugendlicher Alkoholmissbrauch entsteht, weil sich nachhaltige Lösungsansätze nur hieraus ableiten las-sen. „HaLT“ wirkt in regionalen Netzwerken, ist aber als "Bundesmodellprojekt" gleichzeitig eingebettet in nationale Präventionsstrategien (www.halt-projekt.de). Alle oben genannten Forschungsarbeiten kamen zu dem Schluss, dass Kurzinterventionen effektiv zur Reduzie-rung riskanten schädlichen Alkoholkonsums bei Hochrisikokonsumenten beitragen (Ander-son 2003) und die alkoholbezogene Mortalität reduzieren können (Kristenson et al. 2002, Cuijpers, Riper & Lemmens 2004). Gleichwohl werden langfristige Ergebnisse von Kurz-interventionen noch als unterschiedlich effektiv berichtet (Fleming et al. 2002, Wutzke et al. 2002), so dass Wutzke et al. Booster-Sessions (Wiederholungsbehandlungen) als notwendige Ergänzungs-Strategie zur Erreichung nachhaltiger Effekte vorgeschlagen haben (Wutzke et al. 2002). Und es wird als notwendig erachtet, dass derartige Präventionsprogramme flächen-deckend in Anlehnung an die primäre Gesundheitsvorsorge und an die Akutmedizin einge-führt werden, damit die gewünschten Effekte stabil bleiben.

Die Massnahmen und Aktivitäten der Fachkräfte für Suchtprävention werden seit 2006 mit dem Dokumentationssystem Dot.sys erfasst. Neue familienorientierte Behandlungsansätze, wie z. B. das “Community Reinforcement Approach” (CRA), das „Community Reinforcement und Family Training“ (CRAFT: Bartsch et al./DHS 2008, 14) oder die „Multidimensionale Familientherapie zur Behandlung Jugendlicher mit Substanzstörungen“ (MDFT: Liddle 2000, Gantner 2010) sind geeignet, die Beratung und Behandlung von Betroffenen zu verbessern. Dies kann über die Gemeinden, die Jugend- und Suchthilfe und das Quartiersmanagement moderiert werden. Auch die Betriebliche Suchthilfe ist hier nicht zu vernachlässigen. Verhal-tensprävention ist nicht begrenzt auf versorgungspolitische Massnahmen. Es gibt zahlreiche Programme zur universellen und primären schulischen Suchtprävention. Pim Cuijpers nennt sieben Merkmale für evidenzbasierte Schulpräventionsprogramme: (1) fundierter Effektivi-tätsnachweis, (2) Interaktivität, (3) Modell sozialer Einflussnahme, (4) Schwerpunkt auf Nor-men (normative Erziehung), (5) Bereiterklärung zum Konsumverzicht, (6) ergänzende Ge-meinschaftsinitiative, (7) Peer-Programme und Initiativen mit einem Life-skill-Element (Le-benskompetenztraining; Cuijpers 2003). Auf dem Internetportal www.drugcom.de kann der eigene Alkoholkonsum mit dem Internettest „check your drinking“ hinterfragt werden. Jenen Nutzer/innen, die aktuell ein riskantes Konsumverhalten aufweisen, wird dort empfohlen, sich mit dem Programm „change your drinking“ über einen Zeitraum von zehn Tagen mit ih-rem Alkoholkonsum auseinanderzusetzen und diesen zu reduzieren (indizierte Prävention). Eine Reihe von Elternerziehungsprogrammen wirkt für Familien unterstützend, weil in diesen erwachsenenpädagogischen Programmen Erziehungskompetenzen geschult werden können. In den USA gibt es seit längerer Zeit über 60 verschiedene Elternerziehungsprogramme; in Deutschland stellen diese noch ein Novum dar (vgl. hierzu Fthenakis 2004a und b, 2005). In Deutschland bekannte Elterntrainingsprogramme sind das Encouraging Elterntraining (Schoenaker-Konzept), das Programm „Eltern stärken – Dialogische Elternseminare“, das „Familienprogramm FUN“, das „Familien Team-Elterntraining“, das „Gordon-Familientrai-ning“, das Programm „Kess-erziehen“ (Individual-psychologisches Konzept: Adler, Dreikurs), das Programm des Deutschen Kinderschutzbundes „Starke Eltern - starke Kinder“, das STEP-Programm (Systematic Training for Effective Parenting) und das „Positive Parenting Pro-gramm“ („Triple P®“-Programm). TRIPLE P® ist z. B. ein international sehr bekanntes und vor allem evidenzbasiertes Frühinterventionsprogramm der Elternerziehung (vgl. Dirscherl et al. 2008). Es wird vielfach in Volkshochschulen in Seminarform angeboten. In Deutschland be-steht bezüglich der pädagogischen Beratung und systemischen Unterstützung von Eltern noch ein erheblicher Bedarf, der sich auch in einer engeren fallbezogenen Zusammenarbeit von Familien- und Suchtberatungsstellen ausdrücken sollte. Eine regionale und örtliche Ver-netzung beider Hilfesysteme durch strukturelle Massnahmen und Case-Management wäre daher sehr wünschenswert. Bisher arbeiten die verschiedenen Hilfesysteme mit je eigenen Konzepten vielfach noch relativ isoliert nebeneinander her, was nicht heißen soll, dass sie nicht bereits jeweils zielführend arbeiteten. Dennoch besteht Handlungsbedarf.

7.2. Verhältnisprävention

Mit der Verhältnisprävention ist laut Uhl ein „paternalistisch-kontrollierender Präventions-ansatz“ verbunden (Uhl 2005f). Schlagworte hierzu sind: umfassende Kontroll- und Sankti-onspolitik, „health advocacy“, „Konsumorientierung“ (Bruun et al. 1975, Edwards et al. 1994, Babor et al. 2003). Verhältnisprävention betrifft staatliche/gesellschaftliche Massnahmen (Spode 2008) und ist bei legalen Drogen, wie z. B. Alkohol, m. E. fast wichtiger als Ver-haltensprävention (individuelle Hilfen, s. o.), weil verhältnispräventive Massnahmen mit ho-her Evidenzstärke i. d. R. eine schnelle und spürbare Wirkung zeigen und weil ein wirksames Massnahmenpaket hier nur etwa 1% der durch Alkohol verursachten monetären Gesamt-kosten für die Gesellschaft kostet.

An erster Stelle nennt die Alkoholforschung hier effektive alkoholpolitische Instrumente wie

- Alkoholsteuererhöhungen,
- Verkaufsbeschränkungen (z. B. zeitlich:, Lizenzierungsverfahren:, generell an Tankstellen, staatliches Verkaufsmonopol, usw.) und
- Alkohol-Werbeverbote (betr. indirekte und direkte Alkoholwerbung).

Drei konkrete Beispiele:

1. Eine Verteuerung der Preise alkoholischer Getränke um 10% würde europaweit 9.000 Todesfälle im darauffolgenden Jahr verhindern.
2. In Deutschland gibt es eine sehr hohe Dichte von Alkoholverkaufsstellen.
3. In Deutschland stehen immer noch über 90% aller europäischen Zigarettenautomaten.

Es sind vor allem evidenzbasierte angebots- und nachfrageorientierte Alkoholpräventions-massnahmen zu fordern (s. o.), um den Alkoholmarkt zu regulieren, den gesundheitlichen Schutz der Bürger zu stärken oder spezifische Probleme, wie z. B. das Rauschtrinken bei Kin-dern und Jugendlichen, Alkohol in der Schwangerschaft und Laktation (Stillzeit), Alkohol am Steuer oder Alkohol im Betrieb, zu bekämpfen. Am wirkungsvollsten ist ein Ansatz, der ver-schiedene Massnahmen der Verhaltens- und Verhältnisprävention in einem „Policy Mix“ bündelt (WHO 2006). Dabei sollten verhältnispräventive Massnahmen auf der Basis beste-hender Regelungen besonders konsequent angewandt werden, z. B. die Umsetzung und Kontrolle der Bestimmungen des Gaststättengesetzes, des Jugendschutzgesetzes und des Straßenverkehrsrechts. Der Senkung des gesamten Pro-Kopf-Konsums von Alkohol (bevölke-rungsbezogener Präventionsansatz) ist angesichts der hohen Folgestörungen durch mode-raten Alkoholkonsum eine Priorität gegenüber individuumszentrierten Präventionsansätzen zu geben (Ledermann 1965, WHO 2006, Drogen- und Suchtrat 2008).

7.3. Präventionstheorien, Menschenbild und ethische Aspekte

Der „demokratisch-emanzipatorische Präventionsansatz“ sehe die Bürger als mündige Sub-jekte, die sich eigenständig eine Meinung bilden (können) und eigenständig handeln (kön-nen)(). - Der „paternalistisch-kontrollierende Präventionsansatz“ impliziere, dass grosse Teile der Bevölkerung sich unvernünftig verhielten und zur Vernunft gezwungen werden müssten (ebd.). Uhl versteigt sich mit den Schlagworten „Nanny-State“ und „Ge-sundheitsfaschismus“ gar in eine unerträgliche Verunglimpfung des von ihm „paternalis-tisch-kontrollierend“ genannten Präventionsansatzes, die weit über Ironie hinausgeht . Eine derartige Einteilung der Präventionsansätze in ein Gut-Böse-Schema von „Frei-heit“ und „Zwang“ wird jedoch m. E. der Komplexität der Sache nicht gerecht. - Wie mündig sind 13-Jährige, die einen Alkoholmissbrauch betreiben? Können 13-Jährige mit der selbst-gewählten Freiheit, sich (entgegen der Jugendschutzbestimmungen, also illegal) Alkohol zu beschaffen und zu konsumieren, verantwortungsbewußt umgehen? Sind die Schäden, die aus diesem Missbrauchsverhalten entstehen, für die Eltern und die freiheitlich-demokrati-sche Gesellschaft kaum vermeidbare „Kollateralschäden“? Dies sind ethische und keine sozi-alpädagogisch-erzieherischen Fragen. - Uhl bewertet aus seiner Position des demokratisch-emanzipatorischen Präventionsansatzes heraus die Legitimität unterschiedlicher Präventi-onsansätze ausschließlich nach dem Maßstab, welcher Präventionsansatz die größtmögliche Autonomie für den Bürger gewährleistet. Er führt keine Risikodiskussion. Er lehnt strukturel-le Massnahmen nicht vollständig ab, weist ihnen aber eine nur untergeordnete Rolle zu. Uhl beschreibt seine Haltung wie folgt: „Ich bin der Meinung, dass in einer Demokratie Paterna-lismus, Kontrolle und Sanktionen – quasi als Ultima Ratio – nur dann gerechtfertigt sind, wenn alle anderen Strategien gescheitert sind, und wenn ein Problem so gravierend er-scheint, dass es einfach nicht hingenommen werden kann“ . Er impliziert außerdem, jeder Bürger besitze eine zumindest ausreichende Fähigkeit, sich gesundheitsbe-wusst zu verhalten. Lediglich unterstützende „problem-orientierte“ Massnahmen im Sinne von „Empowerment“, „Partizipation“ oder „Risikokompetenz“ werden als zulässig betrach-tet. Dagegen werden kontrollierende strukturelle Massnahmen der Alkoholpolitik, wie z. B. Steuererhöhungen und Begrenzungen der Verfügbarkeit von Alkohol, ohne weitere Begrün-dung als „konsumorientierte“ Massnahmen, als populistisch, pseudodemokratisch, undiffe-renziert, intolerant und manipulativ denunziert. Die Ergebnisse der anglo-amerikanischen und skandinavischen Alkoholforschung von Babor et al. werden als wissenschaftlich wenig gesichert dargestellt. Diese seien laut Uhl mit einem „überhöhten Gültigkeitsanspruch“ versehen. Außerdem kritisiert Uhl an Babor et al., dass letztere sich in ihrer Posi-tionierung auf eine problematische Rollenvermischung als erkenntnisgeleitete kritische Wis-senschaftler und interessengeleitete Gesundheitsaktivisten („health advocacy“) einließen. Uhl stellt diese Kritik in einen größeren gesellschaftskritischen Zusammenhang: „Intoleran-tes und kompromissloses Vorgehen gegen die geringsten Abweichungen wird in einer zuse-hend vom Populismus dominierten Politik immer mehr salonfähig“. Diese Tendenz habe in der „Zero-Tolerance“ -Politik von Ronald Reagan in den 80er Jahren ihren Anfang gefunden . In seiner Kritik an den strukturellen Präventionsansätzen vernachlässigt Uhl m. E. u. a. die Tatsache, dass verhaltenspräventive Massnahmen oft viel mehr Zeit brau-chen, um messbare Erfolge zu generieren. Er überlegt nicht, dass ein vorwiegend von Empa-thie und Verständnis, aber wenig von erzieherischer Begrenzung und Konsequenz geprägtes Präventionsverständnis, bei dem Fördern und Fordern sich die Waage halten, nicht unbe-dingt zu den gewünschten positiven Effekten führt. Er vernachlässigt zudem die Fakten des jahrzehntelange Alkoholhochkonsums in vielen europäischen Staaten, des erheblichen Ein-flusses der Alkohollobby auf die Politik, des sehr erfolgreichen Marketings der Alkoholindus-trie und der hohen Relevanz der Schadensbilanz durch die Wirkung von Alkoholfolgestörun-gen. Diese Fakten existieren unabhängig von den einzelnen Betroffenen und sind von ge-samtgesellschaftlicher Relevanz. Die Tendenz von Uhl, aus demokratietheoretischen Erwä-gungen und aus einer wirtschaftsliberalen Position Alkoholprävention quasi zur Privatsache des mündigen Bürgers zu machen und dem Staat in seinen strukturellen kontrollpolitischen (repressiven) Ansätzen Abstinenz zu verordnen bzw. Eingriffsrechte zu verwehren, wird m. E. der Verantwortung des Staates für das Gemeinwohl nicht gerecht. In der Tat ist zu fragen, ob eine Schadensbegrenzung überhaupt zielführend sei, wenn überwiegend verhaltenspräven-tive Massnahmen durchgeführt werden, die, wie Uhl selbst konstatiert, angesichts knapper öffentlicher Haushalte finanziell immer schlechter ausgestattet werden können. Führen etwa allein diese Massnahmen zu Verhaltensänderungen bei mit der Erziehung (zunächst) über-forderten Eltern, bei problematisch Alkohol konsumierenden Jugendlichen, bei Abhängig-keitskranken, usw.? Führen verhaltenspräventive Massnahmen tatsächlich zu einer messba-ren Konsumreduktion bei moderat konsumierenden Bürgern, bei Hochrisikokonsumenten und bei Menschen mit anderen Trinkkonsummustern? Überhaupt misst Uhl an keiner Stelle der Alkoholindustrie als Mitverursacher für die Entstehung der alkoholassoziierten Probleme Verantwortung zu, sondern sieht stattdessen beim mündigen Bürger den ausschließlichen Ort, an dem Prävention ansetzen müsse, um die Ursachen für alkoholassoziierte Probleme zu bekämpfen oder zu beseitigen. Uhl vertritt zusätzlich die Auffassung, dass eine „unspezi-fische“ Reduktion des Durchschnittskonsums von Alkohol in der Bevölkerung nicht zielfüh-rend sei und nur unnötig der „überwiegenden Mehrzahl von unproblematischen Allkoholkon-sumenten große Hürden in den Weg“ lege, als ob Alkohol, in Maßen konsumiert, unschädlich sei. Er spitzt die Kritik auf die Frage zu: „Gibt es etwas, wie die Pflicht der Bevölkerung zur Gesundheit, das man erzwingen darf?“ . Er lehnt also aus demokratietheore-tischen Erwägungen prinzipiell repressive Massnahmen ab und lässt diese nur als „ultima ra-tio“ gelten. Er bezweifelt in diesem Zusammenhang, dass auch der moderate Konsum von Al-kohol zu volkswirtschaftlich und gesundheitspolitisch relevanten Schäden führe. Da in der Al-koholkontrollpolitik aber mehr als nur zwei Akteure (Bürger und Staat) eine maßgebliche Rolle spielen, macht es sich Uhl mit seiner Fundamentalkritik an der Position von Babor et al. insgesamt zu einfach. Er vernachlässigt die empirisch vorfindliche Schadensbilanz durch al-koholassoziierte Schäden, indem er die z. T. hohe Evidenzbasierung der internationalen Al-koholstudien in Frage stellt. Er erwähnt die nachgewiesene manipulative Einflussnahme der Alkohollobby auf die Politik nicht, sondern postuliert vielmehr polemisch einen „Gesund-heitsaktionismus“ von Babor et al. gegen einen vorgeblich übermächtigen Einfluss der Alko-hollobby in der Politik. Und er zeigt sich gerade der Alkohollobby gegenüber sehr tolerant, indem er ihren Einfluss und das Produkt Alkohol als solches überhaupt nicht problematisiert und die wirtschaftlichen Aktivitäten der Alkoholindustrie als für die Alkoholprobleme offen-sichtlich nicht relevant verortet. Schließlich wird auch die polarisierende und vereinfachende Reduktion der verschiedenen Präventionstheorien auf zwei Menschenbilder, das „demokra-tisch-emanzipatorische“ und das „paternalistisch-kontrollierende“, der Komplexität dieser in verschiedenen Politikbereichen liegenden Ansätze nicht gerecht. Eine Integration beider An-sätze wird von Uhl ebenfalls nicht angedacht, wenn er den Ansatz von Babor et al. als „nörd-liche Alkoholkontrollpolitik“ bezeichnet , während der Ansatz von Babor et al. ge-radezu die Integration von strukturellen verhältnispräventiven und individuellen verhaltens-präventiven Massnahmen auf verschiedenen politischen Ebenen vorsieht. Auf diesen von Babor et al. vertretenen integrativen Ansatz, der zugleich verhältnis- und verhaltenspräven-tive Strategien beinhaltet, wird in der Kritik von Uhl nicht Bezug genommen. So wird Uhl von seiner Ideologiekritik gegenüber Babor et al. selbst eingeholt, indem man bei ihm die Ten-denz, nahezu ausschließlich verhaltenspräventiven Strategien eine Relevanz zu bescheinigen, feststellen muss. Diese Argumentationslinie kann Uhl dann allerdings nicht schlüssig und fak-tengestützt begründen. Am Ende ist nicht mehr so klar, welche Position (Uhl vs. Babor et al.) nun die „tolerantere“ darstellt. Denn auch die durch Uhl vorgenommene Reduktion der Posi-tion von Babor et al. als „kontrollierender“ und bevormundender Präventionsansatz kann als pseudowissenschaftliche, populistische Strategie gewertet werden. Auch Vertreter, die etwa ein „Recht auf Rausch“ fordern, stellen das Individuum in den Vordergrund und betrachten es als prinzipiell zur Selbstkontrolle befähigt. Sie vernachlässigen dabei oder nehmen in Kauf, dass bestimmte Individuen unter dem Kontrollverlust leiden und dass die Allgemeinheit stets die aus der Berauschung entstehenden und vermeidbaren Schäden hinnehmen muss. Der Konflikt zwischen Persönlichkeitsrecht und Gemeinwohl im Bereich der Alkoholprävention bzw. zwischen Elternrecht und Garantenpflicht öffentlicher Betreuer bei Kindeswohlgefähr-dung im eingreifenden Kinder- und Jugendschutz muss daher auch demokratietheoretisch und ethisch diskutiert und gelöst werden bis hin zu der Frage, wie weit nicht auch das Ge-meinwohl als bloßer ideologischer Begriff aufzufassen sei.

Skog formulierte die „Theorie der Gemeinsamkeit innerhalb trinkender Kulturen“ auf der Basis der älteren „konstanten Verteilungstheorie“ von Ledermann . Demnach beeinflussten sich Menschen gegenseitig indirekt hinsichtlich ihrer Trinkmuster, quasi durch Modelllernen, so dass die Verteilung des Durchschnittskonsums immer einer be-stimmten Form folge. Diese Theorie entspricht dem tatsächlich festgestellten Trend der An-gleichung der Alkohol- und Drogenkonsummuster in der europäischen Region in den ver-gangenen Jahrzehnten, wie er in verschiedenen epidemiologischen Studien, z. B. ESPAD, HBSC, DAS u. a., nachgewiesen wurde. Diese „Trend zum europäischen Durchschnitt“-Hypo-these, die durch die Ergebnisse der epidemiologischen Forschung der letzten Jahrzehnte bis-her im Wesentlichen bestätigt wurde (europäische Konvergenz), beweist noch nicht, dass Preisveränderungen sozusagen durch einen übergeordneten ökologischen Zusammenhang ihre Wirkung verlören und der Effekt von Preiserhöhungen bloß gering sei, wie Uhl postu-liert. In Österreich wurde keine Alkopopsteuer eingeführt und dennoch fand hier, wie in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, im Jahr 2004 ein Umsatzeinbruch im Verkauf spiri-tuosenhaltiger Alkopops statt. Zwar führt Uhl an diesem Beispiel die These ins Feld, dass nicht der Preis den Konsum determiniere, sondern allgemeine Konsumtrends sich quasi durchsetzten . Jedoch liefert er hierfür keine spezifischen Nachweise in Form evidenzbasierter Forschungsergebnisse. Babor et al. vertreten dagegen die Position, dass die Entwicklung der Alkoholpreise neben der Begrenzung der Verfügbar-keit von Alkohol eine schnelle Wirkung zeige und eine zentrale Bedeutung für das Alkohol-konsumverhalten habe („Preis determiniert Konsum Hypothese“) und belegen dies an eini-gen historischen Beispielen. In der Tat zeigt auch bereits das historische, wenngleich sehr ra-dikale Beispiel der flächendeckend praktizierten US-amerikanischen Prohibition von 1920 bis 1933, dass eine deutliche Senkung des Pro-Kopf-Konsums durch eine drastische Begrenzung der Verfügbarkeit erfolgreich erreicht werden konnte. Dieses historische Feldexperiment ließe sich in Europa in moderner modifizierter Form nur dann durchführen, wenn etwa eu-ropaweit eine deutliche Begrenzung der Verfügbarkeit von Alkohol und eine Harmonisie-rung der Alkoholsteuern auf einheitlich hohem Niveau stattfände. - Der Begriff Harmonisie-rung bezieht sich hier v. a. auf die Angleichung von Systemunterschieden, die aufgrund von Geschichte, Politik und Rechtsentwicklungen zwischen Regionen und Staaten in Europa bestehen (vgl. dazu die ). - Selbst wenn man der Argumentation von Uhl folgt und eine starke Wirkung ökologischer Faktoren auf den Alkoholkonsum voraussetzt, spricht nichts gegen den bereits gut untersuchten Ein-satz der Instrumente zur Begrenzung der Verfügbarkeit und zu Preiserhöhungen. Diese Ins-trumente sollten dann aber sinnvollerweise europaweit koordiniert und harmonisiert umge-setzt werden, um unterschiedliche Strukturen der Alkoholpolitik in einzelnen Staaten und daraus folgende negative Effekte wie Alkoholschmuggel, Schwarzbrauen und -brennen u. a. zu verhindern. Nationalstaatliche Alleingänge wie bisher wären kontraindiziert.

Es bleibt die Frage nach dem hinter den verschiedenen Präventionstheorien stehenden Men-schenbild und damit die Frage nach der ethischen Fundierung jeglicher Alkoholkontrollpoli-tik. Das Verdienst von Uhl et al. ist es u. a., auf die Frage der ethischen Fundierung der Ge-sundheitspolitik und speziell der Alkoholprävention hingewiesen und die Diskussion der Al-koholpolitik nicht allein auf der technisch-funktionalen Ebene geführt zu haben. Das Ver-dienst der Alkoholforscher um Bruun, Edwards und Babor ist es u. a., überhaupt eine Grund-lage für einen integrierten Ansatz der Alkoholprävention von internationaler Relevanz ge-schaffen zu haben, der als Diskussionsgrundlage für die künftige kommunale, regionale, na-tionale und globale Alkoholpolitik dienen kann. Es wäre wünschenswert, wenn diese Diskus-sion auf einer breiten Ebene als Risikodiskussion mit den Bürgern und verschiedenen gesell-schaftlichen Akteuren geführt wird. Wenn der mündige Bürger sich ein Bild über sinnvolle Präventionsmassnahmen machen möchte, ist er dabei auf evidenzbasierte Ergebnisse der Alkoholforschung, also auf fundierte Informationen, angewiesen. Babor et al. haben derar-tige Ergebnisse überzeugend und übersichtlich in ihrem Buch zusammen-gestellt. Aufgabe der weiteren Alkoholforschung ist es daher, diese Ergebnisse kritisch zu hinterfragen, bestehende Lücken (etwa in der Evaluationsforschung zur schulischen Sucht-prävention) zu schließen und die Umsetzung integrierter Alkohol-Aktionspläne durch die Po-litik anzuregen, wie dies bereits in der Vergangenheit mehrfach über die WHO, EUROCARE und andere Akteure geschehen ist. Die etwas polemische Frage von Uhl, ob es ein Recht auf Gesundheit oder eine Pflicht des Bürgers zur Gesundheit gebe, ist m. E. eindeutig in der All-gemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN , im In-ternationalen Pakt der UN („Sozialpakt“) über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte im und im beantwortet. Hier ist jeweils vom Schutz der Bürger vor Gefahren und von Schutzaufgaben des Staates (aber auch Begrenzungen seiner Einwirkungsrechte auf den Bürger) die Rede. Dahinter steht jeweils ein seit der Französischen Revolution entwickeltes, mit den Grundwerten Freiheit, Gleichheit und Solidarität verbundenes Menschenbild.

Jede Veränderung in der Alkoholkontrollpolitik sollte auf mögliche Folgewirkungen für be-stimmte Gruppen in der Gesellschaft und für den einzelnen Bürger untersucht werden. So kann es sein, dass Konsument/innen, die sich im Prekariat befinden und sich daher finanziell wenig leisten können, etwa von Preiserhöhungen bei Alkohol besonders hart getroffen wer-den, während, wie Uhl anmerkt, finanziell besser gestellte Bürger derartige Massnahmen nur gering betreffen. Gleichzeitig wissen wir, dass z. B. Alkoholabhängige und Jugendliche be-sonders sensibel auf Veränderungen der Alkoholpreise reagieren (hohe Preiselastizität). Mit anderen Worten: Es wäre bei Preiserhöhungen besonders in diesen Gruppen ein Konsum-rückgang zu erwarten. Nun wird aber auch der Effekt zu berücksichtigen sein, dass diese Gruppen zunächst versuchen werden, auf billigere Alkoholprodukte auszuweichen (z. B. Bil-ligbier statt Spirituosen, ähnlich wie im Tabakbereich: Schnitttabak statt Zigaretten). Wenn also auch die ‚Billigartikel‘ verteuert werden würden, würde dies in der Tat arme Bürger be-sonders hart treffen und den Druck auf sie erhöhen. Wäre dies ethisch vertretbar? Anderer-seits schafft und festigt die ungleiche Verteilung der alkoholassoziierten Schäden zwischen den sozialen Schichten soziale Ungleichheit. Verelendungstheorien müssen die Häufung von alkoholassoziierten Schäden in unteren sozialen Gruppen der Gesellschaft mit berücksichti-gen. Darf man aber Gesundheit erzwingen, wie Uhl fragt? Technisch fällt die Antwort leicht: gibt es doch ausreichende Forschungsergebnisse, die belegen, dass Preiserhöhungen positi-ve Effekte i. S. v. Konsumrückgang und Verbesserung der Gesundheit haben. Ethisch be-trachtet, müßte man zum Einen eine Abwägung durchführen, welche Rechtsgüter (Freiheit, Selbstbestimmung, Gesundheit, usw.) jeweils höher zu bewerten wären. Zum Anderen müß-te man prüfen, ob es dem Staat gestattet sei, in die Persönlichkeitsrechte des Bürgers derart einzugreifen, dass ein bestimmtes Rechtsgut, z. B. der Schutz des Bürgers vor den gesund-heitlichen Risiken des Alkoholmissbrauchs besser gewährleistet werden kann, wenn dies z. B. vorwiegend über repressive Massnahmen bewerkstelligt werden sollte. Die Klärung dieser Frage ist eine Aufgabe der Ethiker und der Verfassungsrechtler, die hier eine vergleichende ethische und eine juristische Prüfung der Bürgerrechtsnormen durchzuführen hätten. Hin-sichtlich des Menschenbildes bedarf es zusätzlich der Evaluationsforschung von verhaltens-präventiven Massnahmen. So sollte etwa in der Elternerziehung untersucht werden, ob durch individuelle Präventionsmassnahmen und Beratung überhaupt ein messbarer positiver Effekt der Verhaltensänderung beim Alkoholkonsum und in der Vermittlung von Konsumre-geln in der Kindererziehung hervorgerufen werden kann, damit ein positiver Gesundheits-effekt entsteht. Oder anders gefragt: Kann Verhaltensprävention und Beratung effektiv hel-fen, Menschen, die bisher mit der Erziehung und der Vermittlung und Einhaltung von gesun-den Alkoholtrinknormen überfordert waren, im emanzipatorischen Sinne in handelnde Sub-jekte zu verwandeln, die (wieder) in der Lage sind, sich selbst und ihren Kindern zu helfen. Eine einseitige Verteufelung verhältnispräventiver Massnahmen und speziell des eingreifen-den Kinder- und Jugendschutzes, nur weil diese in die Rechte des einzelnen Bürgers eingrei-fen, ist m. E. in der Debatte um die Ausrichtung der Alkoholkontrollpolitik nicht zielführend. Denn es kann nicht grundsätzlich davon ausgegangen werden, auch dies eine schwierige ethische Frage, dass alle Bürger per se über ausreichende Fähigkeiten und Fertigkeiten ver-fügen, sich selbst und ihren Kindern zu helfen. Verhaltenspräventive Massnahmen müssen in der Regel lange wirken, um positive Effekte zu erzeugen oder sind schlichtweg in Zeiten knapper öffentlicher Kassen kaum finanzierbar. In der therapeutischen, klinischen und bera-terischen Praxis ist die Tendenz feststellbar, dass sich gesundheitliche Probleme in Risikofa-milien über mehrere Generationen kumulativ verschärfen und dass Familien, in denen die Mitglieder viele Störungen aufweisen, nur durch intensive verhaltenspräventive und medizi-nische Massnahmen mittelfristig überhaupt erst nachhaltig in die Lage versetzt werden kön-nen, gesündere Strukturen zu entwickeln. Dass sich die vorliegenden Störungen vorwiegend auf die betroffenen (Familien) auswirkten, wie Uhl postuliert, entspricht nicht den Fakten: ei-ne gesamtgesellschaftliche Schadensbilanz entsteht trotz aller Schwierigkeit, eine volkswirt-schaftliche Gesamtrechnung der Alkoholfolgeschäden zu erstellen. Die Frage nach der ge-samtgesellschaftlichen Schadenssumme zu stellen, ist nicht zynisch, denn alle Bürger und nicht nur die unmittelbar betroffenen Bürger müssen letztlich die Folgekosten dafür mittra-gen, die durch die verschiedenen Alkoholfolgeschäden entstehen. Damit sind nicht allein die durch alkoholisierte Fahrer direkt verursachten Verkehrstoten gemeint, sondern auch die in-direkten Wirkungen über höhere Kosten der Sozialversicherung u. V. m. Mit dieser Argu-mentation sollen nicht die von Alkoholfolgestörungen direkt Betroffenen stigmatisiert wer-den. Diese haben vielmehr ein Recht auf Beratung und Behandlung. Es muss aber auch aus der wissenschaftlichen Perspektive erlaubt sein, erprobte Präventionsmassnahmen auf der strukturellen Ebene zu fordern, die durch ihre Evidenzbasierung potentiell eine Kostenre-duktion etwa im Gesundheitssektor zur Folge haben können. Dies können repressive Mass-nahmen der Verhältnisprävention (Begrenzungen der Alkoholverfügbarkeit, Preiserhöhun-gen, usw.) sein, selbst wenn man in Rechnung stellen muss, dass dies für alle Bürger/ innen zu gewissen Einschränkungen ihrer (Entscheidungs-, Gestaltungs-, Konsum-)Freiheit führen wird. Uhl bezeichnet solche Eingriffe als Bevormundungen des Bürgers . Mit die-sen Eingriffen des Staates muss das Menschenbild eines mündigen Staatsbürgers aber nicht per se in Frage gestellt werden. Freiheit wurde demokratietheoretisch und verfassungs-rechtlich auch nie als grenzenlose Freiheit des Einzelnen verstanden, sondern generiert sich immer erst qualitativ als Freiheit in Verantwortung. Diese beinhaltet, dass der Bürger selbst-verantwortlich handelt und dass dem Staat bestimmte Aufgaben des Schutzes der Bürger vor Risiken übertragen werden, die über einen gesamtgesellschaftlichen Konsens die Freiheit des Einzelnen einschränken (z. B. im Jugendschutz). Das Ausmaß, die Quantität staatlicher verhältnispräventiver Eingriffe in das Leben der Bürger, um eine gesundheitspolitische Ziel-vorstellung zu verwirklichen und die Frage der Vorrangigkeit oder Nachrangigkeit gesund-heitspolitischer Werte im Zusammenhang mit der Garantie anderer Menschen- und Bürger-rechte ist ein Diskussionspunkt einer ethischen und verfassungsrechtlichen Debatte. Auch die Frage, ob der Nachweis von Babor et al., dass bereits ein hoher Durchschnitts-Pro-Kopf-Alkoholkonsum ein gesellschaftliches und gesundheitspolitisches Problem darstellt, zu politi-schen Konsequenzen führen soll und nicht allein bestimmte Hochrisikogruppen in den Blick zu nehmen seien, sollte in der Politik noch eindeutiger geklärt werden. Denn gerade in die-sem Punkt gibt es in einzelnen europäischen Staaten noch eine höchst unterschiedliche Kon-trollpraxis, die von der EU jeweils noch toleriert wird. Dem Einwand einzelner Alkoholfor-scher wie Uhl et al., man müsse es der vorherrschenden Trinkkultur einer Gesellschaft über-lassen, welche Akzente in der Alkoholpolitik gesetzt und gewichtet werden und die Ver-schiedenheit von Alkoholpolitikansätzen unterschiedlicher Staaten und Regionen akzeptie-ren, widerspricht der „Trend zum europäischen Durchschnitt“-Hypothese. Dieser Einwand entspricht einer Haltung, nur diejenigen evidenzbasierten Präventionsinstrumente einzuset-zen, die in einer vorherrschenden Trinkkultur am Wenigsten den Widerstand der Akteure er-zeugen. Bestimmte Hypothesen, um das tatsächliche Konsumverhalten positiv zu verän-dern, werden demnach zugunsten des Status Quo nicht weiter verfolgt (vgl. etwa die „Preis determiniert Konsum Hypothese“). Auch die Argumentation, man habe bereits ausreichende gesetzliche Möglichkeiten der Alkoholprävention geschaffen, wie z. B. die Bestimmungen des Jugendschutz- und Gaststättengesetzes, und müsse diese nur konsequent umsetzen, ze-mentiert den Status Quo und nutzt nicht den Erkenntnisgewinn neuer Forschungsergebnisse der evidenzbasierten Alkoholpolitikforschung. Eine möglichst breit angelegte ethische Dis-kussion über die Ausrichtung und Legitimität der Alkoholkontrollpolitik ist hier noch zu füh-ren, besonders in der allgemeinen Öffentlichkeit. Es geht insgesamt um die Neujustierung von politischen und juristischen Entscheidungen im Konflikt zwischen größtmöglicher (Ent-scheidungs-, Gestaltungs-, Konsum-)Freiheit des einzelnen Bürgers und mit Eingriffen in die-se Freiheit verbundenen evidenzbasierten verhältnispräventiven Massnahmen.

7.4. Akteure, Gegenakteure und Best practice-Instrumente der globalen und europäischen Alkoholkontrollpolitik

Folgende Institutionen und internationalen Abkommen haben einen besonderen Einfluss auf die Alkoholkontrollpolitik in Europa:

Tabelle 14: Institutionen und internationale Abkommen

- GATS, General Agreement on Trade in Services (Allgemeines Abkommen für den Handel

mit Dienstleistungen)

- GATT, General Agreement on Tariffs and Trade (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen

1947 bis 1995), heute vertreten von der World Trade Organization WTO (Welthandels-

organisation)

- IWF, International Monetary Fund (Internationaler Währungsfond)
- WBG, World Bank Group (Weltbank)
- WHO, World Health Organization (Weltgesundheitsorganisation)
- EFTA, European Free Trade Association (Europäische Freihandelsgesellschaft)
- European Alcohol and Health Forum (s. Anhang, 9.7.)

Die EU hat bereits bei ihrer Gründung vor dem Hintergrund der leidvollen Erfahrungen mit früheren Krisen, wie z. B. der Weltwirtschaftskrise, eine ausgesprochen wirtschaftsliberale Verfassung erhalten. Das grundsätzliche Prinzip des freien Warenverkehrs macht es jedoch schwer, andere Politikziele zu verwirklichen, die in der Konsequenz bei problematischen Wa-ren und Dienstleistungen, wie z. B. Tabak, Alkohol, Glücksspiel, Computerspiel etc., Begren-zungen des freien Handels beinhalten. Ein Manko ist auch, dass auf EU-Ebene nicht früh ein Sozial- und Gesundheitsressort von Relevanz institutionalisiert und mit ausreichender politi-scher Macht ausgestattet wurde, um das aktuelle Krisenmanagement in diesen Bereichen leisten zu können. In der Europäischen Union haben daher u. a. Handelsgesetze, die „Inlän-dergleichbehandlung“, die gemeinsame Agrarpolitik und die Industrielobby nach wie vor ei-nen großen Einfluss auf die Alkoholkontrollpolitik.

Die Schlüsselakteure in politischen Debatten seien nach Babor et al. immer jene Gruppen, die in profitorientierte Produktionen und Verkäufe involviert seien (Babor et al. 2005, 270). Je größer die wirtschaftliche Macht der beteiligten Unternehmen, desto intensiver wird ver-sucht, auf die Politik Einfluss zu nehmen und das Politikgeschehen zu bestimmen. Bereits seit den 80er- und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts werden Vertreter von Public Health-Positio-nen in der Alkoholforschung und Alkoholkontrollpolitik von Alkohollobbyisten aus den USA als „Neo-Prohibitionisten“ oder als „Aktionisten“ verunglimpft und ihre Veröffentlichungen als fehlerhaft bezeichnet. Es wird von der Alkohollobby versucht, den Public Health-Ansät-zen ein grundsätzlich negatives Image zuzuweisen und Ergebnisse anzuzweifeln, die nicht den eigenen Zielsetzungen entsprechen. Es ist das typische Spiel von Lobbyisten. Im Internet wird diese interessengeleitete Meinungsbildung in Blogs betrieben, z. B. in www.en.word press.com/tag/neo-prohibitionism/. Auch in gedruckten Veröffentlichungen wird mit z. T. wissenschaftlich nicht tragbaren Aussagen, Alkoholmythen und Halbwahrheiten Stimmung gegen die Public-Health-Politik gemacht, z. B. bei Graham (2008). Vor allem ist es das Ziel derartiger Publikationen, die Vertreter von Public Health-Ansätzen als ideologisch-dogmati-sche Verfechter einer gegen die Freiheit gerichteten rückständigen „Prohibitions“-politik darzustellen, die angeblich, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA, den freien Wa-renverkehr von Alkoholika verbieten wollen. Gleichzeitig werden die aus der Alkoholfor-schung bekannten Risiken des Alkoholmissbrauchs verschwiegen. Die Verantwortung für die Manifestation schädlicher Folgen beim Individuum wird i. d. R. gänzlich zum Endverbrau-cher hin verschoben. Eine Verantwortung der Alkoholindustrie nach dem Verursacherprin-zip wird dagegen nicht gesehen. Stattdessen wird mit dem Verweis auf die Selbstkontrolle bei der Alkoholwerbung (www.easa-alliance.org, www.portman-group.org.uk, www. werberat.de) und über internationale Sozialkampagnen der Alkoholindustrie der Eindruck vermittelt, als ob die Alkoholindustrie ihrer gesellschaftlichen Verantwortung voll nachkomme und alles dafür tue, ethische Prinzipien in der Vermarktung ihrer (giftigen!) Pro-dukte zu wahren. So wird versucht, ein positives Image der Alkoholindustrie als Verfechterin der (wirtschaftlichen) Freiheit und des Alkohols als ganz gewöhnliches Genussmittel und Konsumgut aufzubauen. Mit dieser Lobbyarbeit werden nur die Profitinteressen der Alkohol-industrie verfolgt. Und die Organe der Werbeselbstkontrolle können autonom darüber ent-scheiden, ob sie bei vorliegenden Verbraucherbeschwerden bestimmte Werbepraktiken ih-rer Auftraggeber rügen oder nicht, ob die Beschwerde gerechtfertigt ist oder nicht. Zitat: „Bei ungerechtfertigten Protesten – zum Beispiel bei gesellschaftspolitischen Extremposi-tionen – stellt sich der Werberat schützend vor die angegriffene Firma“ (www.werberat.de/ Publikationen/Literatur, aufgerufen 29.09.2010). Aber wir leben nicht in einer ‚Bananenre-publik‘: Die Propaganda, dass eine Werbeselbstkontrolle das Non-plus-ultra des Verbrau-cherschutzes und vernünftig sei, wird früher oder später auch vom letzten mündigen Staats-bürger als eine billige Public Relations-Masche entlarvt, die faktisch nur dazu dient, einen un-gestörten Absatz von Alkohol und von Alkoholwerbung sicherzustellen.

Die Tabak- und Alkohollobby nimmt offenbar erheblichen Einfluss auf die EU-Politik. So zeigt beispielhaft eine aktuell in PLoS Medicine erschienene britische Studie (Smith et al. 2010) mit Hilfe interner Dokumente der Tabakindustrie, wie Industrielobbyisten dafür gesorgt ha-ben, dass bei jedem EU-Vorhaben die Interessen der betroffenen Unternehmen in den Vor-dergrund gerückt werden - per Gesetz. Die Europäische Kommission ist verpflichtet, vor je-der Gesetzesinitiative die wahrscheinlichen Auswirkungen der Regelung in einem festgeleg-ten Vorgehen zu untersuchen. Dieses Procedere nennt sich Impact Assessment (IA) und wur-de 1997 im Rahmen des EU-Vertrages von Amsterdam eingeführt, um die ökonomischen, sozialen und ökologischen Folgen von Gesetzen rational und transparent zu erfassen. Es ist bereits international in vielen staatlichen Politiken implementiert. Für den Gesundheitsbe-reich heißt das Verfahren Health Impact Assessment (HIA). Es wird wie folgt definiert: "...a combination of procedures, methods and tools by which a policy, program or project may be judged as to its potential effects on the health of a population, and the distribution of those effects within the population" (ECHP 1999, 4). Es dient dazu, eine Reihe von evidenzbasier-ten Empfehlungen zur politischen Entscheidungsfindung zu erstellen (Taylor & Quigley 2002, 2). In ihrer Studie demonstrieren Katherine Smith und Kollegen anhand von in US-Gerichts-prozessen offengelegten internen Dokumenten des Tabakherstellers British American To-bacco (BAT), wie verwundbar die EU gegenüber Industrielobbyismus ist. Demnach seien die Impact Assessments nicht nur grundsätzlich industriefreundlich ausgelegt, sondern sogar von BAT in den 1980er Jahren an die EU herangetragen worden, um auf diese Weise Einfluss auf die sich schon damals ankündigende Anti-Raucher-Gesetzgebung zu nehmen (Smith, K et al. 2010; Kommentar von Stahl, TP 2010). Weitere Beispiele, wie wirtschaftsliberale Kräfte die Alkoholpolitik in der EU beeinflussen und über die bereits bestehenden EU-Regelungen Druck auch auf Nicht-EU-Staaten ausüben, Kontrollen abzubauen, sind die Auseinanderset-zungen zwischen der EU und Norwegen und zwischen der EU und der Schweiz 2004. So wur-de der Firma Diageo nach Angaben von Foodwatch im Nicht-EU-Staat Norwegen wegen Ver-stößen gegen Werbeauflagen einmal für ein halbes Jahr die Importlizenz entzogen. Die nor-wegische Regierung verteidigte die Trennung von Bier und Alkopops in Verkaufsstellen mit dem Argument der öffentlichen Gesundheitsfürsorge. Die EFTA ordnete daraufhin an, dass Produkte mit gleichem Alkoholgehalt (unter 4,75 Vol.-% Alkoholgehalt), Bier und Alkopops, ohne ungleiche Wettbewerbsbedingungen verkauft werden sollen (Ulstein, A. Alcopops in Norwegen. In: www.ias.org.uk/publication). In der Auseinandersetzung zwischen der EU und dem Nicht-EU-Staat Schweiz ging es ebenfalls um vermeintliche oder tatsächliche Wettbe-werbsbeschränkungen für EU-Produkte. So musste die Schweiz 2004 Beweise dafür liefern, dass ihre Alkopop-Sondersteuer keine diskriminierende Massnahme gegen Alkopops-Produ-zenten der EU war, denn diese bedienten ca. 95% des Schweizer Marktes (www.sfa-ispa.ch/ Politik). Noch andere Beispiele sind die aus der wirtschaftsliberalen Verfassung der EU resul-tierenden Restriktionen gegen die früher erfolgreiche Alkoholpolitik in Finnland sowie in ei-nigen osteuropäischen Staaten, die neu in die EU aufgenommen wurden. In der Geschichte der Alkoholpolitik verschiedener westlicher Staaten der letzten 200 Jahre gibt es recht zahl-reiche Beispiele der erfolgreichen Einflußnahme der Wirtschaft selbst fremder Staaten und auswärtiger Handelspartner auf die Politik, um Partikularinteressen durchzusetzen (vgl. den Exkurs „Alkoholkontrollpolitik in Skandinavien“).

Das Schweizer Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat durch verschiedene Studien zu Alkohol, Tabak und Straßenverkehr herausgefunden, dass Prävention auch unter Kosten-Nutzen-Aspekten sinnvoll ist: Für jeden präventiv eingesetzten Franken fließen 9,40 im Verkehr, 23 bei Alkohol und 41 bei Tabak als „Return on investment“ zurück (vgl. Zeitschrift rausch 03/2010, 5)!

Insgesamt wurden durch die moderne Alkoholforschung zehn alkoholpolitische Best practi-ce-Instrumente als besonders effektiv identifiziert:

Tabelle 15: Best-practice-Instrumente der Alkoholkontrollpolitik

A. Einschränkung der Verfügbarkeit

(01) Gesetzliches Mindestalter für den Kauf und Konsum von Alkohol
(02) Begrenzung der Öffnungszeiten von Lokalen und Geschäften
(03) Beschränkung der Verkaufsdichte von Lokalen und Geschäften
(04) Staatliches Einzelhandelsmonopol auf alkoholische Getränke

B. Alkohol im Straßenverkehr

(05) Senkung der Grenzwerte der Blutalkoholkonzentration
(06) Zufällige und verdachtsfreie Blutalkoholkontrollen
(07) Führerscheinentzug bei Verstößen gegen Alkoholbestimmungen im Straßen- verkehr
(08) Stufenfahrerlaubnis für Fahranfänger

C. Steuern

(09) Besteuerung alkoholischer Getränke

D. Kurzinterventionen

(10) bei Personen mit riskantem Alkoholkonsum

Quelle: Babor et al. 2005, 299

Wesentliche Konsumfaktoren für legale Drogen wie Tabak & Alkohol sind nach :

1. der Preis,
2. die Verkaufszeiten,
3. die Verkaufsstellendichte.

Ein Beispiel: In Deutschland gibt es eine einmalig hohe Verkaufsstellendichte für Tabak und Alkohol, die durch eine Begrenzung der Anzahl der Lizenzen reduziert werden sollte. Die Tat-sache, dass in Deutschland auch nach der Umstellung auf Scheckkartengeräte immer noch über 90% aller europäischen Zigarettenautomaten stehen und Tabak in sehr vielen Verkaufs-stellen - von Verbrauchermärkten über Kioske bis hin zu Tankstellen - erhältlich ist (sehr ho-he Verfügbarkeit), hat neben dem Preis, der Tabak-Imagewerbung und weiteren Konsum-faktoren einen erheblichen Einfluss auf den Tabak-Pro-Kopf-Konsum in der Bevölkerung. Der Tabak-Pro-Kopf-Konsum ist in Deutschland noch vergleichsweise hoch, trotz der fünf Tabak-steuererhöhungen der letzten Jahre und deutlich positiver Public Health-Effekte dieser Preis-erhöhungen. Dies gilt auch für Jugendliche, obwohl es hier im Zeitraum zwischen 1997 und 2008 bereits ca. 10% mehr Nieraucher gibt!

[...]

Fin de l'extrait de 343 pages

Résumé des informations

Titre
Rauschtrinken bei Kindern und Jugendlichen und evidenzbasierte Alkoholkontrollpolitik
Sous-titre
Über die hohe Bedeutung der Verhältnisprävention
Auteur
Année
2010
Pages
343
N° de catalogue
V161095
ISBN (ebook)
9783640784202
ISBN (Livre)
9783640784257
Taille d'un fichier
4192 KB
Langue
allemand
Mots clés
Epidemiology, Survey, Adults, Young people, Adolescents, Europe, Accidents, Injuries, Intentional injuries, Unintentional injuries, Crime, Violence, Aggression, Domestic violence, Child abuse, Suicide, Murder, Homicide, Heart disease, Cardiovascular diseases, Strokes, Tax, Legal age, Availability, Advertising, Drink driving, Education, Massmedia, Server training, Bars, Communities, Treatment, Safety, Rauschtrinken, Komasaufen, Komatrinken, Alkoholmissbrauch, Alkoholabhängigkeit, Binge drinking, Gewalt, Verfügbarkeit, Werbung, Alkoholwerbung, Jugend, Jugendliche, Kinder, Erziehung, Prävention, Verhältnisprävention, Verhaltensprävention, Verkehrsunfälle, Prävalenz, Epidemiologie, Einstiegsalter, Peer group, Aktionsplan, Bier, Prevalence, Price, episodic heavy drinking, drunkenness, Alkoholsteuern, Alkopops, Wein
Citation du texte
Jürgen Schlieckau (Auteur), 2010, Rauschtrinken bei Kindern und Jugendlichen und evidenzbasierte Alkoholkontrollpolitik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/161095

Commentaires

  • Hermann T. Meyer le 29/12/2010

    Diesem Werk ist die grösstmögliche Verbreitung zu wünschen, damit die Abwehrfront der ideologie-verkrusteten Politiker endlich aufgeweicht wird und sie erkennen, wo die Interessen der ihnen anvertrauten Bevölkerung liegen. Jeder Tag kostet neue alkoholbedingte Todesfälle, Verletzte, persönliches Leid und immense Schäden für die Gesellschaft.

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Titre: Rauschtrinken bei Kindern und Jugendlichen und evidenzbasierte Alkoholkontrollpolitik



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